Tanz, tanz, Revolution - Lisa Weeda - E-Book
NEUHEIT

Tanz, tanz, Revolution E-Book

Lisa Weeda

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Beschreibung

Das Friedensbuch. Stell dir vor, du könntest mit deinem Tanz den Krieg beenden. Es ist die Nacht, in der das Böse ausgetrieben wird. Mit Leichtigkeit hebt Baba Yara den bleichen Mond aus der Schwärze. Dann fängt sie an zu tanzen. Baba Yara wird uns retten! Mit ihrem Tanz kann sie Menschen zum Leben erwecken. Die schlechten Toten, all jene, die zu früh von uns gegangen sind. Wer würde das nicht wollen? Lisa Weedas Jahrhundertroman »Aleksandra« sorgte für Furore, jetzt legt sie ihr neues Buch »Tanz, tanz, Revolution« vor – ein kühnes Romanexperiment, das uns dazu auffordert, für den Frieden in Bewegung zu bleiben. Denn Tanz kennt keine Sprache, keine Grenzen. »Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren.« Pina Bausch

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LISA WEEDA wurde 1989 geboren und ist eine niederländischukrainische Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Virtual-Reality-Regisseurin. Die Ukraine, das Heimatland ihrer Großmutter, steht oft im Mittelpunkt ihres Werks. Ihr Debütroman »Aleksandra« sorgte für Furore und begründete Lisa Weedas Rang als europäische Erzählerin.

BIRGIT ERDMANN studierte Kunstgeschichte und Niederlandistik und war anschließend Mitarbeiterin der Kulturabteilung der Niederländischen Botschaft in Berlin. Seit 2010 arbeitet sie als freie Übersetzerin, sie übersetzte bereits Lisa Weedas Debütroman »Aleksandra« ins Deutsche.

Der Svaboda Samoverzjenja ist ein traditioneller Tanz, mit dem man Menschen zum Leben erwecken kann. Die schlechten Toten, all jene, die zu früh von uns gegangen sind. Wir können es von der alten Baba Yara lernen, sie macht es vor, wir müssen nur hinschauen. Doch in diesem bösen Märchen, in das sich unsere Zeit verwandelt hat, sehen die Menschen lieber weg. Denn so lebt es sich leichter, auch wenn die Welt zugrunde geht. – Hier setzt Lisa Weedas hellsichtiger Roman ein, der unsere Kriegsmüdigkeit anklagt und das Tanzen feiert: Denn Tanz kennt keine Sprache, kennt keine Grenzen. Es braucht nur Körper, die sich bewegen.

»Lisa Weeda raubt einem den Atem mit diesem scharfen Blick auf unsere eigene, echte, hässliche Welt.«

NRC Handelsblad

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Dans dans revolutie bei Uitgeverij De Bezige Bij, Amsterdam.

Der Verlag dankt der Niederländischen Literaturstiftung für die Förderung der Übersetzung.

ISBN 978-3-98568-108-2

eISBN 978-3-98568-109-9

1. Auflage 2024

© Kanon Verlag Berlin GmbH, 2024

Covergestaltung: Moker ontwerp / mokerontwerp.nl,

Adaption für die deutsche Ausgabe: Ingo Neumann / boldfish.de

Herstellung: Daniel Klotz / Die Lettertypen

Satz: Ingo Neumann / boldfish.de

Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

Printed in Germany

www.kanon-verlag.de

INHALT

TONI

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

EMMA, SARA & ICH, DER NOTSCHNIK

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

MAKS, DANYLO & SOPHIA

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

ANNA, BABA YARA, VARJA, MARA, NICOLETA UND WIR, DIE DORFGENOSSEN

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

TONI

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Lisa Weeda

Tanz, tanz, Revolution

»Der Krieg tötet mit den Händen der Gleichgültigen.«

Halyna Kroek

Aus dem Gedicht »Met Europa op de achtergrond«

»Ja, all die Jahre waren wir im Urlaub, und zwar nicht, weil wir von nichts wussten oder nicht hätten genauer hinsehen oder hinhören können – es gab genug Stimmen, die laut um Hilfe baten –, sondern weil all diese ›Konflikte‹ weit genug von unserer Wohlstandsgesellschaft stattfanden, weil uns unsere Sicherheit und das russische Gas wichtiger schienen als die fremden ›kriegerischen Auseinandersetzungen‹. Wir waren im Urlaub, weil wir längst das Geld zur wichtigsten Ideologie erklärt und unseren Wohlstand über jedes Leid gestellt haben.«

»Der Urlaub des Westens ist vorbei«

Nino Haratischwili

DIE ZEIT, 9. März 2022

TONI

ZWEIEINHALB JAHRE NACH DEM KRIEG IN BESULIA

In Stadtvierteln wie diesem dauert es am längsten: Bis hier jemand das Gartentor öffnet oder überhaupt mal ein Auto mit getönten Scheiben vorbeikommt, vergeht mindestens eine Viertelstunde. Toni spürt ihre Blicke. Verstohlen beobachten sie ihren Wagen, auf dem in dunkelblauen Buchstaben BODY-PICK-UP-SERVICE steht. Aus den Einfamilienhäusern, versteckt hinter langen Auffahrten und den regelmäßig, doch vergebens bewässerten Rasenflächen, starren die Bewohner durch die Gardinen auf ihr Auto: »Wo ist wohl dieses Mal eine aufgetaucht?«

Toni setzt den Fuß auf das Gaspedal und fährt langsam durch die hügeligen Straßen. Vor zwei großen Häusern hält sie an und nimmt das Fernglas zur Hand – ein Geschenk ihrer Mutter, als sie zu Besuch war: »Du hast es zu Hause doch immer so geliebt, Vögel zu beobachten.« Das Ding hatte eine Weile auf der Kommode im Wohnzimmer gestanden, bis es sich als Staubfänger entpuppte, Toni es in eine Schublade geworfen und erst vor Kurzem wiedergefunden hatte. Jetzt kommt es ihr gelegen. Mit einer Hand noch am Lenkrad, stellt sie das Fernglas scharf und schaut auf ein weißes Haus mit blauen Fensterrahmen, Nummer acht. Hier soll sie einen toten Besulianer abholen. Toni zoomt die Fenster im ersten Stock heran, ein Finger mit Titanring schiebt die cremeweiße Gardine ein paar Zentimeter zur Seite.

»Herrschaftszeiten, was für Unannehmlichkeiten«, murmelt sie missmutig, »ihr seid eben doch nicht einzigartig. Ob reiche Vororte, Viertel mit haufenweise Müllsäcken auf dem Bürgersteig, ein Penthouse mitten in der Stadt – den Leichen ist das piepegal.«

Tonis Mutter taucht auf dem Beifahrersitz auf und späht nach draußen. Ihre Brüste hängen weit nach vorn, die Brustwarzen pressen durch BH und Blümchenbluse gegen das schwarze Kunstleder des Handschuhfachs.

»Beim Tanzen ist es auch egal, ob du reich bist oder arm«, sagt die Mutter, »tanzen kann jeder, aber hier schämen sie sich anscheinend dafür.«

»Mam, ich arbeite.«

»Na und?«

Toni brummt und beißt sich auf die Innenseite ihrer Wange, eine Angewohnheit aus Kindertagen.

»Ich suche mir diese Momente nicht aus, Mädchen«, sagt die Mutter und seufzt. »Der Tod macht, was er will. Das weißt du doch.«

»Solange du still bist, wenn ich die Leiche abhole. Ich weiß nämlich nicht, ob die Toten dich vielleicht sehen können.«

Ihre Mutter lehnt sich zurück und verschränkt theatralisch die Arme. Toni stützt sich mit den Ellbogen auf das Lenkrad, das Fernglas immer noch vor den Augen.

»Na, komm schon«, flüstert sie, »ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Ich bin müde.«

In den Body-Drop-Off-Centern ist heute mehr los als sonst, hat Toni im Morgenbriefing gelesen. Eine Umfrage hatte ergeben, dass die Menschen das Ganze nach zweieinhalb Jahren satthatten. Sie hatten ihr Leben, ihren Alltag auch ohne den ganzen Zirkus zu bewältigen. Zum ersten Mal seit Langem hat Toni so etwas wie Verzweiflung gefühlt. Das Gefühl, das sie über ein Jahr erfolgreich unterdrückt hatte, ist mit einem Mal wieder hervorgekommen, wie üblich irgendwo zwischen ihren Brüsten oder knapp darunter, als würde man sie mit einem stumpfen Gegenstand attackieren. Ich tue etwas ganz und gar Unmenschliches, hat sie gedacht, erst habe ich im Keller einer bescheuerten Firma gesessen und jetzt bin ich noch tiefer gesunken – das Gehalt stimmt, aber was ist mit meiner Würde?

Unter der Dusche hat sie am Morgen weinen müssen und danach hat sie eine halbe Ewigkeit nackt vor dem Spiegel gestanden.

»Ich habe Papa und Mama Märchen erzählt«, hat sie geschimpft, »ich bin ein versteinerter Baum. Ich blühe nicht, verliere keine Blätter. Das Leben ist hier kein Stück besser.« Als ihr die Mutter wieder erschienen ist und sie streng angesehen hat, hat sie das Badezimmer verlassen.

»Beklage dich nicht«, hat sie geflüstert, »du hast eine schöne Wohnung, du hast Arbeit, wahrscheinlich noch für lange Zeit. Du hast jede Menge Geld gespart, bald kannst du zurück in unser Dorf.«

Als Mitarbeiter für den Body-Pick-Up-Service gesucht wurden, hatte sie keine Sekunde gezögert. Sie hatte die Nase voll von der Büroarbeit, die sie seit ihrer Ankunft vor sechzehn Jahren erledigte. Die Stelle beim Body-Pick-Up-Center erschien ihr dagegen nobel: Leichen der Kriegsopfer aus Besulia einsammeln und aufbewahren, bis sie irgendwann wieder zum Leben erweckt werden würden.

Nach einem kurzen Auswahlverfahren – nur ein Online-Fragebogen – bekam Toni sofort die Stelle.

Verfügen Sie über einen Führerschein der Klasse B oder C?

JA

NEIN

Haben Sie Angst vor Toten?

JA

NEIN

Sind Sie emotional dazu imstande, Leichen bei den jeweiligen Leichenspendern abzuholen und abzutransportieren?

JA

NEIN

Sind Sie vorbestraft?

JA

(laden Sie die entsprechenden Dokumente am Ende des Fragebogens hoch)

NEIN

Bitte unterzeichnen Sie die folgenden Erklärungen:

Hiermit erkläre ich, dass mir Leichen nichts ausmachen.

Hiermit erkläre ich, die Leichen beim zuständigen Body-Drop-Off-Center abzuliefern.

Hiermit erkläre ich, dass ich unter keinen Umständen illegalen Handel mit Leichen betreiben werde.

Hiermit erkläre ich, den Toten bei den täglichen Gedenkfeiern die letzte Ehre zu erweisen.

Hiermit erkläre ich, dass ich bei diesen Gedenkfeiern niemals den

Svaboda Samoverzjenja

tanzen werde.

Das Bewerbungsverfahren war derart einfach, dass sie es kaum glauben konnte. An ihrem dritten Arbeitstag, während des abschließenden Gedenkens für den neuesten Schwung aus der Diaspora der Toten, an dem alle diensthabenden Leichensammler teilnahmen, hörte sie, dass die Fragebogen noch kürzer und einfacher geworden waren: Es war schwer, Mitarbeiter zu finden. Das Personal bestand vorwiegend aus Arbeitsmigranten.

»Der Tod ist für alle hier eine Katastrophe«, schimpfte der Kollege, der sich nach der Gedenkfeier als Kaspar vorgestellt hatte. »Menschen anderswo empfinden es irgendwie als normaler, das Sterben, die Leichen, das Leben nach dem Tod und so weiter. Du kommst doch auch nicht von hier, oder?«

»Nein«, antwortete sie, »aber ich lebe hier schon lange.«

»Erzähl mal«, sagte er. »Willst du ein Bier?«

Sie gingen hinüber ins Hauptgebäude, und er zauberte mit lässigem Lächeln vier Dosen Bier aus der Kühlbox mit dem DNA-Material. Damit gingen sie zum Totenfeld Nummer vierzehn. Am Feldrand standen in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne zwei weiße Schalensessel.

»Meine Großeltern liegen im Garten meines Geburtshauses«, sagte Toni, nachdem sie sich hingesetzt hatten. »In den Bergen. In unserem Dorf gibt es einen Friedhof, na klar, aber mein Opa wollte nicht weg von dem Haus, das er mit eigenen Händen gebaut hatte.«

»Ehrlich?«, sagte Kaspar. »Das würden wir hier total makaber finden, verrückt sogar! Als die Leichen aus Besulia hier plötzlich auftauchten, dachte ich: Könnte man allen, die vor ihrer Zeit den Löffel abgeben, neues Leben einhauchen, wer würde das nicht wollen? Das wär doch ein Traum! Aber nein, so war’s nicht.«

Toni nickte. »Ich verstehe das auch nicht«, sagte sie. »Ach, und mein Vater liegt da auch schon.«

»Wo?«

»In unserem Garten.«

»Ah, ja.«

»Er ist gestorben, kurz nachdem ich hierhergezogen bin. Ich habe ihn nur noch ein einziges Mal besucht. Das ist jetzt fünfzehn Jahre her. Ich war einundzwanzig.«

»Und deine Mutter?«

»Auch tot. Seit sechs Jahren. Ich muss sie noch beisetzen, dort im Garten. Ich hatte noch keine Zeit.«

»Keine Zeit, um nach Hause zu fahren? Wo kommst du denn her?«

»Upasi. Südlich von Besulia. Kennst du es?«

Kaspar ließ seine Bierdose in der Hand rotieren und nahm einen Schluck.

»Claudia, meine Frau, hat einen Weinführer über Upasi.«

»Wir haben die besten Weine«, sagte Toni.

Sie schauten auf das riesige Gräberfeld. In der Ferne lag die Skyline der Stadt: Bürohäuser, das Parlamentsgebäude, Banken, moderne Wohntürme, die im orangegelben Sonnenlicht glitzerten. Toni nahm einen Schluck Bier und dachte an den ersten Morgen zurück, an dem sie in dem Body-Pick-Up-Servicewagen durch die Stadt fuhr, auf dem Weg zu ihrer ersten Leiche. Über den jungen Teenager, irgendwo in einer blitzblanken Wohnung in der Innenstadt, geriet sie in Panik, aber nicht, weil sein Brustkorb und Hals mit Granatsplittern gespickt waren, und auch nicht, weil sein junger Körper schon so steif wie ein Brett war. Das war im Gegenteil praktisch: Sie konnte ihn einfach auf die Sackkarre hieven. Nein, in Panik geriet sie bei dem Gedanken, dass sie, wenn sie diese unmenschliche Arbeit je aufgeben sollte, nur eine Stelle bekäme, die noch weiter unter ihrem Niveau liegen würde. Ist doch egal, dachte sie, im Grunde bin ich doch, genau wie der tote Junge, nicht allzu viel wert.

Im Badezimmer, in dem ein älteres Ehepaar ihn gefunden hatte, übergab sie sich in die Badewanne.

»Verzeihung«, murmelte sie und bereute ihre Gedanken sofort. »Ich sollte die Klappe halten, die Menschen behandeln dich doch eh wie ein Stück Scheiße.«

Nachdem sie das Erbrochene weggespült und sich das Gesicht mit einem weichen Handtuch mit gestickten Initialen abgewischt hatte, redete sie, wie sie es häufig tat, streng auf sich ein. Ein Mantra der Body-Pick-Up-Schulungsbroschüre: »Es handelt sich um nichts anderes als Objekte, Retourware. Nicht daran denken, dass es Menschen sind, dann geht die Arbeit leicht von der Hand.« Sie lud den Jungen in den Wagen und wiederholte den restlichen Tag: »Straße entlangfahren, Leiche abholen, Fragen stellen, abrechnen, unterschreiben, einladen, kennzeichnen, weiterfahren.«

Eine Woche nach ihrer ersten Leiche verlief es schon besser, Monate später machte es ihr fast nichts mehr aus. Gelegentlich stieg die Wut in ihr hoch: Wie schwer kann es sein, hatte sie dann gedacht, einen traditionellen Tanz zu tanzen, um jemandem sein Leben zurückzugeben?

»Erinnerst du dich noch an die ersten Leichen hier? Und die ersten Tanzzeremonien?«, fragte Kaspar, als könnte er ihre Gedanken lesen.

Toni nickte und kniff die Augen zusammen. »Zuerst der Blackout, danach die Zügellosigkeit, und am Ende der große Zusammenbruch. Den fand ich eigentlich am Gruseligsten.«

Sieben Monate nach Kriegsausbruch in Besulia, ein Land, das kaum jemand kannte und dessen Krieg nur kurz durch die Nachrichten geisterte, tauchten mit einem Mal die ermordeten Menschen unter Esstischen, neben Designsofas und in Betten auf. An vollkommen beliebigen Orten waren die Leichen von einem auf den nächsten Moment da.

»Wir sind verflucht«, sagte eine Frau im Fernsehen, eine Personalleiterin bei einem renommierten IT-Unternehmen. Nach der Arbeit kam sie nach Hause, wollte sich das Gesicht waschen. Als sie sich umdrehte, lag in ihrer Badewanne plötzlich eine Leiche: ein älterer Mann in einem gestreiften Hemd und ordentlicher Hose, an den Füßen violette Pantoffeln.

Die Leichen erschienen in immer kürzeren Abständen in Fitnessstudios, Bibliotheken, Wohnungen, Kommunen, Schwimmbädern, Wochenendhäusern, Workspaces von Existenzgründern, Einkaufszentren, Ateliers, Museen, Großhandlungen. Nach der ersten Welle der Überraschung, der anfänglichen Angst, kam es zu einer eigenartigen Aufregung. Sieben Monate zuvor, als der Krieg in Besulia für kurze Zeit die Weltnachrichten beherrschte, hatte die junge Besulianerin Anna einen Hype ausgelöst, indem sie die Weltbevölkerung um Hilfe bat. Das Internet war voll von ihren Videos: »Tanzt«, sagte sie mit ihren stechenden, dunkelbraunen Augen, den vollen Lippen, der hübschen kleinen Nase und den strengen dunklen Augenbrauen. »Tanzt und rettet uns.«

Toni schaute sich damals alle Videos von dieser Anna an. Schon zu Kriegsbeginn verfolgte sie aufmerksam die Ereignisse. Die ersten Tage fühlte sie sich in die Vergangenheit zurückkatapultiert, zurück in ihr eigenes Land, aus dem sie vor langer Zeit geflohen war. Urplötzlich war es damals losgegangen, eines Abends hörten sie hinter den Bergen Schüsse, in der Nacht kamen die Raketen. Von ihrem Schlafzimmerfenster aus sah Toni die weiß aufleuchtenden Lichtstreifen. Granaten flogen durch die Luft und stürzten irgendwo in der Ferne mit einem dumpfen Knall zu Boden. Tagelang saß sie zusammengepfercht mit ihren Freundinnen im Keller ihrer Eltern, umringt von den feucht riechenden Kartoffelkisten, Rübensäcken und Einweckgläsern mit Paprika, Eiern, Tomaten und Blumenkohl. Sie war müde, konnte aber nicht schlafen, sie war hungrig, konnte aber nichts essen.

Als sie auf Annas Videos die erbarmungslosen Angriffe auf Besulia sah, beschlich sie ein lang verdrängtes Gefühl, ein Gedanke, der sie damals, in dem feuchten Keller ihrer Eltern, mit jedem Tag stärker überwältigt hatte: Niemand hilft uns.

Die Hilfe, um die Anna in den Videos bat, schien nicht allzu kompliziert: »Ihr braucht nicht zum Kämpfen kommen«, sagte sie. »Spenden sind nicht nötig, und wir wollen auch keine Waffen. Ihr müsst nur für uns tanzen. Unseren traditionellen Tanz, den Svaboda Samoverzjenja. Helft uns, das Böse zu vertreiben.« In den ersten Tagen, in ihren ersten Filmen, lächelte sie freundlich. Doch je näher die feindlichen Soldaten auf das Dorf vorrückten, desto mehr verschwand der Glanz aus ihren Augen. Und wie begeistert sie ihren Followern auch zuredete, etwas in ihrer Stimme war gebrochen, die Augen stumpf. Anscheinend gelang es ihr nicht, genügend Menschen zusammenzutrommeln, etwas hakte zwischen ihrem Aufruf und den Empfängern.

Mit einem tiefen Seufzer lässt Toni das Fernglas sinken. Das dauert ihr hier zu lang. Unter den Kollegen ist die Gegend dafür bekannt: »Elitäres Volk. Sie ertragen es einfach nicht, dass die Leichen auch bei ihnen landen.«

Gerade als sie den Außenlautsprecher einschalten will, um Haus Nummer acht aufzurufen, öffnet sich langsam das Gartentor. Ein schlaksiger Junge erscheint in der Auffahrt. Unter seiner kurzen Hose lugen zwei milchig weiße dünne Beine hervor.

»Fuck, warum bist du käseweiß, wo die Sonne doch so verdammt grell ist?«, murmelt Toni.

Er winkt ihr irgendwie seltsam zu: den Arm hoch zum Himmel, die Finger weit gespreizt, als wolle er einen geheimen Gruß überbringen. Kurz überlegt sie, ob sie durch den Lautsprecher »Na, was bist denn du für einer?«, sagen soll. Doch sie spürt seine Angst und lässt es sein.

»Was hast du für mich?«, fragt sie, als sie aussteigt.

»Sie sind vor drei Wochen aufgetaucht«, sagt er.

»Sie? Mehrere?«

Der Junge nickt. »Zwei. Sie lagen in der Garage, der eine im Auto meiner Oma, die andere auf Papas Werkbank.«

»Das habe ich ja noch nie erlebt.«

»Ich glaube, sie gehören zusammen«, flüstert er.

Das Garagentor geht auf. Ein Mann mit einer Schubkarre tritt in die gleißende Mittagssonne. Über dem Rand baumeln vier Beine. Der Junge fängt zu heulen an.

»Wir wissen einfach nicht mehr weiter. Ich habe meine Freunde hergebeten, jeden Abend, jedes Wochenende. Wir haben getanzt, genau wie in den Videos.«

Der Mann fährt mit der Schubkarre die Auffahrt entlang. Ganz vorsichtig, beinahe zeremoniell: ein Schritt, Schubkarre vorwärts, kurz anhalten, wieder ein Schritt, Schubkarre vorwärts. Bis er neben seinem Sohn steht, vergehen bestimmt drei Minuten. Die Schubkarre ist ausgepolstert mit bunten Kissen. Darauf: zwei Kinder. Ihre Gesichter sind blutverschmiert und voller Schrammen und blaugrüner Flecken, als wären sie aus Bronze und hätten Grünspan angesetzt.

»Granaten?«

»Wie bitte?«, fragt der Mann mit heiserer Stimme. Die Äderchen in seinen Augen sind geplatzt. Im Türrahmen des Hauses erscheint ein schlanker Mann im Bademantel. In seinen Pantoffeln kommt er auf sie zu.

»Ja«, sagt er, als die Schubkarre erreicht, »Granaten. Wir haben es nachgeschlagen.«

Der Junge schaut von den Kindern zu Toni.

»Vor drei Tagen, morgens, da haben wir geglaubt, dass eines der Kinder den Arm bewegt hat. Wir haben die ganze Nacht durchgetanzt.«

»War aber nicht so. Wir waren einfach übermüdet.«

»Er träumt immerzu von ihnen.« Der Mann im Bademantel legt die Hand auf den Kopf des Jungen, der wieder zu weinen anfängt. Die beiden Männer nehmen ihn in ihre Mitte.

»In einem anderen Viertel hätte es vielleicht geklappt.«

»Wo?«

»Na ja, in so einem Viertel mit mehr … Community? Wo man sich gegenseitig mehr hilft? Wie da drüben … bei den schmucken Wohnblöcken.«

Der Mann deutet nach links über die Hügel zu dem Viertel, in dem Toni wohnt. Sie runzelt die Stirn. Ich wohne in so einem Wohnblock, will sie sagen, aber ich kenne kaum Nachbarn.

»Können Sie die Kinder nicht dorthin bringen?«

Toni sieht die Männer lange an. Anderen Familien ist es doch auch gelungen, denkt sie. Die haben tagelang getanzt, wochenlang, fast ununterbrochen, und es hat geklappt.

»Da hätten Sie sich schon selbst drum kümmern müssen, das wissen Sie doch. Steht alles in der Bestätigungsmail. Es gibt noch drei Gemeinden im Land, in denen man sich die Mühe macht, tagein, tagaus. Aber die nächste ist drei Stunden entfernt.«

»Oh«, macht der Mann im Bademantel mit gespielter Überraschung, »entschuldigen Sie, das haben wir wohl überlesen.«

»Kann passieren«, antwortet Toni. Sie betrachtet noch einmal die beiden toten Kinder und läuft dann zum Wagen.

»Das haben wir wohl überlesen«, äfft Toni den Mann nach, als sie die Tür zuzieht. »Was für eine Frechheit.« Sie fährt ein Stück auf die Straße und setzt rückwärts in die Auffahrt. Sie öffnet die Heckklappen, auf die sie letzte Woche einen großen, runden Sticker geklebt hat: ein dunkelblauer Kreis mit einem offenen weißen Sarg darin, aus dem orangefarbenes Licht scheint. Daneben liegen Apfelsinen. Den Sticker hat eine junge Besulianerin in ihrem zweitem Leben entworfen. Sie leitet eine Kampagne für die kostenlose Behandlung von Kriegstraumata. Immer mehr Auferstandene schließen sich ihrer Bewegung an, die Gruppe wächst mit jedem Tag. Seit Kurzem haben sie auch eine große Gruppe, die bei den Body-Drop-Off-Centern vorbeikommt, um die Menschen auf den Gräberfeldern wach zu tanzen – eine Entwicklung, die vier Besulianer vor anderthalb Jahren begonnen haben.

»Ich muss Sie das fragen: Sie geben das Tanzen also auf?«

Der Mann im Bademantel nickt. »Was denken Sie denn, warum Sie sonst hier sind?«, sagt er schroff. »Wieviel kriegen Sie?«

»Fünfhundertdreißig.«

»Ich dachte fünfhundertzehn?«

»Erhöhte Bearbeitungsgebühren, Emotional Labor, Totengräber, Wagenreiniger, DNA-Erkennungsdienst.«

Der Mann zieht seine Kreditkarte aus der Bademanteltasche und sieht Toni an.

»Bevor Sie bezahlen, müssen Sie offiziell bestätigen, dass Sie das Tanzen aufgeben«, sagt sie.

»Ich gebe auf.«

»Wir können nicht mehr«, sagt auch der andere Mann.

»Du auch?«, fragt Toni den Jungen, obwohl das nicht nötig wäre.

»Muss das sein?«, knurrt der Mann im Bademantel.

»Ja, leider«, sagt Toni trocken.

Der Junge weint und weint.

Die Kinderleichen sind das Schlimmste. Das ist nun einmal so, tote Kinder wühlen die Menschen auf: seltsam verrenkt auf der Straße, den Kopf in einer Blutlache. Angeschwemmt am Strand. Eingeklemmt unter Trümmern. Neben einem frischen Granatenkrater auf dem Spielplatz. Mit einem Kopfschuss auf einer staubigen Straße. Absichtlich von einem Panzer überfahren, unterernährt, ausgezerrt und verdurstet in einer Wüste.

Wenn Kinderleichen im Fernsehen oder im Internet gezeigt werden, hält die Welt den Atem an, steht das Leben für eine Sekunde still, setzen Gedanken und Bewegungen aus, vielleicht sogar die Zeit: Millionen Menschen, die gleichzeitig erstarren und sich dasselbe Grauen anschauen. Nur für einen Sekundenbruchteil, eine split second, denken alle: Warum sind wir nicht vor Ort und verhindern so etwas? Wenigstens ging es Toni immer so, und sie dachte, allen anderen müsse es ebenso ergehen. Seitdem sie nicht nur Erwachsene, sondern auch besulianische Kinder abholt, sieht sie die Dinge anders. Viel zu schnell denken die Leute: Die haben dich einfach abgeschlachtet. Oder: Ich habe dir das nicht angetan. Oder: Hey, was hätten wir denn tun sollen, als es losging? Dahin fahren? Uns vor dich stellen? Mit bloßen Händen Minen ausbuddeln? Zurückschießen?

Toni fährt auf den Parkplatz des Body-Drop-Off-Centers und lässt den Motor laufen. Sie öffnet die Heckklappen und klettert in den Laderaum. Auf den zwölf Pritschen liegen dreizehn Leichen. Die beiden Kinder liegen nebeneinander, der Junge auf dem Rücken, das Mädchen auf der Seite, dicht bei ihm, den Arm um seinen Bauch geschlungen. Toni tut der Rücken weh. Sie betrachtet die beiden Kinder. Kaspar kommt aus dem Büro. Er schiebt einen fahrbaren Seziertisch vor sich her. Das Ding rattert wie verrückt über das graue Kopfsteinpflaster, als würde man einen Kübel Alteisen durcheinanderrütteln. In ihrer ersten Arbeitswoche fragte sich Toni, wozu es einen Seziertisch brauchte: Wollten sie etwa die Leichen aufschneiden und die Zellen untersuchen, um herauszufinden, wie sie hierhergekommen waren und somit das Geheimnis der sogenannten »Diaspora des Todes« lüften?

»Quatsch«, hatte Kaspar gesagt. »Es mangelt einfach an Rolltischen, um die Leichen zu transportieren.«

»Ich habe mir schon online deine Registrierliste angesehen. Ganz schön viel Fracht heute«, ruft Kaspar jetzt nahezu vergnügt. Er schaut mit seinem lieben breiten Lächeln in den Transporter. Als er die Pritsche mit den zwei Kindern sieht, verzieht er den Mund.

»Oh.«

»Tja.«

Kaspar schaut kurz auf die Uhr.

»Wenn du früher Schluss machen willst, kann ich das übernehmen.«

»Nein, nein.« Sie winkt ab. »Geht schon.«

Schweigend laden sie, eine nach der anderen, die Leichen aus: den Toten hochheben, vorsichtig auf den Seziertisch legen, in den Waschraum fahren und in ein freies Fach legen. Normalerweise redet Kaspar dabei wie ein Wasserfall, nun schweigt er. Er spielt nicht einmal das Spiel, das bei fast allen Mitarbeitern sehr beliebt ist: Woher kommt die Leiche? An der einen Wand des Waschraums, wo die Toten flüchtig gesäubert werden und das Blut von Haut und Haar entfernt wird, hängt eine Landkarte von Besulia mit seinen sieben Provinzen. Und daneben eine ausgedruckte Liste: Links trägt man die frisch eingetroffenen Toten ein und rechts die Provinz. Die diensthabenden Kollegen raten, woher die Toten kommen. Nach der DNA-Untersuchung in einem Nebenraum, bei der bei vierzig Prozent der Toten ermittelt werden kann, woher sie stammen, wird der Wochengewinner ermittelt. Jede Woche wird ein Sieger gekürt. Der bekommt dann einen Kuchen oder ein Bier, je nach dem, wer es ist. Am Monatsende wird der Gesamtsieger ausgerufen. Kaspar hat noch nie gewonnen, Toni auch nicht. Sie spielt nicht mit.

Die Kinder sind die letzten.

»Zusammen«, sagt Toni kurz angebunden, als sie mit dem Jungen im Arm aus dem Transporter steigt. Sein Kopf ruht an ihrer Schulter, als wäre er unterwegs eingeschlafen und müsste jetzt ins Bett getragen werden. Er hat lange blonde Wimpern.

»Was?«

»Die beiden müssen zusammenbleiben. Schau nur, wie sehr sie sich ähneln.«

Sie legt den Jungen vorsichtig auf den fahrbaren Seziertisch, lang ausgestreckt, Arme ordentlich neben dem Körper.

»So«, sagt sie und richtet auch die Finger, einen nach dem anderen, auf dem kalten Metall aus.