Target. Du bist das Ziel - L. C. Frey - E-Book

Target. Du bist das Ziel E-Book

L.C. Frey

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Beschreibung

Rasant erzählt und ohne Furcht vor den Abgründen der menschlichen Seele: Der neue Thriller von L.C. Frey

Bei einem nächtlichen Spezialeinsatz in einem abgelegenen Waldstück schießt die junge BKA-Ermittlerin Lisa Kern einen flüchtigen Verdächtigen an – der Mann soll ein furchtbares Verbrechen begangen haben. Doch als sie ihre Taschenlampe in sein Gesicht richtet, der Schock: Vor ihr liegt ihr Vater, mit dem sie seit fünfzehn Jahren kein Wort gewechselt hat. Nur wenige Stunden später nimmt sich der mutmaßliche Schwerverbrecher in der U-Haft das Leben.
Als die Presse von der Sache Wind bekommt und ihr als der »Tochter des Monsters« nachstellt, bleibt der inzwischen wegen Befangenheit vom Dienst suspendierten Lisa nur eine einzige Wahl: Sie muss untertauchen und die Wahrheit auf eigene Faust herausfinden. Noch ahnt sie nicht, dass sie einer Sache auf der Spur ist, die wesentlich größer und gefährlicher ist als alles, was sie sich bisher vorzustellen wagte ...

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Seitenzahl: 473

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Für L.C. FREY gibt es nichts Spannenderes als die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele. Seit Jahren begeistert er mit seinen temporeichen, packenden Thrillern eine riesige Fangemeinde. Unter seinem Klarnamen Alex Pohl hat er darüber hinaus mehrere Kriminalromane veröffentlicht. Target. Du bist das Ziel ist sein erstes Buch als L.C. Frey im Penguin Verlag.

L.C. Frey

Target.

Du bist das Ziel

Thriller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2022 by Alexander Pohl

Copyright © 2022 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München

Redaktion: Carlos Westerkamp

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagabbildung: Arcangel, Andrius Remeikis/Arcangel, Roy Bishop/www.buerosued.de

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-26204-4V002 

www.penguin-verlag.de

ENDE

Aufgegebene Eisenbahnbrücke in der Nähe von Wiesbaden

Lisa warf einen letzten Blick auf das Display ihres Handys. Darauf sah sie sich selbst, aufgenommen durch die Linse der Selfiekamera. Knapp eintausend Viewer hatten sich inzwischen per Livestream zugeschaltet. Sahen ihr zu, kommentierten das Geschehen.

Hochgereckte Daumen. Aufmunternde Kommentare.

Smileys.

Sie nickte, und ihr Gesicht auf dem Display nickte ihr ebenfalls zu, nur einen Sekundenbruchteil verzögert. Selbst im trüben Licht dieses regnerischen Tages wirkte sie ungesund, ihr Gesicht ein blasser, verwaschener Schemen, die Augen dunkle Teiche darin.

Noch ein paar Daumen und Smileys mehr. Nicht, dass das jetzt noch eine Rolle gespielt hätte.

Lisa kletterte auf die hüfthohe Absperrung, die die Brücke begrenzte, streckte ihren Rücken durch. Für einen Moment kämpfte sie mit rudernden Armen um ihr Gleichgewicht, als eine Windbö sie erfasste. Sie fand ihren Stand wieder, gerade so.

Der Regen hatte vor ein paar Minuten wieder kräftig eingesetzt. Er prasselte auf sie herab, auf die rostverkrusteten Stahlträger der Brücke, auf die graue, sturmgepeitschte Landschaft ringsum. Lisa hob den Kopf, betrachtete den bleiernen Himmel. Sie konnte sein Gewicht beinahe körperlich spüren.

Tief atmete sie den sauren Geruch des Regens ein. Zerrissene Sturmwolken jagten über ihren Kopf. Schwärze dämmerte am Horizont. Irgendwo hinter all diesen Wolken versteckt, musste es eine Sonne geben, aber Lisa mochte nicht mehr so recht daran glauben.

Sie senkte den Blick. Viele Meter unter ihr schoss das Wasser dahin, schaumige Gischt spülte ans Ufer. Bleigrau auch der Fluss in einer monochromen Landschaft, als wäre dem lieben Gott kürzlich alle Farbe ausgegangen.

Sie fragte sich, ob es lange dauern würde, bis das eisige Wasser ihre Lunge gefüllt hatte. Ob sie in der reißenden Strömung ertrinken oder nicht schon vorher am Kälteschock sterben würde. Herzstillstand. Aus und vorbei, in einem Sekundenbruchteil ist man bewusstlos.

Schön wäre das.

Lisa trat einen kleinen Schritt vor, auf den Rand der Brüstung zu. Vom Ende der Asphaltstraße ertönte ein fragendes Bellen, fern und gedämpft. Dort, am Rand eines Stoppelfelds, stand ein Mann in einer dunklen Regenjacke, die Kapuze auf dem Kopf. Daneben ein Hund, an einer Leine. Ein Border Collie, schwarz und weiß gefleckt. Das pinkfarbene Halsband des Hundes war der einzige Farbtupfen in diesem tristen Panorama. Der Mann stand völlig reglos da, machte keinerlei Anstalten, Lisa zu helfen oder Hilfe zu rufen.

Lisa richtete den Blick wieder auf den Horizont, dann stieß sie sich kräftig ab, sprang mit geschlossenen Füßen, die Arme eng an den Körper gepresst. Nur ein kleiner Hüpfer, ganz einfach.

Den Rest würde die Schwerkraft erledigen.

NOCH 8 TAGE BIS ZUM SPRUNG

Wiesbaden, Sperlingsviertel

8 Tage früher

Lisas Handy pingte, eine neue Nachricht.

Melde dich bitte, Lisa. Wir müssen reden.

Fünfzehn Jahre Stille, dachte Lisa, und dann plötzlich diese regelrechte Flut. WhatsApp-Nachrichten, mindestens zwei pro Tag. Seit zwei Wochen ging das jetzt schon so, mit zunehmender Häufigkeit in den letzten paar Tagen, und alle waren ähnlichen Inhalts.

Sie drückte die Nachricht weg, wie jedes Mal.

Klar, dachte sie, während sie das Gartentor aufschob und auf den Kiesweg trat, der zu dem kleinen Reihenhaus im Sperlingsweg führte, das sie und Max nun seit etwas über zwei Monaten gemeinsam bewohnten. Klar. Melden wir uns. Reden wir. Gute Idee.

Bloß kommt sie fünfzehn Jahre zu spät.

Fünfzehn Jahre, seit sich ihr Vater endgültig für seinen besten Freund entschieden hatte anstatt für das, was damals von seiner kleinen Familie noch übrig geblieben war. Sein bester Freund wurde in Flaschen verkauft, war ständig und überall verfügbar. Beschwerte sich nie, spendete immer Trost, oder wenigstens für ein paar Stunden Vergessen.

Dagegen kam man als Tochter einfach nicht an.

Sie schlüpfte unter das Vordach der Haustür und schüttelte sich die Nässe aus den schulterlangen, braunen Haaren. Auf dem kurzen Weg von der S-Bahn-Station hatte sich der Nieselregen in ihren Klamotten und Haaren festgesetzt, ihre Jeans klebten klamm an ihren Beinen. Seit Tagen ging das nun schon so, der Herbst zeigte sich von seiner unwirtlichen Seite, die Dämmerung begann gefühlt bereits am frühen Nachmittag. Genau das richtige Wetter, fand Lisa, um es draußen zu lassen. Es einfach an sich abperlen lassen wie den Regen auf ihrer altgedienten Motorradjacke. Ins Trockene schlüpfen und dann gar nicht mehr dran denken.

Für einen Moment stand sie noch vor der Haustür. Nahm einen tiefen Atemzug durch die Nase, was ihr immer etwas Schwierigkeiten bereitete, denn ihr Nasenrücken stand etwas schief, seit er durch einen beherzten Stiefeltritt gebrochen worden war.

Dennoch saugte sie jetzt die Luft tief ein, füllte ihre Lunge bis zum letzten Winkel, bis es schmerzte. Hielt die Luft an, zählte. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Dann atmete sie aus, durch einen schmalen Spalt zwischen ihren Lippen.

Danach ging es ihr etwas besser.

Lisa schob den Schlüssel ins Schloss der Haustür, dann öffnete sie, trat ein und drückte die Tür hinter sich wieder ins Schloss, was die Geräusche von draußen sofort dämpfte. Den Regen, die vorbeifahrenden Autos auf dem nassen Asphalt, das ferne Rattern der S-Bahn auf den Schienen. Es dämmte auch die Kälte, die ihr den ganzen Weg von der S-Bahn-Station bis nach Hause gefolgt war.

Im Inneren des Hauses war es mollig warm.

Sie hängte ihre Lederjacke an einen Haken der Ikea-Garderobe und streifte sich die Stiefeletten von den Füßen, dann trat sie auf Socken in den Flur. Geräusche aus der Küche. Kaffeeduft mit einem Hauch von Zimt und Haselnuss. Sie lächelte. Es waren Momente wie diese, in denen sie sich beinahe sicher war. Dass sie das schon irgendwie packen würden, sie und Max.

»Wow!«, sagte sie, als sie in die Küche trat, wo Max auf einem Barhocker am Küchentisch saß und stirnrunzelnd in sein Handy starrte – wie üblich. Als er den Kopf hob und sie erblickte, begann er zu lächeln. Genau im richtigen Moment. So, als wäre die Sonne in diesem Moment direkt in der kleinen Küche des Reihenhäuschens am Sperlingsweg aufgegangen. Lisa deutete mit einem fragenden Lächeln in Richtung Backröhre.

»Zimtschnecken«, sagte Max und tat ganz lässig. »Heiß und frisch. Sind gleich fertig, Süße. Und, äh …« Er deutete auf eine Flasche, die auf dem Küchentisch stand. »Für heute Abend. Zur Feier des Tages, weil mein Mädchen heute ausnahmsweise mal schon vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause ist. Ich dachte, wir könnten später vielleicht gemeinsam in die Wanne steigen und …«

Lisa ging zu ihm, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf den Mund. Er schmeckte nach einem Hauch von Kaffee, seine Bartstoppeln kitzelten an ihren Handinnenflächen. Nach einer Weile bemerkte sie, dass sich etwas in seinem Schritt zu regen begann, während sie ihren Körper eng an seinen schmiegte. Das mit der Wanne konnte warten.

Lisa tastete nach seiner Hand und zog ihn wortlos zur Treppe, die nach oben führte, ins Schlafzimmer. Kaffee und die Zimtschnecken würden in ein paar Minuten noch genauso gut schmecken. Besser, vermutlich.

»Warte!«, sagte er grinsend. »Es gibt noch was.«

»Okay, Cowboy«, erwiderte Lisa mit hochgezogener Augenbraue. »Etwas, das dir wichtiger ist als …« Sie tat betont cool und erntete ein schiefes Grinsen von Max. »Bitte, wie du willst. Und was könnte das wohl sein, dass so furchtbar wichtig ist?«

In diesem Moment erklang ein kurzes Bellen von oben, aus dem Schlafzimmer, wie auf Stichwort.

»Nee, oder?«

Max machte ein schuldbewusstes Gesicht und nickte. »Ein Kollege wollte sie ins Tierheim geben. Er und seine Frau haben sich getrennt, und jetzt hat keiner von ihnen mehr die rechte Zeit, um …«

»Aber wir haben Zeit für einen Hund oder wie?«, fragte Lisa stirnrunzelnd.

Herrgott, sie hatten an den meisten Tagen der Woche ja nicht mal Zeit für einander. Was freilich nicht Max’ Schuld war. Der hatte einen geregelten Job als Systemadministrator, war jeden Tag zur selben Uhrzeit daheim, schaffte es sogar noch, seiner Tochter aus erster Ehe, Charlotte, ein guter und zuverlässiger Vater zu sein.

Und er wollte noch mehr Kinder. Mit ihr, Lisa. Mindestens noch zwei, hatte er gesagt, und am besten sofort. Bloß …

»Was soll das denn jetzt?«, fragte Lisa mit matter Stimme.

»Bitte, Süße. Schau sie dir wenigstens mal an, okay?«, sagte Max leise. »Ich kann sie ja auch wieder zurückgeben. Ist kein Problem, wirklich. Ich wollte dich damit nicht …«

»Unter Druck setzen?«, vervollständigte Lisa den Satz.

»Scheiße, ja«, seufzte Max. »Also, nein. Ach, verdammt! Soll ich sie gleich zurückbringen? Tut mir leid. War eine Schnapsidee.«

Lisa schüttelte stumm den Kopf. Fragte sich, warum sie das eigentlich tat. Natürlich sollte Max den Hund zurückgeben. Am besten heute noch, je früher, desto besser. Ihr Job erlaubte ihnen keinen Hund, und schon gar keine Kinder. Jetzt noch nicht. Nicht, wo sie noch am Anfang ihrer Karriere stand. Sie wollte erst mal vorankommen, das vor allem anderen. Kinder? Ja, vielleicht. Später. Mal sehen. Das hatte sie ihm unmissverständlich klargemacht. Mehrmals. Er hatte jedes Mal genickt, hatte es akzeptiert. Oder wenigstens so getan.

Und jetzt schleppte er einen Hund an.

Eine Minute später stand sie vor dem Körbchen im Schlafzimmer und sah auf das schwarz-weiß gefleckte Fellknäuel hinab, das sich aufgerichtet hatte, die Ohren aufgerichtet, und sie aus schwarzen, neugierigen Augen anstarrte. Beinahe als erwarte der Hund, dass Lisa jetzt eine Rede halten würde, um sie offiziell im Haus zu begrüßen.

»Oh Mann«, sagte Lisa leise und ging vor dem Körbchen in die Knie. Die Hündin sprang sofort auf ihre Beine und legte eine weiche Vorderpfote auf Lisas Knie. Hallo, wer bist denn du?, schien sie damit sagen zu wollen. Ohne jede Arglist oder Scheu, ohne jedes Vorurteil. Die Schnauze in dem Hundegesicht schien sich zu einem Grinsen zu verziehen. Es war einfach unfair. »Du bist echt ein Arsch«, flüsterte Lisa. Max hatte sich derweil auf das Bett gesetzt und sah dabei zu, wie die Hündin ihr eifrig die Hand ableckte.

»Ich weiß«, sagte Max. »Tut mir leid. Ich konnte einfach nicht widerstehen. Zu weiches Herz.« Dabei grinste er, und das tat Lisa jetzt auch. Man konnte einfach nicht anders, wenn man diesen Hund ansah. Dann begann sie, der Hündin den Nacken zu kraulen, was dem Tier leise Seufzer der Verzückung entlockte. »Ich hab ihr auch schon ein Halsband gekauft«, sagte Max. »Eins mit einem Ortungschip, voll hightech und so. Damit wir sie nicht verlieren.«

»Ortungschip?«, fragte Lisa abwesend, während sie die Streicheleinheiten auf die empfindliche Stelle hinter den Ohren ausweitete. Die Hündin schien vor Wohlbehagen zu zerschmelzen.

»Na ja, sie ist ja neu hier, kennt die Gegend noch nicht. Falls sie uns nun wegläuft oder so. Dann finden wir sie später leichter wieder. Ich meine …«

Falls sie uns wegläuft. Unser Hund. Einfach so.

»Sie sieht nicht so aus, als würde sie weglaufen wollen«, wandte Lisa ein.

»Sie kriegt manchmal ihren Rappel, meinte Ralf. Dann erwacht der Wolf in ihr.« Max stieß ein Knurren aus, wofür ihn die Hündin mit einem fragenden Blick bedachte.

»Okay«, sagte Lisa und stand auf. »Probieren wir’s für ein paar Tage. Aber ich werde mich nur selten um sie kümmern können, das weißt du.«

»Weiß ich«, versicherte Max. »Sie kann ja tagsüber in den Garten hinterm Haus. Und ich bin sowieso meist früher daheim als du, dann kann ich mit ihr Gassi gehen. Sie ist an das Alleinsein gewöhnt, sagte Ralf. Macht ihr nichts aus. Hey, willst du mal die App für das Halsband sehen? Ist echt cool, die musst du dir auch aufs Handy laden.«

Er hielt ihr sein Handy hin. Auf dem Display war eine Straßenkarte zu sehen, und nach einer Weile begriff Lisa, dass der gezeigte Bildausschnitt die Gegend darstellte, in der sie wohnten, das Sperlingsviertel. Im Zentrum des Bildausschnitts stand ihr Haus, symbolisiert durch ein bräunliches Viereck auf grüner Fläche, und darin ein blinkender, roter Punkt. Das Halsband der Hündin. Ihrer Hündin.

»Wie heißt sie eigentlich?«, fragte Lisa.

Später lagen sie eng aneinandergekuschelt unter der Bettdecke. Shady, denn das war der Name der Collie-Hündin, hatten sie zuvor samt Körbchen in den Flur abgeschoben, da Lisa wenig Lust verspürte, während ihres Liebesspiels mit Max von einem spielwütigen Border Collie unterbrochen zu werden, der just in diesem Moment das Trampolinspringen für sich entdeckte, und zwar auf ihnen. Shady hatte den Rauswurf ohne jeden Protest über sich ergehen lassen und auch später nicht an der Tür gekratzt oder irgendwie anders auf sich aufmerksam gemacht.

Man konnte gar nicht anders, als diesen knuffigen Fellball ins Herz zu schließen, und das war Max natürlich von Anfang an vollkommen klar gewesen. Ein Teil von Lisa versuchte angestrengt, ihn für diese offensichtliche Manipulation zu hassen, aber es wollte ihr nicht recht gelingen.

Verdammt, vielleicht hatte er ja recht.

Vielleicht sollten sie tatsächlich mal ernsthaft über Kinder nachdenken. Jeder hatte doch Kinder, sogar die meisten von Lisas Kollegen beim BKA, und die bekamen schließlich auch beides einigermaßen auf die Reihe. Job und Familie, bitte schön. Und das auch nicht erst mit fünfzig.

Sie kuschelte sich an Max, der nach der Weinflasche auf dem Nachttisch langte. Darin war nur noch ein kleiner Rest, den er sich prompt in den Mund schüttete, direkt aus der Flasche. Fehlte noch, dass er sich auf die Brust schlug, sie auf seine Schulter warf und sie in seine Höhle schleppte.

Nicht, dass sie was dagegen gehabt hätte.

Inzwischen war es draußen vollkommen dunkel geworden, das Zimmer wurde lediglich von ein paar Kerzen erhellt, die Max vor dem Spiegel der Frisierkommode aufgestellt hatte. Die Gardinen hatten sie nicht zugezogen, bevor sie sich geliebt hatten. Sollten die Nachbarn doch ruhig eine kleine Show bekommen.

»So, die ist alle«, sagte Max zufrieden, nachdem er die Flasche geleert hatte. Seine Aussprache war gedehnt und ein kleines bisschen verwaschen. All-le. Lisa lief ein Schauer über den Rücken, als sie seinen Alkoholatem roch. Sie drehte sich um, schwang die Beine aus dem Bett und stand auf.

»Hey«, sagte Max. »Ich hab noch eine Flasche davon unten in der Küche. Nicht, dass du mich noch für einen Egoisten hältst.« Lisa hatte nur ein halbes Glas Wein getrunken, aber mehr wollte sie auch gar nicht. Sie trank äußerst selten und war nie auch nur angetrunken. Sie hatte gesehen, was das anrichten konnte. Ihre Lektion war eindringlicher gewesen, als jede Entzugsklinik das je hätte sein können.

»Nee, lass mal«, sagte sie. »Ich hol mir ein Glas Wasser. Willst du auch?«

Er zuckte die Schultern. Lächelte sie an. Lisa lächelte zurück. Etwas an diesem Lächeln gab ihr Geborgenheit. Sicherheit. Das Wissen, dass es etwas Gutes in ihrem Leben gab, zu dem sie immer zurückkehren konnte. Eine kleine Heimat, mitten in ihrem Herzen. Dazu ein Haus und jetzt eben auch noch einen Hund. Warum denn nicht?

Lisa schlang sich die Bettdecke um den Körper und durchquerte das Zimmer, kam sich dabei ein bisschen vor wie ein kleines Mädchen, das Schlossgespenst spielt. Als sie die Tür erreicht hatte, rief er ihr hinterher: »Schöne Grüße von Charlotte übrigens. Sie fragt, wann ihr beide mal wieder was gemeinsam unternehmen wollt. Shoppen, oder in den Zoo. Und zwar ohne mich, hat sie ausdrücklich gesagt, da war sie ganz bestimmt. Und so was dem eigenen Vater, muss man sich mal vorstellen, so ein freches Gör, völlig verzogen.«

Er kicherte.

Lisa drehte sich um und erwiderte sein breites Grinsen mit einem zurückhaltenden Lächeln. Eine weitere versteckte Attacke auf ihre Mutterinstinkte? Sieh mal, wie gut du mit meiner Tochter zurechtkommst, und die ist noch nicht mal von dir! Da schaffst du das doch sicher auch mit eigenen Kindern, ist echt ein Klacks, glaub mir.

Es stimmte, sie mochte Charlotte und hatte das Gefühl, dass auch Charlotte sie mochte. Ihre »Tante Lisa«, die mit dem »krassen Job«, bei dem sie sogar eine echte Waffe tragen durfte und die Bösen fing wie eine richtige Superheldin.

Klar, bloß war Charlotte eben auch schon elf.

Kein Kleinkind mehr und auch noch nicht in einem wirklich problematischen Alter – sechzehn zum Beispiel. Außerdem sah sie Charlotte, wenn es hochkam, einmal im Monat, das war also kaum ein Vergleich zu dem Stress, den eigene Kinder verursachten.

»Grüß sie von mir zurück«, sagte sie. »Und sag ihr, wir machen ganz bald wieder was zusammen. Einen kompletten Nachmittag, wenn sie mag. Sobald ich mal wieder etwas eher rauskomme bei der Arbeit. Dann unternehmen wir beide was.«

Max nickte. »Das wird sie freuen zu hören. Sie mag dich nämlich, weißt du?«

»Ich mag sie auch, Max«, sagte Lisa und trat aus dem Schlafzimmer in den Flur.

Shady lag ganz brav in ihrem Körbchen und hob träge ihren wuscheligen Kopf, als Lisa vorüberging. Sie schenkte ihr einen müden Blick, dann senkte sie den Kopf wieder auf die Pfoten und schlief einfach weiter, träumte ihre Hundeträume, während Lisa die Treppe hinunter in die Küche ging.

Als sie an der Spüle stand und Wasser in ein Glas laufen ließ, klingelte ihr Handy auf dem Küchentisch. Über die Schulter warf sie einen Blick darauf. Es war die Büronummer des Chefs ihrer Einheit, Kriminaldirektor Andreas Möller. Hastig dreht Lisa den Hahn ab, stellte das Glas neben die Spüle, schnappte sich das Telefon und drückte auf den grünen Hörer auf dem Display.

»Ja?«

Sie brauchte exakt viereinhalb Minuten, um in ein neues Paar Jeans, ein Kapuzensweatshirt und ihre Lederjacke zu schlüpfen, die Dusche ließ sie weg. Sie schaffte es gerade noch, Max einen Kuss auf die Stirn zu drücken und Shady im Vorbeigehen durch das Fell zu wuscheln, bevor sie im Laufschritt aus dem Haus stürzte und in Richtung S-Bahn davonrannte.

15 Jahre zuvor

Die Geräusche über ihr hatten aufgehört.

Vor einer halben Stunde hatte sie die Kopfhörer aufgesetzt – Metallica auf Maximallautstärke –, und danach hatte sie den anhaltenden Lärm von oben nicht mehr wirklich mitbekommen. Nur noch die gelegentlichen Erschütterungen, die die Wände ihres kleinen Zimmers erzittern ließen, und das war schlimm genug gewesen. Wenn ihr Vater tobte, dann tobte er richtig, aber offenbar hatte er für den Moment genug.

Lisa zog die Kopfhörer von den Ohren. Leise und blechern schepperte Metallica weiter. Über ihr war es nun vollkommen ruhig. Dann Schritte, das Knarren loser Dielen.

Dann wieder Stille.

Seit sein Trinken völlig aus dem Ruder gelaufen war, hatte ihr Vater ein neues Hobby für sich entdeckt, ohne das alte deswegen aufzugeben. Seit ein paar Monaten flogen regelmäßig Bücher und Stühle gegen die Tische und Wände seines Büros, Flaschen, Gläser und Teller gingen gleich dutzendweise zu Bruch. Bei einem seiner Anfälle hatte es ihr Vater sogar geschafft, eine über hundert Jahre alte Eichenkommode in einen Haufen Kleinholz zu verwandeln, und das Ding hatte Lisa bis dahin für praktisch unzerstörbar gehalten. Nach dieser Aktion hatte er tagelang aufgeplatzte Knöchel und ein verstauchtes Handgelenk gehabt. Sie hatte ihn provisorisch verarztet, während er, den Blick verschämt gesenkt, in seinem schmutzigen Bademantel auf der Couch gesessen hatte. Er hatte dabei gestunken wie eine ganze Schnapsfabrik.

Dabei richtete sich seine Aggression nie gegen Lisa selbst, jedenfalls nicht körperlich. Stattdessen wich er ihr aus, zog sich immer mehr in seine eigene Welt zurück, zu der sie schon längst keinen Zugang mehr besaß. Sagte, er habe keinen Hunger, um sich sogar um die gemeinsamen Mahlzeiten drücken zu können.

Vielleicht aß er tatsächlich nichts mehr. Er hatte sichtbar an Gewicht verloren, seit er sich größtenteils in flüssiger Form ernährte. Auch da machte er keine Kompromisse, hatte sich gar nicht erst mit Bier oder Wein aufgehalten. Whisky, Wodka, Gin und Korn, damit versuchte er sich besinnungslos zu saufen, und inzwischen gab er sich nicht mal mehr die Mühe, seine diesbezügliche Absicht vor ihr zu verbergen. Ein Suizid auf Raten, und er ließ seine Tochter dabei zuschauen.

Wenn das mit der Besinnungslosigkeit nicht recht klappen wollte, folgte unweigerlich eine weitere Orgie der Zerstörung in dem zum Büro umgebauten Dachboden, der genau über Lisas Zimmer lag. Wahllos schlug er auf Stühle, Tische und Möbel ein, warf alles gegen die Wand, das er in die Finger bekam.

Lisa wusste, warum er die Mahlzeiten ausließ und sie nicht ansah, wenn sie sich doch einmal zufällig im Haus begegneten. Es war ihr Gesicht. Ihr Haar, ihre Gesten, und wie sie den Finger an die Nase legte, wenn sie über eine wichtige Frage nachdachte. Vor allem aber ihr Gesicht. Sie hatte den schockierten Blick in seinen Augen gesehen. Gesehen, wie er hastig den Blick abwandte, damit sie seine Tränen nicht sah. Weil ihn alles an ihr an sie erinnerte, an Anna – an ihre Mutter. Weil das zu viel war für ihn und er es nicht ertrug, dieses immer neue Salz in der blutenden Wunde, wo einmal sein Herz gewesen war, verursacht durch Lisas bloße Existenz. Deshalb soff er sich ins Vergessen und zertrümmerte alles, was ihm in die Finger kam.

Wegen ihr.

Er hatte sie seit dem Tod ihrer Mutter nicht ein einziges Mal in die Arme geschlossen, selbst bei der Beerdigung hatte er es kaum übers Herz gebracht, ihr ins Gesicht zu schauen, dieses Gesicht, das mit jedem Tag dem ihrer Mutter ähnlicher wurde. An diesem Abend hatte er zum ersten Mal eine Flasche Whisky praktisch auf ex hintergekippt. Danach war es schlimmer geworden.

Lisa blieb nichts übrig, als es zu ertragen. Sich die Kopfhörer aufzusetzen und die Lautstärke auf Anschlag zu drehen, wenn er wieder mal damit begann, sein Büro auf dem Dachboden in ein Trümmerfeld zu verwandeln und mit herausgerissenen Stuhlbeinen auf Möbel einzuschlagen, bis die Polster aufplatzten und das Holz zu Bruch ging. Aus Wut über sich, darüber, dass er keinen einzigen vernünftigen Artikel mehr zustandebekommen hatte, seit ihre Mutter tot war. Aus Wut über den Chefredakteur seiner Zeitung, der ihm nur aus alter Freundschaft heraus bis jetzt noch nicht gekündigt hatte. Aus Wut über Gott und die Welt, und das Leben als solches.

Vielleicht auch aus Wut über sie.

Darüber, dass sie lebte und ihre Mutter gestorben war.

Lisa sah auf ihre Armbanduhr. Gleich würde Tommy da sein, dann kam sie endlich hier raus. Tommy war neunzehn, fast zwanzig, und damit ein Mann. Kein Junge wie die in ihrer Klasse. Ein eher stiller Typ – und das empfand Lisa als wohltuend, als erwachsen, selbst wenn Tommys Schweigsamkeit manchmal eine unbestimmte Gefährlichkeit ausstrahlte. Etwas, das zu sagen schien: Komm mir besser nicht in die Quere. Auch das fand Lisa ziemlich sexy.

Und Tommy hatte ein Auto.

Einen alten, halb durchgerosteten Ford, und der war ihr Ticket aus diesem Jammertal, zu dem ihr Zuhause inzwischen geworden war. Sie fuhren damit in die Heavy-Metal-Clubs der Umgebung, denn diese Musik mochte Tommy und inzwischen auch sie. Düstere, lärmende Orte, an denen harte Musik gespielt wurde und wo harte Typen herumhingen.

Typen wie Tommy.

Lisa warf die Kopfhörer aufs Bett und schnappte sich ihre Lederjacke, auf deren Rücken ein Aufnäher prangte, der die Silhouette einer brennenden Kirche darstellen sollte. Sie kannte keinen einzigen Song der Band, aber das Motiv hatte ihr gefallen, also hatte Tommy ihr diesen Aufnäher besorgt. Genau das Richtige, damit sich die Deppen an der Schule darüber das Maul zerreißen konnten, hatte Lisa sich gefreut. Sollen sie mal, hatte Tommy gesagt. Tommy hatte der Schule schon vor Jahren den Rücken gekehrt und seitdem nicht zurückgeblickt. Er studierte nicht, und falls er irgendwo eine Ausbildung machte, sprach er nicht darüber.

Aber Tommy hatte ein Auto und konnte Sachen besorgen.

Als Lisa in den Flur trat, rief ihr Vater von oben nach ihr. Lisa blieb stehen. Das hatte er verdammt lange nicht mehr getan, nach ihr gerufen. Oder mit ihr mehr als drei, vier unverbindliche Worte gewechselt. Oder überhaupt zur Kenntnis genommen, dass sie auch noch in diesem Haus lebte. Also drehte sie sich um und ging die paar Stufen hoch bis zum Dachboden.

Zögernd betrat sie das Büro ihres Vaters.

Der saß am Schreibtisch, den Stuhl zurückgelehnt, die Füße auf der Tischplatte, und grinste sie breit an. »Na?«, fragte er und deutete in die Runde. »Wie findest du’s?« Seine Stimme klang diesmal gar nicht verwaschen, er hatte eine vollkommen klare Aussprache.

Lisa sah sich um. Das Chaos war verschwunden, oder zumindest stark eingedämmt worden. Ihr Vater hatte die Möbel, die noch zu retten gewesen waren, einigermaßen wiederhergerichtet und den Rest, der wirklich nur noch für den Schrott taugte, in eine Ecke beim Doppelfenster geräumt. Das also waren die Geräusche gewesen. Möbelrücken und Hämmern, kein Möbelzerschlagen diesmal.

Eine nette Abwechslung.

»Ist doch total spießig so«, sagte Lisa und zog die Mundwinkel in gespielter Ablehnung nach unten, aber in Wirklichkeit begann sie, ein bisschen aufzuatmen. Ein Druck begann sich von ihr zu lösen, und erst jetzt spürte sie, wie schwer dieses Gewicht die ganze Zeit auf ihr gelastet hatte.

War es damit vorbei?

Würde es jetzt besser werden – vielleicht sogar wieder normal, irgendwann?

Ihr Vater strahlte sie immer noch an, und sie behielt ihre Coolness nicht lange bei. Um ihre Mundwinkel begann es zu zucken, dann konnte sie das Lachen nicht länger zurückhalten. Sie steckte ihn an, und dann lachten sie beide, irrsinnig laut und viel zu lange. Vermutlich wollte keiner von ihnen der Erste sein, der mit dem Lachen aufhörte. Weil das Lachen vielleicht ein gutes Omen war und in diesem Haus überhaupt schon viel zu lange nicht mehr gelacht worden war. Und weil es sich verdammt gut anfühlte, ihren Vater lachen zu hören.

Als es schließlich doch verebbte, das Lachen, stand Lisa eine Weile unschlüssig herum. Sie wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Schließlich fragte sie: »Geht es dir ein bisschen besser?«

Er nickte, sagte: »Sehr. Ich vermisse sie immer noch wie verrückt, weißt du? Ich …« Er brach ab.

»Ich vermisse sie auch«, sagte Lisa leise und spürte, wie Hitze in ihre Wangen und ein Brennen in ihre Augen stieg. Hastig sah sie zu Boden. »Scheiße«, sagte sie leise. »So war das jetzt nicht geplant, oder?«

»Ich hab dich lieb, Lisa, das weißt du, oder?«, fragte er und nahm die Füße vom Tisch. Gab ihr Gelegenheit, sich in seine Arme zu werfen. Was sie gern getan hätte, aber irgendwie … Irgendwie war es dafür noch zu früh. Zu plötzlich, dieser Sinneswandel, zu heftig das, was vorher passiert war. Also nickte sie bloß.

»Das hier«, er deutete in die Ecke mit den Resten der heillos kaputten Möbel. »Das ist vorbei, Lieschen. Das wird alles verschwinden und nicht wieder vorkommen, versprochen. Und das hier auch.« Lisas Vater öffnete eine Tür auf der linken Seite seines Schreibtischs, griff mit der Hand in das mit Aktenordnern vollgestellte Fach und fingerte eine Weile darin herum, bis etwas im Inneren des Schreibtischs mit leisem Klicken aufsprang. Eine Tür, die bisher geschickt verborgen gewesen war. Ein Geheimfach.

»Hab es selbst nur durch Zufall entdeckt«, erklärte er grinsend, als er Lisas interessierten Blick bemerkte. Dann entnahm er dem Fach eine Flasche Scotch, halb leer. Oder halb voll, wie man’s nahm. »Würdest du mir den Gefallen tun und das unten in der Küche in die Spüle kippen, Kleines?«, fragte er und hielt ihr die Flasche hin.

Lisa nahm die Flasche, stellte sie auf den Schreibtisch und umarmte ihren Vater nun doch, einfach so, ohne noch etwas zu sagen. Er roch nach Schnaps und Schweiß und auch so, als ob er schon länger nicht mehr geduscht hatte.

Aber vor allem roch er nach ihrem Vater.

»Tommy ist gleich da«, sagte sie leise, nachdem sie sich schließlich aus seiner Umarmung gelöst hatte. »Könnte ein bisschen später werden heute, wir gehen nachher noch auf ein Konzert.«

Er nickte und deutete auf einen Stapel Papiere, die auf dem Tisch neben seinem Laptop lagen. »Ist gut. Ich werd hier sowieso noch eine Weile zu tun haben.«

»Ein neuer Artikel?«, fragte sie, und er nickte. Seine Inspiration hatte ihn offenbar wiedergefunden. Lisa stieß einen innerlichen Stoßseufzer der Erleichterung aus.

»Pass auf dich auf«, sagte er, und sie nickte, schnappte sich die Whiskyflasche vom Tisch, schenkte ihm noch ein Lächeln zum Abschied, was er erwiderte.

Dann ging sie.

Er sah er ihr nach, wie sie die Treppe runterstieg, bis der schwarz gefärbte, wippende Pferdeschwanz mit den bunten Strähnen darin verschwunden war. Dann wandte er sich zu seinem Laptop um und machte sich wieder an die Arbeit. Er fühlte sich wirklich schon viel besser. Er war sicher, dass er den Artikel hinbekommen würde. Mehr noch, dass es ein Knüller werden würde.

Ja, ein richtiger Knüller.

Er schaffte es ganze zwei Stunden, sich auf den Artikel über skrupellose japanische Walfänger zu konzentrieren, bis sein Durst übermächtig wurde. Die Flasche im Geheimfach war nicht die einzige im Haus gewesen. Natürlich nicht. Ein kleiner Schluck würde nicht schaden, sondern nur der Inspiration ein bisschen auf die Beine helfen. Das Getriebe schmieren.

Nur zwei Fingerbreit, was konnte das schaden?

Als Lisa später in dieser Nacht versuchte, ihn telefonisch zu erreichen, lag er besinnungslos auf der Couch seines Arbeitszimmers und schlief einen tiefen Rausch aus, nachdem er seinen Laptop eine Stunde vorher auf der Tischplatte in einen Haufen Elektroschrott verwandelt und danach mit dem letzten noch verbliebenen Bücherregal weitergemacht hatte.

Er hörte nicht mal das Klingeln seines Telefons.

Gegenwart

Wiesbaden, Thaerstraße

Der Hauptsitz des Bundeskriminalamts war Lisa immer ein bisschen wie die Kulisse eines Gangsterfilms aus den Sechzigern vorgekommen. Wegen der Balustrade im obersten Stockwerk mit ihren hochgewölbten Bögen wirkte das Gebäude eher wie ein Grandhotel als der Sitz einer Bundesbehörde. Ein Gebäude, das viel besser nach Miami Beach zu passen schien, oder vielleicht auch ins Kuba der Dreißiger, als Meyer Lansky und Al Capone dort noch völlig unbeschwert Geld gewaschen hatten, das aus Millionen Dollar schweren Drogen- oder Waffendeals stammte. Man sah förmlich kettenrauchende Typen in kurzärmligen Poloshirts, mit schweren Goldketten und Strohhüten, die sich dort, auf jenen überdachten Balkonen, die goldberingten Hände schüttelten und Aktenköfferchen übergaben, während sich unten am Pool braun gebrannte Schönheiten in knallbunten Liegestühlen rekelten, wenn auch momentan weder die Jahres- noch die rechte Tageszeit dafür war.

Der letzte Rest von subtropischem Charme verflog, als Lisa das Gebäude betrat, sich beim Pförtner auswies und dann mit dem Aufzug in das dritte Stockwerk fuhr, welches die Abteilung SO – Schwere und Organisierte Kriminalität für sich in Anspruch nahm.

Als sie aus dem Lift trat, erspähte sie Sayed Al Tajir, einen Mitarbeiter der hauseigenen Abteilung IT-Forensik. Mit einem gestresst wirkenden Lächeln kam er auf sie zugeeilt. Trotzdem atmete sie ein bisschen auf, als sie ihn erblickte.

»Hi!«, sagte er und runzelte die Stirn, was seine Brille mit dem auffälligen roten Plastikrahmen ins Rutschen brachte. Er schenkte ihr ein Lächeln, während er die Brille zurechtschob, und sah dann hastig wieder auf das Tablet in seinen Händen. Lisa begriff nicht, warum er sein attraktives Gesicht mit dem Dreitagebart und den immer etwas verträumt wirkenden dunkelbraunen Augen mit diesem roten Plastikungetüm verunstaltete. Vielleicht war das seine Vorstellung von modischer Extravaganz, vielleicht waren ihm solche Dinge aber auch einfach nur egal. »Du bist also auch dabei, Lisa?«, fragte er und blickte von seinem Tablet auf.

»Scheint so«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. »Überrascht dich das denn so sehr?«

»Nee«, sagte Sayed hastig. »Natürlich nicht, ich meinte nur, also … na ja, das hier könnte länger dauern, und du hast ja eigentlich schon Feierabend und …« Sayed verstummte und schob sich die rot umrandete Brille erneut mit der Rückseite seines Daumens zurecht.

»Schon klar«, sagte Lisa. »Ich bin hier die Neue. Aber anscheinend meint Möller, es sei an der Zeit, mich mal bei einer einigermaßen wichtigen Sache mit ins Boot zu holen. Das kann ich mir doch nicht entgehen lassen.«

»Klar«, sagte Sayed, sichtlich erleichtert, dass sie ihm seinen Fauxpas nicht allzu sehr krummnahm. »Gut für dich, Lisa! Dann weißt du also schon Bescheid?«

»Nicht wirklich, nein.« Kriminaldirektor Möller hatte sie am Telefon nur äußerst knapp über die Details des Falles in Kenntnis gesetzt. Zumindest was jene Details betraf, die sie nicht ohnehin schon aus der Presse kannte, wie inzwischen vermutlich ganz Deutschland.

Eine Vermisstenanzeige, damit hatte alles angefangen, allerdings schon vor drei Tagen. Anneke Jaspers, zwölf Jahre alt, verschwunden aus dem Haus ihrer Eltern. Weil das Mädchen bei seinem Verschwinden einen Rucksack voller Klamotten gepackt hatte und keinerlei Hinweise auf eine gewaltsame Entführung gefunden worden waren, hatte die örtliche Kriminalpolizei den Fall zunächst als einen »klassischen Ausreißer« eingestuft, sehr zum Verdruss der Eltern, die daraufhin einen verzweifelten Aufruf via Facebook gestartet hatten.

Und dann war das Ding durch die Decke gegangen.

Innerhalb weniger Stunden hatte sich der Hashtag #WoIstAnneke in den sozialen Medien wie ein Lauffeuer verbreitet, und kurz darauf war die Sache auch auf die paar Bürger übergeschwappt, die sich bislang noch der Allmacht der digitalen Sozialisierung versperrten. Die Eltern warfen der Polizei offen vor, die Sache als harmlos heruntergespielt und nichts unternommen zu haben. Der daraufhin einsetzende Shitstorm war in Rekordgeschwindigkeit zu einem landesweiten Phänomen hochgekocht und damit auch polizeiintern zu einem brandheißen Politikum geworden.

Aufgrund der Popularität des #WoIstAnneke-Posts hatten sich schließlich auch die Zeitungen und Fernsehreporter in Windeseile und voller Inbrunst darauf gestürzt, wie jedes Mal, wenn es auf dem gerechten Volkszorn zu reiten galt, der sich mit Vorliebe in Richtung Polizei entlud, falls gerade kein steuerhinterziehender Topmanager oder inkompetenter Spitzenpolitiker zur Hand war.

Wann unternehmen unsere unfähigen Ordnungshüter endlich mal was?, hieß es dann in Fettdruck auf der ersten Seite. Wo bleibt die Rasterfahndung? Was muss erst noch passieren?

Bloß waren es genau diese Reporter, die sich eine Woche später über unverhältnismäßige Polizeigewalt auf irgendeiner Demo oder die Einschränkung von Persönlichkeitsrechten bei vorbeugender Überwachung von Verdächtigen beschwerten. Es war ein endloser Kreislauf, ein Scheißspiel, das letztlich nur dazu diente, die Auflagen der Zeitung in die Höhe zu treiben, ohne Rücksicht auf Verluste.

Warum nicht gleich noch ein paar Fackeln und Mistgabeln an die Leute austeilen?, fragte Lisa sich manchmal.

In den letzten Tagen waren die Käseblätter voll gewesen von Interviews mit den am Boden zerstörten Eltern, dazu Fotos der beiden, gesenkten Hauptes auf der heimischen Couch, im Hintergrund die Anrichte mit den Familienfotos. Leere Gesichter, die fragend in die Kamera blickten, und dazu reißerische Artikel, die andeuteten, dass Anneke nur aufgrund der schieren Inkompetenz der Behörden überhaupt erst hatte verschwinden können. Hashtag #ArmesDeutschland.

Folgerichtig hatten die Leute auf der politischen Ebene bei dieser Art von Publicity auch alsbald kalte Füße bekommen und beschlossen, das BKA einzuschalten – anfangs eine reine PR-Maßnahme, um der Öffentlichkeit guten Willen und Aktionismus zu demonstrieren. Natürlich nahm man den Fall ernst, und das hatte auch schon die lokale Polizeibehörde von Anfang an getan, bloß gab es eben tatsächlich nicht viel zu ermitteln. Das Problem waren der Rucksack und das Taschengeld, etwa fünfzig Euro, die zusammen mit dem Mädchen verschwunden waren, nebst Handy, natürlich.

Das alles sprach eine sehr deutliche Sprache.

Hatten sie zumindest geglaubt.

Bis heute Abend, als Möller ihr am Telefon gesagt hatte, dass Anneke Jaspers ab sofort nicht mehr als »klassischer Ausreißer« galt, sondern als das Opfer einer Kindesentführung. Ausgerechnet der Computerexperte Sayed Al Tajir war es gewesen, der die Ermittler auf diese Tatsache gestoßen hatte. Wie genau er das geschafft hatte, hatte Möller ihr am Telefon nicht verraten, aber vermutlich würde sie es ohnehin gleich aus erster Hand erfahren.

Sie folgte Sayed den Flur entlang bis zu dem Großraumbüro, in dem üblicherweise die morgendlichen Einsatzbesprechungen stattfanden. Jetzt schien da drin alles aus den Nähten zu platzen, ein paar Kollegen standen sogar auf dem Flur und drängten sich um die Eingangstür. Schon von Weitem hörte Lisa den vertrauten Bariton ihres Chefs.

Kriminaldirektor Andreas Möller, ein harter Knochen der alten Schule, saß im Rollstuhl, seit er vor drei Jahren im Dienst angeschossen worden war. Er verweigerte sich beharrlich allen Bestrebungen, ihn in den Ruhestand zu schicken, und hatte auch die nötigen Verbindungen nach ganz oben, um in seiner Weigerung erfolgreich zu bleiben. Hinzu kam, dass seine Untergebenen nahezu ehrfürchtig zu dem Mann aufsahen. Ein knallharter, aber gerechter Chef, und eine Legende innerhalb des BKA, hinter dem Schreibtisch kein bisschen weniger fähig als im Einsatz vor Ort.

Lisa stellte sich zu den Kollegen, wo sie anerkennende und auch ein paar fragende Blicke erntete, dann steckte sie ebenfalls den Kopf zur Tür hinein. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Jetzt gehörte sie also dazu, würde offizieller Teil der Sonderkommission »Anneke« sein. Und sie würde alles geben, um als wichtiger Teil der Untersuchungen in Erinnerung zu bleiben.

Sayed flüsterte: »Na dann, bis später«, schenkte ihr ein weiteres nervöses Lächeln, dann quetschte er sich an ihr vorbei durch die Tür und schob sich zwischen den Kollegen durch, bis er ein Podest am Ende des Raumes erreicht hatte, das man extra für Möller dort errichtet hatte. Es verfügte über eine kurze Rampe, sodass der Chef mit seinem Rollstuhl auf die Plattform fahren konnte, um so von allen gut gesehen zu werden.

Möller war der Einzige im Raum, der saß. Alle anderen standen, manche lasen in Aktenordnern, die sie auf ihren Unterarmen balancierten. Der Geruch von abgestandenem Kaffee und Schweiß erfüllte die Luft.

Sayed nahm schräg hinter Möller Aufstellung, das unvermeidliche Computertablet zwischen den schlanken Fingern balancierend, und wartete offenbar darauf, dass er an die Reihe kam.

Er wirkte so nervös, wie Lisa sich fühlte.

»Und deshalb«, fuhr Möller fort, »deutete für die Kollegen von der Kripo zunächst alles darauf hin, dass das Mädchen aus freien Stücken von zu Hause fortgelaufen war. Der Rucksack mit den Kleidungsstücken, das Taschengeld und sogar Proviant, den sie aus der elterlichen Küche mitgenommen hatte. Sie finden die diesbezügliche Aussage der Mutter in Ihren Unterlagen. Die Sache schien klar.«

Ein paar der Anwesenden nickten, aber alle schauten jetzt wie gebannt nach vorn, als Möller fortfuhr. »Doch dann hatte Kollege Al Tajir«, Möller deutete mit dem rechten Daumen über seine linke Schulter auf Sayed, »die Idee, einen Offenlegungsbeschluss für das Handy der Kleinen zu erwirken. Der ursprüngliche Gedanke war, das Handy des Mädchens zu orten, aber das war leider nicht mehr möglich, da es am Abend ihres Verschwindens ausgeschaltet und seitdem nicht wieder eingeschaltet wurde. Davon zu Recht alarmiert, hat Kollege Al Tajir versucht, sich in den SMS-Verlauf auf dem Handy von Anneke Jaspers einzuklinken.«

Sayed beugte sich vor und flüsterte Möller etwas ins Ohr, der aufmerksam zuhörte.

»In den WhatsApp-Verlauf, Entschuldigung«, sagte Möller und gestattete sich einen zuckenden Mundwinkel ob der nerdigen Wortklauberei Sayeds, ein kurzes amüsiertes Schnaufen ging durch die Runde, dann war wieder Schluss mit lustig. »Wie auch immer, auf diese Weise stellte Kollege Al Tajir jedenfalls fest, dass Anneke Jaspers sich am Abend ihres Verschwindens mit jemandem verabredet hatte. Jemandem, der behauptete, ein gleichaltriger Junge zu sein. Sie haben sich fast einen ganzen Monat lang geschrieben, aber darauf lief es letztlich hinaus. Ein romantisches Treffen, nachts um elf, auf einem verlassenen Spielplatz in der Nähe von Annekes Wohnhaus, mit dem Vorsatz, gemeinsam durchzubrennen.«

Ungläubiges Kopfschütteln rundum, dann fuhr Möller fort: »Die Kollegen waren bereits vor Ort. Nachts ist der Spielplatz völlig verlassen, umgeben von Büschen, ein idealer Platz also für eine Entführung, weshalb wir mittlerweile von eben diesem Tatbestand ausgehen müssen und Annekes Chatpartner für den Hauptverdächtigen halten. Ihnen dürfte bekannt sein, dass es eine bekannte Masche von Pädophilen ist, sich im Internet als Gleichaltrige auszugeben. Sie kennen die gängigen populärkulturellen Referenzen, sie beherrschen die Jugendsprache, wissen, welche Musik gerade angesagt ist. Und sie wissen sehr genau, wie man Kinder psychologisch manipulieren kann.«

In dem Raum wurde es so still, dass man eine Stecknadel zu Boden hätte fallen hören können. Viele der Anwesenden hatten selbst Kinder, man musste ihnen nicht erklären, was diese neuesten Erkenntnisse bedeuteten.

Anneke war mittlerweile seit fast vier Tagen verschwunden. Alle wussten, was das für die Chancen bedeutete, sie jetzt noch unbeschadet zu finden.

Oder sie überhaupt zu finden.

Möller drehte den Kopf zu Sayed, der daraufhin vortrat, sich neben Möllers Rollstuhl stellte und sagte: »Wie Kriminaldirektor Möller bereits sagte, wurde Annekes Handy an jenem Abend ausgeschaltet und ist seitdem nicht ortbar. Ich glaube nicht, dass Anneke selbst daran gedacht hätte, es auszuschalten, wäre sie wirklich freiwillig fortgelaufen. Also habe ich mich stattdessen darauf konzentriert, das Handy ihres Chatpartners ausfindig zu machen. Die Betreiber der App geben sich alle Mühe, die Anonymität ihrer Nutzer zu wahren, und da sie im Ausland sitzen, malte ich mir nicht viele Chancen aus, sie zur Freigabe dieser Daten überreden zu können, aber ich hatte Glück, denn der Datenserver, auf dem die Anmeldungen der Nutzer verwaltet werden, ist Teil eines Netzwerks, das …«

Möller räusperte sich, ohne sich zu Sayed umzudrehen. Zur Sache bitte, hieß das. Uns läuft die Zeit davon.

»Ja, also jedenfalls«, fuhr Sayed fort, »habe ich es hingekriegt, die Telefonnummer des betreffenden Teilnehmers herauszubekommen. Die muss ja hinterlegt sein, wenn man WhatsApp nutzen will.«

»Na, und wer ist der Kerl?«, brummte ein älterer Kollege. »Weißt du das jetzt oder nicht?« Das war Kriminaloberrat Dietmar Böhm, Lisa kannte ihn vom Sehen. Er war Möllers rechte Hand und wurde im Buschfunk bereits als dessen Nachfolger gehandelt – falls Möller tatsächlich irgendwann seinen Posten aufgeben sollte.

Sayed schob seine Brille mit dem Daumen zurück auf Position. Sogar Lisa, obwohl sie am entgegengesetzten Ende des Raumes stand, konnte jetzt die glänzenden Flecken auf Nase und Stirn des IT-Spezialisten erkennen. »Nein«, sagte er. »Momentan wissen wir nur die Telefonnummer des Teilnehmers. Der Benutzer war noch nicht wieder im Chat.«

»Na und?«, fragte Böhm. »Wenn wir die Nummer kennen, sollte doch wohl auch rauszubekommen sein, auf wen sie angemeldet ist. Damit wüssten wir zumindest schon mal, wo der Kerl wohnt, und könnten ihm einen Besuch abstatten.«

»Na ja«, sagte Sayed. »Da liegt ja das Problem. Das Gerät wurde offenbar im Ausland gekauft, es hat keine in Deutschland registrierte IMEI …«

»Keine was?«

»Eine Seriennummer, die dem Gerätechip zugeordnet ist und ihn einzigartig macht. Die Telefonnummer selbst gehört zu einer Prepaid-Karte, die offenbar ebenfalls im Ausland erworben wurde. Dahin gehende Ermittlungen sind natürlich bereits eingeleitet, aber …«

»Lass mich raten«, grunzte Böhm und stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Die Hersteller verweigern die Kooperation.«

»Nicht direkt. Die Firma, die die Karten verkauft hat, ist inzwischen insolvent und … nun ja, es gibt offenbar gewisse Schwierigkeiten, an deren ältere Kundendaten ranzukommen.«

»Scheiße, das kann doch nicht sein«, knurrte Böhm. »Und warum genau sind wir dann überhaupt hier?«

»Weil wir überzeugt sind, dass der Verdächtige sein Handy demnächst wieder online benutzen wird«, antwortete Möller, bevor Sayed etwas erwidern konnte. »Der Täter glaubt, er ist in Sicherheit, weil er ein unregistriertes Handy benutzt und wir seine Telefonnummer nicht zu ihm zurückverfolgen können. Was bedeutet, er weiß, was er da tut. Er ist kein Idiot. Aber trotzdem: Sobald er wieder online geht, haben wir zumindest eine Chance.«

Sayed nickte zustimmend. »Genau. Und selbst wenn er es nur einschaltet, um mit irgendwem zu telefonieren, stehen die Chancen gut, seinen Standort mittels Triangulation einzugrenzen, denn seine Nummer haben wir ja. Das Verfahren ist zwar nicht besonders genau, dürfte uns aber zumindest in seine Nähe bringen. Sind wir erst mal dort, dürften wir ihn auch präziser orten können.«

»Danke, Sayed«, sagte Möller. »Das ist also der Plan, Leute. Der Grund, aus dem Sie alle hier sind, ist, dass ich möchte, dass wir bereit zum Zugriff sind, bevor der Kerl sein Handy wieder einschaltet. Diese Sache muss bilderbuchmäßig über die Bühne gehen, immerhin schauen uns gerade eine Menge Leute auf die Finger. Kollege Böhm wird Team A leiten und den Einsatz draußen koordinieren. Vor Ort erhalten Sie dann noch Unterstützung durch unser Mobiles Einsatzkommando, die Jungs halten sich auf Stand-by. Wenn also auf dem Ordner, den ich Ihnen vorhin in die Hand gedrückt habe, ein großes A steht, bedeutet das, dass Sie zum Außenteam gehören. In diesem Fall folgen Sie bitte dem Kollegen Böhm, der sie weiter briefen wird, während ich mit Team B parallel die unterstützenden Ermittlungen organisiere. Wir werden diesen Trantüten in Übersee Druck machen und die Akten nach Fällen mit ähnlichem Vorgehen durchforsten, das übliche Prozedere. Die Kommunikation zwischen den Teams geht über mich persönlich. Fragen?«

Keiner hatte welche.

»Dann los!«, sagte Möller, und augenblicklich entfernten sich etwa zwei Drittel der anwesenden Polizisten aus dem Raum, was ausreichend Platz hinterließ, damit Lisa nach vorn zu Sayed und Möller gehen konnte. Als sie sich umsah, bemerkte sie, dass sie die Einzige war, die keine Mappe in den Händen hielt.

Möller und Sayed waren bereits von den Kollegen des B-Teams umlagert und in ein intensives Gespräch über den Inhalt eines dicken Aktenordners vertieft, der aufgeschlagen in Möllers Schoß lag.

»Äh, Chef«, sagte Lisa, als sie den im Rollstuhl sitzenden Mann erreicht hatte. Der hob den Kopf und sah sie über seine halbmondförmige Lesebrille an. Die Gespräche ringsum verstummten.

»Ja, Lisa?«

»Ich habe keine Mappe erhalten. Welchem Team bin ich denn zugeteilt?«

Der Anflug eines Lächeln huschte über die harten Züge von Möllers glatt rasiertem Gesicht. Für jemanden, der ihn nicht kannte, wäre es kaum als solches zu erkennen gewesen. »In welchem wären Sie denn gern?«

Erstaunte Blicke seitens der Umstehenden. Erfuhr Lisa Kern hier etwa eine Sonderbehandlung von Möller? Und das als Neuling?

»Ich wäre gern vor Ort dabei«, sagte Lisa und hoffte, niemand würde das Zittern in ihrer Stimme bemerken. Oder die Hitze, die ihr in die Wangen schoss.

»Das dachte ich mir«, sagte Möller, nickte knapp sein Einverständnis und senkte dann wieder den Kopf über den Aktenordner, während er sagte: »Lassen Sie sich von Böhm eine Mappe geben.«

Als Lisa sich umdrehte und durch den Raum zur Tür schritt, musste sie ihre Hände in die Taschen ihrer Jacke stopfen, denn sie hatten ein bisschen zu zittern begonnen. Das hier war sie also, ihre Chance.

Und die würde sie auf keinen Fall vermasseln.

Punkt zweiundzwanzig Uhr dreißig brach die Hölle los.

Böhm hatte an einem großen Whiteboard seine Zugriffsstrategie erläutert – so gut sich das ohne Vorkenntnisse dessen, was sie de facto vor Ort erwarten würde, eben machen ließ. Hauptsächlich war es dabei um die Zuteilung von Teams, Funknamen und die allgemeine Koordination mit dem MEK gegangen.

Unterm Strich fand Lisa das Ganze fast ein wenig enttäuschend. Böhms Strategie sah für ihre Abteilung im Wesentlichen vor, sich in zweiter Linie in Bereitschaft zu halten, während das MEK die taktische Ausführung des bewaffneten Einsatzes vor Ort übernehmen würde.

Und dann war Sayed in den Raum gestürzt. »Wir haben ihn!«, hatte er noch von der Tür aus gerufen.

Alle Köpfe hatten sich ruckartig in seine Richtung gedreht, und Sayed hatte auf das Display seines Tablets geklopft, als würde das den Wahrheitsgehalt seiner Aussage zusätzlich unterstreichen.

Offenbar hatte der Verdächtige sein Handy eingeschaltet.

Als Standort war ein Punkt im dichten Waldgebiet des Bezirks Naurod im Norden von Wiesbaden festgestellt worden. Da sich die Position des Handys seitdem nicht verändert hatte – und angesichts des mittlerweile herrschenden Starkregens –, ging man davon aus, dass der Verdächtige sich innerhalb eines Gebäudes befand. Ein strategischer Vorteil, denn in diesem Teil des Waldes gab es nicht allzu viele Gebäude, eigentlich nur eines, das infrage kam, und selbst das war auf kaum einer Karte eingezeichnet, weil seit Jahren niemand mehr darin wohnte.

Was es als Unterschlupf eines Kriminellen nahezu perfekt erscheinen ließ.

Einzig ein schmaler, halb zugewucherter Wanderweg führte zu dem Haus, das seit Ewigkeiten verlassen mitten im dichten Wald stand, mehrere Kilometer vom nächsten bewohnten Gebäude entfernt. Vor vielen Jahren war es wohl mal ein Gasthaus für müde Wanderer gewesen, aber das hatte offenbar nicht sonderlich gut funktioniert. Seitdem stand es leer.

Schutzwesten, Helme und Bewaffnung waren ausgeteilt worden, und Lisa hatte gespürt, dass sich in ihr ein Schalter umgelegt hatte. Alle Aufregung und jede Unsicherheit waren wie fortgewischt, sie war voll im Fokus, zu einhundert Prozent auf den kommenden Einsatz konzentriert.

Nichts sonst zählte jetzt.

An Max dachte sie dabei nicht ein Mal. Ebenso wenig an die Tatsache, dass er sich vermutlich seit Stunden fragte, was sie dazu bewogen hatte, an diesem Abend kommentarlos aus dem Haus zu stürmen und sich seitdem nicht mehr bei ihm zu melden.

Nichts davon war jetzt noch wichtig.

Waldgebiet Wiesbaden-Naurod

Während der Fahrt im Transporter ging Böhm ein letztes Mal das taktische Vorgehen der Truppe durch. »Wir machen das in drei Schritten, Leute. Annäherung unter höchster Geräuschtarnung. Ja, ich weiß, es regnet wie verrückt und es ist verdammt kalt da draußen, aber es geht hier um das Leben des Mädchens. Also keine Gespräche, kein Murren, kein Garnichts. Wenn der Kerl uns zu früh bemerkt, könnte er durchdrehen und sie einfach umbringen. Ihr ein Messer an die Kehle setzen und durchziehen, oder sich selbst töten, bevor wir ihn verhören können. Das wäre der absolute Worst Case, klar? Wir wissen nicht, ob dieser Kerl noch mehr Kinder entführt hat, aber ich denke, aufgrund seiner routinierten Masche auf WhatsApp ist das sehr wahrscheinlich. Also, Nummer eins: sensibles Vorgehen. Nummer zwei: immer einen Schritt hinter den Jungs vom MEK. Oder besser zwei. Die sind die Spezialisten für Hauserstürmung, also kommt ihnen dabei keinesfalls in die Quere! Haltet Abstand und die Augen und Ohren offen. Drittens: Wir schwärmen aus und bilden einen weiten Kreis um das Gelände, damit sich keiner aus dem Haus schleichen und fliehen kann. Wir wissen nicht, was uns da erwartet, also achtet darauf, dass ihr immer und überall Sicht zu euren beiden Nebenmännern habt, bildet ein dichtes Netz! Und vor allem: keine Alleingänge!«

Er ließ den Blick von einem zum Nächsten schweifen, alle nickten.

»Also dann, Leute«, sagte Böhm. »Ihr wisst, was auf dem Spiel steht.«

Der Wagen bremste abrupt ab, sie wurden ein letztes Mal durchgeschüttelt, dann stand er. Jetzt hörte man den Regen wieder wütend auf das Blechdach des Transporters trommeln. »Okay«, rief Böhm über den Lärm. »Raus mit euch!«

Sie öffneten die Türen des Transporters, sprangen raus, in den Regen, in die Kälte, in die Nacht.

Um den Verdächtigen nicht aufzuschrecken, hatten sie die Autos und den für alle Fälle hinzugezogenen Rettungswagen ein gutes Stück von der Ruine des alten Gasthauses entfernt auf dem Waldweg geparkt, der zu dem Gebäude führte. Lisa bemerkte Sayed, der, den Oberkörper über sein Tablet gebeugt, um es vor dem Regen abzuschirmen, dem Truppenführer des MEK die Richtung zu dem Haus deutete – der Widerschein des Displays auf ihren Gesichtern war ein einzelner verlorener Lichtpunkt in der Finsternis.

Der Truppenführer des MEK nickte, und dann erlosch auch dieses Licht, und die schwarz gekleideten Gestalten des Einsatzkommandos schlichen geräuschlos davon.

Lisa und ihre Kollegen folgten wenige Minuten später.

Inzwischen hatten sich Lisas Augen einigermaßen an die Dunkelheit gewöhnt, sodass sie die Silhouetten der Baumstämme und einiger Büsche am Wegesrand ausmachen konnte. Merkwürdig, bisher war ihr der Forst bei Naurod trotz seiner Größe nie besonders Furcht einflößend vorgekommen. Bei Tage war man hier scheinbar immer nur einen Schritt von der nächsten Häuseransammlung, Bundesstraße oder einem gut beschilderten Wanderweg entfernt, doch die Dunkelheit veränderte alles. Jetzt wirkte der Wald undurchdringlich. Finster und endlos, wie in einem Schauermärchen aus alter Zeit, bewohnt von allerlei Monstern und Spukgestalten, die nach Ansicht der Brüder Grimm in genau diesem Wald tatsächlich einmal gehaust hatten.

Und eines dieser Monster jagten sie jetzt.

Nach einem etwa zehnminütigen Fußmarsch im strömenden Regen tauchte endlich der schwarze Umriss des Hauses vor ihnen auf. Ein abweisend wirkender, eckiger Koloss, ungefähr so einladend wie die Mauern einer mittelalterlichen Trutzburg mit hochgezogener Zugbrücke.

Als zwischen den Bäumen eine Gestalt hervortrat, fuhr Lisa zusammen, doch es war nur ein vermummter MEK-Mann. Sie gingen in die Hocke. Der MEK-Mann flüsterte, offenbar in ein Funkgerät, dessen Kopfhörer in seinem Ohr steckte: »Hier Wolf. Die Verstärkung ist da, Chef.«

Dann nickte er, wandte sich an Böhm und flüsterte: »Okay, es geht los. Die Jungs beobachten das Haus bereits per Wärmebildkamera: Sie haben Bewegung im Inneren ausgemacht. Eine Person, aber das muss nichts heißen. Das Haus ist unterkellert, da könnte uns alles Mögliche erwarten. Aber das ist ja ohnehin nicht Ihr Problem. Bilden Sie ein Netz um das Gelände, so schnell und leise Sie können, dann melden Sie sich wieder. Wir gehen rein, sobald wir uns ein Bild von der Lage gemacht haben. Sie kennen Ihre Aufgaben?«

Alle nickten, der MEK-Mann stand auf und verschwand wieder zwischen den Bäumen, so lautlos, wie er erschienen war.

Beinahe wie ein Geist.

10 

Nur mit Mühe widerstand Lisa der Versuchung, auf ihre Uhr zu schauen. Sie harrte bereits seit über einer halben Stunde hinter einem Baum aus, zitterte vor Kälte und starrte durch den dichten Regenvorhang in Richtung des ehemaligen Gasthauses, dessen Silhouette von hier nur als ein grober, schwarzer Schemen vor dem Anthrazit des Himmels auszumachen war.

Die Minuten zogen sich endlos dahin.

Kein Geräusch aus Richtung des Hauses, kein Rascheln im Gebüsch, nicht mal ein verlorenes Vogelzwitschern. Nur das unermüdliche Prasseln des Regens auf das dichte Blätterdach über ihr.

Lisa verlagerte ihr Gewicht so leise wie möglich vom linken auf ihr rechtes Bein, wobei sie ein Stöhnen unterdrückte, als sie bemerkte, dass ihr durchweichter linker Fuß eingeschlafen war. Sie schüttelte ihn wieder wach. Wenn es sein musste, würde sie hier stehen bis zum Tagesanbruch.

Bloß verstand sie nicht, wofür um alles in der Welt die Zugriffstruppe des MEK so lange brauchte. Die hatten Wärmebildkameras, und allem Anschein nach war nur ein Mensch in dem Haus. Was konnte so lange daran dauern, dort hineinzustürmen und ihn festzunehmen? Doch dann fiel ihr wieder ein, was Böhm vorhin gesagt hatte. Es ging nicht nur darum, den Verdächtigen festzusetzen, sondern darum, dass er und natürlich vor allem das Mädchen diese Aktion unbeschadet überstanden.

Falls das Mädchen überhaupt noch lebte.

Lisa versuchte mit dem Stamm des Baumes zu verschmelzen, unter dem sie stand. Einerseits, um keine allzu offensichtliche Zielscheibe abzugeben, andererseits, weil sie sich auf diese Weise wenigstens ein bisschen Schutz vor der Nässe erhoffte, die inzwischen durch jede Ritze ihrer Kleidung gedrungen war. In ihren Stiefeln schwappte Eiswasser hin und her, das bei jedem ihrer Schritte leise schmatzende Geräusche von sich gab, ihre Zehen fühlten sich taub an.

Doch Lisa ignorierte all das und zwang ihren Fokus wieder zurück in Richtung des Hauses.

Immer noch nichts.

Lisa drehte den Kopf erst nach links und dann nach rechts, wo sie irgendwo in der Tintenschwärze zwischen den Baumstämmen ihre Kollegen vermutete. Sichtkontakt, hatte Böhm gesagt. In der Theorie eine tolle Idee, aber nachts im Wald und bei strömendem Regen kaum umsetzbar, wenn man nicht gleichzeitig den Verdächtigen auf sich aufmerksam machen wollte.

Sie sah keinen ihrer Kollegen, weder links noch rechts, also blieb ihr nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass die tatsächlich immer noch auf ihren Posten standen. Es würde mächtig was zu lachen geben für die Abteilung, falls das MEK den Verdächtigen inzwischen längst gestellt hatte, alle nach Hause gegangen waren und man sie hier einfach vergessen hatte. Ein kleiner Streich, den man der Neuen spielte, so was war durchaus beliebt bei Polizisten. Aber nicht bei einem Fall wie diesem. Da dachte niemand an Scherze.

Etwas raschelte vor ihr im Gebüsch.

Ein kleines Waldtier? Nein, klein hatte das nicht geklungen. Eher wie ein Reh, oder mindestens ein ausgewachsener Hase. Vielleicht ein Wildschwein?

Plötzlich war Lisa hellwach und starrte aus zusammengekniffenen Augen zu dem Gebüsch hinüber, aus dem das Geräusch gekommen war. Dort bewegte sich jetzt überhaupt nichts in der Schwärze, aber sie war sicher, sich das Rascheln nicht bloß eingebildet zu haben. Geräusche, das wusste sie, waren unzuverlässige Informationsquellen, gerade nachts, in einem stockfinsteren Wald.

Aber etwas war da gewesen, sie war sicher.

Sie langte vorsichtig nach der Waffe an ihrem Hosenbund und zog sie geräuschlos aus dem geölten Lederholster. Entsicherte sie. Ein leises Klacken, dann wieder nur das Prasseln von Regen.

Kein erneutes Rascheln aus dem Gebüsch.

Lisa entspannte sich etwas. Sie würde jedenfalls nicht der Anfänger sein, der diese Aktion vermasselte, indem sie versehentlich auf ein Reh oder einen Hirsch ballerte und damit den Verdächtigen auf sich aufmerksam machte. Sie würde warten, bis …

Plötzlich brach eine Gestalt aus den Büschen hervor und stürzte auf sie zu.

Ein Mensch, hoch aufgerichtet. So was konnte kein Reh und schon gar kein Hase. Konturlos, lediglich eine schwarze Silhouette, aber eindeutig ein Mensch.

Ein Mensch, der jetzt direkt auf sie zurannte.

»Halt!«, rief Lisa. »Stehen bleiben!«

Die schwarze Gestalt lief unbeirrt weiter, dann schlug sie einen Haken, änderte die Richtung, hielt auf das Dunkel zwischen den Baumstämmen zu.

»Hierher!«, rief Lisa, um ihre Kollegen alarmieren, und versuchte einen Augenblick lang vergeblich, sich an ihren eigenen Codenamen zu erinnern, doch der schien wie aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Stattdessen rief sie, so laut sie konnte: »Flüchtiger Verdächtiger! Ich brauche Unterstützung!«

Nichts passierte, außer dass die konturlose Gestalt im Höchsttempo an ihr vorbeischoss, auf die Bäume zu, hinter denen sie im nächsten Augenblick verschwunden sein würde.