Kinder des Feuers - L.C. Frey - E-Book
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L.C. Frey

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Beschreibung

In den Ruinen Chicagos hausen seltsame Wesen - und die meisten davon sind überaus tödlich. Als das Mädchen Morrow ohne jede Erinnerung in einer fremden Welt erwacht, ahnt sie nicht, welche Veränderungen sie dieser Realität bringen wird -- und was ihre Rolle dabei ist. Begleitet von einer halbmenschlichen Kreatur, die sie "den Jungen" tauft, bricht sie auf, um den Weg zurück in ihre eigene Welt zu finden. Auf ihrer abenteuerlichen Reise durch eine Welt voller vergessener Relikte aus den letzten beiden Jahrhunderten unserer Zeit müssen sich die Freunde zahlreichen Gefahren stellen, bevor sie ihr Ziel erreichen können: Die sagenhafte rote Stadt der vergessenen Götter. Doch die Schrecken, die in den Weiten des ewigen Sandes und jenseits davon lauern, stammen nicht allein von dieser Welt. Und etwas weitaus Gefährlicheres ist ihnen bereits dicht auf den Fersen ...

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KINDER DES FEUERS

DIE RIFTWELT-SAGA

L.C. FREY

Band 1

IMPRESSUM

Copyright © 2021 by L.C. Frey. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung von L.C. Frey. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Anne Bräuer, Textbüro Bräuer, Frankfurt am Main, Layout und Satz: Ideekarree Leipzig. Umschlaggestaltung: L.C. Frey, unter Verwendung von ©Grand Failure, https://stock.adobe.com

2202.17.1850

Impressum:

Alexander Pohl

Breitenfelder Straße 32

04155 Leipzig

E-Mail: [email protected]

www.Alex-Pohl.de

Die in diesem Roman beschriebenen Personen und Geschehnisse sind fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten, Unternehmen und Produktmarken sind rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt. Gleichwohl kommen in der Handlung dieses Buches Personen und Zusammenhänge von historischer Bedeutung vor. Der Autor bemüht sich, diese Fakten nach bestem Wissen respektvoll zu behandeln, sie werden jedoch im Kontext dieses Buches frei ausgelegt. Der Autor distanziert sich von einer historischen oder sonstigen Deutung von geschichtlichen und anderweitigen Ereignissen und Zusammenhängen.

Dieses Werk ist reine Fiktion.

Noch.

TEIL I

IÄ! DER JUNGE MIT DEN TAUSEND ZIEGEN

Karte der Riftwelt © Franz Alken

ALPHA

Vierzehn Milliarden Jahre vor unserer Zeit, getrennt durch die Unendlichkeit des Raumes, findet der gewalttätigste und kreativste Moment in der Geschichte unseres Universums statt. Alles, das jemals passiert ist, geht auf diesen einen Moment zurück.

Jede Religion, jede Kultur hat sich mit diesem Moment beschäftigt, aber wir wissen immer noch nicht, was diesen Schöpfungsakt ausgelöst hat oder warum.

Ein unendlich kleiner, dichter Punkt explodiert und erschafft Raum, Zeit, Materie – und unser Universum.

Es beginnt als ein subatomares Teilchen, Momente später erreicht der Punkt die Größe unserer Erde. Noch heute breitet sich das Licht des Urknalls aus. Man kann es hören, wie das statische Rauschen eines Radios. Man kann es sehen, wie die Bildstörung eines Fernsehers, der keinen Sender mehr empfängt.

Und so beginnt das Universum.

– nach Journey to the Edge of the Universe,

eine National Geographic Dokumentation (2008)

1

Als sie bemerkt, dass ihr Sohn sie ansieht, lächelt sie.

Der Junge kann nicht zurücklächeln, aber das macht nichts. In ihren Augen lächelt er trotzdem. Seine Mutter beendet ihre Arbeit an dem Leder, zieht den groben Faden ein letztes Mal durch und beißt das lose Ende ab. Der Junge krabbelt an ihrem Bein hoch und sie nimmt ihn auf ihren Schoß.

Seine Klauen spielen mit dem goldglänzenden Ring, den sie an einer schmalen Kette um den Hals trägt.

An dem runden Stück Metall zwischen ihren warmen Brüsten glitzert ein Brillant. Der Junge mag es, mit dem interessanten Ding zu spielen. Der Stein an dem Anhänger ändert ständig seine Farbe, von bläulich schimmernd zu orange leuchtend und dann zu grün lodernd – je nachdem, in welchem Winkel das Licht darauf fällt – und manchmal scheint es, als ändere sich auch seine Form dabei.

Seine Mutter streicht eine Strähne des Haarflaums aus der Stirn des Jungen. Das wenige Haar, das er jetzt noch hat, steht in hauchfeinen Büscheln von seinem viel zu großen Schädel ab. Ihre schlanken Finger liebkosen sanft die knorpeligen Auswüchse auf der Stirn, über den Ohren und auf dem Rücken des Jungen.

Seine Mutter flüstert ihm Worte zu, deren genaue Bedeutung er noch nicht versteht, aber er spürt, dass sie voller Liebe sind. Sie beruhigen den Jungen und machen ihn schläfrig.

Der Junge muss viel schlafen, denn noch ist er viel zu schwach für die Welt, in die er hineingeboren wurde.

Wenn er schläft, dann öffnen sich die fleischigen Blätter der Pflanzen über seinem Kopf, um ihn vor dem Regen zu schützen, und die Zweige der Bäume scheinen den Wind zu besänftigten.

Manchmal kommen kleine Tiere zu dem Jungen, und dann hält er sie in seinen unförmigen Klauen, und freut sich über ihre kleinen Gedanken. Und manchmal, wenn ein Tier verletzt ist, oder wenn es Angst hat, dann beruhigt er es und macht es wieder gesund. Das macht seine Mutter gleichermaßen stolz wie traurig. Er begreift nicht, warum das so ist, denn auch sie liebt die Tiere, und alles, das lebt.

Aber heilen kann sie sie nicht.

»Du musst mich beschützen«, sagt sie, ohne dass sich ihre Lippen bewegen, und dann beugt sie sich hinab und küsst seine wuchtige Stirn, zwischen den kleinen Hörnern, wo der Junge es am liebsten hat. Ihr Haar kitzelt ihn und er stößt ein vergnügtes, kleines Schnaufen aus.

Sie lächelt, während sie weint.

Doch statt Tränen laufen jetzt schmale rote Rinnsale aus ihren Augenwinkeln, und das Herz des Jungen zieht sich furchtsam zusammen. Ihre Augen sind nun keine Augen mehr, sondern leere Höhlen.

Blutige Krater in ihrem makellosen Gesicht.

Hässliche Wunden, in denen kleine, fleischige Dinge emsig herumwimmeln. Ihr augenloses Gesicht ist eine Wachsmaske, und die Haut, die sich darüber spannt, beginnt zu zerfließen, vermischt sich mit dem Blutstrom, der an ihrem knochigen Kinn herabläuft und zischend auf den Waldboden tropft.

Er streckt eine seiner verkrümmten Klauen nach ihr aus, in dem vergeblichen Bemühen, diesem rasenden Verfall Einhalt zu gebieten.

Doch die Hand des Jungen verfängt sich nur in einer blutverklebten Strähne und er reißt, ohne es zu wollen, ein handtellergroßes Stück Kopfhaut von ihrem Schädel.

Ihr Kopf sackt auf ihre Brust, die nun nichts ist als ein Sack voller Knochen, über dem sich eine Pergamenthaut spannt.

Sie ist tot, seit Jahren schon.

Es ist ein Leichnam, der den Jungen hält.

Und jetzt sieht der Junge, dass der Wald, in dem sie gerade noch waren, kein Wald mehr ist, sondern eine tote, morastige Fläche, aus der sich schwarze Ranken in den Himmel recken wie die verwachsenen Arme von getöteten Riesen. Diese Ranken sind so tot wie alles hier, vergangen und zu Stein geworden, denn hier, wo einst das Grün war und die Liebe und das Leben – hier gibt es jetzt kein Leben mehr.

Keine Liebe.

Kein Grün.

Nur noch den Tod.

»Du musst mich beschützen«, sagt sie noch einmal, obwohl sie keine Zunge mehr hat, mit der sie sprechen könnte.

Körperlos, fern, vergangen ist diese Stimme jetzt.

Eins geworden mit dem grünen Leuchten und dem Leben, das einst in den Bäumen wohnte, vor so langer Zeit.

Du musst mich beschützen.

»Weil es wichtig ist.«

Und so beginnt es.

2

HEUTE // DORT

DIE STADT

Als er erwachte, bemerkte der Junge, dass sich seine rechte Hand um den Ring geschlossen hatte, der an einer groben Lederschnur um seinen Hals hing. Beinahe verschämt ließ er ihn unter die Tierhaut gleiten, die er sich um die Schultern geschlungen hatte.

Der Junge richtete sich langsam auf und spähte durch das Loch in der Ziegelmauer nach draußen.

Das zerfledderte Bündel, welches er seit Tagesanbruch beobachtete, lag immer noch auf dem großen Platz vor der Kreuzhalle.

Inzwischen war er zu der Ansicht gekommen, dass es sich bei dem Bündel um den Leichnam eines Mädchens handeln musste.

Der Wind, kaum mehr als eine sanfte Brise, spielte mit den glitzernden Fetzen, die den leblosen Körper umflatterten. Die Silberstreifen aus der zerfetzen Kleidung der Leiche wogten in der flirrenden Hitze über dem Platz wie träge Gräser auf dem Grund eines brackigen Tümpels. Dabei funkelten sie geheimnisvoll, beinahe wie Metall – und doch mussten sie so leicht sein wie verdorrtes Laub, überlegte der Junge, während er einen sehnsüchtigen Blick auf die Stiefel an den Füßen des Körpers warf.

Gute Stiefel waren das, viel besser als die Lumpen, die er um seine Füße und Waden gewickelt hatte. Schuhe, in denen man vermutlich meilenweit laufen konnte, ohne Pause machen zu müssen. Ein paar der Mickies trugen so ähnliche, aber ihre waren grob und schwer, und einige hatten Nägel durch die stählernen Kappen getrieben. Gut, um auf Dinge oder Körper einzutreten – schlecht dagegen, wenn man schnell und weit laufen wollte.

Die glitzernden Stiefel waren praktisch in Reichweite des Jungen, keine zwanzig Schritte von seinem Versteck entfernt, vermutlich weniger. Dennoch zähmte der Junge seine Ungeduld. Er verharrte weiter reglos in den Schatten und starrte durch den Riss im Gemäuer.

Eine Tasche oder etwas Ähnliches lag bei der Leiche, halb verdeckt von ihrem Oberkörper, wo reglose Gliedmaßen in grotesken Winkeln aus dem flatternden Silber ihres Anzugs ragten. Möglicherweise würde die Tasche ebenfalls etwas Nützliches enthalten, dachte der Junge, möglicherweise aber auch nicht.

Dünne, zerfetzte Schläuche ragten daraus hervor und erinnerten den Jungen an die langstieligen Leuchtpflanzen, die weiter unten in den Tunneln wuchsen. Das musste sie auf dem Rücken getragen haben, die Schläuche mit ihrem Körper verbunden – bis etwas sie gewaltsam davon getrennt hatte.

Aus einem der Schläuche tröpfelte ein dünnes Rinnsal. Die klare Flüssigkeit hatte eine kleine Lache auf dem rissigen Steinboden vor der Kreuzhalle gebildet, welche gierig von der Hitze aufgesogen wurde.

Sie glänzten, diese Stiefel, und das war natürlich schlecht. Keiner, der bei Verstand war, würde so etwas anziehen – am Tag würden sie meilenweit zu sehen sein – kein Wunder, dass ihre bisherige Trägerin jetzt tot mitten auf dem Platz herumlag. Aber das Glänzen würde der Junge später mit etwas Dreck und Aschepampe in den Griff bekommen. Wenn er sie nur erst einmal in seinen Händen hielt, diese verlockenden, bequemen Silberstiefel.

Aber da gab es ein Problem.

Das Problem bestand vor allem darin, dass es ihm bis jetzt noch nicht gelungen war, eine befriedigende Antwort auf die Frage zu finden, wieso ihm niemand zuvorgekommen, und der Leiche ihre Stiefel abgenommen hatte. Wieso jemand derart wertvolles Zeugs hier mitten auf dem Platz vor der Kreuzhalle herumliegen ließ. Das heißt, eine mögliche Antwort gab es schon.

Eine Falle.

Der Junge wusste, was ein Köder war, wenn er auch vielleicht das Wort nicht kannte. Manchmal banden die Farmer oder die Mickies ein kleines Tier an einem Stock fest und schnitten rein, damit das große Tier das Blut roch und aus dem Wald rauskam. Kaum hatte es sich in den Köder verbissen, hackten sie mit ihren Spießen auf dem großen Tier herum, bis es totgeblutet war.

Dann fraßen sie das große und das kleine Tier.

Der Junge ließ seinen Blick ein weiteres Mal schweifen. Auch wenn die Fassade der Kreuzhalle auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes meterhoch in den Himmel aufragte und den Platz zumindest auf dieser Seite vor all zu neugierigen Blicken bewahrte – es gab immer noch zwei Seiten, wo sie in Verstecken sitzen und auf den Platz starren konnten, mit Netzen und Knüppeln und langen Spießen bewaffnet.

Wartend, auf das große Tier.

Auf das Monster.

Auf ihn.

Verborgen in den Schatten der Häuserruinen, genau wie er, würden sie jetzt sitzen. Wenn sie erfahrene Jäger waren, würden sie warten, bis er nahe genug bei der Leiche und den Stiefeln war. Bis es zu spät war, um noch umkehren und fliehen zu können.

Bis dahin würden sie kein Geräusch machen.

Sobald er nahe genug dran war an dem Köder, würde ein Pfiff aus einem der höheren Gebäude erschallen, und dann kämen sie von allen Seiten auf den Platz gestürmt und würden auf ihn einprügeln, bis er so tot war wie die Leiche dort draußen auf dem Platz vor der Kreuzhalle.

Besser, noch zu warten.

Einmal, vor vielen Nächten, war er hineingegangen in die Kreuzhalle. Ein blasser Mond hatte durch die Löcher in den hohen, spitz zulaufenden Fenstern geschienen und zaghafte Strahlen weißlichen Lichts in das Innere des gigantischen Gebäudes geschickt.

Der Junge war in der Kreuzhalle herumgewandert, war durch zentimeterhohe Staubschichten gewatet, in denen die Spuren seiner Krallen die ersten Abdrücke seit Jahren hinterlassen hatten. Ehrfürchtig hatte er die Wände berührt, und die Bilder betrachtet, die sie schmückten.

Darstellungen von rundlichen Frauen und bärtigen Männern in wallenden Gewändern, die durch Wolken schwebten und auf dem Rücken Flügel trugen und goldene Ringe über ihren Köpfen. Vielleicht sollten sie Ringe darstellen wie der, den seine Mutter einst getragen hatte?

Die Malereien blätterten von den Wänden, die sie einst lückenlos bedeckt hatten, bis hinauf zur Spitze der gigantischen Kuppeldecke. Der Blick des Jungen war emporgewandert bis dorthin, wo sich die steinernen Pfeiler hoch über seinem Kopf vereinten, in einem Himmel aus Stein; zu ewiger Reglosigkeit gefroren, einst bemalt mit Wolken und Sternen, nun zur Bedeutungslosigkeit verblasst wie alles hier. Und dann, als der Junge seinen Blick wieder nach vorn wandte, hatte er es gesehen.

Der Anblick hatte ihn erstarren lassen.

Am Stirnende der steinernen Halle hatte eine große, weiße Gestalt gestanden und ihren Blick unverwandt auf den Jungen gerichtet. Als er den Schock überwunden hatte, begriff der Junge, dass es kein Mensch war, der dort mit ausgebreiteten Armen stand, kein Mickie oder Farmer und auch keiner der Aussätzigen. Es war überhaupt nichts Lebendes, sondern nur eine gigantische Figur aus weißem Stein. Sie war an ein gigantisches, schwarzes Kreuz geheftet, mit großen Nägeln, die jemand ihr durch die Hand- und Fußgelenke getrieben hatte.

Doch wozu würde jemand eine Steinfigur foltern?

Die Gestalt war dünn, richtiggehend ausgemergelt, im krassen Gegensatz zu den Männern und Frauen in ihren wehenden, sich bauschenden Gewändern auf den Bildern an den Wänden ringsum. Es lag etwas Fesselndes in den Augen, die dem Jungen aus dem schmerzverzerrten Gesicht der Gestalt am Kreuz entgegenstarrten. Ein Feuer schien darin zu brennen, der Wahnsinn vielleicht – wie er in vielen der Mickies brannte.

Der flammende Blick der Steingestalt schien ihm zu folgen, wohin er auch ging. Unverwandt, starr – aufmerksam.

Lauernd.

Da hatte sich der Junge umgedreht und war aus der Kreuzhalle hinaus zurück in die Nacht gerannt und hatte sie seitdem nicht wieder betreten.

Doch das steinerne Gesicht hatte er danach noch oft gesehen, in seinen Träumen, und stets musterte es ihn aus diesen seltsamen Augen, halb leidend, halb wissend – und ganz bestimmt ein bisschen wahnsinnig. Doch auch voller gütiger Verzweiflung. Wie ein Vater, wenn der Junge seinen Vater auch nie kennengelernt hatte.

Nein, beschloss er, heute war nicht der Tag, an dem sie ihn fangen würden, mochten die Stiefel auch noch so verlockend sein. Er warf einen letzten, beinahe sehnsüchtigen Blick auf den silberumflatterten Körper auf dem Vorplatz, dann drehte er sich um, um genauso geräuschlos zu verschwinden, wie er gekommen war.

Er erstarrte mitten in seiner Bewegung.

Das Bündel hatte sich bewegt.

3

Ein kaum merkliches Zucken der Finger ihrer rechten Hand, aber dennoch nichts, das der Wind allein hätte bewerkstelligen können, und sie lag noch nicht lang genug, als dass die kleinen Fresser ihren Körper in Besitz genommen haben konnten.

Reglos starrte der Junge auf den Platz, ganz und gar auf den Körper fokussiert, den er gerade noch für leblos gehalten hatte.

Die Bewegung erfasste langsam ihre gesamte Hand. Ein kleines, bleiches Stück Fleisch am Ende ihres aufgeschürften Arms, das jetzt zum Leben erwachte. Milchig weiße Haut, bedeckt mit einer dicken Schmutzkruste und von rotem Gewebe, auf dem sich erste Blasen von der Hitze gebildet hatten.

So gut wie tot.

Aber eben noch nicht ganz.

Das verkomplizierte die Situation des Jungen beträchtlich, und für einen Moment überlegte er, ob es nicht trotzdem besser wäre, seinen Posten auf der Stelle aufzugeben und die ganze Sache einfach zu vergessen. Er könnte sich geräuschlos zurückziehen, und im Schatten der verfallenen Ziegelmauer zurück zur Kanalisation schleichen. Von dort hinab in den Tunnel, lautlos, unsichtbar. Noch vor Einbruch der Dunkelheit würde er in seinem Versteck sein – ohne Stiefel freilich, aber dafür ungesehen und in Sicherheit.

In Sicherheit.

Doch er blieb und starrte, unfähig, den Blick abzuwenden, wie es ihm unmöglich gewesen war, dem Blick der Statue auszuweichen, die von ihrem Kreuz unter dem Himmel aus Stein auf ihn hinabgestarrt hatte.

Die Hitze flimmerte über der festgestampften Erde, die den Platz vor der Halle bedeckte. Er erkannte jetzt, dass die zögerlichen Bewegungen des Mädchens ein Ziel hatten.

Sie versuchte, in den Schatten zu kriechen, den die Kreuzhalle warf, und sie zeigte erstaunliche Beharrlichkeit dabei. Ihre Bewegungen waren für einen flüchtigen Beobachter kaum als solche auszumachen, so langsam waren sie.

Dennoch kroch sie weiter.

Unendlich langsam, aber sie bewegte sich.

Doch die Sonne war schneller als das Mädchen. Die Hitze würde das letzte bisschen Wasser aus ihrem Körper saugen, lange bevor die Nacht hereinbrach. Falls sie dennoch bis dahin überlebte, würde dann die Kälte kommen und mit ihr jene, die sich an sterbenden und toten Körpern labten. Dinge, die sich tagsüber in die lichtlosen Schatten der Ruinen verkrochen, wohin die Menschen niemals gingen und auch der Junge nicht.

Dinge, die nur im Schutz der Dunkelheit herauskamen, wenn sie leichte Beute witterten. Kriechend, tastend, hoppelnd und schleichend – und immer hungrig.

Nachdem diese Kreaturen ihren Teil gehabt hatten, würden die kleinen Fresser sich um die Reste kümmern.

Als das Mädchen sich erneut bewegte, rutschte ein Stück des silbrigen Stoffs von ihrem Kopf. Was darunter zum Vorschein kam, entlockte dem Jungen ein überraschtes Glucksen. Ihr Haar, fein und strahlend hell, fiel ihr ins Gesicht und lang über ihre Schultern. Selbst von da, wo er saß, konnte der Junge sehen, wie wunderbar weich und fein dieses Haar war.

Solche Haare hatte er noch nie gesehen.

Er verspürte den beinahe übermächtigen Impuls, es zu berühren. Es in seine Hände zu nehmen und sich davon zu überzeugen, wie zart es tatsächlich war. Daran zu schnuppern, möglicherweise. Wie er den Duft im Haar seiner Mutter geschnuppert hatte, vor langer Zeit.

Er sah wieder zu dem Mädchen hinüber.

Sie hatte ihren Körper ein paar weitere Zentimeter bewegt, auf den Schatten der Kreuzhalle zu, und war dann wieder zusammengebrochen. Sie würde sehr bald sterben, wenn er nichts dagegen unternahm.

Sterben, wie sie alle gestorben waren.

Seine Mutter, die Tiere des Waldes und kurz darauf der Wald selbst. Sterben, wie das Mädchen im Tigerkäfig gestorben war, seinetwegen.

Und die anderen Kinder.

Hin und wieder fuhr der Wind zärtlich in das feine Gespinst der Haare und entblößte eine bleiche Stirn. Haut, wie sie der Junge seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Denn diese Haut deutete auf Schwäche hin, und Schwäche passte nicht in die Welt, in der der Junge lebte.

Schwäche verging hier all zu rasch.

»Du musst mich beschützen«, hörte er die Stimme seiner Mutter. »Weil es wichtig ist.«

Also blieb er, und starrte auf den Platz hinaus.

Und dachte nach.

4

Das Mädchen hatte ihren Oberkörper inzwischen größtenteils aus der unmittelbaren Sonneneinstrahlung gehievt. Nun lag sie reglos im Schatten der Kreuzhalle. Wenn sie großes Glück hatte, konnte sie vielleicht doch noch bis zum Einbruch der Dunkelheit überleben.

Dann würde der Junge sie holen und sich um ihren ausgebrannten Körper kümmern können. Vielleicht. Aber sehr wahrscheinlich war das nicht.

Zu gefährlich.

Als er die Bewegung wahrnahm, drückte sich der Junge in die Schatten hinter der zerborstenen Ziegelwand. Sein Körper spannte sich, seine Füße krallten sich sprungbereit in die verfaulten Bretter, auf denen er hockte. Er hielt den Atem an, während er dem Geräusch seines wild pochenden Herzens lauschte.

Etwas war hier.

Vorsichtig drehte er den Kopf in die Richtung, aus der er die Bewegung wahrgenommen hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes lugte der zottige Kopf eines Hundes aus einer schmalen Gasse zwischen zwei windschiefen Gebäuden hervor.

Den Körper gänzlich in den Schatten verborgen, witterte das Tier, während es mit unverhohlener Gier zum Körper des sterbenden Mädchens herüberstarrte.

Der Junge konnte den Hunger der Kreatur förmlich spüren.

Das Hundegesicht mit der langen Schnauze war von zahlreichen Kampfspuren gezeichnet. Der Hund besaß nur noch ein Auge. Eine breite Narbe begann mitten auf seiner Stirn und endete bei seinen Lefzen, sodass es aussah, als habe das Tier ein schiefes, anzügliches Grinsen aufgesetzt.

Na, wie wär's mit uns beiden?, schien dieses Lächeln zu sagen. Die gewaltigen gelben Zähne, die darunter zum Vorschein kamen, versprachen eine ebenso kurze wie leidenschaftliche Begegnung.

Seine Zähne, wenn auch furchteinflößend, waren nicht mehr vollzählig. Es war ein alter Hund – älter und größer als alle, die der Junge bisher gesehen hatte. Ein erfahrener Kämpfer, der schon jenseits seiner besten Tage war.

Ein alter, aber dennoch gefährlicher Gegner.

Schließlich wagte sich das zerzauste Tier aus seinem Versteck hervor und trottete gemächlich auf den Platz vor der Kreuzhalle zu.

Immer wieder blieb es stehen, witterte, lauschte.

Das linke Hinterbein zog er etwas nach, was seinem Gang etwas Unsicheres verlieh, als habe er von dem Gebrannten gekostet, den die Mickies bei den Spielen am Rad an die Farmer verkauften.

Zottige Fetzen seines Fells hingen in großen Büscheln von seinem Körper, dazwischen zeigte die ledrige Haut unzählige schlecht verheilte Narben. Hauptsächlich Bissspuren und tiefe Kratzer, die von der Begegnung mit seinen Artgenossen stammen mussten. Doch es gab auch andere. Brandwunden, längliche, glatte Schneisen in seinem borstigen Fell, von Fackeln oder glühenden Stäben, die man ihm in den Leib gedrückt hatte, um seine Kampfeslust zu steigern. Und diese Narben stammten nicht von anderen Tieren.

Ein Leittier, das erkannte der Junge an der Art seines Gangs und an dem Mut, den der Hund an den Tag legte.

Für ihn war es ebenso gefährlich wie für den Jungen, mitten am Tag auf den großen, ebenen Platz zu laufen – seine Narben ließen darauf schließen, dass der Hund über die Bedeutung eines Köders ebenso gut Bescheid wusste wie der Junge.

Nur war der Hund viel hungriger als der Junge.

Ein ausgestoßener Rudelführer vielleicht, der zu alt für seinen Posten geworden war, aber dennoch zu gefährlich für den Nachfolger, als dass dieser ihn zu einem offenen Kampf herausforderte.

Heutzutage hält er sich raus aus dem Kampf, dachte der Junge, wenn er es vermeiden kann. Sucht sich leichte Beute, weil er weiß, dass einer seiner nächsten Kämpfe sein letzter sein wird. Versteckt sich tagsüber, genau wie ich, und wartet darauf, dass es mit ihm zu Ende geht. Ein Rudelführer ohne Rudel.

Seine Krallen machten leise Klickgeräusche, als der Hund in vorsichtigen Schritten auf die Mitte des Platzes zulief. Dort hin, wo der Körper des Mädchens lag. Der inzwischen wieder aufgehört hatte, sich zu bewegen.

Der Hund erreichte den ersten der silbrigen Fetzen der verstreuten Kleidung des Mädchens und begann, daran zu schnuppern.

Blut, dachte der Junge, er riecht ihr Blut.

Wenn er es kostet, wird er nicht mehr zu bremsen sein. Nicht so einer wie er. Ohne hinzusehen, griff der Junge in die Tasche, die an einem breiten geflochtenen Band um seine Schultern baumelte und holte einen flachen Stein heraus.

Vorsichtig wog er ihn ein paar Mal abschätzend in der Hand, während er den Hund keinen Moment aus den Augen ließ. Er spürte das Gewicht des Steins, seine Rundungen und Kanten. Dann krümmte er den Zeigefinger um eine der Kanten und hob langsam seinen Arm.

Tut mir leid, alter Rudelführer, aber dieses Fleisch kannst du nicht haben.

Der Junge hob den Stein und holte aus, genau in dem Moment, als der Hund einen weiteren Schritt auf das Mädchen zumachte. Für einen Augenblick spürte der Junge die Gier des Hundes fast körperlich, und er bewunderte die erstaunliche Disziplin und Vorsicht des Hundes angesichts des gewaltigen Hungers, der an seinen Eingeweiden reißen musste.

Ein Gefühl, das dem Jungen gut vertraut war.

Der Hund musste seit Tagen nichts zu Fressen bekommen haben.

Tut mir leid, alter Rudelführer.

Die lange Zunge hing seitlich aus dem Maul des Tieres und wippte bei jedem seiner Schritte hin und her, ein langer Speichelfaden löste sich von seinen Lefzen und tropfte zu Boden. Die borstigen Fellbüschel auf seinem Rücken hatten sich zitternd aufgestellt.

Der Hund blieb wieder stehen.

Er hatte die Pfütze erreicht, die sich dort gebildet hatte. Wasser, das aus einem der zerfetzten Schläuche aus dem Anzug des Mädchens gelaufen war. Der Hund schnüffelte an dem zerfetzten Ende des Schlauchs. Hob den Kopf. Sah sich um. Er schleckte das wenige Wasser vom Boden auf, den Blick seines wachsamen Auges auf den reglosen Körper des Mädchens gerichtet.

Dann ging er weiter.

Der Junge hob die Hand mit dem Stein, sah sich um. Nur er, der Hund, und der zerschrammte Körper des beinahe toten Mädchens. Kein Rudel in Sicht. Bis jetzt.

Das da muss ich beschützen, Rudelführer, dachte der Junge, weil es wichtig ist.

Als der Hund einen weiteren vorsichtigen Schritt auf das Mädchen zumachte, warf der Junge den Stein.

Er prallte mit einem trockenen Geräusch gegen die Schnauze des Hundes.

Der Rudelführer jaulte erschrocken auf und sprang zur Seite.

Dort stand er, zitternd vor Anspannung, und lauschte mit erhobenem Kopf und aufgestellten Ohren, während der Junge die Hand mit dem nächsten Stein bereits zum Wurf erhoben hielt. Am Hals, wo er kaum noch Fell besaß, traten die kräftigen Sehnen wie gespannte Seile hervor. Reglos starrte das Tier in die Richtung, in der es den Ursprung des Wurfgeschosses vermutete.

Das anzügliche, halbseitige Grinsen des gewaltigen Hundes wandte sich dem Jungen zu und erstarrte. Die Schnauze zitterte aufgeregt, und der Junge konnte sehen, dass ein wenig Blut aus der Wunde troff, die sein Steinwurf verursacht hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---