Teelicht, Tatort, Tannenduft - Lea Adam - E-Book

Teelicht, Tatort, Tannenduft E-Book

Lea Adam

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  • Herausgeber: Knaur eBook
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Alle Jahre wieder schlagen die Mörder zu... ... im Krimi-Adventskalender! 24 renommierte Autor*innen haben sich zusammengefunden und liefern mit »Teelicht, Tatort, Tannenduft« eine Kurzgeschichten-Sammlung mit spannenden Geschichten jeglicher Art: Ob blutig, humorvoll oder düster – hier kommen Sie auf Ihren Geschmack!  Freuen Sie sich auf 24 regionale Kurz-Krimis mit Tatorten in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Tradition des beliebten Spannungs-Adventskalenders nach den Spiegel-Bestsellern »Wichtel, Wunder, Weihnachtsmord« und »Winter, Weihrauch, Wasserleiche« wird fortgeführt. Für schaurig-spannende Adventstage sorgen in diesem Jahr: Lea Adam, Eleanor Bardilac, Nina Bilinszki, Andrea Bonetto, Kilian Eisfeld, Thomas Finn, Christiane Franke & Cornelia Kuhnert, Andreas Gruber, Markus Heitz, Marc Hofmann, Daniel Holbe, Thomas Kastura, Thorsten Kirves, Regine Kölpin, Jessica Kremser, Matthias Löwe, Iny Lorentz, Kirsten Nähle, Mona Nikolay, Sonja Rüther, Florian Schwiecker, Ben Tomasson, Su Turhan, Anne Verhoeven Weitere Anthologien aus dieser Krimi-Bestseller-Reihe mit weihnachtlichen Kurzgeschichten sind: - Wichtel, Wunder, Weihnachtsmord - Winter, Weihrauch, Wasserleiche - Rentier, Raubmord, Rauschgoldengel - Lametta, Lichter, Leichenschmaus  - Makronen, Mistel, Meuchelmord  - Kerzen, Killer, Krippenspiel  - Plätzchen, Punsch und Psychokiller  - Türchen, Tod und Tannenbaum  - Stollen, Schnee und Sensenmann  - Süßer die Schreie nie klingen  - Glöckchen, Gift und Gänsebraten  - Maria, Mord und Mandelplätzchen

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Seitenzahl: 483

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Teelicht, Tatort, Tannenduft

Von Rügen bis Arosa

Rahel Schmidt (Hg.)

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Freuen Sie sich auf 24 regionale Kurz-Krimis mit Tatorten in Deutschland, Österreich und der Schweiz: Auch dieses Jahr bieten wir Ihnen wieder eine neue Ausgabe unseres mörderischen Adventskalenders. 24 renommierte Autor*innen haben sich zusammengefunden und liefern mit Teelicht, Tatort, Tannenduft eine Kurzgeschichtensammlung mit spannenden Geschichten jeglicher Art: Ob blutig, humorvoll oder düster – hier ist für jeden Geschmack etwas dabei!

 

Für fesselnde Adventstage sorgen in diesem Jahr:

Lea Adam, Eleanor Bardilac, Nina Bilinszki, Andrea Bonetto, Kilian Eisfeld, Thomas Finn, Christiane Franke & Cornelia Kuhnert, Andreas Gruber, Markus Heitz, Marc Hofmann, Daniel Holbe, Thomas Kastura, Thorsten Kirves, Regine Kölpin, Jessica Kremser, Matthias Löwe, Iny Lorentz, Kirsten Nähle, Mona Nikolay, Sonja Rüther, Florian Schwiecker, Ben Tomasson, Su Turhan und Anne Verhoeven.

Inhaltsübersicht

Karte

Motto

1: Daniel Holbe, Letale Dosis

2: Christiane Franke & Cornelia Kuhnert, Wenn der Nikolaus zweimal klingelt

3: Andreas Gruber, Der Weihnachtsmann auf dem Dachboden

4: Marc Hofmann, Der Engel-Trick

5: Sonja Rüther, Advent, Advent, der Nachbar brennt

6: Markus Heitz, Klub 24

7: Andrea Bonetto, Letzte Abfahrt

8: Ben Tomasson, Alte Liebe

9: Nina Bilinszki, Tödliche Weihnachtsfeier

10: Eleanor Bardilac, Und uns das Paradies

11: Jessica Kremser, Dann steht das Christkind vor der Tür

12: Su Turhan, Die 1-Cent-Münze

13: Regine Kölpin, El Gordo in den Dünen

14: Matthias Löwe, Alle Jahre wieder oder Die Weihnachtsgans

15: Lea Adam, Die Henkerin

16: Thomas Finn, Cabin in the Wood

17: Anne Verhoeven, Im Rhythmus der Stille

18: Thorsten Kirves, Der zwanzigste Heiligabend

19: Iny Lorentz, Ein fast perfekter Mord

20: Thomas Kastura, Fasanen

21: Kirsten Nähle, Weihnachten im Blackout

22: Florian Schwiecker, Das Weihnachtswunder

23: Kilian Eisfeld, Der dreifache Perkeo

24: Mona Nikolay, Merry Ripmas

Schneeflöckchen, Mörderchen,

wann folgt deine Tat?

Es ist nun bald Weihnacht,

schlag ein deinen Pfad.

 

Komm, such dir den Tatort

in unserer Welt.

Nimm Rache und Leben,

wie es dir gefällt.

 

Mörderchen, es holt sich

sein Opfer ganz still.

Mit Messer, Gift, Keule;

immer, wie es will.

1

Daniel Holbe

Letale Dosis

Oberhessen

Über den Autor:

Daniel Holbe, Jahrgang 1976, lebt mit seiner Familie im oberhessischen Vogelsbergkreis. Neben der erfolgreichen Julia-Durant-Reihe, die er seit dem Tod von Andreas Franz weiterführt, schuf er eine eigene Reihe um die Ermittlerin Sabine Kaufmann, die er seit Band 3 gemeinsam mit Ben Tomasson schreibt.

Wie viele Vanillekipferln sind eigentlich eine letale Dosis?

Ich weiß überhaupt nicht, warum mir diese Frage ausgerechnet jetzt in den Kopf schießt. Draußen ist es alles andere als winterlich, doch in der Firma läuft die Produktion der beliebten Backwaren längst auf Hochtouren. Im Garten herrschen frühlingshafte Temperaturen, die Blumen haben sich dazu entschlossen, neu auszutreiben. Hier drinnen duftet es nach Mandeln und Vanille, und durch die Glastür meines Büros höre ich das nie verstummende Arbeiten schwerer Maschinen.

Apropos Mandeln. Bei Bittermandeln liegen die Dinge auf der Hand: Roh verzehrt können bereits fünf dieser Nüsse ein Kind töten, bei Erwachsenen liegt die Toleranzgrenze entsprechend höher. Darauf ankommen lassen sollte man es aber nicht. Auch normale Mandeln können fatale Auswirkungen haben, allerdings nur, wenn eine entsprechende Allergie vorliegt. Deshalb produzieren wir neben den herkömmlichen Kipferln auch eine nussfreie Variante. Außerdem welche in glutenfrei, vegan und in Bioqualität. Man kann uns nicht nachsagen, dass wir die modernen Nischen der Wohlstandsgesellschaft nicht ausfüllen, und tatsächlich gehören wir zu den Marktführern im deutschsprachigen Raum.

Während meine Gedanken immer wieder entgleiten, versuche ich, den Worten zu folgen, die einer blechern klingenden Übertragung entspringen. Kurt Hohnold, Inhaber und Geschäftsführer der Firma. Ein beleibtes Männchen mit Spitzbauch und einem Ruhepuls von hundertzwanzig. Sein Blutdruck ist so hoch wie sein Terminkalender voll. Einmal habe ich gesehen, wie er sich an einer Papierkante geschnitten hat. Statt ein, zwei Tropfen Blutes spritzte es förmlich aus seiner Fingerkuppe. Gäbe es Vampire, würden sie beim Zubeißen vermutlich binnen Sekunden ertrinken. Vielleicht schützt ihn dieses Phänomen ja wenigstens vor den Moskitos. Denn Kurti – nicht viele Menschen dürfen ihn so nennen – befindet sich gerade in Mexiko, und sein in unsauberem Englisch gehaltener Vortrag richtet sich an eine Gruppe chinesischer Investoren. Mexiko. China. Ja, wir machen dem Bild eines deutschen Traditionsunternehmens wirklich alle Ehre.

Irgendwann zwischen Tortendiagrammen und Absatzprognosen greift Kurti sich an die Brust und knöpft sich das Hemd auf. Die Chinesen sitzen da, fünf Stück, alle wie aus dem Ei gepellt. Pokerfaces. Kurti schwitzt wie ein Schwein. Ein Deckenventilator flappt hier und da am oberen Rand durch das Bild. Ich höre ihn atmen. Schnell und schwer. Wie es in diesem engen mexikanischen Konferenzzimmer wohl riechen muss? Und warum gibt es dort drüben keine Klimaanlagen?

Zurück zu den Diagrammen und Prognosen. Den Mienen der Chinesen nach zu urteilen prognostiziere ich, dass sich binnen der nächsten Sekunden einer reflexartig an seine Nase greifen wird. Ist es nicht so, dass wir Europäer für die Asiaten ganz furchtbar unangenehm riechen? Stattdessen ist es Kurtis Hand, die sich bewegt. Sie fliegt in Richtung der eigenen Brust. Er gerät ins Taumeln, die andere Hand sucht den Tisch. Ein Kabel wird ihm zum Verhängnis, als Nächstes rast das Bild wie die Aufzeichnung einer Action-Cam und wird dann schwarz.

Ich finde mich stehend wieder. Mit aufgestellten Nackenhaaren, wie sie kein Horrorfilm mir jemals bereitet hat.

Das also war Kurt Hohnolds Abgang.

*

Kommissar Brunner erscheint ein paar Tage später. In mürbeteigfarbenem Trenchcoat und braunen Lederschuhen, die ihre besten Zeiten im vergangenen Jahrhundert erlebt hatten. Als man im Abendprogramm noch regelmäßig neue Columbo-Filme geliefert bekam. Vermutlich stammt daher auch sein Kleidungsstil. Frisur und Sprechweise haben ebenfalls gewisse Ähnlichkeiten.

»Eigentlich hatte ich für heute andere Pläne«, verkündet er mit verknittertem Lächeln.

»Wer nicht?«, erwidere ich und lächle zurück. Es ist immerhin Sonntag.

Kurti hatte auch andere Pläne. Normalerweise wäre sein Rückflug heute am Nachmittag in Frankfurt gelandet. Genau genommen ist er das auch, nur eben ohne ihn. Einen Erste-Klasse-Fensterplatz braucht er jedenfalls nicht mehr.

Brunner fragt mich ein paar Details ab, dann kommen wir zum Kern der Sache: »In welcher Beziehung stehen denn Sie zum Opfer?«

»Ich arbeite hier.«

Ist das nicht offensichtlich? Oder leitet er gerade eine Art Columbo-Manöver ein?

»Ich bin zuständig für den Vertrieb und die …«

Er wedelt mit der Hand. »Nein, nein. Es geht mir um die persönliche Beziehung.«

»Na ja«, ich räuspere mich, »Kurt war mein Chef. Unser aller Chef, um genau zu sein.« Meine Hand zieht einen weitreichenden Bogen auf das unter dem Glaskasten liegende Reich der Maschinen. Mit einer Ausnahme vielleicht. Gleichzeitig frage ich mich, warum diese Ausnahme heute nicht hier ist und stattdessen nur ich hier die Stellung halte.

»Wie lange arbeiten Sie schon hier?«

Etwas Saures drängt in meinem Hals nach oben, aber ich bleibe unverbindlich. Mit leicht zusammengekniffenen Augen gebe ich ihm eine Zahl. »Dreizehn Jahre.«

»Dreizehn!« Er notiert es sich. »Und wo angefangen?«

»Direkt hier.«

Er nickt. »Hatte Herr Hohnold irgendwelche Feinde?«

Das kam plötzlich. Ich hebe die Schultern und schüttele dann den Kopf. »Nein … Soweit ich weiß …«

»Denken Sie in aller Ruhe darüber nach. Konkurrenz, Produkterpressung, unzufriedene Angestellte. Die Vorweihnachtszeit bringt allerlei schräge Typen hervor, das können Sie sich gar nicht vorstellen.«

Ich stutze. »Wie kommen Sie ausgerechnet auf Erpressung?«

»Vergiftetes Gebäck? In dieser Jahreszeit? Würden Sie da nicht jede Summe zahlen?«

»Aber zahlt man das nicht, bevor jemand stirbt?«

Brunner grinst. »Würden Sie wirklich jedes Mal zahlen? Oder nur dann, wenn einer der Chefs das Zeitliche gesegnet hat?«

»Das sollten Sie den anderen Chef fragen«, erwidere ich angesäuert. Diesmal kann ich es nicht mehr verbergen, also versuche ich es gar nicht. »Er hatte ebenfalls andere Pläne für heute.«

»Und die wären?«

»Nun … Was hat achtzehn Löcher und jede Menge Gras?«

Brunner nickt und trollt sich. Wie aufs Stichwort hält er inne, kurz bevor er aus meinem Sichtfeld verschwindet, und hebt seinen Arm mit gestrecktem Zeigefinger.

»Eine Frage noch«, ruft er, lauter, als es eigentlich vonnöten wäre.

»Ja?«

»Wie geht es denn jetzt mit dem Betrieb weiter? Rücken Sie an Hohnolds Stelle?«

Das waren zwei Fragen. Ich verneine lauthals.

Wenn es so einfach wäre …

Er verschwindet. Keine Musik. Kein Abspann. Keine gelbe Schrift.

Die Sache ist noch nicht vorbei.

*

Mein Ururgroßvater ist ein Seemann gewesen. Eine romantische Vorstellung: Er brachte Gewürze, Zucker und natürlich Rum aus allerlei Ländern rings um den Äquator ins nasskalte Europa. Da war eine Menge Geld zu machen, das wussten auch die allgegenwärtigen Piraten, und auf seiner letzten Fahrt fiel sein Schiff ebendiesen zum Opfer. Zimt, Vanille und Rohrzucker. Er selbst überlebte zwar, aber sechzehn Matrosen blieben auf See.

Meine Ururgroßmutter Dorothea buk zur selben Zeit ihre legendären Vanillekipferln. Er hatte es immer geschafft, ihr etwas von den teuren exotischen Zutaten abzuzweigen. Nur dieses Mal kehrte er mit leeren Händen zurück. Die Ladung war verloren. Zimt, Vanille und zehn Tonnen Zucker. Genug für eine Million Kipferln, wenn ich mich nicht verrechnet habe. Das macht 62500 Stück für jeden toten Seemann.

Ist das vielleicht die letale Dosis?

 

Maik Carstens schaut mich an und schnauft. Kommissar Brunners Auftritt dürfte ihm seine Golfpartie wohl gründlich verhagelt haben.

»Wie konnte das passieren?«

Ich reibe mir mit einem Taschentuch durch die Augenwinkel.

»Ich kann es selbst kaum glauben«, antworte ich und schniefe.

Es ist kein Geheimnis, dass niemand in der Firma den spitzbauchigen Kurti so richtig mochte. Immerhin wollte er die Produktion nach Mittelamerika verlegen. Das muss man sich mal ausdenken! Ein deutsches Traditionsprodukt, produziert von Chinesen im Niemandsland von Mexiko! Bei Autos mag man sich das ja noch vorstellen, aber weder ich noch Carstens fanden diese Idee akzeptabel. Kurti indes gab uns sehr deutlich zu verstehen, dass er der Chef sei und deshalb zu dem Meeting reisen würde – und zwar allein.

Jetzt sind die Karten also neu gemischt.

Maik Carstens ist das ziemliche Gegenteil von Hohnold, er ist schlaksig und hochgewachsen, außerdem ein Sonnyboy. Die letzten Tage haben ihn allerdings alt werden lassen. Empörte Anrufe aus der Belegschaft, irgendwie haben die wohl Wind davon bekommen, dass der oberhessische Traditionsbetrieb seinen vielleicht letzten Produktionszyklus begonnen haben könnte.

Das meinte er übrigens auch mit seiner Frage.

Wie konnte das passieren? Wie konnte diese delikate Information nach außen dringen?

Ich unterdrücke ein Grinsen, schniefe noch einmal und sage theatralisch: »Der arme Kurti.«

»Vergiss doch den Blödmann mal für eine Weile!«, zischt Maik Carstens. »Wir haben jetzt Wichtigeres zu besprechen.«

»Was denn?«

»Na, dieser Brunner zum Beispiel. Für den haben wir doch ein 1-a-Mordmotiv.«

»Du vielleicht«, erwidere ich mit Pokerface. Bevor er rot werden und aufspringen kann, füge ich mit einem Augenzwinkern hinzu: »Und jeder andere Angestellte mit dazu.«

Er entspannt sich wieder.

»Du also«, sagt er und nickt bedächtig.

»Tu nicht so scheinheilig«, gebe ich zurück, und diesmal lächle ich. »Es wäre doch sowieso rausgekommen. Und solange es dich aus der Schusslinie nimmt …«

Soll Maik ruhig denken, dass ich ihm einen Mord zutraue. Immerhin hat Kurti ihm mal die Frau ausgespannt. Darüber ist der Gute nie so richtig weggekommen. Einzig das viele Geld aus dem Betrieb hat ihn bei Laune gehalten.

 

Nur wenige Menschen wussten von Kurt Hohnolds ausgeprägter Nussallergie. Wie ein Luchs war er immer hinterher gewesen, dass auch nicht das kleinste Krümelchen in die allergenfreie Produktlinie geriet. Er verreiste niemals ohne einen kleinen Vorrat, und genau hier liegt seine Schwachstelle. In Mexiko wusste keiner von seiner Allergie. Die Partner aus Fernost bevorzugten starke, vitale Männer. Deshalb hatten sie seinen Kollaps für einen Herzinfarkt gehalten und ihm noch die Brust massiert, während er einem heftigen anaphylaktischen Schock erlag.

Die letale Dosis an Vanillekipferln für Kurti lag übrigens bei einer Tüte von 150 Gramm. Das ist erschreckend viel weniger als 62500 Stück …

*

Als Kommissar Brunner mich das nächste Mal besucht, sehe ich, wie sein Blick sich in meinem Dekolleté verfängt.

Moment, Sie haben gar nicht mitbekommen, dass ich eine Frau bin? Trauen Sie mir das etwa nicht zu? Wir leben immerhin im 21.Jahrhundert!

Wer, glauben Sie denn, hat damals die Familie am Laufen gehalten, während mein Ururgroßvater zur See schipperte? Wer hat das geheime Familienrezept für die begehrtesten Kipferln des gesamten Landkreises von Generation zu Generation weitergegeben? Frauen! Mütter an Töchter. Großmütter an Enkelinnen. Hinter jedem starken Mann steckt eine noch viel stärkere Frau, das sollte mal gesagt sein! Aber lassen wir das.

»In die mexikanischen Ermittlungen kann ich mich nicht einmischen«, berichtet der Trenchcoatträger mit dem Morning-Look in der Frisur. Wenigstens pafft er keinen Zigarillo wie seine Fernsehvorlage. »Doch Kurt Hohnold starb an einer Nussallergie. Ist das nicht unüblich? Ich meine, in seiner Position?«

»Es war ein wohlgehütetes Geheimnis«, nicke ich. Dann, mit geneigtem Kopf und einem nachdenklichen Blick in die Ferne, setze ich nach: »Andererseits sind die geheimen Verkaufspläne ja auch irgendwie unter die Belegschaft gelangt.«

»Es könnte also im Grunde jeder hier ein Motiv haben?«, fragt Brunner nach. Offensichtlich hat Carstens ihn über den Hintergrund der Mexikoreise umfassend informiert. Schon beim Gedanken daran, 150 Mitarbeitende einzeln zu befragen, tritt ihm der Schweiß auf die Stirn.

»Das haben jetzt Sie gesagt«, kontere ich. »Ich möchte da niemanden verdächtigen.«

»Wie stehen denn Sie zu den Verkaufsplänen?«, will er wissen. Ich gebe mir Mühe, gleichgültig zu wirken.

»Ach wissen Sie … ich habe meine Zweifel, dass das funktioniert. Lebkuchen müssen aus Nürnberg kommen, Christstollen aus Dresden, und, um ehrlich zu sein, wundern sich schon viele darüber, dass unsere Firma in Oberhessen sitzt und nicht irgendwo in Süddeutschland. Aber als Importprodukt aus Mexiko«, ich schüttele den Kopf, »und dann auch noch als Teil eines chinesischen Konzerns …«

»Verstehe. Und Ihr Partner?«

Natürlich kenne ich Maiks Standpunkt. Unterm Strich sieht er aber nur das Geld. Und die späte Rache, die seinen alten Rivalen um eine Frau ereilt hat. Aber das soll dieser Ermittler mal besser selbst herausfinden.

Dieses Mal verabschiedet er sich nicht in Columbo-Manier. Keine letzte Frage noch. Aber er wird wiederkommen.

*

Maik Carstens’ Tod sah wie ein schrecklicher Unfall aus.

Ein Grund, der unseren Chef auf den Gedanken gebracht hatte, die Produktion auszulagern, sind sicherlich die antiquarischen Maschinen. Da klappert und stinkt es überall, und ständig müssen irgendwelche Mechaniker her. Einige der Malaisen bekommen wir aber mittlerweile selbst in den Griff. Manchmal erfordert das waghalsige Aktionen. Wenn die Sicherung der Knetmaschine herausfliegt zum Beispiel, muss man zuerst über einen wackligen Steg balancieren, um seinen Kopf anschließend in einen finsteren Kasten voller Kabel zu stecken. Eine falsche Bewegung, und man sieht aus wie eine verbrannte Weihnachtsgans. Genauso die Teigwalze. Eine Monstrosität, die den Weihnachtsmann nebst Schlitten und Rentiergespann ohne Mühe zu einem Bettvorleger verarbeiten würde. Um an die Elektrik zu gelangen, muss man sich auf das Band stellen und dabei höllisch aufpassen, dass man mit den Füßen nicht an den Schaltkasten stößt. Eine sanfte Berührung genügt, um das Ungetüm zum Leben zu erwecken. Als Nächstes reißt es einem die Füße unter dem Leib weg. Überlebenschance gleich null. Dafür ist es ein relativ schneller, wenn auch unappetitlicher Tod.

 

Maik Carstens allerdings starb langsam. Mit dem Kopf in 1200 Kilogramm Kipferlteig. Die Geheimzutat meiner Ururgroßmutter war neben Rübenzucker und echter Vanille vor allem eines: Gänseschmalz. Mit den Resten, die sie an St. Martin weitsichtig aufsparte, verfeinerte sie stets den Teig, ohne dass sie das jemals jemandem verraten hätte. Sie ersetzte einfach einen Teil der Butter damit, und das besondere Aroma ihrer Kipferln wurde oft zu kopieren versucht, aber niemals erreicht.

Jemand musste den Stromkreislauf der Knetmaschine jedenfalls so manipuliert haben, dass der arme Maik beim Wiedereinschalten einen solch heftigen Schlag bekam, dass er rückwärts ins Nichts taumelte. Eine Etage tiefer warteten dann der Teig und die Rührhaken. Das Gänseschmalz übrigens hatte man in der Firma aus Kostengründen längst durch Schweineschmalz ersetzt. Und das auch nur gerade so wenig, dass man es nicht auf dem Etikett deklarieren musste. Wobei das Schmalz natürlich weder bei der veganen noch bei der Biovariante Verwendung fand. In welchen Teig genau das Schicksal unseren Sonnyboy verschlug, spielte am Ende keine Rolle. Eine unbarmherzige Woge überrollte ihn, und die gewundenen Edelstahlhaken mit den scharfen Spitzen taten den Rest.

Ein Kilogramm Teig ergibt nach der Faustformel meiner Großmutter rund 100 Kipferln. Die letale Dosis für den guten Maik lag demnach bei 12000 Stück. Oder sollte ich besser nur die Menge an Teig zählen, die ihm in Mund, Nase und Rachen gedrückt worden war? Aber nein. Das überlasse ich mal besser der Rechtsmedizin.

*

Ob Sie diesen Vergleich nun passend finden oder nicht: Die Ermittlungen ziehen sich wie ein zäher Teig. Schon seit Wochen. Das Ergebnis ist ungewiss. In der Belegschaft rumort es. Man möchte wissen, was die Zukunft bringen wird. Ich wurde derweil als kommissarische Leitung eingesetzt, weil irgendjemand ja die Geschäfte weiterführen muss. Weihnachten steht vor der Tür, und die Nachfrage nach deutscher Backkunst erreicht einen neuen Höhepunkt.

Kommissar Brunner besucht uns nur noch selten, und seine Fragen werden zunehmend absurder. Ich bin mir sicher, er wird irgendwann aufgeben. Er hat, wie ich weiß, an den Adventssonntagen auch noch einen anderen Job. Als Nikolaus verkleidet tingelt er über die hiesigen Weihnachtsmärkte. Mundartgedichte in petto. Und unsere Backwaren im Sack.

Oberhessen hat ganz wunderbare Weihnachtsmärkte. Klein und urig inmitten jahrhundertealter Fachwerkhäuser. Im Gegensatz zum Fernseh-Columbo wird Brunner sein Interesse wohl bald verlieren.

Sobald die Ermittlungen eingestellt sind, werde ich den Laden dauerhaft übernehmen. Das steht mir auch zu, wie ich finde. Sechzehn Jahre ist es her, dass Maik und ich miteinander gingen, und der Teufel allein weiß, warum ich mich damals für Kurti umentschieden habe. Wie Kurti mich um den Finger wickelte und Maik als gehörnter Ex auf der Strecke blieb. Wie Kurti sich dann beim Weihnachtsbacken das Geheimnis unseres heiligen Familienrezeptes aneignete. Er hat sich sogar entschuldigt, als seine Firma in den Folgejahren durch die Decke ging. Ausgerechnet mit Maik steckte er da drin, und das Rezept war mittlerweile patentiert. Nicht einmal eine Ohrfeige habe ich ihm gegeben, so perplex war ich damals. Stattdessen habe ich mich mit einer gut bezahlten Stelle im Vertrieb zufriedengegeben, während die beiden Männer sich mit meinem Familienrezept die Taschen füllten.

»Es ist ja alles auch irgendwie dir zu verdanken.«

Dieser selbstgefällige Satz war das Allerschlimmste für mich. »Auch« und »irgendwie«. Das war ein Schlag ins Gesicht, und er traf ganze Generationen.

Doch ich habe gewartet.

 

Ein Scheppern reißt mich aus der Gedankenwelt.

Es ist Sonntag, und außer mir ist keiner hier. Heute backe ich eine ganz besondere Garnitur von Vanillekipferln. Das Gänseschmalz habe ich mir von einem Bauern im Nachbarort besorgt. Heute gibt es hier keine Chinesen, keine Mexikaner und keine Männer, denen das Geld wichtiger ist als jede Tradition. Keinen Kurt mehr und auch keinen Maik. Heute ist es so, als wäre mein Ururahn mit seinen exotischen Zutaten heimgekehrt, und meine Ururahnin würde sich mit Hingabe ans Backen machen.

Der Teig ist geknetet. 500 Kilogramm.

Ich greife in meine Tasche und stecke mir eines unserer regulären Kipferln in den Mund. Auch ich führe sie in der Adventszeit praktisch immer mit mir. Die neue Charge allerdings wird die Krönung von allem sein.

Über die Frage, welches denn nun eine letale Dosis an Vanillekipferln wäre, denke ich nicht mehr nach. Vielleicht stelle ich sie demnächst einmal Kommissar Brunner.

Unter den Duft nach Mandeln und Vanille mischt sich etwas Verschmortes. Schon wieder diese vermaledeite Teigwalze, jenes Ungeheuer, das zugleich das Herzstück unseres Betriebes ist. Meines Betriebes, denke ich mit einem bitteren Lächeln, als ich mich dem Schaltkasten nähere, an dem im Laufe der Jahre schon so oft gebastelt und geflickt wurde.

Ich lehne mich nach vorne, während ich im Winkel meiner verdrehten Augen eine rot-weiße Gestalt erkenne. Es ist der Nikolaus. Ich blinzle irritiert. Die Weihnachtsfeier haben wir aus Pietätsgründen in diesem Jahr ausfallen lassen. Das firmeneigene rot-weiße Kostüm nebst Rauschebart ruht in einem verstaubten Karton im Lager. Und doch steht er leibhaftig da. Nur trägt er statt schwarzer Stiefel ein Paar ausgelatschte Lederschuhe.

Kommissar Brunner! Von draußen mischt sich ein blaues Flackern in die rot-grün-gelben Lichterketten, die aus meinem Büro strahlen. Er hat seinen Einsatzschlitten mitgebracht und vielleicht auch ein paar uniformierte Elfen.

Ich spüre, wie mir der Schweiß auf die Stirn tritt. Liegt es an meiner verbogenen Körperhaltung, die Arme noch immer in Richtung der Kabelknoten gestreckt? Und was hat er überhaupt gegen mich in der Hand? Als drittwichtigste Angestellte dürften meine Fingerabdrücke selbst auf Kurtis tödlicher Kipferltüte nicht belastend sein. Ebenso wenig wie auf jedem Quadratzentimeter der Knetmaschine, die Maik für mich erledigt hat und mich zur Nummer eins beförderte.

»Einen Moment«, presse ich angestrengt hervor.

»Es ist nur eine Kleinigkeit«, ruft Brunner zurück.

Na, das sage ich doch! Soll er also warten. Ich verbiege mich noch etwas mehr, balanciere dabei auf Zehenspitzen auf dem Laufband, auf dem der süße Teig darauf wartet, zu einer flachen Bahn gewalzt zu werden. Danach in Bahnen. Danach in Stücke. Ich möchte Ihnen die Illusion nicht nehmen, aber handgemacht sind selbst die traditionellsten Kipferln schon lange nicht mehr.

Mein Puls steigt an, ich fühle mich plötzlich unter Druck, unterzuckert, und greife ein weiteres Mal in die Tasche meines Blousons. Es ist nur noch ein einziges Kipferl übrig.

Ich kann die Spitze schon zwischen meinen Fingern spüren. Das Fett, den Puderzucker, ich schmecke es schon auf der Zunge. Doch genau in dieser Sekunde löst sich der Halbmond. In Zeitlupe segelt er dem Horizont unter meinen Füßen entgegen, während mein Oberkörper im Inneren des Ungeheuers festhängt. Treffsicher landet das Gebäck genau dort, wo es nicht landen dürfte. Der hochsensible Schaltkasten. Ich spüre noch den Ruck, der mir die Beine wegzieht, höre das Stampfen und Klirren und sehe den Rachen, der nach mir schnappt.

»Es ist nur eine Kleinigkeit«, verkündet der Nikolaus mit einer Stimme, die sich im Dröhnen der Maschine verliert.

Eine letale Kleinigkeit.

Dann wird es schwarz. Doch wenigstens meine Frage ist nun endgültig beantwortet:

Manchmal reicht schon ein einziges Kipferl, um tödlich zu sein.

2

Christiane Franke & Cornelia Kuhnert

Wenn der Nikolaus zweimal klingelt

Neuharlingersiel

Über die Autorinnen:

Christiane Franke lebt gern an der Nordsee, wo ihre bislang 26 Romane und ein Teil ihrer kriminellen Kurzgeschichten spielen. Mit ihren Büchern stürmt sie nicht nur die regionalen Bestsellerlisten, die heitere Neuharlingersieler Krimireihe, die sie gemeinsam mit Cornelia Kuhnert schreibt, erobert sich regelmäßig Plätze auf der Spiegel-Bestsellerliste. Gemeinsam schreiben sie auch die 50er-Jahre-Reihe »Frisch ermittelt«, in der eine Heißmangelbetreiberin die Hauptrolle spielt. Alleine schreibt sie die erfolgreiche Serie um die beiden Wilhelmshavener Kommissarinnen Oda Wagner und Christine Cordes, und im Goya-Verlag erschien 2021 der Roman »Endlich wieder Meer«, den die Autorin auch selbst als Hörbuch eingesprochen hat. Alle Rowohlt-Romane sowie ein Teil der Emons-Reihe sind ebenfalls als Hörbuch erhältlich. Mehr unter www.christianefranke.de

 

Cornelia Kuhnert lebt und schreibt in der Nähe von Hannover. Sie war nach dem Geschichts- und Deutschstudium Lehrerin an verschiedenen Schulen. Seit einigen Jahren arbeitet sie freiberuflich als Autorin von Kriminalromanen und Kurzkrimis aus dem niedersächsischen Kleinstadtmilieu und hat das Krimifest Hannover zusammen mit anderen mörderischen Schwestern zum Laufen gebracht und mehrere Jahre organisiert. Im Emons Verlag hat sie in drei 111-Orte-Bänden Superlative und geheime Schätze ihrer Heimatstadt Hannover in Szene gesetzt.

Seit 2014 hat sie ihre mörderischen Ermittlungen nach Ostfriesland verlegt. Zusammen mit Christiane Franke schreibt sie die erfolgreiche Kultserie um Henner, Rosa und Rudi und die 50er-Jahre-Reihe »Frisch ermittelt« im Rowohlt Verlag.

Mehr Infos unter: www.corneliakuhnert.de

Und: www.kuestenkrimi.de

 

Liedzitat aus: In der Weihnachtsbäckerei

Musik und Text: Rolf Zuckowski

© Mit freundlicher Genehmigung MUSIK FÜR DICH Rolf Zuckowski OHG, Hamburg

In der Weihnachtsbäckerei, gibt’s so manche Leckerei …« Fröhlich vor sich hin singend, stapft Rosa Moll durch den Schnee. Seit heute Nachmittag rieseln weiße Flocken herab, als hätte der Himmel gewusst, dass sie am Abend gemeinsam mit den anderen Frauen des Häkelbüdel-Clubs die ersten Kekse für den alljährlichen Verkaufsstand auf dem Weihnachtsmarkt backen wollen. Rosa schleppt eine große blaue Einkauftasche von IKEA mit sich, anders hätte sie die Kekstrommeln, in die nachher die Krüllkuchen und Engelsaugen wandern sollen, gar nicht mitschleppen können.

Treffpunkt ist das Haus am Hafen. Zwischen lauter alten Backsteinhäusern steht es direkt am Traditionshafen, in dem auch jetzt einige Krabbenkutter liegen und für eine idyllische Kulisse sorgen. Das Haus selbst dient den Neuharlingersielern als Kirche, und unten, im Souterrain, befinden sich die Gemeinderäume und die Wohnung für den Kurprediger. In der Vorweihnachtszeit darf der Häkelbüdel-Club die Räumlichkeiten zum Backen nutzen. Der Kreis ist größer als sonst, weil einige der Landfrauen zur Unterstützung gekommen sind.

»… Zwischen Mehl und Milch macht so mancher Knilch eine riesengroße Kleckerei …«, singt Rosa weiter, stoppt vor dem modernen Gebäude, steigt die Treppenstufen hoch und klingelt. Kurz darauf öffnet Hildegard Steffens die Tür, sie ist die Älteste im Häkelbüdel-Club und wird von allen nur Tante Hildegard genannt. Um den Bauch trägt sie eine geblümte Schürze, auf der schon Mehlflecken zu sehen sind.

»Bin ich etwa zu spät?« Rosa wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Nee. Die anderen waren zu früh. Komm man schnell rin und mach die Tür zu, Tee ist fertig, und wärmer ist es unten auch.« Tante Hildegard geht vor, und wenig später steht Rosa in der großen Küche, in der ein Dutzend Frauen schwatzend beieinandersitzen, jede ein Tässchen Tee vor sich auf dem Tisch.

»Nanu, ich denk, die ersten Krüllkuchen sind schon fertig.« Rosa schält sich aus Jacke, Schal und Mütze, legt die Sachen auf einen Stuhl und holt die leeren Kekstrommeln sowie einen Behälter mit Teig aus der Tasche.

»Wir fangen ja gleich an. Aber hast du schon gehört, was Pastor Grotjahn zugestoßen ist?« Adelheid, die älteste Schwester von Rosas bestem Kumpel Henner, schüttelt fassungslos den Kopf. »Dass es so was Dreistes auch bei uns in Neuharlingersiel geben könnte, hätte ich nie und nimmer gedacht.«

»Was ist denn geschehen?« Rosa bindet sich ihre pinkfarbene Schürze um, nimmt eine Tasse Tee entgegen und trinkt einen Schluck. Das Wulkje Sahne steigt schon auf. Mittlerweile hat Rosa sich fast daran gewöhnt, den schwarzen Tee auf die ostfriesische Art zu trinken, obwohl sie eigentlich grünen Tee bevorzugt. Nur süß darf er nicht sein.

»Man hat mich hinterhältig überfallen und ausgeraubt.«

Erst jetzt bemerkt Rosa den alten Seelsorger auf einem Stuhl in der Ecke des Raumes. Äußerlich besteht zwar Ähnlichkeit mit Loriot, aber zum einen ist er nicht so groß wie der Humorist, und zum anderen fehlt dem pensionierten Pastor dessen Humor.

»Um Gottes willen! Ist Ihnen was passiert?« Rosa blickt ihn erschrocken an, doch Grotjahn winkt ab.

»Zum Glück nicht. Obwohl die mich brutal beiseitegedrängt haben, als sie mein Haus wieder verließen.«

»Wer sind denn ›die‹?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ruft Tante Hildegard: »Adelheid, mach mal dein Waffeleisen an. Wir haben das alles ja schongehört und können nicht ewig hier rumstehen. Die Krüllkuchen backen sich schließlich nicht von allein, genauso wenig wie die Kekse.«

Das findet Rosa ziemlich unsensibel, aber Tante Hildegard meint es sicher nicht böse, sie ist einfach immer nur sehr direkt. Ihre Worte zeigen jedenfalls prompt Wirkung. Augenblicke später gießt Adelheid den flüssigen Teig auf das mit Fett bestrichene Waffeleisen, Gisela rollt den Mürbeteig aus, und zwei der Landfrauen stechen die ersten Kekse aus, während Rosa aufmerksam Pastor Grotjahn zuhört.

Zwei Monteure hätten am Morgen bei ihm geklingelt, sich als Mitarbeiter des Wasserwerks ausgegeben und behauptet, sie müssten den Druck auf der Wasserleitung prüfen. Der Pastor sollte im Badezimmer den Wasserhahn immer mal auf- und zudrehen, die Monteure würden in der Küche überprüfen, ob dann dort auch noch genug Wasser kommt. »Der eine stand die ganze Zeit neben mir und hat seinem Kollegen immer wieder was zugerufen. Ich hab wirklich geglaubt, der andere ist die ganze Zeit in der Küche. Das Wasser rauschte ja laut. Plötzlich rief der von draußen ›fertig‹, und die beiden hatten es ganz eilig, wegzukommen. Da hab ich mir noch gar nichts bei gedacht. Auch nicht, als der eine mich angerempelt hat, als er sich an der Eingangstür an mir vorbeidrückte. Ich fand den nur ganz schön unhöflich. Aber als sie dann fort waren, fiel mir auf, dass die eine Schublade im Wohnzimmerschrank nicht ganz geschlossen war. Die klemmt nämlich. Als ich die Lade schließen wollte, hab ich bemerkt, dass die Schmuckschatulle meiner verstorbenen Frau geöffnet war. Und leer. Ich konnte das erst gar nicht fassen! Ich meine, das muss man sich mal vorstellen: Gemeine Diebe, klauen mir, einem pensionierten Pastor, den Schmuck meiner verstorbenen Frau! Sogar den Ehering haben diese Ganoven mitgenommen. Dabei kann man den ja gar nicht verkaufen, da ist ja der Name meiner Erna eingraviert. Und unser Hochzeitsdatum.«

»Haben Sie die Polizei angerufen?«, fragt Rosa.

Der Pastor nickt. »Natürlich. Aber die Diebe waren schon über alle Berge. Ich hab denen auch eine Beschreibung gegeben, aber die jungen Leute sehen heute ja alle gleich aus. Wollmütze auf dem Kopf und Vollbart. Wie soll man denn da jemanden erkennen?« Er seufzt. »Was für ein Elend. Zum Glück haben die mein geheimes Geldversteck im Keller nicht gefunden. Den Banken kann man ja auch nicht trauen. Da ist die Schublade im alten Herd meiner Waschküche allemal sicherer.« Er grinst, dann guckt er spitzbübisch zu Tante Hildegard. »Ist schon ein Krüllkuchen fertig? Den könnte ich jetzt gut gebrauchen.«

Drei Krüllkuchen und einen steifen Grog später zieht der Pastor von dannen. In der Küche duftet es mittlerweile verlockend nach Keksen und Waffeln, auch ein Topf mit Glühpunsch steht auf dem Herd. Schließlich muss heute keine der Frauen mehr Auto fahren, sie wohnen alle fußläufig, das ist der Vorteil des kleinen Sielortes am Wattenmeer.

»Also mich könnte kein Trickbetrüger so leicht reinlegen«, sagt Gisela Frerichs, die größte Klatschtante des Dorfes. »Wie kann man nur so dumm sein und wildfremde Menschen einfach so durch sein Haus laufen lassen.«

»Der ist nicht dumm. Karl Friedrich ist nur gutgläubig«, widerspricht Tante Hildegard, die Pastor Grotjahn schon seit knapp siebzig Jahren kennt. Sie sind beide zusammen in die Grundschule gegangen. »Wer rechnet schon damit, dass man gefälschte Ausweise vorgezeigt kriegt?«

»Da sollte man mit rechnen«, wirft Adelheid ein, »so was steht immer wieder in der Zeitung. Er ist wirklich nicht der Erste, der übers Ohr gehauen wird.«

»Jetzt hört auf zu streiten. Ich mach lieber Musik an«, meint Gudrun, Adelheids jüngere Schwester, und legt eine CD in das Laufwerk der Musikanlage. »Hab ich schließlich extra mitgebracht. Best of Christmas-Music.« Sofort ertönt »Last Christmas«, und augenblicklich singen alle Frauen mit, wenn auch etwas schief. Rosa schiebt die Gedanken an den Überfall auf den Pastor für heute Abend beiseite.

 

Als Rosa am Freitagnachmittag Gudruns Friseursalon betritt, kläfft Mischlingshund Schecki laut und springt an ihren Beinen hoch. Niemand nimmt Notiz davon, genauso wenig wie von der im Hintergrund dudelnden Weihnachtsmusik. Gudrun, Adelheid und Gisela stehen neben dem Frisierstuhl, auf dem Tante Hildegard mit eingedrehten Lockenwicklern sitzt. Die Trockenhaube ist an die Wand geschoben und ausgestellt.

»Was ist denn los?«, wundert Rosa sich, als sie in die aufgebrachten Gesichter ihrer Freundinnen blickt.

Gisela stößt einen tiefen Seufzer aus. »Rosa, du glaubst es nicht. Der Pastor ist schon wieder überfallen worden! Ich putz doch freitagmorgens immer bei ihm. Und als ich heute früh geklingelt habe, hat er nicht geöffnet. Erst als ich laut geklopft habe – er hört ja etwas schwer –, ist er an die Tür gekommen. Mit einem dicken Verband um den Kopf. Erschrocken hab ich gefragt, was denn passiert sei, und er hat gestammelt, der Nikolaus hätte ihn überfallen.«

Rosa sieht Gisela entgeistert an. »Der Nikolaus hat den Pastor überfallen?«

»Stellt euch vor«, legt Gisela los. »Gestern am späten Nachmittag, es war schon dunkel, hat der Nikolaus beim Pastor geklingelt. Jedenfalls einer, der ein rotes Kostüm samt Rauschebart und Mütze trug. ›Hohoho‹, hat er gerufen. ›Ich sammle Geld, um Kindern in Not Weihnachtsgeschenke zu kaufen.‹« Gisela nippt an ihrem Tee. »Ihr kennt unseren Pastor ja, kinderlieb, wie der ist, hat er den Nikolaus sofort in sein Haus gebeten. Ohne sich einen Ausweis oder Ähnliches zeigen zu lassen. Also, ich hätte das nicht gemacht, nach dem, was ihm mit diesen Monteuren vom Wasserwerk vor drei Tagen passiert ist.«

»Nun komm auf den Punkt«, drängelt Adelheid.

»Immer mit der Ruhe«, wiegelt Gisela ab, die die Aufmerksamkeit der anderen Frauen sichtlich genießt. »Der Pastor hat den Nikolaus also in seine gute Stube gebeten und ist dann zu seinem Geheimversteck in den Keller gegangen. Ihr wisst schon, die Schublade von seinem alten Herd. Hat er ja bei der Weihnachtsbäckerei von erzählt.«

»Deswegen kann man ja wohl kaum von Geheimversteck reden.« Tante Hildegard ruckelt an dem Lockenwickler über ihrem rechten Ohr.

»Stimmt.« Adelheid wirft einen schnellen Blick auf ihre Uhr. »Ich bin spät dran. Eigentlich müsste ich längst wieder im Andenkenlädchen stehen. Also: Mach hinne.«

Gisela verzieht pikiert ihren Mund, als würde sie überlegen, ob sie überhaupt weiterreden soll. Dann gibt sie sich einen Ruck. »Also …«, sagt sie gedehnt, »Pastor Grotjahn geht die Treppe in den Keller runter. Kaum kniet er vor dem Küchenherd, bekommt er einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf.« Sie lässt ihren Blick kreisen und nickt, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. »Der kriegt so richtig einen über die Rübe – und dann wird alles schwarz um ihn. Als er wieder aufwacht, ist die Schublade vom Herd leer. Und das Geld weg. Genau wie der Nikolaus.«

»Ich fass es nicht«, ruft Tante Hildegard. »Das ist ja wie im Fernsehen. Und weiter?«

»Was weiter?« Gisela stellt ihre Teetasse auf die Ablage vorm Spiegel. »Der falsche Nikolaus muss mit der Kohlenschaufel zugeschlagen haben. Die steht ja neben dem Herd. Der Pastor ist jedenfalls völlig fertig.«

»Ein bisschen leichtgläubig ist Karl Friedrich ja nun schon«, findet Tante Hildegard. »Das könnte mir nicht passieren.«

»Ach Hildegard. Der Pastor glaubt eben an das Gute im Menschen. Schon von Berufs wegen«, entgegnet Gudrun.

Rosa nickt, aber schon im nächsten Augenblick schießen Gedankenblitze durch ihren Kopf und schieben sich wie bei einem Puzzle zusammen. »Da passt was nicht«, sagt sie schließlich.

»Wieso?«, kommt es wie aus der Pistole geschossen von Gisela. »Ich hab das genauso erzählt, wie der Pastor mir das berichtet hat. Da war nichts übertrieben.«

»Das meine ich auch nicht.« Rosa zieht sich einen der rollbaren Friseurstühle heran und setzt sich. »Erst kommen die beiden Monteure und bestehlen den Pastor. Das kann eine Zufallstat sein. In Esens haben Trickbetrüger mit der gleichen Masche auch einen Rentner beraubt. Und drei Tage später überfällt der Nikolaus den Pastor im Keller, als er Geld aus seinem Geheimversteck holen will, das genau genommen keins war, weil er uns allen beim Backen davon erzählt hat. Ich frage mich …«, Rosa holt tief Luft, »ob der Nikolaus nicht vielleicht eine Frau gewesen ist. Mit so einem Kostüm geht schließlich jeder als Mann durch.«

Für einen Moment ist es still im Friseursalon. Schecki scheint die Stille zu irritieren. Laut kläffend rennt er auf Gudrun zu, die ihn mit einem »Aus, Schecki« zur Ordnung ruft.

»Was willst du damit sagen?« Gudrun blickt Rosa nachdenklich an. Auch in ihrem Kopf scheint es zu arbeiten. Rosa hat allerdings den Eindruck, dass Gudrun sich sträubt, die gleichen Schlüsse zu ziehen wie sie.

»Denkt mal genau nach. Wer wusste alles von diesem Geheimversteck?«

»Na, wir«, sagt Gisela.

»Der ganze Häkelbüdel-Club«, ergänzt Tante Hildegard. »Und die Frauen vom Landfrauenverein, die uns an dem Abend geholfen haben.«

Wieder ist es für einen Augenblick still. Schließlich räuspert sich Adelheid. »Willst du uns etwa verdächtigen? Das traust du doch wohl nicht wirklich einer von uns zu! Ich war’s jedenfalls nicht.«

»Ich auch nicht«, ruft Gisela. »Und für unsere Mädels aus dem Häkelbüdel-Club leg ich die Hand ins Feuer. Bleibt nur jemand von den Landfrauen. Aber da kennen wir doch auch die meisten.«

»Aber nicht alle. Sind ein paar Neue hinzugekommen«, weiß Tante Hildegard. »Ich konnte mir deren Namen gar nicht merken. Wir sollten Rita Cassens fragen. Als Erste Vorsitzende kann sie uns bestimmt ein büschen was zu den Neuen sagen.«

»So geht das nicht. Das schürt nur böses Blut. Da soll sich die Polizei mal schön drum kümmern«, meint Adelheid. »Pastor Grotjahn wird ja wohl Anzeige erstattet haben.«

»Eben nicht.« Gisela rollt mit den Augen. »Die Sache ist ihm zu peinlich. ›Ich steh ja da wie der letzte Depp, wenn alle wissen, dass ich in einer Woche zweimal überfallen worden bin‹, hat er zu mir gesagt.«

»Ist ja auch wirklich ein bisschen blöd.« Tante Hildegard schüttelt verständnislos den Kopf. Ein Lockenwickler löst sich und fällt herunter. Bevor Gudrun sich danach gebückt hat, hat Schecki ihn sich geschnappt und trägt ihn zu seinem Körbchen. »Kein Wunder, dass sein Sohn meint, dass er langsam zu tüdelig ist, um noch alleine zu leben.«

»Wie kommt der denn da drauf?«, fragt Rosa.

»Ich hab ihn letztens auf dem Friedhof getroffen. Am Grab seiner Mutter. Da hat er mir das erzählt. Nicht jeder ist im Alter so fit wie ich, hat er gemeint.« Ein gewisser Stolz ist aus Tante Hildegards Stimme herauszuhören.

Gisela nickt, verkneift sich aber jeglichen Kommentar. Vielleicht weil sie ihre Putzstelle beim Pastor nicht verlieren will.

»Es hilft alles nichts«, sagt Rosa schließlich. »Verdächtigungen bringen uns nicht weiter. Wenn wir nicht herausfinden, wer den Überfall verübt hat, bleibt das gegenseitige Misstrauen bestehen. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie wir aus diesem Dilemma herauskommen.«

Alle Blicke sind auf sie gerichtet.

»Und die wäre?« Adelheid schaut Rosa an, als ahne sie, was nun kommt.

»Wir stellen dem Dieb eine Falle. Und wenn er hineintappt, schlagen wir zu.«

»Wie wollen wir das denn anstellen?«, will Gisela wissen.

»Ganz einfach. Wir brauchen einen Lockvogel. Und da gibt es keine, die das besser könnte als du, Tante Hildegard.« Rosa lächelt die alte Dame gewinnend an.

»Ich soll den Lockvogel spielen?« Tante Hildegards Wangen laufen vor Aufregung rot an.

»Ja. Keine passt so gut ins Beuteschema wie du. Alt, allein lebend und etwas vermögend.«

»Also … von alt möchte ich nichts hören. Der Rest geht in Ordnung.« Tante Hildegard grinst verschmitzt. »Und wie soll das mit der Falle funktionieren?«

»Heute Abend treffen wir uns doch noch einmal zum Backen im Haus am Hafen. Da sind auch die Landfrauen wieder dabei. Wir reden über den erneuten Überfall, und du lässt im Gespräch ganz einfach fallen, wo du dein ›Geheimversteck‹ …«, Rosa malt mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, »mit Geld und Schmuck hast. Und dann warten wir ab, was passiert.«

»Tante Hildegard soll sich freiwillig überfallen lassen?«, empört sich Gisela. »Und wenn ihr dabei was zustößt?«

»Um das zu verhindern, sind wir doch da. Mit Speck fängt man Mäuse. Wir halten uns abwechselnd in ihrem Haus auf. Und wenn der Nikolaus kommt, schnappen wir ihn uns.«

»Wenn das man funktioniert«, murmelt Gisela und fügt einen Moment später hinzu: »Wenn das man gut geht.«

»Nu sei bloß nicht so schisserig.« Tante Hildegard lacht. »Da haben wir doch schon ganz andere Sachen mit unserem Häkelbüdel-Club geschaukelt.«

»Stimmt.« Adelheid nickt. »Also, Rosa, wie stellst du dir das denn genau vor?«

 

Wieder fallen dicke Flocken vom Himmel, als Rosa sich am Nachmittag, kurz bevor es dunkel wird, auf den Weg zu Tante Hildegard macht. Sie ist gespannt wie ein Flitzebogen, und ihr Herz bummert. Ob der falsche Nikolaus gestern Abend wohl angebissen hat? So richtig mag sie nicht glauben, dass der Dieb tatsächlich jemand aus der Backtruppe ist. Die Landfrauen sind eigentlich alle ganz nett, zu einer der jungen Frauen, die neu dabei ist, hat Rosa gleich einen guten Draht gehabt. Sülher heißt sie und ist seit einem halben Jahr mit Fritjoff Friedrichs verheiratet, der einen Hof direkt am Deich zwischen Neuharlingersiel und Carolinensiel betreibt. Über Wölfe haben sie sich unterhalten und über die Angst der Deichschäfer vor Wolfsrissen. Ein großes Thema derzeit. Nicht nur in Ostfriesland.

Pastor Grotjahn ist auch auf einen Tee vorbeigekommen, um zu horchen, ob ihm eine der Stimmen bekannt vorkommt. Rosa hat sämtliche Überredungskünste anwenden müssen, um ihn zum Kommen zu bewegen. Schließlich wäre der Fall gelöst, wenn er eine der Frauen als falschen Nikolaus enttarnen würde. Immer noch mit Kopfverband hat Grotjahn dann am Tisch gesessen und von dem Überfall berichtet – und das war das Stichwort für Tante Hildegard, von ihrem Geheimversteck zu erzählen.

Die ersten Trommeln waren schon mit Krüllkuchen gefüllt, als der Pastor sich verabschiedete. Rosa hat ihn natürlich nach draußen begleitet. »Tut mir leid«, hat er gesagt. »Keine der Stimmen passt zu dem Nikolaus. Aber ich höre ja auch nicht mehr so gut.«

Es wäre ja zu schön gewesen, den Fall so schnell zu lösen, sinniert Rosa vor sich hin, als sie bei Tante Hildegard klingelt. Auch ihr ist die Aufregung anzumerken, als sie Rosa öffnet.

»Komm schnell rin, min Deern. Nicht dass der falsche Nikolaus dich sieht. Er soll schließlich glauben, ich bin allein.« Schnell schließt sie die Tür. »Ich hab gedacht, wir setzen uns in die gute Stube. Da hab ich die die Vorhänge zugezogen, so kann von draußen keiner reingucken. Wenn es klingelt, stellst du dich hinter die Wohnzimmertür, und ich öffne. Der Nikolaus wird denken, ich hab in der Küche gesessen. Da hab ich den Tee auf das Stövchen gestellt, meine Teetasse, Kluntjes, Kekse und die Zeitung auf den Tisch gepackt.« Bang umfasst sie Rosas Hände. »Hoffentlich geht alles gut.«

»Ganz bestimmt«, sagt Rosa zuversichtlicher, als sie ist. Aber nun haben sie das Ganze angefangen, jetzt müssen sie es auch zu Ende bringen. »Rudi weiß Bescheid. Sobald es klingelt, schicke ich ihm eine Nachricht. Dann ist der im Nu da, wenn es brenzlig wird. Schließlich wohnt er gleich um die Ecke.« Rudi ist nicht nur ihr zweitbester Kumpel, sondern auch der Dorfpolizist. Gemeinsam haben sie schon etliche Abenteuer durchgestanden.

Tante Hildegard nickt. »Gut. Dein Wort in Gottes Ohr.« Sie legt den Kopf schräg. »Und was machen wir, wenn der Nikolaus nicht anbeißt?«

 

Die Stunden ziehen sich wie Kaugummi. Mittlerweile haben Rosa und Tante Hildegard gemeinsam Abendbrot gegessen und drei Runden Dame gespielt. Es dauerte, bis Rosa sich wieder in die Finessen des Brettspiels hineingefuchst hat. Diesen Vorteil hat Tante Hildegard gnadenlos ausgenutzt, bevor sie den Fernseher angeschaltet hat, um im dritten Programm die Nachrichten aus Niedersachsen zu schauen. Gerade als die Wettervorhersage beginnt, klingelt es an der Tür.

Tante Hildegard zuckt zusammen und wirft Rosa einen fragenden Blick zu. Die nickt. »Toi, toi, toi«, raunt sie der alten Dame zu, hebt die Hände und drückt beide Daumen. Dann schickt sie Rudi eine Nachricht, löscht das Licht, schaltet ihr Handy auf lautlos und stellt sich so hinter die Wohnzimmertür, dass sie vom Flur her nicht gesehen werden kann.

Tante Hildegard öffnet die Eingangstür einen Spalt.

»Hohoho«, hört Rosa eine tiefe Stimme. »Ich bin der Nikolaus und möchte um eine milde Gabe bitten.«

Rosa kann nicht erkennen, ob es sich um eine männliche oder weibliche Stimme handelt.

»Für wen?«, fragt Tante Hildegard beherzt, und Rosa ist stolz auf sie, dass sie nicht einfach so mir nichts, dir nichts die Tür öffnet.

»Für die Neuharlingersieler Kindergartenkinder. In Zeiten wie diesen ist bei manchen Familien das Geld knapp, und es sollen doch alle Kinderaugen an Weihnachten strahlen. Es haben schon viele Bürger ihr Herz und ihr Portemonnaie geöffnet. Sie wollen doch nicht die Einzige sein, die sich dem wohltätigen Zweck verschließt?«

»Natürlich nicht. Warten Sie, ich hole mein Portemonnaie.«

»Gute Frau. Wollen Sie einen armen alten Mann, der sich um die Kinder des Ortes sorgt, vor der Tür stehen lassen? Sind Sie so kaltherzig?«

Ganz schön raffiniert, dieser Nikolaus, denkt Rosa, und richtig, Tante Hildegard öffnet die Tür. Ist ja auch so abgemacht. »Also gut, kommen Sie herein.«

Es geht los. Noch immer steht Rosa hinter der Tür und kann nicht sehen, was da vor sich geht.

»Hier«, hört sie Tante Hildegard sagen. »Nehmen Sie zwanzig Euro für den guten Zweck. Mehr Geld habe ich nicht im Haus.«

»Sie lügen! Ich weiß genau, dass Sie mehr haben.« Plötzlich klingt die Stimme des Nikolaus hart und fordernd. »Rücken Sie es raus.«

»Hilfe«, ruft Tante Hildegard panisch. »Nehmen Sie die Waffe weg!«

»Erst wenn Sie mir die zweitausend Euro aus Ihrem Versteck im Schlafzimmerschrank geben! Machen Sie schon! Sonst schieße ich!«

Verdammter Mist! Das läuft ja alles völlig aus dem Ruder. Rosas Herz schlägt bis zum Hals. Wo bleibtRudi? Hektisch überlegt sie. Sie hatkeine Zeit, auf ihn zu warten, sie muss sofort handeln.

Mit einem Satz springt sie in die Diele, wo der Nikolaus seine Pistole auf Tante Hildegard richtet. Rosas Augen flitzen hin und her auf der Suche nach etwas, womit sie ihn außer Gefecht setzen kann.

Abgesehen vom hölzernen Regenschirmständer ist nichts in Reichweite.

Egal. Das muss reichen.

Sie schnappt sich den Stockschirm. Hebt ihn hoch und drückt dem falschen Nikolaus die Schirmspitze in den Rücken.

»Waffe runter«, kommandiert sie mit dunkler Stimme. »Mein Finger ist am Abzug. Und ich sage Ihnen, dieser Finger ist sehr nervös. Eine falsche Bewegung, und ich drücke ab.«

»Scheiße«, ruft der Nikolaus. Gleich darauf lässt er die Pistole zu Boden fallen. Doch es ist kein schweres, metallisches Geräusch, als sie auf den Fliesenboden prallt, eher ein hohles. Rosa runzelt die Stirn.

»Heb sie auf«, sagt sie immer noch mit tiefer Stimme zu Tante Hildegard. »Und gib sie mir.«

Als Tante Hildegard die Waffe in der Hand hält, stutzt sie. »Das ist ja eine Kinderpistole!« Sie blickt den Nikolaus an. »Das ist gar keine echte Waffe.«

Verblüfft lässt Rosa den Schirm sinken.

»Ich würde doch niemals mit einer echten Waffe … ich hab ja auch gar keine …«, stammelt der Nikolaus und wirkt plötzlich wie ein Häufchen Elend. Mit einem Mal kommt Rosa die Stimme bekannt vor. Kurz entschlossen zieht sie ihm von hinten die rote Kapuze vom Kopf. Als er sich nicht wehrt, macht sie einen Schritt vor und reißt dem Nikolaus mit einem Ruck den falschen Bart ab, den Schirm hält sie zur Sicherheit noch weiter in der anderen Hand.

»Ich glaub es nicht«, ruft Tante Hildegard entsetzt und lässt sich auf den alten Stuhl aus Eiche fallen, der schon ihrem Vater gehört hat und der seit Ewigkeiten in der Diele steht. »Das ist ja Karl Friedrich!«

Mit hängenden Schultern steht Pastor Grotjahn vor den beiden Frauen. »Ich wollte das nicht«, gesteht der Pastor. »Und nie im Leben würde ich dir was antun, Hildegard. Aber es blieb mir doch keine andere Wahl!«

Was sollen sie jetzt tun? Rosa wirft Tante Hildegard einen fragenden Blick zu.

»Nein, o nein«, murmelt die und hat sich trotz des Schrecks wohl schon wieder gefangen. »Ich glaub, jetzt wird’s Zeit für ’nen Tee. Mit einem ordentlichen Schuss Rum.« Sie geht in die Küche vor. Der Pastor folgt ihr mit gesenktem Kopf. Kaum sitzen sie am Küchentisch, vibriert Rosas Handy. Eine Nachricht von Rudi. »Was ist? Soll ich nun kommen?«

Einen Moment zögert sie. Dann tippt sie »Nein. Alles gut« und drückt auf Senden. Den Rest kriegen Tante Hildegard und sie auch alleine hin.

 

Eine halbe Stunde später hat der Geistliche alles gebeichtet. Der erste Überfall ist tatsächlich so geschehen. Den zweiten aber hat er erfunden. »Ich bin eben manchmal ein bisschen zerstreut«, gibt er zu. »Ich wollte Anmachpapier aus dem Keller holen. Für das Feuer im Kachelofen. Das liegt in der unteren Schublade vom alten Herd. Und ist gleichzeitig die Tarnung für mein Geldversteck. Ich griff jedenfalls nach dem Papier, da rief mein Sohn an. Der macht mich immer ganz konfus, weil er so tut, als wäre ich tüdelig. Das bin ich aber nicht. Jedenfalls hab ich mit halbem Ohr meinem Sohn zugehört und war in Gedanken nicht mehr bei der Sache. Ich hab das Papier in den Ofen gesteckt und angezündet. Erst als das zu brennen anfing, hab ich gesehen, dass ich auch ein Bündel 50-Euro-Scheine mit in den Ofen geschmissen hab. Ich hab versucht, das Feuer zu löschen, doch die Geldscheine konnte ich nicht mehr retten. Das war aber noch nicht das Schlimmste«, sagt der Pastor mit tränenerstickter Stimme. »Mein Sohn weiß, wie viel Bargeld ich im Haus hab. Deshalb hat er mich angerufen. Er will sich was von mir leihen. Am Wochenende kommt er.« Der Pastor stößt einen tiefen Seufzer aus. »Aber so viel Geld habe ich gar nicht mehr. Da kam mir die Idee mit dem Überfall. Ich hab gedacht, wenn es falsche Wasserwerker gibt, gibt es bestimmt auch falsche Nikoläuse. Und als ich gestern im Haus am Hafen beim Backen gehört hab, dass du auch ein Geheimversteck hast, Hildegard, hab ich gedacht, ich hole mir einfach dein Geld. Damit kann ich dann meins ersetzen und steh vor meinem Sohn nicht als seniler Alter da.« Er senkt verschämt den Kopf. Für etliche Minuten ist es still in der Küche. Nur das Ticken der Wanduhr ist zu hören. »Und nun?«, fragt Pastor Grotjahn kleinlaut.

Rosa und Tante Hildegard blicken sich an, dann sagt Rosa: »Nun werden Sie Ihrem Sohn die Wahrheit sagen.« Als sie den Schreck im Gesicht des Pastors sieht, fügt sie hinzu: »Was das verbrannte Geld angeht … Den erfundenen Überfall haben Sie der Polizei nicht gemeldet?«

Grotjahn schüttelt heftig den Kopf. »Natürlich nicht. Ich wollte ja niemanden fälschlicherweise beschuldigen! Steht ja schon in der Bibel: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.«

»Na ja, so ganz haben Sie das ja nicht befolgt. Und ich denke, ein wenig Buße schadet Ihnen nicht. Was meinst du, Tante Hildegard?«

»Das schadet dir ganz und gar nicht, Karl Friedrich. Ich weiß auch schon, wie: In den nächsten Wochen sammelst du als Nikolaus Geld für bedürftige Kinder. Ganz so wie du es mir vorhin vorgetragen hast. Am Wochenende ist Weihnachtsmarkt in Carolinensiel. Da kannst du anfangen, bevor du dann auf unserem eine Woche später weitermachst. Das passende Kostüm hast du ja.«

»In Ordnung. Das mache ich«, stimmt Grotjahn erleichtert zu. »Und in die Geschäfte gehe ich auch.«

»Na, dann steht dem Fest der Liebe ja nichts mehr im Wege«, sagt Rosa zufrieden und steht schmunzelnd auf. »Ich begleite Sie nach Hause, Pastor Grotjahn. Nicht dass Ihnen auf dem Rückweg noch etwas passiert.«

3

Andreas Gruber

Der Weihnachtsmann auf dem Dachboden

Hernstein

Über den Autor:

Andreas Gruber, geboren 1968 in Wien, studierte an der dortigen Wirtschaftsuniversität und lebt als freier Autor mit seiner Frau und fünf Katzen in Grillenberg in Niederösterreich. Er gibt Schreibkurse und veröffentlicht über den kreativen Prozess des Schreibens. Gemeinsam mit dem Mordsharz-Krimifestival rief er im Jahr 2018 den Harzer Hammer ins Leben, einen mit 1000 Euro dotierten und seitdem jährlich im Rahmen des Festivals vergebenen Literaturpreis für Krimi-Nachwuchsautoren. Gruber ist Erfinder der Rache-Reihe um den kauzigen Ermittler Walter Pulaski und der Todes-Reihe um den niederländischen Profiler Maarten S. Sneijder. Im Auftrag von SAT.1 hat Constantin Film 2019 Sneijders ersten Fall »Todesfrist« und 2021 den zweiten Fall »Todesurteil« mit Josefine Preuß in der Hauptrolle verfilmt. Mit seinen verschiedenen Buchreihen steht er regelmäßig auf den Bestsellerlisten und erreichte im deutschsprachigen Raum eine Gesamtauflage von über 5 Millionen verkauften Exemplaren.

Weitere Infos unter: www.agruber.com

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Früher hatten in meinem ehemaligen Großelternhaus, einem prächtigen Einfamilienhaus am Waldrand auf dem Hügel mit einem Wahnsinnsausblick auf das Hernsteiner Schloss, noch drei Generationen gewohnt. Aber heute lebten Tanja und ich allein in dem riesigen Kasten.

Meine Eltern waren bei einem Autounfall gestorben, als ich vier war, und so war ich hier bei meinen Großeltern aufgewachsen. Inzwischen lebte mein Großvater aber im Heim, und meine Großmutter war vor zehn Jahren gestorben, ausgerechnet am Heiligen Abend. Ein solches Erlebnis prägte einen für immer, das können Sie mir glauben.

Wenn es nach mir ginge, hätte ich nie mehr wieder Weihnachten gefeiert. Der Dezember war für mich seither keine Zeit des Feierns, der Besinnung und des Frohsinns mehr. Aber Tanja bestand auf diesem Fest. Außerdem behauptete sie, dass man dunkle Erinnerungen nur überwinden könne, indem man sie durch frische und fröhliche Erinnerungen austauschte. Klang nach einem dämlichen Kalenderspruch, und vermutlich hatte sie das auch aus einem Buch über positives Denken geklaut. Also zelebrierten wir diese Zeit mit allem, was dazugehörte. Und das bedeutete jedes Jahr gnadenlos das volle Programm. Und zwar im ganzen Haus – und das Haus war verdammt groß.

Für uns beide war es mit Keller, zwei Etagen, zwei Terrassen, Eckbalkon und Wintergarten eindeutig zu groß, aber Tanja wollte keine Kinder haben. Sie ging voll in ihrem Job auf, arbeitete in einem Reisebüro und organisierte Pauschalreisen für Senioren. Ab November waren geführte Bustouren zum Wiener Christkindlmarkt am Rathausplatz der Renner, in die Salzburger Innenstadt oder zum Schloss Schönbrunn, wo die Oldies mit Glühwein und Rumpunsch abgefüllt wurden, dass sie wankend in den Bus kletterten und auf der Heimreise laut schnarchten.

Ich war froh, dass mein Job so absolut rein gar nichts mit Weihnachten zu tun hatte. Ich bin Architekt, plane Wohnhäuser – und in mein Büro kommen keine Weihnachtskerzen, keine grünen Zweige und auch keine Zimtstangen. Weihnachtsfreie Zone! Ich bin wie der hässliche grüne Grinch – und Menschen, die wussten, was mit meiner Großmutter zu Weihnachten passiert war, nahmen Rücksicht darauf und verkniffen es sich, mir ein frohes Fest zu wünschen.

Aber Tanja war in dieser Hinsicht gnadenlos. Und so klappte ich viermal im Jahr die Dachauszugstreppe auf, um auf dem Dachboden über Spinnweben, Staub und tote Wespen zu kriechen, auf der Suche nach dem passenden Equipment, mit dem sie das Haus schmücken wollte. Nicht nur im Fasching, zu Ostern und zu Halloween, sondern auch zu Weihnachten.

Also stieg ich an diesem ersten Advent – so wie auch an jedem anderen ersten Advent davor – auf den Dachboden, um die Schachteln mit den elektrischen Lichterketten und Fensterbildern für Tanja herunterzuholen. Die Kerzenständer mit den weihnachtlichen Motiven, die Holzfiguren, die wir im Garten aufstellten, die Windlichter, den Santa-Claus-Türkranz, das Christbaumkreuz, das bunte Geschenkpapier und den Weihnachtskalender mit den gehäkelten vierundzwanzig Taschen, den wir am Treppengeländer aufhängten und den Tanja stets mit Süßigkeiten befüllte. Ich hatte noch nie etwas davon gegessen. Sie übrigens auch nicht. Aber unsere Gäste fielen stets über die Leckereien her, wenn sie uns besuchten.

Und deshalb robbte ich auf allen vieren im trüben Licht der nackten Dachbodenglühbirne über den staubigen Holzboden, vorbei an einer alten ausrangierten fleckigen Matratze, an den Faschingsgirlanden, unserem Osterzeugs und dem HalloweenKrimskrams, bis ich ganz hinten Tanjas Weihnachtsabteilung erreichte.

»Diesmal brauche ich die silbernen Weihnachtskugeln«, rief sie von unten herauf. »Hast du gehört? Die silbernen!«

»Ich bin ja nicht taub!«, rief ich zurück. »Aber die haben wir doch schon seit hundert Jahren nicht mehr verwendet.«

»Eben deshalb. Ich will den Baum diesmal in Silber schmücken.«

»Schaut das nicht langweilig aus?«

»Für dich schaut immer alles langweilig aus!«

Ich stöhnte auf. »Die sind ganz hinten in einer der letzten Kisten verrammelt.«

»Na, dann kletterst du eben ganz nach hinten.«

Na, dann kletterst du eben ganz nach hinten, äffte ich sie in Gedanken nach. »Jawohl, Sir!«

»Was?«, rief sie rauf.

»Nichts!«, murrte ich und kroch unter den Holzbalken in die Dachschräge, wo ich schließlich den ganzen Krempel fand. Und das bei gefühlten fünf Grad.

Bis auf die silbernen Kugeln hatte ich alles relativ rasch beisammen, sogar den Schlitten, der immer an der Decke unseres Wintergartens hing, den sie jedoch vergessen hatte, aufzuzählen. Aber um ausgerechnet die silbernen Kugeln zu finden, musste ich alle Schachteln öffnen, denn Tanja hatte natürlich keine davon beschriftet – und falls doch, dann hatte sie die Inhalte im Lauf der Jahre derart umsortiert, dass sich jede Beschriftung ad absurdum führte.

»Bist du bald so weit? Von oben kommt es ziemlich kalt herunter!«

»Ja-haaa!«, knurrte ich.

Mit klammen Fingern öffnete ich die Laschen der vorletzten Kiste, griff im trüben Licht hinein und stieß auf ein dunkelrotes Fell. Zuerst dachte ich, dass ich ein großes Stofftier in Händen hielt, doch dann stellte ich fest, dass es eine Jacke war.

Eine Jacke?

Ich zog das Ding heraus und hielt – völlig verblüfft und atemlos – ein uraltes Weihnachtsmannkostüm in Händen. War das etwa …? Ich hielt das Ding ins Licht. Ja, es war das Kostüm meines Großvaters, mit dem er am Heiligen Abend stets Süßigkeiten unter den Kindern in unserem Ort verteilt hatte. Eine alte Tradition, die er sich als ehemaliger Leiter der Feriencamps nicht hatte nehmen lassen wollen. Seit er als Eisenbahner in Frührente gegangen war, hatte er jene Sommercamps und auch die Jungscharspiele im Ort organisiert.

Soweit ich mich erinnerte, hatte er dieses Kostüm zuletzt vor zehn Jahren getragen. Und zwar an jenem Abend, an dem meine Großmutter gestorben war. Ich konnte mich noch genau erinnern, dass in jenem Winter extrem viel Schnee gefallen war. Alles war weiß gewesen, ein halber Meter Schnee vor unserem Haus und dem Carport, der Weg nach Hernstein hinunter, zum Hauptplatz, war unpassierbar gewesen, und von unserem Balkon aus konnten wir das Schloss Hernstein kaum noch sehen, da es völlig von einer weißen Schicht überzogen gewesen war. Unvorstellbar heutzutage, wenn Anfang Dezember die Sonne so kräftig schien, dass man das Gefühl hatte, den Rasenmäher aus dem Schuppen holen zu müssen.

Und bei all dieser weißen Pracht war damals das absolut Schreckliche passiert, das sich niemand hatte vorstellen können. Nichts Schönes ohne das Hässliche, hatte mal jemand gesagt. Wie sehr es doch zutraf! Großmutters Tod war unsagbar schrecklich für mich gewesen. Meinen Großvater hatte das damals ebenfalls so traumatisiert, dass er dieses Kostüm seither nie mehr wieder getragen hatte. Ich hatte nie darüber nachgedacht, wohin er es geräumt hatte, aber offenbar verstaubte es seit zehn Jahren hier oben.

Ich fühlte den dicken Stoff, spürte die Staub- und Wollfussel und roch daran. Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber ich hatte den Eindruck, dass der Kittel immer noch nach Bratapfel, Zimt, Zuckerwatte und dem Rauch der Wunderkerzen duftete, der sich tief ins Gewebe gefressen hatte.

Bis auf den weißen Kragen und den weißen Bund war der gesamte Kittel rot. Aber jetzt, im Licht der mickrigen Dachbodenfunzel, merkte ich, dass die weißen Stellen dunkelrot besprenkelt waren. Wie Rost. Ich fuhr mit dem Finger darüber. Der Stoff war verklebt. Es sah aus … wie eingetrocknetes Blut.

Und plötzlich traf mich die verschüttete Erinnerung wie ein Hammerstoß. Meine Großmutter war am Heiligen Abend nicht nur bloß gestorben, so wie ich es seither schon tausendmal jedem erzählt hatte, der danach gefragt hatte – nein, sie war ermordet worden. Mehrmals hatte jemand brutal mit einem Messer auf sie eingestochen. Auf dem verschneiten Heimweg von einem Punschstand, an dem sie Getränke und Silvesterkracher verkauft hatte. Der Mörder – die Polizei hatte einen Landstreicher vermutet – war nie gefunden worden.

Siedend heiß lief es mir über den Rücken, als ich Großvaters Kittel in der Hand hielt. Jetzt erinnerte ich mich wieder, wie mein Großvater – völlig traumatisiert und geistig abwesend, fast schon mechanisch – an jenem Heiligen Abend auf den Dachboden geklettert war und ich gehört hatte, wie er in den hintersten Winkel gekrochen war, um dort irgendwo das Kostüm zu verstauen. Kurz darauf war der Anruf von der Polizei gekommen. Großmutter hatte zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon seit mindestens einer Stunde im Schnee gelegen, wo sie verblutet war, während der Neuschnee sämtliche Fußspuren ihres Täters verwischt hatte.