Teslas grandios verrückte und komplett gemeingefährliche Weltmaschine (Band 3) - Eric Elfman - E-Book

Teslas grandios verrückte und komplett gemeingefährliche Weltmaschine (Band 3) E-Book

Eric Elfman

0,0

Beschreibung

Nick wird in die dunklen Geheimnisse der Accelerati eingeweiht. Und plötzlich weiß er nicht mehr genau, auf wessen Seite er steht. Schließlich ist die "normale" Menschheit nicht in der Lage, dem Energiechaos Herr zu werden, das auf der Erde herrscht. Und wenn er den Accelerati nicht hilft, Teslas Maschine zusammenzusetzen, geht die Welt eventuell doch noch unter ... Teslas Weltmaschine ist der Abschluss einer rasanten Trilogie für Jungen und Mädchen ab 11 Jahren. Unglaubliche Erfindungen des Genies Nikola Tesla spielen eine entscheidende Rolle in dieser temporeichen Abenteuergeschichte, die alle Eigenschaften eines Lieblingsbuches aufweist: Spannung, Humor, sympathische Protagonisten und gefährliche Verschwörungen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 507

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Im Andenken an Mari Lou Laso Elders, eine gute Freundin und großartige Schriftstellerin. Du wirst uns fehlen, Mari Lou. N. S. Für alle Schriftsteller, die ich kennengelernt und gelesen habe, mit denen ich zusammenarbeiten und von denen ich lernen durfte, und für Mom, für Robby und wie immer für Jan. E. E.

Das Leben wäre tragisch, wäre es nicht so witzig. Stephen Hawking

1. Haus in Schottland ertrunken

Als die Frau den Jungen vor ihrer Haustür stehen sah, begriff sie sofort, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Es war der Teenager vom Flohmarkt. Mit einem Schrei knallte sie ihm die Tür vor der Nase zu.

Von Nikola Tesla hatte die Frau noch nie gehört, und sie hatte keine Ahnung, wie der Junge hieß. Sie wusste nur, dass dieser Junge ihr ein Wunderding verkauft hatte, das ihr die fantastischsten Reisen ermöglichte.

Durch puren Zufall hatte sie herausgefunden, wie der seltsame Globus funktionierte. Auf dem Silberbogen, worin die Erdkugel eingespannt war, konnte man einen Pfeil hin und her schieben. Die Frau hatte an der Globuskugel gedreht und den Pfeil auf die Türkei ausgerichtet – eines von vielen exotischen Ländern, die sie schon immer mal besuchen wollte. Dann hatte sie auf den Knopf ganz oben an der Kugel gedrückt, am Nordpol. Sie hatte gedacht, es wäre ein Lichtschalter.

Auf einmal stand sie auf dem Großen Basar von Istanbul. Vor sich den Tisch mit dem Globus, unter ihren Füßen ein exakt kreisförmiges Stück ihres Parkettbodens mit einem Durchmesser von etwa 1,20 Meter, rundherum abgesäbelt vom Teleportfeld.

Vollkommen unbeeindruckt von ihrem plötzlichen Auftauchen versuchte ein türkischer Händler, ihr eine Teekanne anzudrehen.

Die Frau schrie vor Schreck, drückte auf einen anderen Knopf, der bloß durch ein Ausrufezeichen markiert war, und schon war sie wieder zu Hause … nur dass sie selbst samt Tisch und Parkettstück augenblicklich durch ein exakt kreisförmiges Loch im Boden in den Keller plumpste.

Leicht verstört, aber ansonsten gesund und munter, reimte sich die Frau zusammen, was es mit dem Globus auf sich hatte. Danach stand zunächst eine Rückkehr nach Istanbul auf der Tagesordnung, wo sie sich die Teekanne sicherte.

Seitdem hatte sie Kurzausflüge nach Spanien, China und in die Schweiz unternommen. Und sogar zur Antarktis, nur damit sie behaupten konnte, einmal dort gewesen zu sein.

Gerade hatte die Frau sich gedacht, dass ihr letzter Besuch in ihrer schottischen Heimat schon viel zu lange zurücklag. Da tauchte der Junge vom Flohmarkt auf.

War er ein Engel oder ein Dämon? Oder bloß irgendein Kerlchen, das mit Zaubergloben handelte? Egal. Der Junge durfte ihr das Wunderding auf keinen Fall abnehmen.

Um seinem hartnäckigen Klopfen zu entkommen, drückte die Frau in ihrer Panik einfach auf den Knopf oben am Globus. Ohne zu ahnen, dass das Teleportfeld momentan auf den größtmöglichen Durchmesser eingestellt war.

Im ersten Augenblick dachte sie, es hätte nicht funktioniert, denn sie stand immer noch in ihrem Haus. Bis das Wasser – eisig kaltes Wasser – durch jedes Fenster und zur Tür hineinschoss.

Schnell wurde der Frau klar, dass sie ihr ganzes Haus nach Schottland teleportiert hatte, wo es mitten auf einem der zahlreichen schottischen Seen materialisiert war. Mitten auf einem der berühmt-berüchtigten Lochs, wie Seen in Schottland genannt werden.

Wie man weiß, sind die schottischen Lochs ungewöhnlich tief, ungewöhnlich trübe und auch sonst sehr ungewöhnlich. Der Zufall wollte es, dass in diesem einen Loch angeblich ein Ungeheuer zu Hause war, dem die Anwohner einen liebevollen Spitznamen verliehen hatten: Nessie.

Schiffe benötigen mitunter Stunden, um vollständig zu versinken. Ein wider Willen teleportiertes Haus geht dagegen stets mit erstaunlicher Geschwindigkeit und einzigartiger Entschlossenheit unter.

Als ihr entwurzeltes Zuhause kenterte, kannte die Frau nur noch einen Gedanken: Überleben! Eine besonders gute Schwimmerin war sie nicht, doch mithilfe von genügend Adrenalin mutiert auch eine betagte Witwe zu Wonder Woman.

Gegen den Ansturm des eisigen Wassers kämpfte sie sich auf ihr schwimmendes Sofa. Durch die Fenster im Erdgeschoss konnte sie nicht fliehen, dort ergoss sich der See ins Innere, eine Strömung, gegen die nicht mal ein Lachs angekommen wäre. Stattdessen paddelte die Frau hinüber zur Treppe und gelangte so ins Obergeschoss, wo sie sich endlich durch das Schlafzimmerfenster in den See stürzte.

Erst als sie durch die Oberfläche brach und über die Schulter blickte, wurde sie vom Schrecken gepackt. Das Vororthäuschen, in dem sie die letzten gut zwanzig Jahre ihres Lebens verbracht hatte, blubberte gerade die letzte Luft heraus. Binnen Sekunden ragte nur noch das Dach aus dem Wasser, dann nur noch der Kamin, und schließlich verschwand auch dieser in schäumendem, sprudelndem Weiß.

Und plötzlich fiel der Frau etwas ein: »Der Globus!«

Auf alles andere konnte sie verzichten, wenn es denn sein musste. Aber nicht auf ihr Wunderding.

Im selben Moment hörte sie – nein, spürte sie, um genau zu sein – eine Bewegung hinter sich. Irgendetwas rauschte über den See. Mit Armen und Beinen rudernd, um sich irgendwie über Wasser zu halten, drehte sich die Frau um die eigene Achse und rechnete schon fest damit, in die unergründlichen Augen eines gefräßigen Plesiosauriers zu blicken. Doch sie sah bloß ein kleines Fischerboot.

»Ho! Was treiben Sie denn da? Alles in Ordnung mit Ihnen, Ma’am?«, rief der alte Fischer herüber.

Die Frau wollte eben antworten, da ging ihr Adrenalin zur Neige, und sie spürte, wie sie in die Tiefe gesogen wurde. Doch der Fischer streckte die Hand aus und zog sie mit starken Armen in sein Boot, legte ihr seine Flanelljacke um und reichte ihr Tee aus der Thermosflasche.

»Aye, was hat Sie ins Loch Ness verschlagen?«, fragte er. »Und auch noch in einem Haus?«

Um die wahre Geschichte zu erzählen, hätte die Frau weiter ausholen müssen, als es ihr im Augenblick möglich war. Deshalb klapperte sie zur Antwort bloß mit den Zähnen.

Der Fischer legte ihr einen Arm um die schlotternden Schultern. »Aber, aber«, sagte der ältere Herr. »Meine Hütte ist gleich da drüben am Ufer. Da können Sie sich in Ruhe aufwärmen.«

Und mit einem Schlag wurde der Frau bewusst, dass ihr Traum in Erfüllung gegangen war. Nicht dass sie davon geträumt hätte, sich samt Haus in einen See zu teleportieren und beinahe zu ertrinken, das nicht. Aber davon, in der schottischen Wildnis in den Armen eines stattlichen Fischers zu liegen.

Die Frau ahnte nicht, dass bald ein Asteroid alles Leben auf Erden bedrohen würde, gefolgt von einer zerstörerischen Monsterelektrowelle.

Sie wusste nur, dass sie am Ziel ihrer Träume angelangt war. Und der Globus, oder was auch immer das für ein Wunderding war, würde nun für alle Zeiten am Grund eines der tiefsten Seen der Welt ruhen.

Oder auch nicht.

2. Nicks Tanz auf glühenden Kohlen

Willkommen im ehrbaren Orden der Accelerati«, sagte Thomas Edison zu Nick Slate und streckte ihm seine einhundertsiebzig Jahre alte Hand entgegen.

Als Nick die Hand ergriff, verzog sich sein Gesicht, und zwar nicht nur wegen der schmerzhaften Brandwunden an seiner Hand. Selbst durch den Verband hindurch fühlte sich ein Händedruck mit Thomas Edison an, als hätte man feuchtes Pappmaschee zwischen den Fingern, das noch mindestens eine Stunde lang trocknen müsste.

Nicks Reaktion schien Edison zu amüsieren, doch der alte Mann verlor kein Wort darüber. Stattdessen nahm er eine kleine Glocke von einem altertümlichen Beistelltisch aus Palisanderholz, passend zu seinem altertümlichen Haus im viktorianischen Stil, und klingelte nach seiner Haushälterin. Sofort tauchte sie auf, fast als hätte sie gleich vor der Tür gewartet, um auf den Befehl ihres Gebieters prompt zur Stelle zu sein. Und genau so war es.

»Mrs Higgenbotham«, sagte Edison, »zeigen Sie Master Slate doch, wo er untergebracht ist.«

»Is mir ein Vergnügen«, antwortete die Haushälterin im breiten Dialekt der Londoner Arbeiterklasse. »Is ein Weilchen her, dass wir einen Gast im Gästezimmer hatten.«

Nick folgte ihr die Treppe hinauf. Er war erleichtert, dem greisen Erfinder zumindest vorübergehend zu entfliehen.

Die Frau führte Nick in ein kleines Zimmer voller Möbelstücke, die der Großmutter seiner Großmutter vermutlich hervorragend gefallen hätten.

»Da wären wir«, sagte Mrs Higgenbotham – und blieb einfach stehen, als könnte sie es gar nicht erwarten, dass sich ein unangenehmes Schweigen entwickelte.

»Äh«, sagte Nick. »Wie ist es denn so, als Roboter für einen genialen Oberbösewicht zu arbeiten?«

»Also erstens«, entgegnete Mrs Higgenbotham, »is Mr Edison kein Bösewicht. Er is moralisch zweideutig. So wie alle bedeutenden Menschen in der Geschichte: Karl der Große, Königin Elisabeth, Michael Jackson … Und zweitens mag ich es nich, wenn man sagt, ich sei ein Roboter. Das is eine grobe Vereinfachung. Ich bin ein anthropomorphischer Dieneromat. Aber das klingt nich so knackig, was? Deshalb würde ich normalerweise sagen, ich bin ein Android, aber dann verwechselst du mich noch mit einem Mobiltelefon. Obwohl ich schon auch ein Telefon bin. Wobei ich dir aber nich raten würde, auf die Telefonfunktion zuzugreifen. Is kein schöner Anblick, mein Lieber.« Sie faltete die Hände und lächelte herzlich. »Darf es sonst noch was sein? Vielleicht ein Tee? Ein Himbeerscone?«

»Nein, danke«, sagte Nick.

»Ganz wie du willst, Schätzchen, ganz wie du willst. Bin in ungefähr einer Stunde zurück, dann wechseln wir die Verbände an deinen armen Händchen.« Damit ließ sie Nick allein, sodass er in Ruhe über seine Lage sinnieren konnte.

Ein Geheimbund aus Wissenschaftlern erpresste ihn, Nikola Teslas größte Erfindung wiederaufzubauen. Sollte er damit Erfolg haben, könnte die Maschine die unerschöpfliche Energie einfangen, die von dem Kupferasteroiden generiert wurde, der nun auf einer Umlaufbahn um die Erde kreiste wie der Mond. Doch all diese Macht läge dann in den Händen der Accelerati. Sie könnten damit anstellen, was sie wollten.

Nick löste den Anstecker von seinem Jackenaufschlag und betrachtete das goldene A mit dem Unendlichkeitszeichen als Querstrich. Er gehörte jetzt zu den Accelerati. Wenn er seinen Vater und Bruder retten wollte, musste er dem Bund beitreten, daran hatte Edison keinen Zweifel gelassen. Was aber nicht bedeutete, dass ihm das alles gefallen musste. Doch Nicks tiefste Angst war – tiefer fast, als sein Bewusstsein hinabreichte –, dass es ihm tatsächlich gefallen könnte.

Not, heißt es so schön, macht erfinderisch. Realistisch betrachtet macht Not aber häufig in erster Linie kopf- und planlos, weshalb gerade das Erfindertum in Notlagen einen schweren Stand hat. Viel treffender wäre: Gier macht erfinderisch.

Kein Mensch kann von sich behaupten, frei von Gier zu sein, auch Nick Slate nicht. Auch Nick schnappte seinem kleinen Bruder schon mal die letzte Geleebohne im Bonbonglas weg oder löffelte den letzten Rest Eis aus der Schachtel, wenn gerade niemand hinsah.

Auf der anderen Seite war Nick jederzeit zuzutrauen, dass er sein Sandwich mit einem x-beliebigen Mitschüler teilte, der sein Mittagessen zu Hause vergessen hatte. Oder dass er sein Skateboard spontan einem anderen Jungen schenkte, weil er zufällig wusste, dass dieser mit seiner Familie in einer Garage hausen musste.

Die Natur des Menschen tanzt stetig zwischen Selbstsucht und Edelmut hin und her. Seit Nick im Schoß der Accelerati angekommen war, musste er diesen Tanz auf glühenden Kohlen aufführen.

Tags darauf wurde Nick in aller Frühe herbeigerufen, um Edison ins Labor zu begleiten.

Dass Edison von einer fast zwei Meter hohen, von Nikola Tesla erdachten Batterie am Leben erhalten wurde, hielt ihn keinesfalls davon ab, das Haus zu verlassen. Mit seinem Kleinbus, worin der Rollstuhl samt Batterie bequem Platz fand und der womöglich von Henry Ford höchstselbst konstruiert worden war, konnte der »Zauberer von Menlo Park« stilvoll auf Reisen gehen.

Allzu weit ging die Reise allerdings nicht, vom Herrenhaus bis zum Laboratorium waren es nur ein paar Hundert Meter.

»Heute bricht eine Zukunft an, die heller strahlen wird, als du es dir jemals ausmalen könntest«, sagte Edison, als Nick und er das Gebäude betraten. »Brust raus, Junge! Du gehörst jetzt zu den Accelerati. Auf dieser Welt gibt es kein edleres Ziel als das, wonach wir streben.«

Diese Behauptung war für Nick nicht leicht zu schlucken. Noch schwerer als Mrs Higgenbothams Himbeerscones, die trocken und bröselig waren und offensichtlich nur virtuelle Himbeeren enthielten.

»Und wonach streben wir genau?«, fragte Nick. Er versuchte nicht mal, seine Bitterkeit zu verbergen.

»Nach Wissen um des Wissens willen«, erwiderte Edison. »Und nach technischen Neuerungen zum Wohle der gesamten Menschheit.«

»Das hat man Ihnen wohl auf den Grabstein geschrieben«, murmelte Nick.

Edison kicherte, als ärgerte ihn Nicks Spott nicht im Geringsten. »Wer weiß? Ich war nie bei meinem Grab. Bin da ein wenig abergläubisch.«

Langsam rollte Edisons Rollstuhl-Batterie-Konstrukt den breiten Laborflur entlang, Nick ging nebenher.

»Unser Stützpunkt unter der Bowlingbahn in Colorado Springs ist nur unsere wichtigste Zweigstelle. Hier wird unsere bedeutsamste Arbeit geleistet.« Unterm Sprechen deutete Edison mit seiner knochigen Hand auf die diversen Laborräume, die sie passierten. »Dort drinnen entwickeln wir ein Glas, das hart wie Stahl ist, aber trotzdem in Scherben geht, wenn wir es so wollen.«

»Warum sollte man das wollen?«, hakte Nick nach.

»Man weiß nie, wann ein Versagen der eigenen Technologie von Nutzen sein könnte«, erwiderte Edison. Er zeigte auf den nächsten Raum. »Und hier arbeiten wir an einer Membran, mit der Taucher unter Wasser atmen können.«

»Wenn es den Accelerati gerade in den Kram passt«, fügte Nick hinzu.

Edison drehte den Kopf zu ihm. »Ein weiser Erfinder vergisst nie, die Kontrolle über seine Schöpfungen zu bewahren. Das war sogar deinem heiß geliebten Mr Tesla klar. Wieso hätte er sich sonst solche Mühe geben sollen, sein größtes Werk zu verstecken?«

Endlich bogen sie in einen weitläufigen Laborraum ein, in dem die Objekte aus Nicks Dachboden ausgebreitet waren. Nick erlebte eine Art Déjà-vu – es kam ihm vor, als hätte sich ihm exakt dieser Anblick schon einmal geboten: am Tag seines schicksalhaften Privatflohmarkts, als er den ganzen alten Krempel verscherbelt hatte, ohne vorauszuahnen, dass es sich um Bauteile einer großen Maschine handelte.

»Die Apparatur, die du zusammengesetzt hattest, ist beim Einsturz des Dachbodens in ihre Einzelteile zerfallen«, sagte Edison. »Wir haben die verschiedenen Objekte hier gesammelt, und zusätzlich einige andere, die dir nicht zur Verfügung standen.«

Nick ging zwischen den Gegenständen hindurch. Edison hatte recht: Alle waren sie hier. Das Tonbandgerät, das innerste Gefühle aussprach. Die Harfe mit den kosmischen Stringsaiten. Die gehirnvergrößernde Trockenhaube. Der Verkleinerungswäschetrockner.

Und wie von Edison angekündigt, entdeckte Nick auch einige Dinge, die er seit dem Tag des Flohmarkts nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Zum Beispiel das rostige Fahrrad und das Möbelstück, das aussah wie ein Karteischrank, aber bestimmt kein Karteischrank war, und das standmixerähnliche Dingsbums.

Insgesamt zählte Nick neunundzwanzig Objekte. Drei fehlten noch, und er wusste auch, welche: die Prisma-Elektronenröhre, die er der seltsamen Familie des älteren Herrn in Colorado Springs nicht hatte abjagen können; die Quasi-Autobatterie, die Vince am Leben erhielt; und der Globus, der sich nach allem, was Nick wusste, an jedem Punkt des Planeten befinden konnte. Oder irgendwo im Weltall.

»In ein paar Wochen wird der Asteroid wieder eine gefährliche Ladung aufgebaut haben«, erklärte Edison. »Doch wir hoffen, bis dahin die Funktionsweise eines Großteils der Objekte analysiert zu haben.«

»Ja, klar«, sagte Nick. »Klingt total einfach …«

Er hob den Standmixer auf. Das Gerät war ziemlich schwer. Der Behälter bestand aus Kupfer, nicht aus Glas.

»Wo ist der Deckel hin?«, fragte Nick.

»Gab’s einen Deckel?«, entgegnete Edison.

Die Rillen zum Festschrauben des Deckels waren klar zu erkennen. Aber war auf dem Flohmarkt denn ein Deckel dabei gewesen? Nick konnte sich nicht genau erinnern. Auf jeden Fall beunruhigte ihn das Fehlen des Deckels.

»Wie dem auch sei«, wechselte Edison das Thema. »Wir wollen also herausfinden, wie die einzelnen Objekte jeweils funktionieren, und die Technologie entsprechend nachbauen. Ich wünsche mir, dass du uns dabei zur Seite stehst.« Edison hielt inne und musterte Nick. »Und wenn die Zeit gekommen ist, wirst du es sein, der die Einzelteile wieder zu einer einzigen Maschine zusammensetzt.«

»Da fehlen aber noch ein paar ziemlich wichtige Teile«, bemerkte Nick.

Edison rollte näher an ihn heran. »Trotzdem kannst du sie doch zusammensetzen, oder? Du weißt noch, wie sie zusammengehören?«

Von Natur aus neigte Nick nicht zum Lügen, aber sollte er jetzt die Wahrheit sagen, hätten ihn die Accelerati voll und ganz in der Hand. »Auf meinem Dachboden war’s leichter«, antwortete er deshalb. »Das Zentrum des Dachbodens besaß eine Art Anziehungskraft, die alles in die richtigen Bahnen gelenkt hat.«

Edison zog die Stirn kraus. »Ja, das hatte Jorgenson erwähnt. Ich habe ihm gesagt, dass er sich das bestimmt bloß eingebildet hat.«

Nick schüttelte den Kopf. »Nein. Die Kraft gab’s wirklich. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Maschine wieder zusammensetzen kann. Die Einzelteile haben Sie eingesammelt, aber die Seele haben Sie zurückgelassen.«

Mit seiner dürren Hand winkte Edison ab. »Papperlapapp. Eine Maschine ist eine Maschine. Außerdem haben wir beide eine Abmachung. Ich beschütze deinen Vater und Bruder, du legst dich dafür im Labor ins Zeug. Bist du ein Ehrenmann, Master Slate?«

Nick zuckte mit den Schultern. »Denke schon.«

»Dann handle auch wie ein Ehrenmann und halte dich an deinen Teil der Abmachung.«

»Na ja, solange ich meine Finger nicht bewegen kann …«, Nick hielt seine nach wie vor bandagierten Hände hoch, »… werde ich nicht viel ausrichten können.«

»Das heilt bald wieder«, erwiderte Edison. »Natürlich können wir die Verletzungen nicht mit sofortiger Wirkung heilen, doch wir haben verschiedene mikroorganische Salben entwickelt, die den Heilungsprozess beschleunigen. Und bis dahin soll es dir nicht an helfenden Händen mangeln.«

Er rief zwei Mitarbeiter herein, die Nick assistieren sollten, einen Ingenieur und eine Ingenieurin im Laborkittel, beide überschäumend vor Eifer. Genau daran haperte es bei Nick noch etwas.

»Dann wünsche ich gutes Schaffen«, verabschiedete Edison sich und rollte aus dem Laborraum.

Die beiden stellten sich als Dr. Bickel und Dr. Dortch vor, was allerdings mehr nach einer Anwaltskanzlei klang als nach einem Ingenieursduo, weshalb sie meinten, Nick könne sie ruhig Mark und Cathy nennen.

»Du hast also die ganze Sache ins Rollen gebracht«, meinte Cathy mit einem mitleidigen Lächeln.

Nick erwiderte nichts.

»Die Technologie des atmosphärokinetischen Stimulators konnten wir bereits analysieren.« Mark deutete auf den Tornado-Blasebalg.

»Wir dachten, wir machen als Nächstes mit dem Toaster weiter«, sagte Cathy.

»Soll mir recht sein«, antwortete Nick resigniert. »Solange ihr das Teil von meinem Kopf fernhaltet.«

Streng genommen lag Cathy falsch, als sie behauptete, Nick hätte die ganze Sache ins Rollen gebracht. Nikola Tesla hatte sie ins Rollen gebracht, schon lange vor Nicks Geburt.

Doch für Nick hatte alles in der mit Abstand schlimmsten Nacht seines Lebens begonnen – mit dem Feuer, das sein Zuhause in Tampa und seine Mutter verschlungen hatte. Die Gedanken an diese Nacht lauerten überall. Jede Flamme ließ ihn zusammenzucken, und wann immer er die Finger krümmte, erinnerte ihn das Brennen der Brandwunden daran, die er sich vor Kurzem durch den Stromschlag zugezogen hatte. Diese Wunden würden allmählich verheilen. Die Narbe des Feuers, das ihm vor Monaten seine Mom geraubt hatte, würde bleiben.

Aber jetzt hatten Nicks Erinnerungen an diese schreckliche Nacht eine neue Wendung genommen. In dem Moment, als er mitten hinein in Teslas labile Maschine gegriffen hatte, hatte er eine Erleuchtung gehabt. Der mächtige Stromstoß hatte einen Funken in seinem Kopf geschlagen – und eine einzelne, verirrte Erinnerung war übergesprungen zu einer einsamen Synapse seines Gehirns.

In dieser Nacht war noch jemand anderes im Haus.

Nicks Vater und Bruder waren unmittelbar vor Nick gelaufen, sie waren gemeinsam zur Haustür gehastet, um aus dem brennenden Gebäude zu entkommen. Mr Slate hatte gedacht, er könnte seine Familie noch in Sicherheit bringen. Nick erinnerte sich, wie er sich nach seiner Mom umgedreht hatte, mit seinen tränenden Augen hatte er sie kaum erkennen können, doch sie war hinter ihm gewesen, hatte ihn vorwärtsgescheucht – und auf einmal, für einen winzigen Moment, hatte Nick geglaubt, in den beißenden Schwaden noch jemand anderen zu entdecken, hinter seiner Mom.

Im nächsten Augenblick war er im Freien gewesen, auf der Wiese. Aber seine Mom nicht. Sie hatte es nicht nach draußen geschafft. Dann war die Veranda vor Hitze explodiert, das Dach war heruntergekracht und hatte den Flammen weitere Nahrung geliefert, Nicks Welt war zerstört gewesen, und nichts hatte mehr irgendeine Bedeutung gehabt.

Wen oder was hatte Nick hinter seiner Mom gesehen? Bestimmt war es bloß Einbildung, vielleicht eine Spiegelung auf einem Bilderrahmen. Außer Nicks Familie war niemand im Haus gewesen, wer hätte also dort auftauchen sollen? Und wäre es denn nicht absolut verständlich, wenn Nick vor lauter Verzweiflung Halluzinationen gehabt hätte?

Und trotzdem steckte ihm das Bild im Gehirn wie ein rostiger Angelhaken, der nur darauf wartete, von Nick eingeholt zu werden.

Für Nick hatte das ganze unselige Abenteuer in einer Nacht des Feuers begonnen. Wie sich zeigen sollte, würde die wilde Hatz auch in einer Nacht des Feuers enden.

3. Hühnchen oder Fisch?

Caitlin Westfield hatte große Lust, irgendetwas kaputt zu hauen – ausnahmsweise nicht aus künstlerischen Gründen. Diesmal war sie einfach nur wütend.

»Miss Westfield, dieses Gespräch führt doch zu nichts«, sagte Schulrektor Watt und lehnte sich in seinem gemütlichen Chefsessel zurück.

Wie kräftig man den Typen wohl schubsen müsste, damit er hintenüberkippte? Andererseits wusste Caitlin, dass sie diesen Wunsch nie in die Tat umsetzen durfte, und wenn sie noch so große Lust darauf hatte.

Also atmete Caitlin tief durch und antwortete sehr langsam und mit gleichmäßigen Pausen zwischen den Wörtern, um auch wirklich zu Rektor Watt durchzudringen: »Nick. Slate. Geht. Auf. Diese. Schule!«

Rektor Watt zuckte mit den Schultern. »Nach der letzten Katastrophe haben doch so viele Menschen Colorado Springs verlassen. Ich konnte noch nicht mal alle Schüler auftreiben, die nachweislich existieren. Und erst recht nicht die anderen!«

»Aber Sie müssen sich doch an Nick erinnern!«, rief Caitlin.

»Mag sein. Aber das ist nebensächlich. Zugegeben, die Sache wäre deutlich leichter zu handhaben, würde ich mich nicht an den Jungen erinnern. Aber Tatsache ist, dass Nick Slates Existenz in keiner Akte verzeichnet ist, und wer nie existiert hat, der kann auch nicht verschwunden sein.«

»Dann sind die Akten eben falsch«, beharrte Caitlin.

Rektor Watt seufzte. »Miss Westfield, wenn mich meine langen Jahre in der Schulverwaltung eines gelehrt haben, dann, wie aussichtslos es ist, sich der erdrückenden Macht der offiziellen Aktenlage zu widersetzen. Wer es dennoch versucht, ist dem Wahnsinn geweiht.«

»Aber …«

Er hob die Hand, um ihr Einhalt zu gebieten. »Dieses Gespräch ist beendet. Ich habe zu tun, ich muss Schüler disziplinieren und Lehrer maßregeln. Die mangelnde Existenz deines Freundes ist nicht das Problem der Rocky Point Middle School.«

Caitlin wusste, dass Rektor Watts abweisende Haltung weniger von seiner Aktengläubigkeit herrührte als daher, dass er Nick schlicht nicht leiden konnte. Klar, sobald Nick an Watts Schule aufgetaucht war, hatten die Seltsamkeiten ihren Lauf genommen. Trotzdem war es ziemlich blauäugig von Watt, einfach davon auszugehen, dass die Seltsamkeiten durch Nicks Verschwinden wieder aufhören würden. Die Büchse der Pandora ließ sich nicht schließen, indem man so tat, als wäre sie nie geöffnet worden.

Die Wahrheit sah so aus: Nick hatte sich von einem Augenblick auf den anderen in Luft aufgelöst. Nach der Katastrophe, die Nicks Zuhause in Colorado Springs zerstört hatte, hatten Caitlin und er sich im Krankenhauszimmer unterhalten, dann war sie kurz zum Snackautomaten gegangen – und bei ihrer Rückkehr war das Zimmer leer gewesen, alle Hinweise auf Nick ausradiert. Dahinter konnten nur die Accelerati stecken.

Seitdem waren etwa zwei Wochen verstrichen.

Colorado Springs leckte sich immer noch die Wunden, die der massive elektromagnetische Puls hinterlassen hatte. In einem Umkreis von mehreren Kilometern hatte er alle elektrischen Geräte durchbrennen lassen, Festplatten geröstet, Straßenlaternen in die Luft gejagt und Strommasten eingeschmolzen.

Die Ruine von Nicks Haus war nun durch polizeiliches Absperrband und einen hohen Zaun abgeriegelt, davor standen Schilder mit der Aufschrift: BEI UNBEFUGTEM BETRETEN WIRD GESCHOSSEN. Angeblich ermittelten dort Regierungsbehörden, aber Caitlin wusste, dass es in Wirklichkeit die Accelerati waren. Caitlin hatte durch den Zaun hindurch gesehen, wie sie in ihren erbärmlichen Pastellanzügen die Trümmer durchforsteten. Sie hatten alle Bauteile des Far Range Energy Emitter – kurz F.R.E.E. – abtransportiert, der Tesla-Maschine, die Nick und Caitlin in mühevoller Kleinarbeit zusammengesetzt hatten. Jetzt gruben sie auch noch den unterirdischen Metallring aus, der das Haus umgab, denn auch der gehörte offensichtlich zu Teslas großer Erfindung.

An der Schule redete schon kein Mensch mehr von der allumfassenden Elektrifizierung, die so gut wie alles Leben auf dem Planeten ausgelöscht hätte, hätte Teslas Maschine die gigantische elektrische Ladung des Asteroiden nicht im letzten Moment in die Erde abgeleitet.

Doch der Riesenbrocken aus Sternenkupfer erzeugte weiterhin mit jeder Erdumrundung frische Energie. Bis zur nächsten tödlichen Entladung blieben nur noch zwei Wochen, und dennoch benahmen sich die Leute, als wäre alles in bester Ordnung, genau wie beim letzten Mal.

»Die Leute lernen halt nie dazu«, sagte Mitch zu Caitlin, als sie in der Mittagsschlange der Mensa standen.

»Aber jetzt, wo die Accelerati sich Teslas Maschine unter den Nagel gerissen haben«, erwiderte Caitlin, »müssen die Accelerati in einem Monat die Welt retten. Irgendwie fällt es mir schwer, mich darauf zu verlassen.«

»Ach was, die werden die Welt schon retten. Und danach heimsen sie den ganzen Ruhm ein und bitten die Welt dafür zur Kasse.« Seit dem Vorfall war Mitch nicht mehr der Alte. Er war zu einem allzeit deprimierten Schwarzseher geworden, als wäre er besessen von Vince’ trübsinnigem Geist.

Neben Nick war auch Vince abhandengekommen, in Vince’ Fall war aber wenigstens bekannt, wohin er verschwunden war. Vince hatte sich mit seiner Mom nach Schottland abgesetzt – angeblich, weil er und seine lebensspendende Batterie dort außer Reichweite der Accelerati waren, doch Caitlin hatte die Vermutung, dass noch mehr dahintersteckte.

Um Caitlin und Mitch herum beschwerten sich immer mehr Mitschüler über Länge und Langsamkeit der Essensschlange. »Neues Personal«, kommentierte irgendwer die Situation.

»Die Accelerati haben sich Nick gekrallt«, sagte sie zu Mitch, »und wir hocken in der Schule, schreiben Exen und erledigen unsere Hausaufgaben. Wir hätten uns längst auf die Suche nach ihm machen müssen.«

»Es gibt nur eine echte Möglichkeit, Nick zu retten«, erwiderte Mitch. »Wir müssen die Accelerati ein für alle Mal in die Knie zwingen.«

»Und wie sollen wir das deiner Meinung nach anstellen?«

»Grinfton«, entgegnete Mitch. »Gustav Qualens Alligator.«

Caitlin warf die Arme hoch. »Andauernd kommst du damit an! Was soll das denn heißen?«

»Das weiß ich nicht. Aber ich werde es herausfinden. Es ist der Schlüssel zu allem anderen.«

Mitch hatte Caitlin erzählt, wie er einem panischen Acceleratus den mysteriösen Hinweis entlockt hatte, indem er gedroht hatte, den Mann mit dem Tornado-Blasebalg aufzupumpen.

Selbst unter Androhung des Todes sprachen die Accelerati offenbar in Rätseln.

Da es in der Essensschlange immer noch kaum voranging und die Menge der hungrigen Kids immer lauter murrte, gab Mitch seinen Platz in der Reihe schließlich auf. »Hab eh keinen Hunger«, sagte er, machte sich davon und ließ Caitlin allein schmoren.

Nach langer Zeit schob sich die gewundene Warteschlange zu den Warmhalteschalen, in denen eine erdfarbene Pampe dampfte. Irgendwer hatte dem Schulamt weisgemacht, dass es sich dabei um eine nahrhafte Masse handelte.

Von den Schalen wanderte Caitlins Blick nach oben – und sie erstarrte.

»Hey!«, sagte die Schülerin vor Caitlin zum neuen Essensausteiler. »Wo ist die Lady hin, die früher immer hier war?«

»Ms Planck ist nicht mehr für die Schule tätig. Ich kümmere mich jetzt um die Essensausgabe«, erwiderte Dr. Alan Jorgenson.

Tief im Mittelalter, noch vor Erfindung der Wissenschaft selbst, wollten einige hochgebildete Männer herausfinden, woraus sich das Universum zusammensetzt. Es waren die Alchemisten, die jedoch bei all ihren Bemühungen von fehlerhaften Voraussetzungen ausgingen: Sie glaubten, in der Natur kämen lediglich vier grundlegende Elemente vor, nämlich Erde, Luft, Wasser und Feuer. Damit bogen sie gleich zu Beginn in die komplett falsche Richtung ab.

Die Alchemisten waren der Überzeugung, dass man die vier Elemente bloß im richtigen Verhältnis kombinieren müsste, um drei Ziele zu erreichen: Sie wollten das Lebenselixier destillieren; den Stein der Weisen herstellen; und Blei in Gold verwandeln. Viele Alchemisten, darunter auch frühe Wissenschaftler wie Sir Isaac Newton, vergeudeten ganze Jahrzehnte ihres Lebens mit aussichtslosen Versuchen, aus Blei Gold zu machen. Aber natürlich interessierte sich kein Mensch dafür, aus Gold Blei zu machen. Wieso auch?

Hier schien sich just diese Umwandlung vollzogen zu haben. Aus dem ehedem gülden schimmernden Dr. Alan Jorgenson, dem Großen Acceleratus, war der zweite Assistenzessensausteiler der Rocky Point Middle School geworden. Statt eines vanillefarbenen Anzugs aus feinster Spinnenseide trug er eine weiße Baumwollschürze. Und statt eines schicken vanillefarbenen Huts ein schwarzes Haarnetz.

Caitlins glühender Blick hätte Stahl verflüssigen können. »Was haben Sie hier zu suchen?«

Worauf Jorgenson mit der tonlosen Stimme des zu ewigen Qualen Verdammten erwiderte: »Hühnchen oder Fisch?«

»Wo ist Nick?«, fragte Caitlin. »Sagen Sie mir, was Sie mit ihm gemacht haben.«

»Jetzt halt die Klappe und such dir was aus!«, rief ein Junge aus der Warteschlange nach vorne.

Doch Caitlin wollte sich nicht herumkommandieren lassen. Wo sie doch gerade dabei war, den Oberkommandeur herumzukommandieren. »Antworten Sie. Sonst schreie ich so laut, dass man es bis in Ihre stinkende Bowlingbahn hört!«

Auf Jorgensons Gesicht zeichnete sich immer noch kein einziges Gefühl ab, mal abgesehen von resignierter Trübsal. »Ich weiß nicht, wovon du redest.« Er reichte Caitlin einen Teller mit Hühnchen, grünen Bohnen und Wackelpudding. »Und selbst wenn, hätte ich nichts dazu zu sagen.«

Caitlin knallte ihr Tablett auf die Theke, dass der Wackelpudding nur so wackelte. »Und was haben Sie mit Ms Planck gemacht?«

»Ms Planck hat diese traurigen Sphären hinter sich gelassen«, antwortete Jorgenson. »Ganz im Gegensatz zu mir, wie du siehst.« Dann drehte er sich zum nächsten Schüler in der Schlange. »Hühnchen oder Fisch?«

Da er das Mittagessen ausgelassen hatte, bekam Mitch Murló vorerst nicht mit, dass Dr. Alan Jorgenson auf den Ein-Mann-Beobachtungsposten an der Rocky Point Middle School verbannt worden war.

Es hätte Mitch eine gewisse Befriedigung verschafft zu wissen, dass sich früher oder später doch alles rächte. Andererseits konnte die Demütigung Jorgensons nur ein winziger Tropfen in dem Ozean aus Rache sein, den Mitch über den Accelerati ausschütten wollte.

Zu denen auch mein Dad gehört, dachte er.

Als Mitch den Tornado gezähmt hatte, war es ihm schlagartig klar geworden. Sowohl in der Außenwelt als auch in seinem Inneren waren die Wirbelwinde zur Ruhe gekommen und auf einmal hatte ihm alles mit absoluter Klarheit vor Augen gestanden.

Sein Vater gehörte zu den Accelerati. Petula gehörte zu den Accelerati.

Alles, was Mitch vermeintlich über sein Leben gewusst hatte, war die Toilette hinuntergesogen worden, und zurückgeblieben war nichts als die brennende Entschlossenheit, den Accelerati den größtmöglichen Preis dafür abzuverlangen. Seit über einhundert Jahren arbeiteten die Accelerati hinter den Kulissen und manipulierten die Wissenschaft. Sie hatten Mitchs Vater dazu gebracht, 725 Millionen Dollar zu stehlen, einen Cent von jedem Bankkonto der Welt. Ja, Mitchs Vater gehörte selbst zu den Accelerati, und ja, er hatte gewusst, was er tat. Mitch glaubte trotzdem, dass der Geheimbund ihn ausgenutzt und hinterher geopfert hatte.

Im Gegensatz zu seinem Vater war Mitch kein Computergenie, doch er war clever genug, um sich auszurechnen, dass die Spur der geklauten 725 Millionen direkt zur Halsschlagader des finsteren Geheimbunds führen musste. Niemand wusste, wo das Geld war, auch Mitchs Vater nicht. Aber könnte Mitch es finden und könnte er es den Accelerati abnehmen, könnte er sie in die Knie zwingen.

Und dann?, dachte Mitch. Darüber, sagte er sich, würde er in Ruhe nachdenken, wenn er sein erstes Zwischenziel erreicht hatte. Konnte es ein schöneres Zwischenziel geben, als die Accelerati in den Staub zu werfen?

An diesem Tag machte Caitlin sich allein auf den Heimweg – sämtliche Einladungen von Freundinnen, noch zum Quatschen ins benachbarte Café zu gehen, hatte sie höflich ausgeschlagen. Während praktisch alle anderen letzte Vorbereitungen für die Abschlussprüfungen, den Abschlussball und die jährliche Exkursion nach Washington, D.C., trafen, lag Caitlin nichts ferner als Gedanken an die Schule.

Seit ihrer ersten Begegnung mit Nick auf dem Flohmarkt, der die Welt aus den Angeln heben sollte, hatte Caitlins Interesse am banalen gesellschaftlichen Geplänkel der Rocky Point Middle School stetig nachgelassen. Der Abstand zwischen ihr und dem Leben, in dem Caitlin sich einst so bequem eingerichtet hatte, war immer größer geworden.

»Du bist ja fast schon so, keine Ahnung, wie so eine crazy Einsiedlerin oder so«, hatte Caitlins Freundin Hayley einmal angemerkt, und ihre anderen Freundinnen hatten ihr eifrig beigepflichtet.

»Du bist so, weiß nicht, irgendwie so voll weg von allem, verstehst du?«, hatte Caitlins Freundin Brittany präzisiert.

Ihre Freundinnen kommunizierten in einer Sprache, die auch Caitlin geläufig war, weshalb Caitlin genau wusste, was sie sagen musste, wenn sie in Ruhe gelassen werden wollte. »Ich weiß schon, klar?«, fing sie an. Und statt ihnen zu erzählen, dass sie in ein Abenteuer verwickelt worden war, das die Vorstellungskraft ihrer Freundinnen bei Weitem gesprengt hätte, meinte sie, sie sei »halt voll gestresst, weil ja fast die Welt untergegangen wäre und alles, weil wie krass war das denn?«. Dabei wollte Caitlin es belassen.

»Echt jetzt?«, erwiderte Hayley. »Das war doch letzten Monat. Voll lange her.«

Caitlin widerstand der Versuchung, ihr zu erklären, dass es schon nächsten Monat wieder so weit sein würde, und übernächsten Monat auch. Irgendwie glaubten alle, die unkontrollierte Entladung des Himmelskörpers Felicity Bonk wäre die ideale Lösung des Problems gewesen – wenn sich wieder eine Ladung aufgebaut hätte, würde sie eben wieder als gewaltiger Blitzschlag niederschießen, aber vermutlich an einem anderen Punkt der Erde. An irgendeinem Ort, der den Leuten sowieso egal war, würden die Lampen durchbrennen, und danach könnte man wieder zur Tagesordnung übergehen.

Bloß wenige Menschen kannten die Wahrheit: Der Asteroid hatte sich nur entladen, weil Teslas F.R.E.E. in Betrieb gewesen war. Ohne die Maschine hätte sich die Ladung immer weiter gesteigert, bis der ganze Planet zu einer riesigen Elektro-Insektenfalle geworden wäre, die aber nicht nur ein bisschen Ungeziefer gebrutzelt hätte. Ohne den F.R.E.E. würde das Leben auf Erden bald ein elektrisierendes Ende finden.

Aber das erklärte Caitlin ihren Freundinnen nicht. Was hätte das für einen Sinn gehabt? Nach ihren Berechnungen würde sich in circa vierzehn Tagen erneut eine Ladung von tödlichen Ausmaßen aufgebaut haben. Den Accelerati blieben vierzehn Tage, um den F.R.E.E. wieder zusammenzusetzen. Sollte es ihnen nicht gelingen … tja, dann würde es auch nichts bringen, sich schon vorher zu Tode zu sorgen.

Auf dem Heimweg sah Caitlin allerorten, wie Colorado Springs sich nach und nach von der Katastrophe erholte. In einem Umkreis von fünf Kilometern um Nicks Haus hatte der EMP jede Glühbirne zerspringen und jedes elektrische Gerät durchbrennen lassen. Auch nicht eingestöpselte Geräte. Die Ampeln waren immer noch tot, was jedoch gar nicht so problematisch war, weil auch die Hälfte aller Autos immer noch aufgrund durchgeschmorter Elektroanlagen lahmgelegt war, obwohl die Kfz-Mechaniker rund um die Uhr und sieben Tage die Woche schufteten. An Dutzenden Ecken hatten Baufirmen Kräne aufgestellt, um Stromkästen und Straßenlaternen auszutauschen. Spätestens im Juli, hatte der Bürgermeister den Bewohnern versichert, würde das Stromnetz der Stadt wieder volle Pulle laufen.

Jorgensons Auftritt hinter der Mensatheke hatte Caitlin getroffen wie ein linker Haken aus dem Nichts. Doch nachdem sie sich von dem Schlag erholt hatte, wurde ihr klar, dass sie die Sache zu ihrem Vorteil nutzen konnte.

Jetzt hatte sie jemanden am Wickel, den sie ausfragen konnte. Natürlich würde Jorgenson sie weiter mit Nicht-Antworten abspeisen, doch selbst aus der Formulierung dieser Nicht-Antworten könnte Caitlin eine Menge Informationen ziehen.

Zum Beispiel wusste sie bereits jetzt, dass Jorgenson nicht freiwillig an der Schule arbeitete. Und sollte es ihr durch ausdauerndes, mitleidloses Piesacken gelingen, ihn richtig auf die Palme zu bringen, würde sie bestimmt noch einiges mehr herausfinden.

Oh Gott, begriff Caitlin, ich ticke schon genau wie Petula.

Kaum dachte sie an Petula, knirschte Caitlin so laut mit den Zähnen, dass es direkt wehtat. Dieses doppelzüngige Zopfmonster, diese Bestie in Menschengestalt! Petula hatte von Anfang an ein falsches Spiel getrieben! Aber Caitlin hatte ja schon immer geahnt, dass ihr nicht zu trauen war. Auch wenn Petula ihre Mitgliedschaft bei den Accelerati nie offen eingeräumt hatte, hatte sie doch eindeutig für Jorgenson gearbeitet.

Caitlin hatte sie zur Rede gestellt, nachdem Nick aus dem Krankenhaus verschwunden war. Petula war auch dort in Behandlung gewesen, weil sie sich bei der Katastrophe in Nicks Haus den Arm gebrochen hatte.

Als Caitlin das Krankenhauszimmer betrat, glaubte sie zuerst, Petula würde ihr zur Begrüßung zuwinken. Erst dann ging ihr auf, dass Petulas Gipsverband, der vom Handgelenk bis zur Schulter reichte, und die dazugehörige Schiene ihren Arm in einem starren Dauerwinken fixierten.

Sobald Petula die Besucherin entdeckte, fing sie an, panisch auf den roten Knopf zu drücken, der die Krankenschwester herbeibeorderte.

»Wenn du mir nicht sagst, was die Accelerati mit Nick angestellt haben«, drohte Caitlin ihr, »breche ich dir auch noch den anderen Arm und beide Beine.«

Diese Drohung erwies sich als Fehler. Petula brachte es fertig, Caitlin vor der Krankenhausverwaltung als psychisch instabile Stalkerin darzustellen, Caitlins Eltern wurden einbestellt, eine Antiaggressionstherapie wurde ins Spiel gebracht, und schlussendlich erwirkte Petula eine einstweilige Verfügung, die besagte, dass Caitlin ihr nicht mehr zu nahe kommen durfte.

Das hätte Caitlins Unterrichtsalltag normalerweise sehr verkompliziert, aber bisher war Petula überhaupt nicht mehr in der Schule aufgetaucht. Caitlin hatte keine Ahnung, was sie den lieben langen Tag trieb. Aber was es auch war, Caitlin musste dazu einen Abstand von einhundert Metern einhalten.

Doch jetzt, wo Jorgenson zum hauptberuflichen Pampenpanscher degradiert und Nick schon seit zwei Wochen verschwunden war, befand Caitlin, dass es Zeit war, alle Vorsicht über Bord zu werfen. Es war Zeit, ihre liebste Mitbürgerin zu besuchen – selbst wenn sie dafür hinter Gittern landen könnte.

Drei Stiftkappen waren bereits auf Nimmerwiedersehen im Gips verschwunden, weil Petula Grabowski-Jones versucht hatte, sich unter ihrem Verband zu kratzen.

Und wer trug die Schuld an dieser Misere und ihrem mehrfach gebrochenen Arm? Natürlich Nikola Tesla. Wo er doch offensichtlich in der Lage gewesen war, Jahrzehnte im Voraus alles vorherzusehen, was im Umkreis seiner teuflischen Maschine geschehen würde!

Während andere im Unterricht saßen, begab Petula sich lieber ins unterirdische Accelerati-Hauptquartier, um ihre Bildung voranzutreiben. Okay, der Lehrplan war eine wilde Mixtur abseitiger Themen – aber dennoch lernte sie mehr nützliche Dinge fürs Leben als in jedem gewöhnlichen Klassenzimmer.

Zur Rechten des neuen Accelerati-Oberhaupts, das Jorgenson nachgefolgt war, durfte Petula ihre Ausbildung absolvieren und aus nächster Nähe miterleben, wie Beschlüsse gefällt wurden, die den Lauf der Welt veränderten. Wenn das nicht spannender war als jedes Mathe-Arbeitsblatt.

Nach Schulschluss ging Petula dann ganz normal nach Hause. Ihre Eltern hatten keine Ahnung von ihren Aktivitäten.

»Liebling«, sagte ihre Mutter jetzt und trat mit einem Tablett in Petulas Zimmer. »Ich bringe dir dein Abendessen.«

Petula wäre sehr wohl in der Lage gewesen, sich ins Esszimmer zu begeben und dort zu Abend zu essen, doch sie bestand darauf, ihre Mahlzeiten im Bett einzunehmen. Nach dem psychischen Schock ihres Dachbodensturzes hätte ihre arme Seele niemals die Gegenwart ihrer Familie verkraftet.

Ihrer Mutter schien es unendlich viel Freude zu bereiten, Petulas Essen wieder in mundgerechte Stücke schneiden zu müssen. Ja, sie ließ sich so sehr mitreißen von ihren nostalgischen Gefühlen, dass sie die Mahlzeiten sogar auf dem putzigen Plastikgeschirr servierte, das sie noch aus Petulas Kleinkindtagen aufbewahrt hatte.

Deshalb musste Petula es nun ertragen, dass ihr unter dem vorgeschnittenen Essen Glücksbärchis und Disney-Prinzessinnen entgegenstarrten. Sie verschönerte den Anblick, indem sie die Gestalten mit Ketchup zukleisterte, bis es aussah, als wären sie verblutet.

Unten läutete es an der Tür, und kurz darauf hörte Petula, wie ihre Mutter drohte, die Polizei zu rufen. Offensichtlich hatte Petula Besuch.

»Ich komme schon klar, Mom«, sagte Petula vom Flur aus, als sie Caitlin vor der Tür stehen sah.

Zögerlich zog ihre Mutter sich ins Innere zurück, wo Petula sich wegen ihrer klobigen Gips-Schienen-Kombination umständlich an ihr vorbeidrücken musste.

Petula wahrte einen angemessenen Sicherheitsabstand zur ungebetenen Besucherin. »Du verstößt gegen die einstweilige Verfügung«, stellte sie klar. »Dafür kann ich dich einsperren lassen. Dann verbringst du das restliche Schuljahr im Jugendknast.«

Caitlin hob die Hände, wie um sich kampflos zu ergeben. »Ich will nur reden.«

»Meinetwegen«, sagte Petula. »Solange du mit einer Entschuldigung anfängst.«

Ungläubig schüttelte Caitlin den Kopf. »Wofür denn?«

Petula zuckte mit einer Schulter, die andere Schulter war schließlich eingegipst. »Mir egal. Jede Entschuldigung aus deinem Mund wäre eine große Genugtuung für mich.«

Caitlin seufzte. »Es tut mir leid, Petula.«

Es war eine armselige Imitation aufrichtiger Reue, aber Petula gab sich damit zufrieden. »Fahr fort, Caitlin.«

»Ich will nur wissen, ob mit Nick alles okay ist.«

»Es geht ihm bestimmt besser als damals, als du ständig an ihm drangeklebt bist.« Petula beobachtete, wie sich Caitlins Hände zu Fäusten ballten und wieder lockerten.

»Die Accelerati wollten ihn umbringen«, sagte Caitlin mit einem tiefen, gedehnten Einatmen. »Ich muss mir sicher sein, dass sie das nicht inzwischen erledigt haben.«

»Du hast nicht die geringste Ahnung, was die Accelerati wollen oder nicht wollen.«

»Jorgenson wollte ihn tot sehen. So viel ist sicher.«

Über ihre hoch erhobene Nase hinweg starrte Petula auf Caitlin hinab. »Jorgenson hat nichts mehr zu melden.«

Da schnappte Caitlin nach Luft. »Ich wusste es! Du gehörst wirklich zu den Accelerati!«

Schnell ruderte Petula zurück. »Das habe ich nicht gesagt. Wie kommst du darauf, ich hätte das gesagt?«

»Du musst es gar nicht aussprechen. Es ist so offensichtlich.«

»Vielleicht sollte ich doch lieber die Polizei rufen.«

»Das kannst du dir sparen, ich gehe sowieso gleich. Aber bitte, sag mir einfach die Wahrheit. Geht’s Nick gut?«

»Nein«, antwortete Petula. »Im Gegenteil. Er ist tot.«

Mit einem Donnern schlug Petula die Tür zu und stapfte mürrisch auf ihr Zimmer, wo sie vorgeschnittene Fleischstückchen von lächelnden Prinzessinnenvisagen pickte.

Ihre gründlich misslungene Unterredung mit Petula hätte Caitlin eigentlich voller Trauer und Verzweiflung zurücklassen müssen. Aber Petula war nun einmal Petula.

Wenn Petula behauptete, Nick wäre tot, war er mit einhundertprozentiger Sicherheit am Leben. Jetzt war Caitlin erst recht fest entschlossen, ihn zu finden. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was für Grausamkeiten Nick in den Fängen der Accelerati zu erdulden hatte.

4. Geradewegs in die Katastrophe

Ich würde dir ja gerne ein Glas Dom Pérignon anbieten«, rief Edison vom gegenüberliegenden Kopfende herüber und füllte sein Glas mit Champagner, »aber du bist noch nicht volljährig.«

Nick nahm ein stilvolles Dinner ein. Er saß am anderen Ende der langen Tafel, die mit zartem Porzellan und Besteck aus Sterlingsilber gedeckt war, als Hauptgang gab es Hummer (mochte Nick) und Schnecken (mochte Nick weniger). Da seine Hände weitgehend verheilt waren, fiel ihm das Essen schon deutlich leichter.

»Cola ist mir absolut recht«, erwiderte Nick und trank einen Schluck aus seinem Kristallkelch.

Edison hob sein Glas, um ihm zuzuprosten. »Ich danke dir für all die harte Arbeit, die du in den vergangenen beiden Wochen geleistet hast.«

Gern geschehen, hätte Nick fast automatisch erwidert, doch er biss sich auf die Zunge, denn im Grunde arbeitete er sehr ungern für Edison. Blöd war nur, dass Nicks angeborene Hilfsbereitschaft ihm verbot, die Forschung der Accelerati zu torpedieren.

Ein Grund dafür waren Nicks Ingenieurskollegen – die beiden waren so ganz anders als die selbstherrlichen, wichtigtuerischen Gangster, die Jorgenson immer angeheuert hatte. Mark redete andauernd von seinen Kindern und Cathy erinnerte Nick ein bisschen an seine Mom. Nick gab sich ehrlich Mühe, aber er konnte den beiden einfach nicht böse sein.

Obwohl Mark und Cathy ziemlich intelligent wirkten, standen sie doch häufig wie der Ochs vorm Berg vor Rätseln, die für Nick gar keine Rätsel waren. In den ersten Tagen hatte Nick noch versucht, die beiden möglichst skrupellos ihrem Schicksal zu überlassen. Nachdem Mark und Cathy am Mysterium des Toasters gescheitert waren, hatte Nick zugesehen, wie sie sich mit Teslas »Wäschetrockner« abgeplagt hatten. Mark und Cathy hatten seine Höhe, Breite und Tiefe vermessen, auch das elektrische Feld, das er in eingeschaltetem Zustand generierte. Dann hatten sie verschiedene Gegenstände in die Trommel gesteckt und waren vollkommen ratlos gewesen, als überhaupt nichts passiert war.

Nach einem halben Tag gescheiterter Experimente hatte Nick es nicht mehr ausgehalten. Er musste ihnen einfach verraten, was er wusste. »Die Sachen müssen nass sein. Das ist doch ein Trockner, oder? Also muss alles nass sein, was man hineintut.«

Mark und Cathy hatten ein nasses Handtuch in die Trommel gestopft und eine knappe Minute später war es auf die Größe einer Dollarnote zusammengeschrumpft.

Ihre Begeisterung hatte Nick angesteckt, und mit der Zeit hatte er vergessen, für wen er hier arbeitete.

Natürlich war auch Edison hocherfreut gewesen über die Enträtselung des Wäschetrockners – wodurch Nick sich erst recht vor sich selbst geekelt hatte.

»Wenn wir erst einmal herausgefunden haben, wie die Technologie im Detail funktioniert«, hatte Edison zu ihm gesagt, als er das geschrumpfte Handtuch zum ersten Mal gesehen hatte, »werden sich Tausende Anwendungsmöglichkeiten ergeben. Stell dir vor, wir könnten Tumore schrumpfen!«

»Und Armeen und Bomben«, hatte Nick hinzugefügt, denn auf diesem Feld betätigten sich die Accelerati am liebsten.

Edison hatte keine Miene verzogen. »Wir können uns nicht aussuchen, was die Welt aus unseren Erfindungen macht.«

»Wir haben den Trockner nicht erfunden«, wandte Nick ein. »Das war Tesla.«

Und trotzdem stellte Nick widerwillig fest, dass er sich auf die tägliche Zusammenarbeit mit Mark und Cathy freute. Im Team lösten sie Probleme und gingen den Objekten auf den Grund, die die Accelerati aus Nicks Nachbarschaft entführt hatten, ehe Nick sie wiederfinden konnte: die Unterdruckpumpe, die den gesamten Sauerstoff aus einem Zimmer saugte; die alte Kettensäge, die Löcher in das Raum-Zeit-Kontinuum fräste; und die Nähmaschine, mit der man diese Löcher wieder flicken konnte.

Mrs Higgenbotham betrat das Speisezimmer und räumte Nicks Hummerschalen sowie seine unangetasteten Schnecken ab, bevor sie eine große Silberschale an seinen Platz stellte: ein riesiger Eisbecher mit heißer Schokoladensoße.

»Bitte schön«, sagte sie. »Wenn das nich alles is, was sich ein junger Acceleratus wünschen kann.«

Auf einmal fröstelte es Nick in seinem neuen Luxusleben, als wäre die Luft kühl wie die Silberschale. Das war also aus ihm geworden? Ein junger Acceleratus?

Sein ganzer Frust brach aus ihm hervor, er wischte über den Tisch und schleuderte den Eisbecher zu Boden.

Davon ließ Mrs Higgenbotham sich nicht im Mindesten beeindrucken. »Ach, was bist du heute für ein aufbrausendes Bürschlein!«, rief sie.

»Ich wünsche mir etwas ganz anderes«, sagte Nick zu seinem Gegenüber am anderen Ende der Tafel. »Ich will meinen Dad und meinen Bruder sehen.«

Sanft legte sich Edisons Hand auf die Tischplatte. »Wie oft soll ich dir noch versichern, dass es deiner Familie gut geht?«

»Und wenn Sie’s mir tausendmal versichern, ich glaube Ihnen nicht. Ich tue alles, was Sie wollen. Jetzt will ich meine Familie sehen.«

Edison griff in sein Sakko und zog die Zigarre hervor, die er sich immer nach dem Abendessen genehmigte. Als er sie zu den Lippen führte, huschte Mrs Higgenbotham zum gegenüberliegenden Tischende, um ihm Feuer zu geben.

»Ein solcher Besuch«, sagte Edison und sog an der Zigarre, »wäre weder in deinem Interesse noch im Interesse deiner Familie.«

»Das haben Sie nicht zu entscheiden«, entgegnete Nick.

»Irrtum, Junge. Was dich betrifft, habe ich alles zu entscheiden. Du könntest dich ruhig ein wenig dankbarer zeigen. Ich habe vieles für dich getan und werde noch vieles für dich tun. Und jetzt kein Wort mehr darüber.«

Mrs Higgenbotham wollte sich um die Eiscreme auf dem Boden kümmern, doch Edison hob die Hand.

»Nein!«, rief er streng. »Der Junge soll seinen Dreck selber wegräumen. Außerdem ist es Zeit für mein Bad.«

Also rollte Mrs Higgenbotham den alten Mann aus dem Speisezimmer und Nick blieb allein zurück.

Er starrte auf die umgedrehte Silberschale und die sahnigen Rinnsale, die bereits in den alten Perserteppich einsickerten. Nach einer Weile schnappte er sich eine Serviette, kniete sich hin und machte sich ans Aufwischen.

Tesla wusste besser als jeder andere, wie schrecklich Experimente schiefgehen können – auf jeden glorreichen Triumph kommt mindestens ein kläglicher Fehlschlag. Man denke nur an Teslas Resonanzoszillator, landläufig meist »Erdbebenmaschine« genannt. Als Tesla das Gerät erstmals einschaltete, hätte es bald sein Labor und einen ganzen Häuserblock in New York in Grund und Boden gerüttelt, hätte er es nicht schnellstens mit einem Vorschlaghammer zertrümmert. Und dann wäre da noch der Energieschub, der von seinem Laboratorium in Colorado Springs aus das Stromnetz der Stadt über Tage außer Gefecht setzte.

Jeder Wissenschaftler wird bestätigen, dass stets Versuch und Irrtum nötig sind, um Großes zu erreichen, ja, in dieser Sache wären sich selbst Edison und Tesla völlig einig gewesen. So mancher Irrtum konnte allerdings einen verheerenden Preis fordern.

Nick saß im Pausenraum der Forschungsanlage, als plötzlich der Alarm losging: Notfall in Laborraum 4.

In Laborraum 4 arbeiteten Cathy und Mark.

Im Moment versuchten sie, die Funktionsweise der Kraftmaschine zu entschlüsseln. Bei diesem Thema hatte Nick ihnen bisher kaum unter die Arme gegriffen, er hatte ihnen bloß geraten, alle spitzen Gegenstände aus dem Labor zu entfernen. Schwerelose Schraubenzieher und Ähnliches konnten nämlich wirklich gefährlich werden, erst recht, wenn die Schwerkraft abrupt zurückkehrte.

Tags zuvor hatte Mark laut überlegt, ob man nicht einen Weg finden könnte, die Kolben der Kraftmaschine schneller rattern zu lassen, um so vielleicht die Reichweite des Antigravitationsfeldes zu erhöhen.

»Ich glaube, das wäre keine gute Idee«, hatte Nick geantwortet. Teslas Erfindungen liefen alle genau so, wie sie laufen sollten, auch im genau richtigen Tempo, und an den Objekten herumzumanipulieren, das sagte ihm sein Instinkt, würde geradewegs in die Katastrophe führen. Auf der anderen Seite hätten sie eigentlich alle nach Hause gehen können, wenn sie auf das Herummanipulieren verzichten wollten. Die Accelerati waren nun mal große Manipulatoren, und sollten sie es dabei fertigbringen, sich selbst in die Luft zu jagen, hätte Nick normalerweise gesagt: Geschieht ihnen nur recht. Aber jetzt ging es um Mark und Cathy.

Als der Alarm losgejault hatte, war die Notverriegelung des Laborraums aktiviert worden. Deshalb konnte Nick nur vom Flur aus durch das kleine Sichtfenster in der Tür ins Innere spähen.

»Schalt das Ding ab! Schalt es ab!«, hörte er Cathy irgendwo über sich schreien. Nick legte den Kopf in den Nacken und stellte fest, dass Cathy oben unter der Decke klebte – Cathy und alle Gegenstände, die sich im Raum befanden. Cathys Gesicht dehnte sich ungesund in die Länge.

»Ich komme nicht ran!«, rief Mark, gegen die hintere Wand gepresst, wo sein Körper von einer Antigravitationswelle nach der anderen verformt wurde. Er konnte sich nicht rühren.

Als Nick und Caitlin dem fettleibigen Mann, der die Kraftmaschine auf Nicks Flohmarkt erworben hatte, das Gerät wieder abgenommen hatten, mussten sie sich nur mit der fehlenden Schwerkraft herumschlagen. Solange sie sich nicht bewegt hatten, hatten sie auf der Stelle geschwebt.

Cathy und Mark rangen mit einem viel schlimmeren Gegner: echter Antigravitation. Eine Abstoßungskraft, die um ein Vielfaches stärker war als die relativ schwache Anziehungskraft der Erde. In der Mitte des Labors stand die Kraftmaschine, angeschlossen an eine Hydropumpe, die die Kolben der Maschine zehnmal so schnell wie üblich auf und ab bewegte – und mit jedem Auf und Ab strahlte ein bärenstarker Gravitationsschub aus der Maschine nach außen ab, Welle um Welle verzerrte den Raum. Stühle wurden gegen die Wände gedrückt, ihre Gestelle verbogen sich und zerbrachen. Der Arbeitstisch, der aus Sicherheitsgründen am Boden verschraubt gewesen war, hatte sich aus seiner Verankerung gerissen und hing nun in seine Einzelteile zerschmettert an der Decke, mitsamt dem Inhalt der Schubladen: Stifte, Zangen, Hämmer und (natürlich!) auch Schraubenzieher. Das ganze Zeug, das Mark und Cathy doch unbedingt aus dem Labor schaffen sollten, bevor sie die Antigravitationsmaschine einschalteten! Wenn – oder falls – es ihnen gelingen würde, die Maschine zu stoppen, würde der Kram zur tödlichen Gefahr werden.

Doch im Augenblick wurden Mark und Cathy mit einer Wucht, die etwa dem Zehnfachen der Erdanziehungskraft entsprechen dürfte, an Wand beziehungsweise Decke des Laborraums gepresst. Die beiden konnten kaum atmen, geschweige denn sich bewegen.

Rund um Nick hatten sich andere Accelerati-Wissenschaftler versammelt, Ingenieure und Technikfreaks, aber niemand machte irgendwelche Anstalten einzuschreiten. Sie gafften lieber durchs Sichtfenster und warfen einander gelegentlich einen sorgenvollen Blick zu.

»Wir müssen ihnen helfen!«, rief Nick. »Wir müssen da rein!«

»Die Wände dieses Laborraums sind mit Blei verstärkt. Sie sind der einzige Schutz für das restliche Gebäude«, gab ein Wissenschaftler zu bedenken. »Sollten wir die Tür öffnen …«

Nick wusste, dass der Mann recht hatte. Aber auch, dass er Mark und Cathy nicht sterben lassen konnte – und darauf lief es im Moment hinaus. Der zehnfachen Erdanziehungskraft konnte das menschliche Herz nur wenige Minuten standhalten, bis es unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrach.

Im Laborraum pflanzten sich die Gravitationswellen weiterhin in kugelförmigen Impulsen nach außen fort, alle paar Sekunden bildete sich eine neue Welle.

Da fiel Nick etwas ein.

Er wandte sich an die hochrangigste Accelerati-Wissenschaftlerin unter den Schaulustigen. Es war eine Kenianerin, die nur »Z« genannt wurde.

»Ihr Accelerati habt doch so ein Zeitverlangsamungsdingens entwickelt, oder? Habt ihr zufällig eins da?«

Z betrachtete ihn verwirrt.

»Ich meine das Ding, mit dem ihr über Nacht einen neuen Starbucks hochziehen könnt«, fügte Nick hinzu.

»Ach, das«, sagte Z. »Der selektive Zeitdehner.«

»Habt ihr einen da?«

Ein anderer Wissenschaftler trat einen Schritt vor. »Ich hab einen im Büro!« Damit eilte er davon.

Drinnen stemmten sich Mark und Cathy weiter gegen die quälenden Wellen der künstlichen Antigravitation. Zwischen den Impulsen konnten sie kurz nach Luft schnappen, aber alle größeren Unternehmungen wären aussichtslos gewesen.

Bald kehrte der Wissenschaftler zurück, in der Hand ein kleines Gerät, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Taschenlampe hatte. Er überreichte es Nick.

Offensichtlich wollte sich kein anderes Mitglied des ehrbaren Ordens der Accelerati freiwillig melden, sich in den Laborraum zu wagen. Alle schauten sie auf Nick.

»Du stellst den Strahl auf die größte Breite ein und richtest ihn auf den Bereich, wo sich die Zeit verlangsamen soll«, erklärte ihm der Wissenschaftler. »Aber nach drei Sekunden geht das Gerät aus und muss wieder aufgeladen werden.«

»Drei Sekunden?«, fragte Nick.

»Drei Sekunden tatsächlicher Zeit«, erläuterte Z mit ihrem melodischen Suaheli-Akzent. »Aber für dich und alles, was sich innerhalb des Feldes befindet, sind es eher drei Minuten.«

Z besaß die nötige Sicherheitsfreigabe zum Entriegeln der Laborraumtür. Sie hatte schon ihren Kartenausweis gezückt, um ihn durch den Türöffner zu ziehen.

»Aber ich muss dich warnen«, meinte sie noch. »Niemand weiß, ob dein Plan funktioniert. Am Ende befindest du dich womöglich in derselben Lage wie Cathy und Mark.«

Was Sie nicht sagen, dachte Nick, aber er erwiderte nur: »Verstanden.«

»Alle einen Schritt zurück!« Z wandte sich an Nick. »Ich muss die Tür hinter dir sofort wieder schließen. Sonst werden wir alle vom Gravitationsfeld erfasst.«

Nick antwortete mit einem Nicken, das Verlangsamungsdingens fest in der Hand. Kaum hatte Z die Karte durch das Lesegerät gezogen, schwang die Tür krachend nach außen, beschleunigt von ihrem vielfachen Gewicht. Ein allzu neugieriger Acceleratus, der sich vorgebeugt hatte, um ins Labor zu linsen, wurde von einer Gravitationswelle gepackt und rückwärts gegen die Wand geklatscht.

Nick atmete tief ein und fing an, die Impulse mitzuzählen. Es war, als müsste er in ein bereits rundherum schwingendes Sprungseil hüpfen. Dann zielte er mit dem Zeitdehner auf die Maschine und drückte den Knopf.

Die Welt schien stillzustehen – aber nur beinahe. Die Accelerati, die hinter Nick versuchten, die Tür zuzudrücken, bewegten sich auch weiterhin, allerdings in Superzeitlupe. Während sich drüben in der Maschine gerade der nächste Gravitationsimpuls herausbildete, langsam in alle Richtungen anwachsend wie ein Luftballon.

Nick rannte auf die Maschine zu und kippte sofort zur Seite. In den Zwischenräumen der einzelnen Wellen fiel die Antigravitationskraft ab, verschwand aber nicht ganz.

Er brauchte ein paar Sekunden, um die Orientierung zurückzuerlangen. Als er wieder klar im Kopf war, legte Nick vorsichtig die Hände flach auf den Boden und zog sich in Richtung Maschine wie eine Eidechse.

Da die Antigravitation ungefähr im 45°-Winkel von der Maschine abstrahlte, fühlte Nick sich nicht, als würde er über den Boden kriechen – eher, als würde er die schräge Außenmauer einer Pyramide hinaufklettern und dabei auch noch 150 Kilo wiegen. Es war kein Ding der Unmöglichkeit, aber doch deutlich anstrengender, als zur Maschine zu spazieren und den Stift aus der Gewichthalterung zu ziehen.

Den Großteil der ersten Minute verbrachte Nick damit, sich über den Boden zu hangeln. Doch der Gravitationsballon pumpte sich immer weiter auf, und als Nick sich gerade der Maschine näherte, wurde er von dem Impuls getroffen.

Nick konnte nicht ausweichen. Langsam ging die Welle über ihn hinweg und hob ihn in die Luft. Er spürte, wie sich seine Haut straff über die Gesichtsknochen spannte, wie bei Mark und Cathy. Doch schlimmer war der Schmerz, der ihm in jede Zelle fuhr, vervielfacht von seinem angeschwollenen Körpergewicht. Nick fühlte sich wie das überdehnte Fell einer Trommel, das von Tausenden Rasierklingen angeritzt wurde.

Die ganze zweite Minute verbrachte Nick irgendwo zwischen Boden und Decke, im festen Griff der Welle, die sich immer weiter ausdehnte und ihn schließlich gegen die hintere Wand hämmerte. Er wusste, dass er keine Zeit hatte, sich von seinem Schmerz und seiner Desorientierung zu erholen. Beim zweiten Versuch musste er schneller sein. Wieder begann er, den Boden zu erklimmen, diesmal mit wirklich maximaler Geschwindigkeit.

Als er die Kraftmaschine erreichte, hatte sie eben begonnen, den nächsten Impuls zu erzeugen. Das Verlangsamungsdingens blinkte rot und piepte, als gehe ihm gleich der Saft aus. Eine dritte Chance würde Nick nicht bekommen. Er stieß die Hand nach vorne, packte den dünnen Metallstift und ließ seinen Arm von der frischen Antigravitationswelle nach hinten drücken – die Finger fest um den Stift gekrallt.

Im selben Moment, wie der Stift aus der Halterung rutschte, schaltete sich der Zeitdehner ab, und die Welt beschleunigte wieder auf Normalgeschwindigkeit. Die Gewichte, die nicht mehr vom Stift fixiert wurden, rauschten nach unten, die Maschine blieb stehen.

Mark sackte in sich zusammen, Cathy stürzte von der Decke auf den Boden – Cathy und alles andere, was dort oben gehangen hatte. Den Schraubenziehern, Stiften und Hämmern konnte Nick noch ausweichen, doch ein Trümmerteil des Arbeitstisches erwischte ihn an der Schulter und hinterließ dort eine fünf Zentimeter lange Risswunde.

Augenblicklich stürmten die anderen Accelerati in den Laborraum und kümmerten sich um Mark und Cathy, die sich beide vor Entkräftung nicht mehr bewegen konnten. Z streifte ihren Laborkittel ab und presste ihn auf Nicks Schulter.

»Besonders tief ist die Wunde nicht«, sagte sie, »aber vielleicht hast du dir das Schlüsselbein gebrochen.«

Nick schüttelte den Kopf. »Glaube nicht. Das würde heftiger wehtun.«

Da fuhr Edison in den Laborraum.

»Bericht«, sagte er.

Während Z ihm die Geschehnisse schilderte, ruhte Edisons undurchschaubarer Blick allein auf Nick. Mit einem Wink wies er auf Mark und Cathy, die immer noch um Atem rangen. »Bringt sie auf die Krankenstation. Zitiert unsere besten Ärzte zum Dienst. Gut möglich, dass hier einige unserer ausgefalleneren medizinischen Geräte gefragt sind.«

»Und Nick?«, fragte Z.

Wieder studierte Edison den Jungen. »Du wirst die Narbe eines tapferen Kriegers davontragen, Master Slate. Eine Medaille, die dich immer an deine Heldentat erinnern soll«, sagte Edison mit einem strahlenden Lächeln. Dann schüttelte er bewundernd, aber auch etwas irritiert den Kopf. »Du verblüffst mich immer wieder, Nick. Wäre unser gemeinsamer Freund Dr. Jorgenson an deiner Stelle gewesen, hätte er den beiden zweifellos beim Sterben zugesehen und sich dabei auch noch ausführlich Notizen gemacht.«

»Und wenn Sie an meiner Stelle gewesen wären?«, wagte Nick zu fragen. »Was hätten Sie getan?«

»Ich«, antwortete Edison, »hätte es nie so weit kommen lassen.«

Edison beauftragte Z, Nick ebenfalls auf die Krankenstation zu bringen, wo seine Wunde genäht werden sollte. Doch bevor er sie wegschickte, blickte Edison noch einen Augenblick lang mit Philosophenmiene in die Luft. Selbst dieser Gesichtsausdruck, fand Nick, sah aus, als würde er finstere Pläne schmieden.

»Der wahrhaft Tapfere verlangt zwar nicht nach Belohnungen«, sagte Edison. »Aber hier ist wohl eine Ausnahme angebracht.«

Alle Anwesenden verstummten in Erwartung seines großzügigen Erlasses.

»Morgen ruhst du dich aus«, verkündete Edison endlich an Nick gewandt. »Und am Sonntag fahre ich dich zu deinem Vater und Bruder.«

5. Menschlich, allzu menschlich

Der typische Erfinder verabscheut die Bürokratie, die eine jede Großorganisation mit sich bringt – so auch Thomas Edison. Doch als kluger Geschäftsmann wusste Edison, dass es sich dabei um ein notweniges Übel handelte. Als ihm die Verwaltung seines Geheimbundes allmählich zur unerträglichen Last wurde, ersann er daher den Posten des Großen Acceleratus: Dieser sollte die Aufgabe haben, sich um sämtliche Details des Accelerati-Tagesgeschäfts zu kümmern, sodass Edison selbst wieder frei über seine Zeit verfügen könnte.

Der erste Große Acceleratus, der in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts berufen wurde, beschäftigte sich mit Experimenten aus dem Bereich der Kernfusion. Unglücklicherweise tat er dies in der Nähe der Stadt Lakehurst in New Jersey, fackelte dabei das Luftschiff Hindenburg ab und ging gleichzeitig selbst in Rauch auf.

Der zweite Große Acceleratus trug die Verantwortung für den großen Stromausfall, der im Jahr 1965 den Nordosten Amerikas heimsuchte. Von Ontario bis Pennsylvania saßen die Menschen im Dunkeln, aber Todesopfer waren nur wenige zu beklagen – darunter der zweite Große Acceleratus und seine engsten Mitarbeiter, die dem Epizentrum der Katastrophe allzu nahe waren.