Thereses Töchter - Marta Haberland - E-Book
SONDERANGEBOT

Thereses Töchter E-Book

Marta Haberland

0,0
18,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

München, im Frühsommer des Jahres 1844: Die Stadt hat gerade eine Reihe blutiger Krawalle um die Erhöhung des Bierpreises überstanden, als Anton Wagner, Gastwirt und Herr der Augustiner-Brauerei, stirbt. Ein viel zu früher Tod, der seine Frau Therese mit fünf Kindern und der Verantwortung für ein krisengeschütteltes Unternehmen zurücklässt. Die Münchner Gesellschaft erwartet ihren Rückzug, sogar den Verkauf der Brauerei. Doch Therese hat anderes im Sinn. Mit Mut, Geschick und Tatkraft bietet sie als Bräuin einer männerdominierten Welt die Stirn – ebenso wie all die Frauen, die nach ihr das Schicksal von Augustiner prägten. Kaum einer kennt die Familie Wagner hinter der Marke Augustiner und noch weniger wissen um die entscheidende Rolle, die vier Generationen von Frauen in der Geschichte des Unternehmens spielten. Als Bräuin, Gastwirtin, Beraterin ihrer Brüder und Ehemänner und entscheidende Stimme bei wegweisenden Entscheidungen führten sie die Brauerei durch stürmische Zeiten. Zum ersten Mal gewährt ein Roman den intimen Blick hinter die Kulissen von Augustiner – von den bescheidenen Anfängen bis zum internationalen Erfolg. Aus der Erzählung von glücklichen Tagen und Schicksalsschlägen, von Hochzeiten und familiären Zerwürfnissen erwächst das beeindruckende Bild von anderthalb Jahrhunderten bayerischer und Münchner Geschichte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 798

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marta Haberland

THERESES TÖCHTER

Die Augustinerbräu-Gründerdynastie Wagner

ROMAN

Herausgegeben durch die Edith-Haberland-Wagner-Stiftung

Volk Verlag München

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

3. Auflage 2022

© 2021 by Volk Verlag München

Neumarkter Straße 23; 81673 München

Tel. 089 / 420 79 69 80; Fax: 089 / 420 79 69 86

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks sowie der photomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

ISBN 978-3-86222-471-5

www.volkverlag.de

INHALT

Ein Buch entsteht

Prolog: Edith, Berlin

München

München

München

München um die Jahrhundertwende

München

Berlin

Postskriptum

EIN BUCH ENTSTEHT

Vorwort von Catherine Demeter Erste Vorständin Edith-Haberland-Wagner-Stiftung

Es war am Tag des Papstattentates, am 13. Mai 1981, als eine alte Dame bei uns zu Hause in Wien anrief, um mir mitzuteilen, dass der „alte“ Wagner, der Alleineigentümer der Augustiner-Brauerei, gestorben sei. Da er kinderlos war, seien wir nun seine Erben, meinte sie. An diesem Tag beschäftigte mich weit mehr, ob der arme Papst überleben würde und ob ich wohl die Mathematik-Matura vom Vormittag auch gut geschafft hätte, denn ich wollte keinesfalls meinen bereits durchgeplanten ersten Sommer in Freiheit gefährden. Dazu kam, dass die Anruferin aus München in unserer Familie als Erbschleicherin verschrien war. Ich maß ihrer Aussage entsprechend keinerlei weitere Bedeutung bei, witterte vielmehr einen ihrer merkwürdigen Winkelzüge.

Kurz darauf rief aber bereits der erste Journalist an, der mich 17-Jährige interviewen und zu Aussagen über den „Howard Hughes aus München“, wie er ihn nannte, bewegen wollte. Geistesgegenwärtig erklärte ich ihm, ich sei die Haushälterin und wüsste leider gar nichts über diesen Herrn. Tatsächlich war es nicht sehr viel, das ich wusste. Rudolf war ein Cousin meiner über alles geliebten Großmutter gewesen. Sie war die Einzige unserer weitverzweigten Familie, mit der mein Großonkel noch Kontakt gehalten hatte, doch die Verbindung zu diesem Teil der Familie war mit ihrem viel zu frühen Tod abgerissen. Meine Mutter hatte manchmal im Scherz gemeint, wenn der „reiche Onkel aus München“ mal das Zeitliche segnen würde, dann könnten wir uns vielleicht ein größeres Segelboot leisten.

Es folgten aufregende Tage, Wochen, ja Monate, in denen nach dem Testament Rudolf Wagners gesucht wurde. Fieberhaft wurden sämtliche Brauerei-Tresore und Bank-Safes im In- und Ausland durchforstet, seine Bibliothek und seine neben dem Augustiner-Keller gelegene Villa auf den Kopf gestellt, aber sein letzter Wille wurde nie aufgefunden. Es schien uns unvorstellbar, dass jemand mit so einem großen und erfolgreichen Betrieb und hunderten Mitarbeitern kein Testament verfasst haben sollte, noch dazu, wo er kinderlos war. Manches deutet darauf hin, dass es sehr wohl ein Nachlassdokument gegeben haben muss. Möglicherweise wurde in dem Testament die Person, der mündlich bereits etwas versprochen worden war, doch nicht bedacht. Ein solchermaßen Enttäuschter war vielleicht auf die Idee gekommen, dem Schicksal ein wenig nachhelfen zu wollen, indem er kurzerhand das Testament verschwinden ließ, in der Hoffnung, aufgrund früherer mündlicher Aussagen nun doch bedacht zu werden. So hatte sich z.B. Rudolfs Chauffeur bereits als neuer Erbe mit Champagner in der Presse feiern lassen. Ob es jedoch ein Testament gegeben hat, wird für immer ein ungelöstes Rätsel bleiben.

Die Familie wurde aus allen Winkeln der Welt zusammengerufen. So kam es, dass meine Mutter aus Wien nach Jahren mit ihren Cousins und Cousinen, Tanten und Onkeln aus München, aus Amerika, ja sogar aus Hawaii zusammentraf. Was für ein Wiedersehen! Was für eine aufregende Zeit, in der keiner von uns wirklich wusste, was ihn erwarten sollte. Ich am allerwenigsten, denn ich war die Jüngste im Bunde, immer im Schlepptau meiner Mutter, die mich sehr früh in alles Geschäftliche mit einband. Mein Leben sollte es in ferner Zukunft am meisten verändern. Doch damals ahnte ich nichts davon. Ich war jung, unbeschwert, von mir überzeugt und wusste nicht, über wie viele Umwege ich gehen würde, bevor ich eines Tages für die einmalige Augustinerbrauerei Verantwortung tragen sollte.

Geboren in Paris, wuchs ich in meinen ersten Lebensjahren dort auf, als Tochter eines Architekten und einer Industrial-Designerin. Mein Großvater lockte meine Eltern nach Wien zurück – mit dem unwiderstehlichen Angebot, meinen Vater seine neue Fabrikhalle entwerfen und bauen zu lassen. Aus einer Nürnberger Patrizierfamilie stammend, hatte der Großvater nach dem Krieg aus dem Nichts in Österreich eine kleine Handelsfirma zum Florieren gebracht und bald darauf sogar seine eigene höchst erfolgreiche Kunststoffrohr-Fabrik, die Symalen – heute Pipelife –, aufgebaut. Bei Tisch wurde in der Familie immer viel übers Geschäft gesprochen, und so brannte sich bei mir der Satz ein, dass „die erste Generation aufbaut, die zweite ausbaut und die dritte alles zugrunde richtet“. Damals, mit gerade mal acht oder neun Jahren, schwor ich, meiner Familie eines Tages zu beweisen, dass dem nicht so wäre. Es kam mir gar nicht in den Sinn, dass dies für ein Mädchen vielleicht schwierig sein könnte, schließlich gab es ja nur mich als einzige Tochter und Enkelin. Es lag allein an mir, zu beweisen, dass der letzte Teil unseres Familien-Credos nicht stimmte. Ich sollte Wort halten.

Doch bis dahin würden noch einige Jahre vergehen. Nach der tatsächlich glücklich absolvierten Matura verbrachte ich den ersehnten Sommer gänzlich unbeschwert und frei. Als Teil der lebenslustigen Wiener Jeunesse Dorée der 1980er Jahre absolvierte ich mehr nebenbei als bitterernst mein Dolmetscherstudium an der Universität bzw. im vis-à-vis gelegenen Café Landtmann. Ich genoss viele Studienaufenthalte in Spanien und Frankreich. Der einzige Wermutstropfen dieser Zeit war, dass ich trotz allerbester Noten an der Universität den Führerschein nicht auf Anhieb schaffte – die Begründung des Wiener Fahrprüfers in breitestem Meidlinger Dialekt habe ich noch im Ohr: „Frölllein, des is gemeingefährlllich!“

Es war eine zwanglose, federleichte Zeit, der Krieg und dessen Folgen waren schon lange nicht mehr spürbar. Die Wirtschaft ging bergauf und die Jugend wuchs frei und unbeschwert auf. Es gab die Pille, kein Aids und es lastete auf uns weitaus weniger Druck als auf der heutigen Jugend, die allerbesten Noten haben zu müssen, um an den großen internationalen Universitäten aufgenommen zu werden.

Mein erster Job, noch neben dem Studium, war aufregend. Wien als Diplomatenstadt beherbergte die KSZE, heute die OSZE, und suchte sprachgewandte junge Leute, die sich auf internationalem Parkett bewegen konnten. Diese Zeit hat mich durchaus geprägt. Später, als meine geliebten Töchter in Mailand und London studierten, genoss ich es, sie so oft wie möglich dort zu besuchen. Internationalität zog und zieht mich stets magisch an. Vielleicht ein genetisches Erbe der Wagners, die es seit jeher in die Ferne zog. Viel später sollte es mich noch weiter weg verschlagen, nämlich nach New York und San Francisco, wo mein zweiter Mann lebte.

Als meine Kinder zur Welt kamen, arbeitete ich als Dolmetscherin für internationale Konzerne und Beraterfirmen, so konnte ich mir meine Zeit gut einteilen, denn ich wollte für meine geliebten Töchter möglichst viel da sein. Mit der Zeit langweilte es mich aber, immer nur zu wiederholen, was andere sagten. So nutze ich die Krise von 2008 und konzentrierte mich hauptberuflich auf mein ziemlich erfolgreiches Hobby: alte Ruinen zu kaufen und in diesen wunderschön restaurierte Wohnungen zu schaffen.

Mit Augustiner war ich da schon seit über drei Jahrzehnten verbunden, zudem nahm ich seit 1995, als meine Mutter mir großzügigerweise einen Part ihrer Anteile an Augustiner übertragen hatte, meine Verpflichtung als Gesellschafterin immer mit echter Begeisterung und Freude wahr. Heute tue ich es mit unverminderter Leidenschaft hauptberuflich für unsere Stiftung.

Es erging mir ja schon bei meinem allerersten Besuch im Augustinerkeller – es war im September 1981 und der reizende alte Direktor Großmann begleitete mich – wie so vielen anderen vor mir: Ich verliebte mich in diese einmalige, unnachahmliche Brauerei! Sofort begeisterten mich die herrlich altmodischen Etiketten auf den Bierflaschen und der besondere Augustiner-Geist, der bis heute in den Hallen der Landsberger Straße weht. Es sind unsere Mitarbeiter, die mich damals wie heute berühren, echte Augustiner mit Leib und Seele, die mit so viel Leidenschaft für ihr Produkt stehen! Dieses Flair gelebter Geschichte, die perfekte Symbiose aus traditionellem Handwerk und modernster Technik, der unverwechselbare familiäre Geist – all dem kann sich kaum einer entziehen, der es einmal kennenlernen durfte.

In welcher Brauerei gibt es heute noch eine original erhaltene Empfangshalle, die einen beim Betreten sofort 200 Jahre zurückversetzt? Welche Braustätte beherbergt heutzutage so schöne Ställe für ihre Rösser? Und nicht zuletzt der wunderbare Geruch! Nicht einmal die Manner-Fabrik in Wien mit ihrem Duft nach Schokolade und gerösteten Haselnüssen kann mithalten mit dem herrlich süßen Aroma der Maische, das bei Niederdruck noch intensiver über dem Brauereigelände liegt.

So kam der Tag, den ich nie vergessen werde. Am 12. November 2013 ereilte mich völlig überraschend der Ruf von Dr. h.c. Ferdinand Schmid. Ich war auf der Autobahn – nicht zu langsam – nach München unterwegs, wo am nächsten Tag die Gesellschafterversammlung der Augustinerbrauerei stattfinden sollte. Es war ein sonniger, aber kalter Tag, mit Eis und Schnee auf den Straßen, als meine Mutter mich anrief und, mich kennend, meinte, ich solle bitte etwas bremsen, sie müsse mich nämlich etwas Wichtiges fragen. Sie sei gerade mit Lotte, der Schwester von Ferdinand, beim Mittagessen: Ihr Bruder hätte gerne mich als seine Nachfolgerin an der Spitze der Stiftung. Er würde nur, bitte, jetzt gleich eine Antwort erbeten, denn ein „Nein“ wolle er sich nicht persönlich anhören. Falls ich aber „Ja“ dazu sagen sollte, dann gelte die Einladung am Abend zu sich in seine Wohnung, wo auch der Notar anwesend sein und alles regeln werde.

Nun, viel Zeit nachzudenken wurde mir nicht gegeben. Ich überschlug schnell: Meine Kinder waren schon groß, ich fühlte mich ungebunden und empfand das Angebot nicht nur als Ehre, sondern als höchst verlockende und aufregende Herausforderung. Glücklicherweise ahnte ich nicht, wie sehr ich noch aus der Komfortzone meines schönen und recht unbeschwerten Lebens geholt werden sollte, und so sagte ich tatsächlich kurzerhand zu. Ich habe diese Entscheidung dennoch niemals bereut und bin meinem verehrten Vorgänger unendlich dankbar für sein Vertrauen in mich. Denn in meiner Funktion als Stiftungsvorständin habe ich das unglaubliche Glück, mit meinem großartigen Team Menschen Gutes zu tun und viel Positives bewirken zu können. Überdies darf ich auch noch mein liebstes Hobby ganz im Sinne unserer Stiftung ausleben und desolate Baudenkmäler vor dem Verfall retten.

Manch einer hat sich bestimmt gefragt, warum Ferdinand Schmid ausgerechnet mich ausgesucht hat: eine Frau, und Österreicherin dazu, als Mehrheitsvertreterin von Augustiner, der ältesten und dazu noch einzigen privaten Brauerei Münchens! Im konservativen Bayern – was für eine Subversion! Das war damals umso bemerkenswerter, als es jahrelang Spekulationen darüber gegeben hatte, wer denn nun Herrn Dr. h.c. Ferdinand Schmid in seiner Position als Erster Vorstand der Edith-Haberland-Wagner-Stiftung und damit Vertreter des Mehrheitseigentümers der Augustinerbrauerei nachfolgen sollte. So mancher Beirat der Stiftung war in diesem Zusammenhang genannt worden. Daher schien es auch mir bis zu jenem Tag gänzlich unvorstellbar, dass er mich auswählen könnte. Nun, Ferdinand Schmid hatte immer schon die starken Frauen bewundert, die von der Mitte des 19. Jahrhunderts an in entscheidenden Positionen in der Augustinerbrauerei mitgewirkt hatten, und wollte vielleicht diese Tradition fortsetzen. Im Nachhinein denke ich, dass für ihn auch ausschlaggebend war, dass wir die Leidenschaft für historische Gebäude teilten, jene alten Ruinen, die wir gerne in neuem Glanz erstrahlen ließen.

Aufgrund meiner großen neuen Aufgabe verbrachte ich nun viel Zeit in München und wusste doch wenig über die Münchner Wurzeln meiner Familie, über die Augustiner-Ahnen. Meine direkte Familie und mein Freundeskreis waren in Wien. So machte ich mich an einsamen Abenden auf Spurensuche nach meinen Vorfahren. Zuallererst studierte ich die alte Ahnentafel, die Giswalt von Trentini, der Biwi genannte Cousin meiner Großmutter, vor Jahren speziell für uns Junge rührend niedergeschrieben hatte. Das ließ jedoch noch kein Bild der handelnden Personen vor meinem inneren Auge entstehen. Daher nahm ich das Buch meines Großvaters Heinrich von Fürer-Haimendorf zur Hand, in der Hoffnung, über diesen Teil der Familie mehr zu erfahren. Vielleicht hatte ich ja früher etwas überlesen. Doch allein der Titel sagt schon, dass ich hier nicht wirklich fündig werden konnte: „Es begann im alten Österreich – Heiteres aus ernsten Zeiten“.

Nun machte ich mich daran, unsere unzähligen alten Fotoalben durchzublättern. Wie begeisterten mich die kunstvollen Porträts der Damen in den schönen Kleidern, mit herrlichen Schleifen, großen Frisuren und prachtvollen Hüten, und die stolzen Herren in Pose mit der unerlässlichen Uhrenkette! Glücklicherweise waren oft die Namen der Porträtierten unter den Fotos zu lesen, und so nahmen die Personen hinter der Ahnentafel schon etwas Gestalt an. Die Persönlichkeit allerdings, das Wesen, der Charakter, das Temperament, wurden leider durch das damals übliche etwas artifizielle Posieren mit dem aufgesetzten feierlichen Blick kaschiert. Die vielen schon etwas natürlicheren Bilder meiner Großmutter Armgart mit ihrer Schwester entzückten mich besonders – auf einem stehen die kleinen Mädchen mit den perfekten Bob-Frisuren in Samtmäntelchen vor ihrem eleganten Münchner Zuhause. Ein späteres Foto meiner Großmutter begeistertet mich als leidenschaftliche Skifahrerin nach wie vor am meisten: Es zeigt sie als junge Frau lachend und derangiert nach einem Sturz im Schnee.

Nun, da ich merkte, wie viel diese Bilder in mir auslösten, ging ich in die Kammer, in der wir in der Stiftung die Gemälde von Edith Haberland-Wagner aufbewahren, unserer Gründerin, die seinerzeit als Künstlerin bei Schülern des Münchener Kreises Malunterricht genommen hatte. Zuerst stieß ich auf schöne moderne Werke, die friedliche Landschaften zeigten, und verstand, warum sich meine Kunst sammelnde Mutter immer ein Bild von Edith gewünscht hatte; die Künstlerin hatte sich jedoch von ihren „Kindern“ nie trennen wollen. Dann entdeckte ich eine Reihe zutiefst beunruhigender Bilder, die sicher nicht nur auf den Einfluss Edvard Munchs zurückzuführen waren, sondern, nach meinem Eindruck, großes Leid widerspiegeln mussten. Je mehr ich fand, desto neugieriger wurde ich.

Da ich ausnahmsweise an einem Wochenende in München blieb, machte ich mich an einem Freitag spätabends im Bureau an die zwei alten Koffer, die bei uns im Safe-Raum schon lange auf mich warteten. Der erste, dessen Inhalt ich auf meinem Besprechungstisch ausbreitete, enthielt eine Ansammlung von hunderten Briefkuverts, die ich zuerst unsystematisch durchsah. Dann stach mir die unverkennbare Schrift meines Großvaters ins Auge. Es war ein Kondolenzschreiben zum Tod Richard Wagners, der Vater jenes Rudolf Wagners, der, wie anfangs erwähnt, ohne Testament gestorben ist. Nie zuvor hatte ich einen so berührenden und schönen Beileidsbrief gelesen. Mit jeder neuen Zeile fühlte ich mich tiefer in die Zeit zurückversetzt, ich spürte förmlich den Geist, der damals wehte, und was für ein beeindruckender, ungebeugter Mann Richard gewesen sein muss. Wonach ich gesucht hatte – meine Ahnen, die Menschen hinter Augustiner, ihre Eigenheiten und Wesenszüge –, nahm in diesem Augenblick Gestalt an.

Ich suchte weiter und stieß auf einen Brief meiner Großmutter, der mehr über die Adressatin als über die Verfasserin selbst aussagte. Er war an Richards Frau Emmi gerichtet und in einem sehr ungewöhnlichen, weil auffallend distanziert-respektvollen Ton verfasst. Meine herzliche, liebenswürdige Großmutter schilderte darin zuerst ihre große Freude über ihre lustige kleine Tochter und bat dann am Ende besonders höflich um Unterlagen über die gemeinsamen Wagner-Vorfahren; offensichtlich ist Emmi der Bitte meiner Großmutter nicht nachgekommen, denn sonst hätte im Buch meines Großvaters mehr über die Wagners gestanden.

Also waren meine Großeltern schon damals vor über 80 Jahren auf Spurensuche nach den Vorfahren gewesen! Was für ein Auftrag an mich! Ich war überwältigt und sah es nun erst recht als meine Aufgabe an, hier endgültig Licht ins Dunkel zu bringen.

In diesem ersten Koffer, der bereits so viele Schätze preisgegeben hatte, fand ich sogar noch ungeöffnete Briefe, die ich – im Sinne meiner neuen Mission wenig diskret – zum ersten Mal nach fast 100 Jahren öffnete. Unnötig zu sagen, dass ich so gefesselt war, dass ich mein gesamtes Wochenende mit meinen Ahnen und diesen zwei Koffern verbrachte. Der nicht ganz zufälligerweise in der Stiftung immer vorhandene Vorrat meines Lieblingsbieres von Augustiner, der Maximator, und meine Lieblingspralinen aus feinstem Nougat waren meine einzigen Stützen. Dem edlen Spender des damals genossenen Konfekts setze ich hiermit ein Denkmal, weil er mir statt eines der vielen intellektuellen Bücher, die ich sonst immer geschenkt bekomme, etwas wirklich Gescheites mitgebracht hatte!

Als ich mich in der darauffolgenden Woche bei erster Gelegenheit wieder auf ein Rendezvous mit meinen Ahnen einlassen wollte, bat mich mein von mir überaus geschätzter Kollege in der Stiftung so eindringlich – ein „Nein“ ließ er einfach nicht gelten –, mich bei einer Veranstaltung von Geschäftspartnern zu zeigen, dass ich es ihm nicht abschlagen konnte. Ziemlich unmotiviert ging ich also ihm zuliebe mit, in dem Gefühl, wirklich etwas zu versäumen. Doch dieser Abend wird mir unvergesslich bleiben: Ich begegnete einem auf den ersten Blick etwas arrogant wirkenden, gutaussehenden Herrn, der mich köstlich unterhielt. Er, der in einem archaischen Beruf die Verantwortung für rund 3.000 zu über 99 Prozent männliche Mitarbeiter trägt, veranschaulichte mir trocken, herrlich witzig und anhand von konkreten Beispielen die bei Machiavelli ausführlich beschriebenen Machtdynamiken. Wie doch kleine Zufälle unserem Leben völlig neue Wendungen geben! Das war bei meinen Vorfahren nicht anders.

Auf der weiteren Reise zu meinen Wurzeln wurde mir nun zweierlei bewusst: wie schnell ein Menschenleben vergeht und wie sehr wir von den Schicksalsschlägen unserer Ahnen und von unserer Vergangenheit geprägt werden.

Manche Überraschung tauchte auf. So entpuppte sich der in der Familie totgeschwiegene kommunistische Vater meiner Großmutter, der übrigens ohne jeden Skrupel von dem Geld seiner reichen Frau gelebt hatte, nicht nur als Kriegsminister der Münchner Räterepublik, sondern auch als Held im Widerstand gegen die Nationalsozialisten.

Ich kam meinen Ahnen immer näher, sie waren längst greifbare Menschen aus Fleisch und Blut geworden. Doch dann kam eine neue Herausforderung auf mich zu: Die diversen Lebenslinien dieser vielen interessanten Persönlichkeiten blieben noch allzu unzusammenhängende Einzelschicksale. So beschloss ich, mein bislang von faszinierenden Zufallsfunden geleitetes Projekt etwas strategischer und mit Unterstützung anzugehen.

Interessanterweise konnten mir die befragten Historiker nicht in dem Maße weiterhelfen wie erhofft. Also durchforsteten unsere Mitarbeiter mit Akribie und Begeisterung die lange unangetasteten Unterlagen und waren bald von dem Thema dermaßen gepackt, dass sie über unser hauseigenes Archiv hinaus in städtischen und staatlichen Archiven weitere Informationen suchten und fanden. Wir konnten gemeinsam gerade noch in letzter Minute Zeitzeugen befragen, die uns mit Freude wunderbare Geschichten aus der „alten Zeit“ anvertrauten, die sonst unwiederbringlich verloren gegangen wären, z. B. die des so originellen Wirte-Napoleons Süßmeier.

Ich bin sehr dankbar, dass es gelungen ist, die vielen Lebenslinien der durchaus extravaganten Persönlichkeiten der Wagner-Familie zu einem Ganzen zusammenzuführen. So kann ich Ihnen voll Freude dieses Werk präsentieren, das von den Anfängen meiner Familie als Wirte und Brauherren in Bayern und München erzählt, von den Schicksalen der nachfolgenden Generationen, von „Thereses Töchtern“, und dabei auch den erfolgreichen Weg des Unternehmens Augustiner bis in die heutige Zeit verfolgt.

Die Augustinerbrauerei an der Landsberger Straße, Ende des 19. Jahrhunderts

Eine wesentliche Rolle spielt hier natürlich die Gründerin unserer Stiftung, Edith Haberland-Wagner, eine Künstlerin und Philanthropin, die trotz ihres hohen Alters die schwere Last der sozialen Verantwortung als Unternehmerin annahm und mehr als erfüllte. Am 4. Dezember 2021 blickt die nach ihr benannte Stiftung auf 25 eindrucksvolle, fruchtbare Jahre zurück und tatendurstig in die Zukunft. Ediths Erbe hat Bestand.

Lassen Sie sich in die Ursprünge der Augustinerbrauerei entführen, in eine Zeit, in der sich so viele technische Neuerungen in einer so kurzen Zeitspanne entwickelten, wie in keinem anderen Jahrhundert je zuvor. Eine Zeit, in der vor allem Frauen es weit schwerer hatten als heute. Umso bewundernswerter bleibt für mich, wie sich Therese Wagner in diesem Umfeld als hochmoderne Bräuin durchsetzte und die Augustinerbrauerei sogar zur Schwelle der Großbrauerei führte. Sie inspiriert mich, macht mir Mut, es mit Humor zu nehmen, wenn Ewiggestrige Frauen doch lieber am Herd als an der Spitze einer Brauerei sehen.

Jene vergessen hier nur, dass das Bierbrauen am heimischen Herd doch immer schon Frauensache war!

PROLOG: EDITH, BERLIN 1990

Der klare Blick für die Dinge, die unsere Familie bewegten – kam er mir bereits als junge Frau abhanden oder habe ich ihn nie besessen? Wir Wagners haben über Generationen daran gearbeitet, uns hart zu machen, nach außen hin scheinbar ungerührt zu sein. Was uns störte, haben wir versucht mit aller Macht zu ändern; misslang dies, sahen wir lieber nicht so genau hin. Wer sich unserem geschäftlichen Erfolg in den Weg stellte, dem begegneten wir mit unternehmerischer Stärke, mit einfallsreicher wie zwingender Überzeugung. Blieb es beim Widerstand, konnte die Familie zum Äußersten greifen und den Stab über ihre Gegner brechen – selbst, wenn es sich um die geliebte Schwester oder den älteren Bruder handelte, zu dem man einst bewundernd aufgeblickt hatte.

Wie geht man mit Familiengeschichte um, wie findet man Antworten auf Fragen, deren Last von Generation zu Generation zunimmt?

Ich hatte eine liebste Freundin. Sie hieß Lilo, eine Malerin, weit talentierter als ich. Vor Kurzem ist sie von mir gegangen. Viel zu früh.

Lilo war ein Jahrzehnt jünger als ich. Und um Lichtjahre weiser. Es hätte ihr gefallen, an dem Abend, als diese Zeilen entstehen, mit mir hier in Berlin zu sitzen und ein Wunder zu bestaunen. Die Mauer ist gefallen, vor sechs Wochen. Und ich bin in die Stadt zurückgekehrt, die mir einst die Liebe meines Lebens geschenkt hat. Damals, in den schillernden Zwanzigern, war mein Aufbruch von München nach Berlin auch ein Ausbruch. Unstillbare jugendliche Sehnsucht nach einem aufregenden Leben und einer Karriere als Sängerin drängten mich vorwärts – genauso stark jedoch wog der Impuls, vor einem Familiendrama zu fliehen, dessen Vorzeichen unübersehbar waren.

Das ganze Land kennt unser Augustinerbier, doch kaum jemand die Brauerdynastie Wagner, die seit achtzehnhundertneunundzwanzig die Geschicke der Münchner Brauerei leitet, die längste Zeit als Alleininhaber, zuletzt als Mehrheitseigentümer. Der innere Kreis der Münchner Familie hielt mehr als hundert Jahre lang eng zusammen, bis zwei Kriege und die Weltwirtschaftskrise die Einheit sprengten. Drei menschengemachte Katastrophen, die das goldene Zeitalter der Münchner Brauereien vorerst beendeten.

Wenn ich vom Kern der Familie spreche, meine ich die Oberhäupter – Männer wie Frauen. Denn in der Augustinerdynastie hatten häufig die Frauen das Sagen. Auch wenn das von außen nicht immer ersichtlich war. Ich vermute, wir scheuten die Öffentlichkeit, weil es uns schwerfiel, Vertrauen zu fassen – zu Außenstehenden, manchmal sogar zu engsten Verwandten. Anfangs beanspruchte uns der gesellschaftliche Aufstieg zu sehr, der Ende des achtzehnten Jahrhunderts in einer Freisinger Mühle und einem Attachinger Wirtshaus begonnen hatte: Therese und Anton arbeiteten Tag und Nacht, suchten fast fieberhaft nach neuen Chancen. Ihr Sohn Joseph und seine Frau Bertha – meine Großeltern – bauten das Erreichte mit viel Fleiß aus. Mein Vater Max und sein Bruder Richard traten in die großen Fußstapfen Josephs, der die Brauerei von Therese geerbt hatte; spät – als fast Vierzigjähriger – hatte er den Stab übernommen und Augustiner mutig ins industrielle Zeitalter geführt. Zuletzt tat er es seiner Mutter gleich und ließ sich viel Zeit, ehe er den Sprösslingen Max und Richard unternehmerische Verantwortung übertrug.

Joseph war es, der Augustiner zu einem der größten Bierhersteller im Deutschen Kaiserreich machte und sich den Markennamen in den Vereinigten Staaten patentieren ließ. Sein Vermögen vererbte er zu gleichen Teilen an seine Töchter Sophie, Lili und Berta sowie an die Söhne Max und Richard. Bis in die Gegenwart zieren die Initialen J.W. das Signet der Augustinerbrauerei.

Ab der Jahrhundertwende führten die Brüder die Geschicke des Betriebs gemeinsam und ließen sich stolz im beliebten Buch der bayerischen Millionäre eintragen. Auch die Schwestern waren an Augustiner gleichberechtigt beteiligt, so hatte es der Patriarch testamentarisch bestimmt.

Wie lange mag es dauern, bis einem die eigene Familie fremd wird? Bei mir zogen gut zwanzig Jahre vorüber, ehe das Bild der Verwandten verblasste. Es waren bewegte Zeiten, die Jahre der Weimarer Republik und des braunen Terrors der Nazis, die den Traum von der Demokratie in Deutschland brachial beendeten und die Welt ins Verderben stürzten.

Als sich der Streit um die Firmenanteile zwischen den Wagnerschwestern und ihren Brüdern zuspitzte, weigerte ich mich, Partei zu ergreifen. Zu bitterernst und zuwider war mir dieses Tauziehen und ohnehin lebte ich fern von München, in sicherer Distanz zum Disput der Geschwister. Das aufregende, laute Berlin hatte die einstige Kunststadt München längst kulturell überflügelt. Meine neue Heimat war Metropole, man nannte sie damals in einem Atemzug mit London und New York.

Berlin zog mich ganz in seinen Bann, ein idealer Ort des Vergessens. Doch als Tochter von Max Wagner konnte ich die Gräben, die sich in Bayern auftaten, nicht auf ewig verdrängen. Langsam, ganz langsam wurden sie breiter und tiefer. Als meine Tanten darauf bestanden, sich von meinem Vater und Onkel Richard auszahlen zu lassen, brach die Familie auseinander. Es war die Zeit nach der Hyperinflation, kurz vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise. Die Schwestern trieben die Augustinerbrauerei mit ihrem Ausstieg an den Rand des Ruins.

Ich konnte das alles nur schwer ertragen. Ich liebte meine Eltern, ebenso aber meine feinsinnige und kämpferische Tante Sophie, eine Frauenrechtlerin der ersten Stunde, die ich für ihren Mut und Einsatz bewunderte. Obendrein war sie die Taufpatin meiner Schwester Sophie. Lange hatte sich unsere Tante bei Max und Richard für eine gerechte Bezahlung der Kellnerinnen eingesetzt und den Brüdern auch in anderen Belangen den Spiegel vorgehalten. Vielleicht war das familiäre und damit verbundene wirtschaftliche Desaster vorbestimmt?

Nur durch eisernes Sparen gelang es Vater und Onkel Richard, die Brauerei als eigenständigen Betrieb zu erhalten. Ich hatte zwischenzeitlich Dresden für mich entdeckt, war dann wieder zurück nach Berlin gezogen, malte und tanzte mit meinem frohgemuten Mann leicht durchs Leben. Aus der Ferne betrachtet fühlte sich das Augustinerdrama gar nicht so existenzbedrohend an wie es in Wirklichkeit war. Eine vergängliche Leichtigkeit.

Nach dem Tod meines Vaters neunzehnhunderteinundvierzig wurden meine Schwester Sophie und ich Teilhaberinnen der Augustinerbrauerei. Ich konnte nicht mehr aus. Und wurde Zeugin einer der schmerzhaftesten Episoden der Familiengeschichte in der Linie meines Onkels Richard, der viel zu früh seine geliebte Tochter verlor. Schwer wie Blei lastete die Trauer auf seinen Schultern, kaum zu ertragen – auch für mich. Und trotzdem gelang es mir einmal mehr, mich zu verschließen, denn um den Bombenangriffen der Alliierten zu entgehen, floh ich in die Abgeschiedenheit der kleinen Ostseeinsel Hiddensee.

Als ich nach dem Kriegsende nach Bayern zurückkehrte, geriet ich mitten hinein in den neu aufgeflammten Streit, mein Anteil an Augustiner hatte sich nach dem viel zu frühen Tod meiner Schwester abermals vergrößert. Ich musste Position beziehen, mit dem Machtmenschen Richard zähe Auseinandersetzungen über Geschäftliches führen. Irgendwann hatte ich genug von den nervtötenden Reibereien und verkaufte meinen Firmenanteil gegen eine Leibrente an Tante Emmi, Richards Frau.

Mit dem Verzicht hatte ich mich endgültig von Augustiner verabschiedet – so dachte ich. Doch eines Tages neunzehnhunderteinundachtzig wurde ich zum zweiten Mal eine reiche Frau. Mein Cousin Rudolf Wagner, der Sohn Richards und Emmis, der nach beider Tod zum Alleinbesitzer von Augustiner aufgestiegen war, erlag einer schweren Krankheit. Er starb ohne Nachkommen. Und ohne ein Testament zu hinterlassen.

Nun stand ich plötzlich am Ruder von Augustiner, als Frau von zweiundachtzig Jahren, mit einem Unternehmensanteil von fünfzig Prozent. Der Rest fiel an die Nachkommen meiner so geliebten Tante Sophie, der Frauenrechtlerin.

Und da tauchten sie wieder auf, all die Fragen zur Geschichte der Familie Wagner – meiner Familie, selbst wenn ich stolz meinen angeheirateten Namen Haberland trage. Ungewissheiten, die ich jahrzehntelang ausgeblendet hatte, begannen, mich wieder zu beschäftigen. Eine trieb mich besonders um: Wie hatte sich Urgroßmutter Therese nach Antons Tod achtzehnhundertvierundvierzig im harten Münchner Braugeschäft als Chefin durchsetzen können, zu einer Zeit, die Frauen kaum Rechte zugestand? Mit ihr hatte alles angefangen. Könnte ich es ihr gleichtun?

Ich denke an das funkelnde Berlin der Weimarer Republik, eine Stadt mit den besten Bühnen des Landes und einem Nachtleben von Weltruf, ein ewiges Fest, das wir auskosteten. Nun herrscht wieder Aufbruchstimmung. Berlin hat die Teilung überwunden, die Leute taumeln im historischen Glück. Seit Wochen feiern sie, fallen sich in die Arme. Junge und Alte tanzen die Nächte durch, schmieden voller Zukunftstrunkenheit große Pläne. Meiner liebsten Freundin Lilo hätte dieser Zauber ebenso gefallen wie mir.

Ich vermisse meine Weggefährtin so sehr. Wenn Lilo und ich über die Mosaiksteinchen meiner Familiengeschichte redeten, drehte sich das Gespräch am Ende immer im Kreis, stockte in Vermutungen, verharrte an den großen Brüchen. Wir rätselten, was Urgroßmutter Therese, die aus bestem Hause stammende Großmutter Bertha oder die Tanten bewegt haben könnte. Lilos Lieblingssatz lautete: Weißt du, Edith, du musst in den Schuhen des anderen wandern, wenn du sein Leben wirklich verstehen willst.

Was mache ich nur ohne dich, meine Lilo? Nun, ich höre endlich auf deinen Rat und mache mich auf den Weg.

Porträts des jungen Ehepaars Therese …

… und Anton Wagner, 1818

Das Augustiner-Stammhaus in der Münchner Altstadt

MÜNCHEN 1844

Die Witwe Wagner rang nach Luft. Es war, als hätte sich in ihrem Hals ein widerlicher Geruch festgesetzt, der ihr das Atmen erschwerte. Die Not hatte sie scheinbar aus dem Nichts angefallen, die Luft wurde drückend, die Wände ragten drohend auf und ihr schwindelte. Sie zögerte keine Sekunde länger und hastete, begleitet von den verwunderten Blicken ihrer Angestellten, auf den Ausgang des Brauhauses zu.

Mit beiden Händen stieß sie die Flügeltür aus dunklem Holz auf und stürzte hinaus in einen kühlen Münchner Frühlingsmorgen. Erst auf dem Trottoir hielt Therese Wagner inne, schloss die Augen und trank die frische Morgenluft wie eine Verdurstende rettendes Wasser.

Nach zwei tiefen Atemzügen fühlte sie sich befreit, straffte die Schultern und blieb trotzdem blind für das bunte Leben, das vor ihr in der Neuhausergasse pulsierte: Unter einem hellblauen Himmel von makellosem Glanz floss an diesem Markttag ein Strom von Händlern, Gehilfen und Handwerkern durch die Hauptschlagader des Münchner Lebens. Es war der erste Juni, Spätfrühling, ein für die Jahreszeit ungewöhnlich kalter Samstag. Fuhrwerke und Handkarren rumpelten über das Pflaster, Tauben pickten nach herabgefallenem Korn. Alles strebte zu den nahen Marktplätzen im Herzen der Isarstadt. Ein ganzes Regiment von Kaufleuten, viele mit Zylindern auf den Köpfen, brachte adrett verschnürte und gestempelte Säcke voller Weizen, Roggen, Hafer und Gerste zur Schranne, wo eine vergoldete Jungfrau Maria, die auf einer Marmorsäule thronte, den Tausch von Getreide gegen Geld bewachte. Unter dem Zepter der Muttergottes blühte der Handel; der Schrannenplatz genoss Bekanntheit als größter Getreidemarkt weit und breit. Das Gewimmel zwischen gestapelten und aufgereihten Säcken und Körben, die Karren und Pferde gleich dahinter, war bereits vor Jahren undurchdringbar geworden. König und Magistrat hatten den Lebensmittelhändlern einen neuen Platz zugewiesen. Sie mussten ihre Körbe nun ein Stück weiter bis zum Rathaus mit dem Zwiebelturm schleppen, rechts abbiegen und sich auf dem Viktualienmarkt postieren. Immerhin hatten die Bauern und Händler am neuen Standort Holzbuden errichten dürfen. Deren Auslagen verströmten an diesem Tag den Geruch von Sauerkraut, Käse und Fisch, aber auch feinere Düfte wie der Hauch frischer Erdbeeren und eine sanft kitzelnde Brise voller Gewürze wehten über den Markt.

Die Luft war eine Wohltat für Therese, die wochenlang in einem stickigen Zimmer am Krankenbett Antons gewacht hatte: Sie hatte dem Atem ihres Mannes gelauscht, seine Hand gehalten, seine Arme gestreichelt, die so dünn geworden waren. Dennoch hatte sie weiter gehofft, den Schwerkranken getröstet, wenn der abscheuliche Husten gekommen war, dieses Bellen, das blutige Körperflüssigkeiten aus den Tiefen der Eingeweide emporschleuderte. Nach solchen Anfällen war Anton meist in einen tiefen Schlaf gefallen. Nur dann hatte Therese es sich erlaubt, Schwäche zu zeigen und den Tränen freien Lauf zu lassen. All diesen Stunden haftete der stechende Geruch von Karbol und Chlorkalk an.

Nach acht Wochen in der Ziemssenklinik hatten die Ärzte jede Hoffnung aufgegeben, die Lungensucht Anton Wagners heilen zu können. Sie schickten den Siechenden nach Hause; Karbolspray zur Desinfektion des Raumes und Chlorkalk zum Reinigen der Hände gaben sie Therese mit. Einmal täglich kam nun ein Arzt zur Augustinerbrauerei, stieg schweren Schrittes die steilen Treppen zur zweiten Etage hinauf und klopfte dumpf an die Tür des Schlafzimmers. Mit eiserner Routine nahm er einen Arm des Todkranken und injizierte Morphium.

Therese hielt in diesen Momenten unwillkürlich den Atem an – bis sich Antons verkrampfte Gesichtszüge entspannten. Das Rauschmittel pustete die Schmerzen hinweg wie der Münchner Föhnwind im Frühjahr die Kälte. Wenn dann Antons Augenlider schwerer wurden, betrachtete Therese die Hände ihres Mannes, die er über Kreuz vor der Brust verschränkt hatte als müsste er sich selbst festhalten. Wie liebte sie diese starken Hände, die zupacken konnten, aber auch immer voller Zärtlichkeit gewesen waren. So schwach hatte sie ihren Mann in dreiundzwanzig Ehejahren nicht gesehen.

Manchmal, wenn er schlief, begann Therese zu beten. Dabei fiel es ihr zunehmend schwerer, an einen Gott zu glauben. Der hatte sieben ihrer zwölf Kinder weit vor der Zeit zu sich geholt. Drei der sieben Buben, denen sie das Licht der Welt geschenkt hatte, waren auf den Namen Augustin getauft worden – keiner der drei hatte überlebt. So viel verlorenes Kinderlachen. Therese hätte es nicht ertragen, wäre Anton nicht an ihrer Seite gewesen. Nachdem sich abzeichnete, wie ernst es um Anton stand, drängte Thereses ältester Sohn Joseph die Mutter, ihm die Brauerei anzuvertrauen: „So kannst du dich ganz um Vater kümmern.“

„Das kannst vergessen, Bub“, wies sie ihn scharf zurück. „Einen Teufel werd ich tun und deine drei Brüder benachteiligen.“ Zwei Dinge standen für die Bräuin fest: Ihre Söhne sollten allesamt in anderen Betrieben Erfahrung sammeln, ehe sie im familieneigenen Brauhaus zu arbeiten begannen; Anton und Max besuchten die Universität, sie würden noch einige Semester brauchen, und der häufig kränkelnde Franz hatte mit einer kaufmännischen Ausbildung im Kontor eines Hopfenhändlers begonnen. Noch wichtiger war es Therese aber, ihre jungen Männer in guten Händen zu sehen. Ohne vernünftige Frau an ihrer Seite brauchte keiner der vier nach der Macht in der Brauerei zu greifen. Und es müssten Frauen sein, die der gesamten Familie etwas zu geben hatten. Sie und Anton hatten sich beflügelt, weil sie gemeinsam etwas erreichen wollten. So sollte es auch bei den Kindern sein.

Meine Urgroßmutter und mein Urgroßvater waren ein grandioses Gespann. Sie stammten vom Land, konnten ihr Leben lang gemeinsam über die Arroganz der Großstädter lachen und ihnen, wenn nötig, zeigen, wie ein gestandener Wirtssohn und eine selbstbewusste Müllerstochter sich holten, was ihnen zustand. Mit Anton war Therese geschäftlich von Erfolg zu Erfolg geeilt, bis hierher nach München, wo sie es nach demKauf des Augustinerbräu vor fünfzehn Jahren geschafft hatten, den guten Ruf des Klosterbiers neu aufleben zu lassen. Sie hatten den Gerstensaft wieder so beliebt gemacht, wie er es in München zur Zeit der vielen Klöster gewesen war. Jener Zeit, in der sich selbst die bayerischen Herzöge von den Augustinermönchen Bier hatten liefern lassen, noch bevor einer von ihnen begonnen hatte, in den Städten seines Landes eigene Hofbräuhäuser zu errichten. Über jenes in München kursierte eine Geschichte, die meine Urgroßeltern besonders liebten: Mit dem Gerstensaft seines royalen Brauhauses hatte der König eines eiskalten Tages im Januar achtzehndreiundzwanzig den Brand im Nationaltheater bekämpfen lassen – die Löschteiche waren nämlich zugefroren. Der Erzählung nach konnte immerhin die Hälfte der Oper mithilfe des Hofbräubieres vor den Flammen gerettet werden.

Die letzten Tage von Anton Wagner waren von rauschhaftem Glück durchtränkt, er war viel wach, klagte kaum – zumindest das. Am Pfingstmontag kam der Arzt mit dem wohltuenden Gift bald nach Sonnenaufgang und noch bevor die Glocken der Frauenkirche das Mittagsläuten anstimmten, schloss der Augustinerbräu die Augen für immer.

Therese musste Abschied nehmen. Sie bat Gott darum, er möge Anton Frieden schenken. Und sie bat ihn um Kraft für sich selbst, damit sie stark genug würde, um ohne ihre zweite Hälfte weiterzumachen. Früh, viel zu früh, hatte ihr Mann sie verlassen. Ausgerechnet jetzt, da immer mehr Leute anfingen, in den Gasthäusern ihr mitgebrachtes Essen auszupacken, weil das Geld knapp war. „Trinkende Gäste sind besser als keine Gäste“, pflegte Anton zu sagen – doch der Magistrat hatte mit Strafgeldern gedroht und die Wirte gezwungen, einzuschreiten. Lebensmittelkrawalle machten die Stadt unsicher und die Umsätze schrumpften, dabei war es an der Zeit, das Brauhaus mit modernen Maschinen auszustatten, um mit der Konkurrenz mithalten zu können.

Joseph formulierte eine Trauerannonce und brachte sie zur Zeitung. Das Datum der Beisetzung hielten die Wagners geheim, sie wollten unter sich bleiben. Die Familie, die treuesten Mitarbeiter – so hatte es sich Anton gewünscht, denn die alteingesessenen Brauer Münchens hatten es dem aufstrebenden Neuling aus der Provinz nie leicht gemacht. Die Zunft der Münchner Brauer war stolz und standesbewusst. Ein „Zuagroaster“, ein Fremder, bekam schnell Missgunst zu spüren, selbst wenn er aus dem nahen Freising stammte. Anerkennung, wenn sie einem Brauer jenseits der Stadtgrenze überhaupt zuteilwurde, musste hart erkämpft werden. Anton hatte sich mit Fleiß, Qualität und einer guten Portion Gerissenheit Achtung verschafft. Die einst Übelwollenden auf seinem Leichenschmaus zu wissen, hätte ihm dennoch keine Freude bereitet.

Zur Beerdigung Valentin Wagners – Antons Urgroßvater – hatte die Familie einst ein Gedicht in Auftrag gegeben, das zur Beerdigung siebzehnhundertachtundvierzig auf die Grabplatte gemeißelt worden war.

Stehe still, Wandersmann, und betracht

Wen der Todt in dieses Grab gebracht.

Sich einen Mann von besten Jahren

that er so Ybel widerfahren.

Nit sechzig Jahr that er erreichen

Zwang er ihn schon von hier zu weichen

Mit der Kinder gresten Hertzens Leyd,

denen er war die eintzige Freud.

Valentin Wagner war dieser Mann,

der allen hat Liebs und Guatts gethan.

Adeching kann da Zeignis geben

negste Gegendt wird’s beweisn eben.

Anton hatte die Gedenktafel, die an der Attachinger Kirchmauer einen Platz für die Ewigkeit gefunden hatte, häufig spaßeshalber erwähnt und nie vergessen zu betonen, die Familie solle am Ende seiner Tage gefälligst auf so ein Brimborium verzichten.

Nun denn. Therese wollte sichergehen, dass ihr Mann auch ohne Epitaph in bester Erinnerung bleiben würde. Sie ließ es sich nicht nehmen, Antons Leiche selbst zu waschen und für die Beisetzung einzukleiden. Fesch sollte er bei seinem letzten Auftritt sein, so wie er es vor dieser verfluchten Krankheit immer gewesen war, ein Mannsbild, das sich geschmackvoll zu kleiden wusste und keine Ratschläge und Anweisungen brauchte. Meistens jedenfalls.

Am Freitag trug die Familie ihn auf dem südlichen Friedhof zu Grabe. Der kleine Trauerzug zum Gottesacker führte durchs Sendlinger Tor hinaus. Von da an säumten Wiesen und Bäume Antons letzten Weg, nur vereinzelt kondolierten Häuser. Bald waren Sankt Stephan und der Gottesacker erreicht, wo Münchner Großbürger ihre letzte Ruhe fanden. Hier, an der Straße nach Thalkirchen, lagen auch die Massengräber der mehr als fünfzehntausend Pestopfer des siebzehnten Jahrhunderts und die letzte Ruhestätte eines Großteils der elfhundert Gefallenen der Sendlinger Mordweihnacht siebzehnhundertfünf.

Als die Bestattungshelfer den Sarg Antons an Seilen langsam ins Erdreich gleiten ließen, brach Therese unter Tränen zusammen – hätten ihre Söhne sie nicht gehalten, sie wäre zu Boden gegangen. Stumm traten die Trauernden den Rückweg an. Ein schwerer Gang im Schatten der frisch erblühten Eichen, in ein neues Leben.

Wie in den Nächten zuvor tat Therese auch nach der Bestattung kein Auge zu. Sie saß am Fenster ihres Schlafzimmers und schaute in den dunklen Himmel. Doch in dieser Nacht hatte sie Gesellschaft: Die von den Zeitungen angekündigte totale Mondfinsternis hielt viele Münchner wach. Therese war nicht nach Spektakel zumute. Vielmehr vermisste sie den sanften Trost des Mondlichts. Als die Verfinsterung des Erdtrabanten begann, raunte es „Aaahs“ und „Ooohs“ aus den Fenstern der Nachbarschaft. Therese war mit ihren Gedanken woanders. Erst als das Naturschauspiel in einem tiefschwarzen Punkt kulminierte, der wie ein abgrundtiefes Loch in der Mitte des Mondes klaffte, geriet sie kurz ins Staunen. Schwärzer als schwarz. Genauso sah es tief in ihr aus.

Nun blieben Therese der erstgeborene Joseph und dessen Brüder Anton, Max und Franz, mit zweiundzwanzig Jahren der jüngste der Söhne. Und es blieb ihr Anna Marie, das einzige, ihr allerliebstes Mädchen. „Mutter, wer passt jetzt auf die Gäste auf und sorgt dafür, dass alles friedlich bleibt?“, fragte die Kleine am Tag nach der Beerdigung.

„Ich werd das tun, mein Schatz“, entgegnete Therese und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. Einen Moment lang fühlte sie sich wie eine Nussschale in stürmischer See, ausgeliefert, hin- und hergeworfen von Verzweiflung und Trauer um den Toten, von Sorge um die Lebenden.

Dann strich sie Anna Marie durchs Haar, raffte sich auf und machte einen Rundgang durch die Brauerei. Sie wollte sich ablenken, auch Präsenz zeigen. Doch das nervöse Werkeln ihrer Arbeiter nahm sie kaum wahr. Auch die fragten sich, wie es nun mit Augustiner weitergehen würde.

Ja, wie? Anton Wagner war tot, die Witwe allein trug die Verantwortung, für ihre Familie, für ihren Betrieb. Auf die Anerkennung, die sich Anton hart erkämpft hatte, konnte sie nicht zählen. Das Brauwesen war ein raues Pflaster, Männersache, Frauen wurden allenfalls geduldet, selbst wenn sie mehr zum Erfolg des Betriebs beigetragen hatten als der Partner. Aber das sahen die Brauer nicht, wollten es nicht sehen, denn starke, selbstbestimmte Frauen hatten in ihrem Weltbild keinen Platz.

Thereses wusste von gerade einmal zwei Brauerinnen, die ihre Betriebe von den verstorbenen Männern übernommen hatten – eine solche traurige Erbschaft war die einzige Möglichkeit, als Frau in diesem Geschäft tätig zu werden, und zwar ausschließlich unter der Bedingung, dass es einen leiblichen Sohn gab, der in absehbarer Zukunft als Brauer nachrücken konnte. Die Schicksalsgefährtinnen Thereses leiteten kleine Hausbrauereien, die im Wettbewerb kaum eine Rolle spielten. Die Augustinerbrauerei dagegen war stadtbekannt und groß; Therese würde mit mehr Gegenwind von den Platzhirschen rechnen müssen.

Das Licht des hellen Tages, die Frische – es war, als durchzuckte ein Blitz die Witwe Wagner. Hinter ihr die schwere Tür zur Brauerei, ihre Flügel weit offen, vor ihr das pure Leben auf der Neuhausergasse. Gerade noch hatte ihr eine schier unerträgliche Last die Kehle zugeschnürt, nun begann sie, tiefer zu atmen.

Noch waren ihre Söhne nicht so weit. Sie musste das Erbe Antons antreten, den Betrieb leiten, ihn für ihre Kinder bewahren, bis die vier Buben sich vermählt hatten und nicht mehr allein im Leben standen. Wie wichtig es war, vorteilhaft zu heiraten, hatte Therese von ihrer Mutter gelernt: Maria Anna war eine Fischerstochter gewesen, die zur Besitzerin einer großen Mühle aufgestiegen war. Sie hatte es zu Ansehen und einem bescheidenen Reichtum gebracht. Doch ihr Leben war von harter Arbeit bestimmt gewesen. Eine Schufterei, die ihr Schwielen an den Händen und Schmerzen im Rücken beschert hatte. Ein Arzt hatte ihr Altersschwäche attestiert, da war sie gerade fünfzig Jahre alt geworden.

In der dritten Etage über der Schenke hatte Therese der Mutter ein hübsches und gemütliches Zimmer eingerichtet, zu dem die Gespräche der Gäste, das Geschrei der Brauburschen, Mägde und Bedienungen nicht allzu laut hinaufdrangen; zumindest im Alter sollte es die Veitsmüllerin kommod haben. Tochter und Schwiegersohn hatten sie verwöhnt und die Enkel, die Kleinen, waren groß darin gewesen, die Kränkelnde aufzumuntern. Die Großmutter hatte die Fürsorge genossen und sich erholt. Trotzdem hatte der schöne Lebensabend in München nach nur vier Jahren geendet – als Todesursache schrieb der Arzt auf den Schein: Erschöpfung.

Therese stand auf dem Trottoir und legte den Kopf in den Nacken: Würde sie sich durchsetzen können oder erwartete sie nun auch das baldige Altenteil? Das Witwenzimmer in der dritten Etage? Sie ließ die segenreiche Morgenluft in den Körper strömen und war bereit für einen Schwur: Keinesfalls würde sie zulassen, dass es ihr erging wie der Mutter. Niemals! „Ich werde weiterleben, gut leben“, nahm sich die Augustinerin vor. „Und den Betrieb werde ich genau so führen wie ich allein es für richtig halte.“

Ermutigt von ihrem Entschluss bahnte sie sich eine Schneise durch den Trubel, hinüber auf die andere Seite der Neuhausergasse, und reihte sich ein in den Strom der Marktleute. Vor der zur Mauthalle umfunktionierten Augustinerkirche blieb sie stehen und schaute in die Auslagen der Läden. Wo früher gebetet worden war, stapelten sich nun allerlei Waren aus fernen Gegenden, registriert von den städtischen Kommissaren und feilgeboten von Händlern, die sich in den Arkaden des einstigen Gotteshauses eingerichtet hatten.

In einer Ecke ihrer weitläufigen Klosteranlage brauten die Augustinermönche vermutlich bereits im dreizehnten Jahrhundert Bier. Und weil sie die meisten Fässer ihres Gerstensafts selbst tranken, achteten sie besonders auf Geschmack, Gehalt und Bekömmlichkeit. Generell betrachteten Mönche Bier als flüssige Speise. Denn in den meisten Klöstern durfte davon so viel getrunken werden wie es beliebte und so half dieses Getränk besonders gut durch die Fastenzeit. In Sachen Wein – der sich grundsätzlich größerer Beliebtheit erfreute – war Ordensbrüdern dagegen strenges Maßhalten vorgeschrieben.

Starke Klimaveränderungen machten im fünfzehnten Jahrhundert dem sogenannten Baierwein, der vor allem entlang der Donau angebaut und gekeltert worden war, ein Ende. Der feinere welsche Wein, südlich der Alpen gereift, war kostspielig. Das machte das beliebte Bier der Augustiner noch begehrter.

Im Sudhaus trugen die Mönche Schürzen über ihren Kutten und werkelten mit den traditionellen Brauwerkzeugen: langstieligen Schaufeln, Rührscheiten und Schöpfkellen. Ihr Grünmalz darrten sie in großen Pfannen über offenem Feuer und mahlten das geröstete Malz von Hand. Mit dem Scheit rührten sie das dickflüssige Gemisch aus Malzschrot und Wasser im Maischbottich um. Eine kraftzehrende Arbeit, die Präzision erforderte – gleichmäßige, fein abgestimmte Bewegungen mussten es sein. Nachdem die festen Bestandteile der Maische entfernt worden waren, gaben die Klosterbrüder die Flüssigkeit in den Läuterbottich, erhitzten sie und ließen sie anschließend durch ein Sieb ab. Erst musste die Würze abkühlen, dann wurde sie in der Sudpfanneunter Zugabe von Hopfen abermals erwärmt. Nach dem Erkalten kam der Gerstensaft in den Gärbottich, wo Hefebakterien aus der Raumluft in die Flüssigkeit gelangten und den Malzzucker in Alkohol umwandelten. Bei der Gärung bildete sich Kohlensäure und weißer Schaum, den die Braumönche abschöpften.

Was genau da im Bottich geschah, galt lange Zeit als höhere Fügung. Weder die Wissenschaft noch brauende Ordensbrüder oder private Brauer wussten damals über die chemischen Prozesse Bescheid. Aber die Erfahrung lehrte zum Beispiel die Augustiner: Das Bier gelang besonders gut, wenn sich die Klosterbackstube nah am Sudhaus befand.

Nachdem die Gärung abgeschlossen war, wurde das Bier in Fässer gefüllt und reifte aus.

Für die Existenz eines Bettelordens wie dem der Münchner Augustiner erwiesen sich die Einkünfte aus der Brauerei als unverzichtbar. Ihr Bier mundete den Münchnern, sodass die Ordensbrüder bald viele Holzfässer zu füllen hatten, die sie über den Hof zur Schenke rollten.

Der erste schriftliche Beleg eines Augustinerausschanks datiert im Übrigen aus dem Jahr dreizehnhundertachtundzwanzig, was die Brauerei meiner Familie zur ältesten Münchens macht.

Nachdem die Säkularisation zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts die Abteien leer gefegt hatte, sah es zunächst so aus, als wäre dem Augustinerkloster in München dennoch eine Zukunft beschieden: Alle bayerischen Augustiner, die ihrem Mönchsschwur treu bleiben wollten, mussten achtzehnhundertzwei nach München ziehen. Doch ein Jahr später wurde auch das provisorische Zentralkloster geschlossen, die gesamte Ausstattung der Kirche kam unter den Hammer. Eine eigens eingerichtete Klosterkommission verpachtete das Brauhaus im Oktober achtzehnhundertdrei zunächst an einen Vohburger Bierbrauer, der sich jedoch nach wenigen Wochen als unzuverlässig erwies. Im folgenden Januar bekam der Münchner Konditor Johann Baptist Schlicker den Zuschlag. Der gründete für seinen Ausflug ins Brauwesen eine eigenständige „Companie“, an der auch der Stadtrat und Stadtfischer Georg Gröber sowie der Stadtfischer Joseph Rechenmacher beteiligt waren. Das Trio unterschrieb einen Pachtvertrag, zunächst bis achtzehnhundertzehn, und verpflichtete sich, Inventar und Räumlichkeiten im Kloster zu übernehmen, wozu auch ein Großteil der ehemaligen Küche, das Brandweinhaus, die Braumeisterwohnung und die Holzschupfen im Klosterhof zählten. In den Zimmern direkt über dem Brauhaus waren inzwischen ein Gericht und die Mautbehörde eingezogen – keine unkomplizierte Nachbarschaft.

Wie das Zentralkloster der Augustiner war auch das Brauer-Trio nicht von langer Dauer. Nachdem Schlicker aus dem Unternehmen ausgeschieden war und der Stadtfischer Baptist Lankes den Anteil von Rechenmacher übernommen hatte, kämpfte Gröber mit seinem neuen Partner lange darum, den Braubetrieb aus dem Kloster verlagern zu dürfen. Achtzehnhundertsiebzehn wurde die Anstrengung von Erfolg gekrönt: Das Augustinerbräu zog in ein geeignetes Gebäude, das just auf der gegenüberliegenden Seite der Neuhausergasse stand – jenes Haus, in dem nun Therese Wagner ganz allein das Sagen hatte.

Jedes Mal, wenn die Brauereichefin vor dem ehemaligen Kloster stand, spürte sie, dass sie Teil der Tradition war, die hinter diesen Mauern fast fünfhundert Jahre lang gepflegt worden war – das verlieh ihr Kraft und Mut.

Sie betrat die Mauthalle und sah sich um. Hier, im Schatten der alten Mauerbögen hatten Modistinnen, Goldschmiede und Händler kleine Stände aufgebaut. In der einen Ecke lockten schön drapiert und in vielen Farben Tuche und Hauben, letztere mit langen Verschlussbändern, die mit den über die Ohren fallenden Spaniel-Locken harmonierten; eine Haartracht, die in der weiblichen Welt stark in Mode war. Wenige Schritte weiter wurden Schirme in vielen Farben feilgeboten.

Therese hielt vor einer Schmuckauslage inne, eine fein gearbeitete Halskette aus Silber hatte es ihr angetan, den vergoldeten Verschluss zierten rote und hellblaue Glasperlen. Daneben warteten filigrane Haubennadeln in Form von Schmetterlingen und allerlei Blumen auf Bewunderinnen. So schön Kette und Nadeln waren – Prunk passte nicht zu Thereses Stimmung. Für die kommenden Monate erschien ihr ein leichter Sommerschal in Schwarz angemessen, wie er gleich nebenan lauthals von einem Marktschreier angepriesen wurde. Besonders gefiel der Witwe das schlichte Muster, Ton in Ton aufgestickt, das der Trauerfarbe etwas von ihrer Schwere nahm.

„Was soll das gute Stück kosten?“

„Aber meine verehrte Dame, für Sie ist doch dieser Schal aus Kaschmir viel passender. Sehn S’ nur die Farbe!“

„Dankschön, aber ich hab Sie nach dem Schwarzen gefragt, den sie grad so laut beworben haben.“

„Für Sie mach ich einen besonders guten Preis: sechzig Kreuzer.“

Was forderte dieser Bazi da für seinen vergleichsweise einfachen Schal? Sechzig Kreuzer – wo eine Maß Bier gerade mal fünf Kreuzer und zwei Pfennige kostete! „Sie meinen, für den Kaschmirschal und den Schwarzen zusammen. Fünfzehn zahl ich Ihnen und keinen Pfennig mehr.“

„Na, weil Sie’s sind, Madame. Aber wenn Sie mal etwas Prunkvolleres brauchen, dann kommen S’ wieder zu mir.“

Therese schenkte dem Mann ein kurzes Lächeln, zahlte passend und ging rasch davon. Was sie nur immer hatten mit ihrer Buhlerei, die Geschäftsleute. Man ging doch nicht in einen Laden, weil einem das Gesicht oder die Worte eines Händlers gefielen, man kam, wenn seine Waren das hielten, was von ihnen erwartet wurde. Und bei einem Marktschreier war besondere Vorsicht geboten. Denn wo die Qualität hervorragend war, musste man nicht allzu laut die Werbetrommel schlagen. So wie im Blumengeschäft, bei dem Therese noch vorbeischaute und zwei große bunte Sträuße erstand. Einen in jeder Hand wechselte sie erneut die Straßenseite.

Ohne im Gewühl auch nur ein Blütenblatt verloren zu haben, schritt sie unter dem Torbogen hindurch zurück ins Brauhaus, das die Münchner seit jeher als Stätte des Vergnügens kannten. Früher hatte es eine beliebte Metschänke beherbergt, im siebzehnten Jahrhundert hatte es in dem Anwesen sogar einige Jahre lang ein kleine Privatbrauerei gegeben. Doch erst als die Augustinerbrauerei achtzehnhundertsiebzehn vom Kloster hierher umgezogen war, entstand Bleibendes.

Therese wies die Angestellten an, alle Fenster des großen Gebäudes zu öffnen und erst mit Sonnenuntergang wieder zu schließen. Krankheit und Tod sollten hinausgefegt werden, sie hatten hier keinen Platz mehr. Es galt, die Zukunft des Familienbetriebs anzupacken.

Die Chefin stieg die Treppen hinauf zum Schlafzimmer und stellte einen der Blumensträuße auf ihr Nachtkästchen, die andere Vase setzte sie sachte auf Antons Seite ab, genau dort, wo in glücklicheren Zeiten immer sein Glas Wasser für die Nacht gestanden hatte.

Die Stadt München teilte sich achtzehnhundertvierundvierzig in zwei Hälften. Obwohl die mittelalterliche Wehrmauer weitgehend abgetragen worden war, bildete sie noch immer die Grenze zum alten Stadtkern. Gassen und kleine Plätze engten das öffentliche Leben ein. Zwar hatte das mit der Säkularisation eingeläutete Ende der Klöster zu Beginn des Jahrhunderts im Zentrum etwas Raum geschaffen, aber der Magistrat nahm die frei gewordenen Flächen und Gebäude schnell in Beschlag. Jenseits der alten Stadttore, die fast alle noch standen, begann das ländliche Leben: Staubige Landstraßen verbanden die Isarstadt mit am Horizont gelegenen eigenständigen Orten wie Sendling, Schwabing, Unterföhring und Pasing. Lediglich durch das Gebiet um den weitläufigen Odeonsplatz, der durch den Abriss des Schwabinger Tores entstanden war, hatte München eine nennenswerte Erweiterung erfahren. Überschaubar war die Stadt, doch äußerst hübsch anzusehen: Entlang der noch unvollendeten Ludwigstraße wartete nun das Wittelsbacher Königshaus mit einigen Prachtbauten auf, in der neu gebauten Brienner Straße zeigten sich vereinzelte Wohnpaläste, die inmitten großer Gärten prunkten. Die vielen Arbeiter der wirtschaftlich prosperierenden Stadt hatten es nicht so schön. Sie fanden jenseits der Isar in den nahen Gemeinden Au, Haidhausen und Giesing Quartier, wo um einige alte Bauernhöfe herum rasch ein Holzhaus nach dem anderen gezimmert wurde. Eine einzige Brücke führte von dieser Seite des Flusses in die Stadt.

Auch Therese und Anton waren vor Jahren über diese Brücke nach München gelangt und gemeinsam heimisch geworden.

Mit klarem Kopf, die Trauer hintangestellt, besah sich die Bräuin am nächsten Morgen die Vorräte. Dann rief sie ihren Braumeister Balthasar Fescher zu sich. „Was meinst, Balthasar?“

„Allzu viel ist nicht mehr auf Lager. Vom Gerstenmalz.“

„Dann wird eingekauft, und nicht zu knapp. Gute Gerste wird nämlich teurer werden.“ Therese hatte sich umgehört. Ein enger Bekannter aus Freising hatte prophezeit, es werde den Getreidebauern in der Kornkammer Niederbayern in diesem Jahr die Ernte verhageln. Weil der Mann mit seinen Vorhersagen bislang meist richtig gelegen hatte, war Therese hellhörig geworden. Wenn das Eis die Felder wirklich zerstören sollte, würde der wichtigste Rohstoff der Brauer bald knapp und entsprechend kostspielig werden. Noch gab es auf der Schranne günstig Gerstenvorräte aus der jüngsten Ernte zu erstehen – eine Gelegenheit, die Therese beim Schopf packen wollte.

Sie zog ihr schwarzes langärmeliges Kleid an; der neue Schal gleicher Farbe schmiegte sich um Hals und Schultern. Ihr braunes Haar, dessen Locken bis ans Kinn reichten, bedeckte sie mit einer dunkelblauen, kunstvoll bestickten Haube – es war die einzige Zier, die sich die Augustinerin erlaubte. Kurz betrachtete sie ihr Gesicht im Spiegel, wandte den Kopf von einer Seite zur anderen. Sie fand sich zu blass – eine Folge der schlaflosen Nächte – und wollte schon nach der Dose mit dem Lippenrot greifen, zögerte aber. Nein, ihren Schmerz würde sie nicht überschminken. Sich zu verstellen, war noch nie ihre Sache gewesen.

„Pardon, machen S’ Platz!“ Therese bahnte sich eine Schneise durch die Menschenmassen.

Auf dem Viktualienmarkt herrschte reges Treiben. Alle wollten am Morgen die Ersten sein, das Wettrennen um die beste Qualität oder den besten Preis gewinnen. Auf dem früheren Innenhof des stillgelegten Heilig Geist Spitals, wo einst eine fast unheimliche Ruhe geherrscht hatte, erklangen Schreie, Rufe, Pfiffe. Therese mochte das Konzert des Marktes. Dennoch machte es sie heute nervös. Hatten die Händler schon von ihrem schweren Verlust erfahren? Würden sie versuchen, sie, die Frau, in ihrer Not zu übervorteilen? „Sei stark, du bist jetzt die Herrin“, flüsterte sie sich Mut zu.

Auf der Schranne kannte man sie. Auch zu Lebzeiten Antons hatte sie dort für den Betrieb eingekauft, wenn der Bräu selbst verhindert gewesen war. Zwei, drei Händler ihres Vertrauens hatte sie sich bei diesen Gelegenheiten auserkoren. Die würde sie nun einen nach dem anderen aufsuchen, ihre Ware unter die Lupe nehmen und die Preise vergleichen.

Sie hatte noch nicht gegrüßt, da hallte es ihr am ersten Stand entgegen: „Mein Beileid, gnädige Frau!“

Die drei wohlgemeinten Worte trafen sie wie ein Schlag. „Danke, Weidinger, ich weiß Ihr Mitgefühl zu schätzen“, entgegnete sie nach kurzem Zögern. „Ich hoff, bei Ihnen daheim ist alles wohlauf.“

Der Händler Weidinger trug unter der etwas klein geratenen Nase einen umso ausschweifenderen Oberlippenbart. Er war im mittleren Alter, seit Jahren glücklich vermählt, aber ohne Kinder. Mit seiner stattlichen Wampe stand er wie das blühende Leben vor der Witwe, der er sein ungetrübtes Glück nicht zumuten wollte. Also nickte er nur kurz und verlegen.

„Das freut mich.“ Ein aufrichtiger und sensibler Kerl. Auch deshalb schätzte Therese ihn. „Hören S’, Weidinger, mein Braumeister will von Ihrer besten Gerste so viel aufkaufen, wie Sie liefern können. Ich versprech Ihnen einen guten Preis. Dann müssen Sie sich für die nächsten Wochen keine Sorgen mehr machen.“

Der Getreidelieferant schien im Geiste die verfügbaren Bestände zu überschlagen und brachte abermals kein Wort heraus.

„Lassen Sie sich ruhig Zeit für ein gutes Angebot. Ich schau später noch einmal vorbei.“

Weidinger wusste genau, dass Therese sich umsehen und andere Angebote einholen würde. Die Augustinerin hatte sich über die Jahre hinweg als fachkundige und gewiefte Einkäuferin erwiesen. Mancher Händler am Viktualienmarkt hatte sogar den Besuch von Anton bevorzugt, denn bisweilen hatte Thereses Angetrauter zu jener weit verbreiteten Sorte Mannsbilder gehört, die auch in kaufmännischen Dingen lieber auf schnell gefasste Meinungen und wackelige Ratschläge von vermeintlichen Spezln hörten, anstatt sich selbst einen Überblick zu Angebot und Nachfrage, zu Qualität und Preisen zu verschaffen. Therese bevorzugte kompetente Ratgeber, Schaumschläger konnte sie nicht leiden. Überhaupt vertraute sie dem eigenen Auge und Verstand mehr als dem Hörensagen.

„Gibt es Neuigkeiten, Herr Weidinger, oder soll ich morgen nochmal kommen?“ Nach ihrem Rundgang über den Markt setzte sie das Gespräch mit dem ersten Händler nahtlos fort.

Von der Vorjahresernte gab es noch beträchtliche Mengen, deren Qualität durchweg vielversprechend war – das hatte sie schnell herausgefunden. Therese hatte die Mengen festgezurrt und den besten Preis ausgelotet.

„Ich kenn zwei Lieferanten im Dachauer Land und im Fränkischen, die haben noch einiges auf Lager. Gute Gerste.“

„Und die bekomm ich für sechs Gulden pro Scheffel?“

„Jessas, da müsst ich schon nochmal nachfragen, gnädige Frau.“

„Wenn S’ meinen. Jedenfalls ist das der Preis, den mir einer ihrer Kollegen grad vorher zugesagt hat.“

„Langsam, langsam. Des wird sich dann schon auch bei meinen Lieferanten so einrichten lassen.“

„Gut, dann sind wir uns einig. Mein Braumeister, der Fescher, kommt am nächsten Markttag und holt alles ab. Dankschön und schöne Grüße an die Frau Gemahlin!“

Therese bestellte auch bei den anderen beiden Gerstenverkäufern, wenn auch geringere Mengen. Keiner durfte bei einem Handelsgeschäft das Gesicht verlieren, jeder musste bedacht werden – das hatte sie nicht erst durch Anton gelernt, sondern bereits von ihren Eltern. Auf Märkten war es so: Ein mit einem Händler vereinbarter Preis ließ sich in den allermeisten Fällen auch bei anderen erzielen oder sogar unterbieten. Die Güte des Getreides musste natürlich stimmen. „Auf dem Markt trägt der Wind den günstigsten Preis für eine Ware von einem Stand zum anderen“, hatte ihre Mutter häufig zu sagen gepflegt, wenn sie zusammen vom Freisinger Markttreiben nach Hause gegangen waren. Therese schmunzelte, als die Worte in ihrem Gedächtnis aufschienen. Würde es mit Antons Weisheiten und Erzählungen genauso sein, wäre ja auch er ein Stück weit immer bei ihr. Zum ersten Mal nach seiner Beisetzung spürte sie einen Hauch von Trost.

Am nächsten Markttag schickte sie Balthasar Fescher zum Markt, um den besiegelten Handel abzuwickeln. Im Nachbarhaus, wo eine kleine Hausbrauerei im harten Münchner Wettbewerb untergegangen war, konnte sie günstig Lagerraum für die Gerste anmieten, das hatte sie bereits vorab geklärt.

Wie wohltuend es war, Pläne fürs Geschäft zu schmieden, und wie es einen mit Stolz erfüllte, wenn diese Pläne aufgingen. Therese konnte die leicht berauschende Wirkung eines guten Geschäfts erstmals in vollen Zügen allein genießen. Mit ihrem Schachzug war sie den meisten anderen Brauern zuvorgekommen. Die Mehrzahl schien noch nichts zu ahnen von der Hitze, vom ausbleibenden Regen, vom trockenen Sommer, der die Felder ausdörren und die Getreidestängel nicht richtig wachsen lassen würde. Als die Dürre tatsächlich einsetzte, ließen die ebenfalls prophezeiten Gewitter nicht lange auf sich warten. Sturm und Hagelkörner knickten die Halme, Pilze und Parasiten befielen die Gerste und machten einen Großteil des Korns unbrauchbar. Gut, dass Braugerste mehrere Jahre lang haltbar war. Doch bei konstanter Nachfrage schossen die Preise für den wichtigsten Rohstoff der Bierherstellung schnell in die Höhe. Alle jammerten, nur Therese freute sich still und leise über den guten Rat eines fachkundigen Vertrauten aus alten Tagen. Und sie war zufrieden mit sich und ihrer Voraussicht. Ein kurzer Moment beschwingten Glücks, fast so wie in den Tagen ihrer Kindheit an den Ufern des Flusses Moosach.