Tod in Brügge - Marvin Entholt - E-Book

Tod in Brügge E-Book

Marvin Entholt

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Beschreibung

»Brügge wird bluten« − ein Frauenmörder, der das malerische Brügge unsicher macht, und eine starke Kommissarin zwischen Professionalität und Verlangen »Zu Hause ließ sie den Mantel von den Schultern gleiten, trat ins Bad, schaltete das Licht an und war überrascht, wer ihr da im Spiegel entgegenblickte: eine wilde, kühne junge Frau mit einem siegessicheren Lächeln und einem ironischen Zug um die Mundwinkel.« In Claire van de Veldes Leben scheint sich alles zum Positiven zu wenden: Die alleinerziehende Hauptkommissarin wird zur Leiterin ihres Dezernats befördert und privat fasst sie nach gescheiterten Beziehungen den Mut, sich auf ein erotisches Abenteuer einzulassen. Doch mitten hinein in Claires Hochgefühl platzt ein brisanter Fall: Ein Serienmörder tötet in Brügge in schneller Folge junge Frauen. In Claire keimt der schreckliche Verdacht, dass ihr Abenteuer und die Morde zusammenhängen ...

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Seitenzahl: 335

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Michaela Retetzki

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

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1.

Ihr Kopf schlug hart gegen die Wand des alten Brückenhäuschens. Sie klammerte sich an die Brüstung, suchte Halt. Wieder und wieder stieß er zu. Ein letzter harter Stoß, sie schrie auf, dann zog er sich aus ihr zurück. Während Claire sich zitternd am Geländer festhielt, verschwand er in derselben Dunkelheit, aus der er eine Viertelstunde zuvor gekommen war.

Sie fühlte sich geschunden und missbraucht – und unfassbar befriedigt. So befriedigt wie seit Monaten nicht. Oder vielleicht noch nie in ihrem Leben. Tausend Gedanken rasten ihr durch den Kopf. War sie etwa wirklich die billige Schlampe, als die ihre Mutter sie immer beschimpft hatte? Oder einfach das abenteuerlustige Mädchen, das ihr Vater so geliebt und um das er sich immer so gesorgt hatte?

 

Drei Wochen hatte sie mit ihm geschrieben, er hatte ihr liebevolle Zeilen geschickt, virtuos lyrische und fordernd erotische. Mehrmals überkam sie der Verdacht, er könnte die Texte irgendwo abgeschrieben haben, aber ihre Suche im Internet ergab keine Treffer. Er musste tatsächlich alles selbst empfunden, erdacht und verfasst haben. Das hatte sie noch mehr fasziniert und ihrem ersten Treffen entgegenfiebern lassen. Dass das Portal, auf dem sie sich gefunden hatten, einen ausgezeichneten Ruf genoss und als das seriöseste überhaupt galt, gab ihr zusätzliches Zutrauen. Als er für ihr erstes Treffen die Bonifazius-Brücke im Herzen der Altstadt von Brügge gewählt hatte, hielt sie dies zunächst für einen wunderbar romantischen Einfall. Erst seine zunehmend fordernder werdenden Anweisungen ihre Kleidung und ihr Auftreten betreffend hatten sie skeptischer, aber zugleich auch aufgeregter werden lassen. Dass sie ihn nun beim ersten Mal überhaupt nicht zu Gesicht bekommen hatte, sondern er sie tatsächlich wie angekündigt nur in der Dunkelheit von hinten genommen und benutzt hatte, überraschte, enttäuschte und erregte sie zugleich.

Sie ordnete ihr Kleid und ihre Haare, wischte sich den trotz abendlicher Kühle aufgetretenen Schweiß von Stirn und Wangen und verließ schnellen Schritts den Ort, nicht ohne sich in alle Richtungen umzublicken.

 

Zu Hause ließ sie im Flur ihren kurzen Mantel von den Schultern gleiten, trat ins Bad, schaltete das Licht an und war überrascht, wer ihr da im Spiegel entgegenblickte: eine wilde, kühne junge Frau mit einem siegessicheren Lächeln und einem ironischen Zug um die Mundwinkel. Der Anblick war ungewohnt, aber er gefiel ihr sehr. Eine ganze Weile betrachtete sie sich so, als würden die beiden, die sich da anblickten, darauf warten, wer von ihnen zuerst zu sprechen begönne.

Aus dem Nebenzimmer wurden leise Geräusche hörbar, sie steigerten sich zu einem Rascheln und Schluchzen, das vom Babyfone ins Wohnzimmer übertragen wurde. Claire eilte ins Kinderzimmer und stürzte auf das kleine Bett in der Ecke zu.

»Hey, kleine Maus! Hast du schlecht geschlafen?«

Sie hob ihre zweijährige Tochter aus dem Bettchen und legte sie sich an die Schulter. Es dauerte nicht lange, dann war das Mädchen wieder eingeschlafen. Vorsichtig legte Claire es wieder ins Bett und strich ihr über die Stirn.

»Träum schön, meine Kleine«, flüsterte Claire und schlich aus dem Zimmer. Sie ließ die Tür angelehnt und ging ins Wohnzimmer. Statt wie vermutet die Babysitterin schlafend auf dem Sofa vorzufinden, entdeckte Claire auf dem Tisch einen Zettel:

Es ist nach 23 Uhr, Eline schläft, ich muss jetzt gehen, ich kriege sonst totalen Ärger, sorry! Anniek.

 

»Na toll«, sagte Claire zu sich selbst, holte aus der Küche eine angebrochene Flasche Rotwein, schenkte sich ein Glas ein, schaltete die Lampe neben dem Couchtisch im Wohnzimmer an und fläzte sich aufs Sofa.

Sie hatte es tatsächlich getan, nach langem Zaudern. Ein Schritt, den sie ersehnt und vor dem sie zugleich stets Angst gehabt hatte. Sie nahm einen Schluck Wein und lehnte sich zufrieden zurück. Kurz darauf war sie eingeschlafen.

2.

»Schnell, schnell, mein Schatz, Mami hat verschlafen!« Claire steckte Elines geballte Fäustchen in die Ärmel ihrer Jacke. Sie nahm das Kind auf den Arm, griff ihre Handtasche, warf die Haustür hinter sich zu und fingerte in der Manteltasche nach dem Autoschlüssel. Kurzes Doppelpiepsen, ihr roter Renault Clio entriegelte die Türen. Claire schnallte Eline im Kindersitz an, sprang ins Auto, startete den Motor und brauste los. An der Kinderkrippe gab es nur ein kurzes Hallo, ein Küsschen zum Abschied, Eline ließ sich fröhlich davontragen und ihre Mutter fuhr eilig weiter.

 

Claire stieß die Tür zum Großraumbüro auf, streifte im Gehen den Mantel ab, eilte über den Korridor und grüßte nach rechts und links. Sie bog um die Ecke und stieß mit einem Mann zusammen, ihre Handtasche fiel zu Boden.

»Guten Morgen, Entschuldigung«, sagte Claire außer Atem, während sie ihre Habseligkeiten einsammelte. »Ich bin etwas spät dran. Es war viel los in der Stadt und ich …«

»Keine Hast, Claire, kommen Sie erst mal an und dann kommen Sie in mein Büro«, erwiderte ihr Chef. Er war mittleren Alters, trug ein groß kariertes Sakko und eine Strickweste darunter, sein nicht mehr sehr dichtes Haar war akkurat gescheitelt, und er betrachtete Claire mit einem schwer zu definierenden Lächeln.

Claire eilte zu ihrem Schreibtisch und machte sich auf ein Donnerwetter des Chefs gefasst. In dessen Büro wurden die Leute nur beordert, wenn es etwas wirklich Wichtiges zu besprechen gab – und anscheinend war ihre Verspätung so etwas, dem er große Bedeutung beimaß. Das wiederum fand sie albern und begann, sich aufzuregen und innerlich zu wappnen. Als sie ihren Schreibtisch erreichte, stutzte sie. Darauf stand ein großer Blumenstrauß. Es steckte keine Karte daran.

»Madeleine, weißt du, von wem der ist?«, wandte sie sich an die Kollegin am Schreibtisch gegenüber.

Madeleine hob die Hände, setzte eine ahnungslose Miene auf und blieb auf ihre Arbeit konzentriert.

»Victor, weißt du das?«, fragte Claire in Richtung Nebentisch.

Der Kollege beantwortete die Frage mit einem Kopfschütteln.

»Ach, egal jetzt«, murmelte Claire vor sich hin.

Sie warf ihren Mantel über die Stuhllehne, holte den Handspiegel aus der Handtasche, kontrollierte ihr Make-up und steuerte so gewappnet mit großen Schritten auf die Tür eines durch Glasscheiben abgetrennten Büros zu. Man konnte es nicht einsehen, von innen waren Jalousien heruntergelassen. Claire klopfte energisch, und auf ein Brummeln aus dem Raum hin öffnete sie die Tür.

»Monsieur Bertrand, Sie wollten mich …«

»Claire, setzen Sie sich«, unterbrach der Chef sie.

Er stand auf, trat ans Fenster, blickte hinaus und wandte sich Claire zu. Er musterte sie einen Augenblick und erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Als Claire sich in seiner Abteilung vorgestellt hatte, trug sie ihr dunkelblondes Haar genauso lässig und vermutlich in Eile hochgesteckt, hatte einen ähnlich schlichten Pullover ausgewählt und Bertrand mit dem hellwachen Blick ihrer etwas zu großen graugrünen Augen überrascht, in dem für ihn von Anfang an etwas leicht Provozierendes und beständig Forschendes lag. Diese Augen ruhten jetzt auf ihrem Chef. »Claire, Sie wissen, ich schätze Sie sehr. Wie lange sind Sie jetzt bei uns?«, begann Bertrand.

»Drei Jahre im November«, antwortete sie.

»Drei Jahre. Drei Jahre, in denen Sie auch undankbare Aufgaben übernommen haben, um unsere Arbeit zum Erfolg zu führen. Obendrein haben Sie sich laufend um Ihre Fortbildung bemüht. Auf wie vielen Seminaren waren Sie?«

»Drei. Auf so vielen, wie mir genehmigt wurden«, entgegnete Claire knapp.

»Ich habe nicht gesagt, dass das zu wenig ist. Im Gegenteil. Claire, ich habe ehrlich gesagt zwei Nachrichten, eine gute«, der Chef legte eine Kunstpause ein, »und eine gute.«

Claire sah ihn skeptisch an und fragte sich, ob der Chef sich einen Versprecher oder einen Scherz geleistet hatte. Er fuhr unbeirrt fort.

»Sie wissen ja, Kuipers ist schwer erkrankt, zum Glück geht es ihm inzwischen besser, er kommt wohl über den Berg. Aber die Ärzte haben ihm geraten, es ruhiger angehen zu lassen. Wir werden ihn in den wohlverdienten vorgezogenen Ruhestand ziehen lassen müssen. Also muss jemand seinen Posten übernehmen.«

Claire konnte die Worte ihres Chefs nicht so recht einordnen.

»Es gibt hier unter einigen Kollegen so etwas wie den Anspruch auf eine natürliche Erbfolge«, fuhr der fort, »allerdings sind wir hier nicht am Wassertümpel in Afrika, wo der älteste Löwe krank davonschleicht und der lauteste Rabauke neuer Chef des Rudels wird. Bei uns kommt es aufs Köpfchen an und auf Persönlichkeit und nicht auf Dienstjahre oder lautes Auftreten.«

Er setzte sich auf die Schreibtischkante und fixierte Claire.

»Das heißt aber auch, dass das neue Löwencheftier sich ein bisschen balgen muss, um die Führungsposition im Rudel gegen die Rabauken zu behaupten.«

Claire sah den Chef abwartend an.

»Also, Claire, die Blumen haben Sie ja schon bekommen, da können Sie eigentlich nicht mehr Nein sagen«, Direktor Bertrand lächelte, »aber fragen muss ich Sie ja trotzdem. Sind Sie bereit, unser Dezernat 3 für Tötungsdelikte zu leiten?«

Claire musste ein paarmal unwillkürlich blinzeln. Sie fluchte innerlich, als sie es realisierte, und hoffte, dass es ihrem Gegenüber nicht so auffallen würde wie ihr selbst. So erfolgreich sie ihr Verhalten sonst auch kontrollierte, ihr beschleunigter Augenaufschlag war eine Eigenart, mit der schon ihre Eltern sie aufgezogen hatten und die sie einfach nicht abstellen konnte: Sobald sie aufgeregt war, klimperte sie mit den Wimpern. Ihr Chef Bertrand war ein aufmerksamer Beobachter, zugleich aber auch ein charmanter Mann, und so hoffte er, dass Claire sein Schmunzeln darüber nicht bemerken würde.

»Das … das ist jetzt Ihr Ernst?«, fragte Claire. »Also ich meine, das ist nicht einer von Ihren komischen Späßen?«

»Sonst hätte ich Ihnen wohl nicht gerade diesen langen Vortrag gehalten.« Der Chef sah sie freundlich an.

»Puh. Also, uff, ja …«, versuchte Claire sich zu sortieren und spürte wieder ihren schnellen Wimpernschlag, »klar, das wäre natürlich toll, ich meine …«

Sie war verwirrt.

»Den Konjunktiv können Sie sich schenken, Claire. Es ist mein Wunsch, und den trägt auch die oberste Ebene mit. Sie müssen nur entscheiden, ob Sie sich das zutrauen und ob Sie bereit sind, die Kämpfe am Wassertümpel auszufechten und auszuhalten.«

Claire hatte sofort das Bild einer jungen Löwin vor Augen, das der Chef ihr mit seiner Erzählung eingepflanzt hatte, und das gefiel ihr gut. Sie erhob sich.

»Ja, Monsieur Bertrand, klar, das traue ich mir zu. Und ich freue mich über Ihr Vertrauen und fühle mich sehr geehrt. Ich werde alles dafür tun, dass Sie diese Entscheidung nicht bereuen werden.«

»Das weiß ich.« Der Chef stand auf und trat hinter seinen Schreibtisch. Aus einer Schublade holte er etwas Unförmiges, das schlampig in Geschenkpapier gewickelt war. Er überreichte es Claire. Sie nahm das Präsent entgegen, packte es aus und hielt eine Löwin aus Stoff in der Hand. Sofort machte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breit. Sie stürzte auf den Chef zu, umarmte ihn kurz und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.

»Danke!«

»Gern geschehen. Möge sie Sie immer an Ihre Tugenden erinnern.«

»Das wird sie.« Claire strahlte.

»Na dann, an die Arbeit. Ach ja, Sie können Kuipers’ Büro beziehen.«

»Oh, danke. Mal sehen. Ich glaube, ich bleibe lieber erst mal an meinem alten Arbeitsplatz. Da bin ich unter den Kollegen und näher dran an allem. Und es sieht für die anderen nicht so aus, als würde ich mich plötzlich für was Besseres halten.«

»Wie Sie wollen. Denken Sie immer an den Tümpel. Und daran, dass Sie jetzt etwas Besseres sind, ob Sie wollen oder nicht.«

3.

»So viel Glück auf einmal kann man doch gar nicht haben, oder?«, fragte Claire, während sie die Pfingstrosen im Beet neben ihrer kleinen Terrasse goss.

»Das freut mich so. Wenn es jemand verdient hat, dann du«, antwortete ihre Freundin Emma und kam mit zwei gefüllten Sektgläsern auf Claire zu. Die stellte ihre Gießkanne ab, ergriff freudig ein Glas und stieß mit Emma an. Die beiden waren beste Freundinnen seit der Schulzeit. Claire hatte Emma schon als Kind um das Selbstbewusstsein beneidet, mit dem der weißblonde Pagenkopf sofort erobern konnte, was auch immer er wollte. Emma wiederum wäre gern mehr wie Claire gewesen: tiefgründiger, stiller, mehrdimensionaler. Selbst die Augenfarbe gefiel Emma besser als ihr eigenes leuchtend helles Blau, auch wenn Claire ihre immer als nordseefarben bezeichnete, wenn sie gefragt wurde. Das meinte sie nicht unbedingt positiv, auch wenn Emma das so verstand: changierend, stets im Wandel und immer für eine Überraschung gut. Dreißig Jahre später sahen die beiden aus wie Vergrößerungen der kleinen Menschen, die sie einmal gewesen waren – mit dem gleichen Wesen, denselben Frisuren und Augenfarben: die leuchtend Blaue und die Nordseefarbene.

»Kennst du das«, fragte Claire nach dem ersten Schluck Sekt, »dass man denkt, wenn einem so viel Gutes widerfährt, dass es dann ganz übel zurückschlagen kann und es danach umso schlimmer kommt?«

»Klar, weil man nichts Schönes erleben darf und dafür hinterher bestraft wird, oder?«, antwortete Emma und tippte Claire mit ihrem Finger auf die Nasenspitze. »Du Spinnerin, ist das eigentlich deine schreckliche protestantische Erziehung oder dein persönlicher Spleen?«

Claire streckte ihrer Freundin die Zunge raus.

»Wahrscheinlich nur so eine alte Kinderangst, die sich manchmal noch anschleicht, du hast recht«, sagte sie.

Die beiden setzten sich an das Tischchen vor Claires Terrassentür und stießen noch einmal an. Es wehte ein leichter Wind, er trug die salzige Luft des nahen Meeres bis in die Stadt. Claire schloss ihre Augen und atmete tief ein.

»Erst diese total seltsame Hammernacht, die ich immer noch nicht so recht einordnen kann, und dann die Leitung der Abteilung«, sagte sie schließlich.

»Ja, Wahnsinn. Du bist eben doch ein Glückspilz. Akzeptier das einfach. Oder eher eine Glückspilzin.«

Beide lachten, Claire wirkte allerdings nicht ganz befreit.

»Irgendwie bin ich trotzdem nicht mehr ganz sicher, ob es richtig war mit dem Treffen. Scham, Moral, keine Ahnung, irgendwas sitzt da quer«, sagte sie.

»Soll ich dir mal auf die Schulter klopfen, damit es rutscht?«, fragte Emma. »Quatsch, du bist endlich mal deinem Instinkt gefolgt und hast nicht auf dein dauernd ratterndes Gehirn gehört. Gut so! Und sag, wie hat Marc es aufgenommen?«

»Bist du wahnsinnig? Dem habe ich kein Wort erzählt!«, rief Claire aus.

»Nein, ich meine doch die Arbeit! Er und sein Kumpel, der …«

»Victor«, half Claire. »Na ja, die beiden haben mir brav gratuliert, aber Begeisterung sieht anders aus, würde ich sagen. Die Zähne haben sie nicht so richtig auseinanderbekommen.«

»Echt nett.«

»Ich erwarte ja keine Freudensprünge. Ich hoffe nur, dass ich jetzt nicht täglich gegen Widerstände anrennen muss und sie mir das Leben schwer machen.«

»Habt ihr denn aktuell was auf dem Tisch?«

»Nichts Neues. Immer noch diesen Toten vom Kanal, der vor drei Wochen gefunden wurde. Keine Papiere, keiner kennt ihn, wir wissen nicht mal, ob er aus Brügge oder überhaupt aus Belgien stammt. Da tut sich gar nichts. Vermutlich ein Obdachloser, der hat die Jungs deshalb wohl auch nicht besonders interessiert. Da hat sich jedenfalls keiner ein Bein ausgerissen, die wollten den schon den Kollegen vom K 14 als ›unbekannt und vermisst‹ rüberschieben. Das wird jetzt meine erste Amtshandlung, den Freunden ein wenig in den Allerwertesten zu treten.«

»Und dein ominöser Lover?«

»Keine Ahnung.«

»Keine Nachricht?«

»Nein, nichts.«

»Meinst du, er meldet sich noch mal?«

»Davon gehe ich eigentlich aus. Alles andere wäre doch seltsam. Der gräbt mich doch nicht drei Wochen an, und das hat er schließlich, nur für eine schnelle Nummer unter irgendeiner Laterne.«

»Wäre zumindest ein großer Aufwand.«

»Den es natürlich wert wäre.« Claire grinste.

»Natürlich!«, pflichtete ihr Emma feixend bei. »Nur konnte er das vorher ja nicht wissen.«

Emma erntete einen gespielt empörten Blick von Claire.

»Wünschst du dir denn, dass er sich wieder meldet?«, fragte Emma.

Claire dachte nach.

»Ja. Auch wenn es seltsam war. Wie ein merkwürdiges Kräftemessen. Aber es war geil. Verrückt. Ein komischer Kitzel, und es ist sogar ein Reiz, nicht zu wissen, wer er wirklich ist. Und ich wäre gespannt, wie es sich entwickelt, ob ein zweites Treffen anders wäre oder genauso.«

»Soll es denn anders sein?«

»Ja und nein. Es war irre, so wie es war, ich würde mir allerdings mehr wünschen, mehr wissen wollen, ihn ansehen, mit ihm reden.«

»Vielleicht sieht er aus wie Frankensteins Gesellenstück«, gab Emma zu bedenken.

Claire prustete los.

»Mal nicht den Teufel an die Wand«, sagte sie. »Das Profilbild sah jedenfalls vielversprechend aus.«

»Und woher willst du wissen, dass das wirklich er auf dem Foto ist?«

»Zumindest habe ich es online über die Bildersuche nirgendwo gefunden. Und ansonsten Intuition. Intuition und Vertrauen.«

»Das klingt nicht nach der knallharten Ermittlerin.«

»Die Intuition schon. Das Vertrauen … vielleicht wünsche ich mir einfach, vertrauen zu können.«

»Du gibst es nicht auf.«

»Nein, das werde ich nie. Mir reicht es, von Berufs wegen misstrauisch zu sein.«

 

Zwei Stunden später schlummerte Emma auf der Gästecouch. Sie hatte ein Nachthemd und ihre Badutensilien bei Claire deponiert für Abende wie diesen, an denen es spät wurde und zu viel Crémant die Heimfahrt nicht ratsam erscheinen ließ. Claire saß neben der Couch in ihrem hellgrauen Vitra-Loungechair, mit dem sie sich nach ihrer Trennung von Marc belohnt hatte. Sie konnte noch nicht schlafen und ließ die letzten vierundzwanzig Stunden Revue passieren. Manchmal dümpelte das Leben ewig dahin, und dann wurde es von einem Tag auf den anderen plötzlich komplett auf den Kopf gestellt. Claire überlegte, ob ihr nächtliches Abenteuer ihre Beförderung in irgendeiner Weise positiv beeinflusst haben könnte – ob das Auflösen von Ängsten sie empfänglicher für Impulse von außen machte. Früher hatte sie sich mit Astrologie beschäftigt, aber schnell beschlossen, sich nicht durch den Glauben an Vorherbestimmung aus der Verantwortung fürs eigene Leben zu stehlen. Nur jetzt ging es nicht um Aberglauben, viel eher um das genaue Gegenteil: um die innere Haltung, die Blockaden löst und sie dem Leben gegenüber öffnete. Der Gedanke erschien ihr gar nicht esoterisch, sondern vollkommen folgerichtig.

Claire stand auf, ging zum Kinderzimmer, trat leise an das Bett und betrachtete ihre schlafende Tochter. Eline war das beste Beispiel dafür, dass ein Zuviel an Planung das Leben in einer schmalen und langweiligen Spur halten konnte. Manchmal nannte sie das Mädchen scherzhaft den bezauberndsten Unfall ihres Lebens, und auch wenn der Kindsvater sich seiner Verantwortung bisher nicht stellte, war sie unendlich froh über ihre Tochter.

Claire schlich wieder hinaus, lehnte vorsichtig die Tür des Kinderzimmers an und kehrte zu ihrem Sessel zurück. Sie griff ihr Weinglas und sah aus dem Fenster in die Dunkelheit, als vom Schreibtisch ein Dreiklang ertönte. Claire sprang auf und lief zu ihrem Computer. Sie öffnete das Postfach. Eine Mail war angekommen – sie kam von ihrer nächtlichen Begegnung. Claire registrierte, dass sie leicht zitterte, als sie die Mail öffnete, ihre Wimpern klimperten in schnellem Takt. Sie überflog die ersten Worte, wurde ruhiger und las.

Claire. Du hast mich überrascht. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du dich so widerstandslos würdest nehmen lassen.

 

In Claire stieg Ärger auf. Was bildete sich dieser Typ denn ein, ihr ausgerechnet ihr Vertrauen vorzuhalten?! Sie las weiter.

Das war gut. Ich schätze und achte dein Vertrauen.

 

Na also.

Es war eine Freude, dich zu benutzen und so wehrlos zu erleben.

 

So ein Arsch, dachte Claire.

Wir werden das wiederholen.

 

Was heißt denn ›wir werden‹? Würde sie denn vielleicht freundlicherweise auch gefragt werden?

Übermorgen, am selben Ort, zur selben Zeit. Du wirst einen kurzen Rock tragen und nichts darunter. Du wirst hochhackige Schuhe tragen. Du wirst Handschellen mitbringen. Du sitzt an der Quelle.

 

Claire stutzte. Hatte sie ihm gegenüber je ihre Arbeit erwähnt? Sicher nicht, das hatte sie immer und bei allen Onlinekontakten vermieden. Hatte sie vielleicht in der Nacht etwas davon erwähnt? Nein, sie hatten kaum ein Wort gewechselt, sie hatte nicht einmal seine Stimme im Ohr.

Claire prüfte ihr Onlineprofil, ob ihr vielleicht ein Hinweis auf ihren Job durchgerutscht war, doch das Feld war leer. Sie sah die ersten Nachrichten durch, die sie ihm vor Wochen geschickt hatte. Kein Wort von ihrer Arbeit. Sie prüfte alle Nachrichten, verwendete die Suchbegriffe Polizei, Kommissariat, Kommissarin, Kripo, Arbeit, Dezernat, Mord, Ermittlung – Fehlanzeige. Konnte es sein, dass er durch die Vernetzung des Portals mit anderen Social-Media-Networks andere Seiten und Profile von ihr entdeckt hatte? Dabei hatte sie immer und überall darauf geachtet, Privatleben und Arbeit streng zu trennen. Lange genug hatte sie gezögert, sich überhaupt als Privatperson online zu bewegen, aber sich dann doch dafür entschieden, um nicht ganz im Singledasein zu ertrinken.

Du wirst Handschellen mitbringen. Du sitzt an der Quelle. Wieder und wieder las sie die beiden Sätze und konnte sich nicht erklären, woher er etwas über ihre Arbeit wissen konnte. War sie dadurch angreifbar? Erpressbar? Ach was, ihr Privatleben war immer noch ihre Sache, das ging niemanden etwas an. Und plötzlich kam ihr der Gedanke, dass sie vielleicht einfach paranoid war und es gar nichts mit ihrer Arbeit zu tun haben musste. Vielleicht war er einfach der Ansicht, dass eine Frau, die sich auf solch ein Abenteuer einlässt, zu Hause ein paar Spielzeuge herumliegen hat und darunter sicher auch Handschellen zu finden sind. Sie lehnte sich zurück.

»Oder weißt du Mistkerl doch, wo ich arbeite?«, fragte sie ihren Bildschirm, und sie spürte, dass sein mögliches Wissen um ihr Geheimnis ihn noch rätselhafter und spannender erscheinen ließ. Es war spät geworden, Claire ging zu Bett und nahm das Rätsel mit in ihre Träume.

4.

Benommen tastete Claire auf dem Nachttisch herum. Ihr Mobiltelefon klingelte, sie konnte nicht sagen, wie lange schon. Endlich bekam sie es zu fassen.

»Van de Velde«, meldete sie sich verschlafen.

Sie hörte zu. Plötzlich war sie hellwach.

»Okay. Zehn Minuten«, antwortete sie und beendete das Gespräch.

Sie sprang in Wäsche, Hose und Bluse, lief ins Bad, klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht, bürstete ihr Haar flüchtig durch und steckte es eilig hoch, kontrollierte ihr Aussehen und schlich zur Tür des Kinderzimmers. Sie blickte hinein, Eline schlief friedlich.

»Bin gleich wieder da, kleine Maus«, flüsterte Claire, griff an der Garderobe ihren Mantel und zog leise die Haustür hinter sich zu. Auf der Wohnzimmercouch öffnete Emma kurz die Augen und sah zur Uhr. Es war kurz vor sechs.

 

»Der Täter hat sich ihr von hinten genähert. Vermutlich hat sie ihn gar nicht zu Gesicht bekommen«, berichtete Claires Kollege Marc.

»Danke. Jean?«, wandte Claire sich an den Rechtsmediziner, der über den leblosen Körper gebeugt war.

Die junge Frau lag bäuchlings auf dem Kopfsteinpflaster. Sie trug ein weißes Kleid, das völlig blutdurchtränkt war. In ihrem blonden Haar steckte ein weißes Häubchen.

»Ein Messer, der Angriff erfolgte von hinten«, sagte der Mediziner. »Eher ungewöhnlich. Man braucht schon viel Wucht und eine lange Klinge, um durch den Rücken das Herz zu treffen. Und das hat er anscheinend.«

Claire fiel auf, dass Jean berührt schien von der Tat. Seine sonst stets fröhlich blitzenden Augen wirkten müde, sie ließen ihn plötzlich so alt aussehen, wie er wirklich war. Sein Gesicht zeigte zwar die Falten eines Sechzigjährigen, doch sein volles Haar trug er schulterlang, auch wenn es mittlerweile ergraut war, und diese Frisur, seine sportliche Figur und sein lebendiger Ausdruck ließen ihn sonst zwanzig Jahre jünger wirken. Doch nicht in dieser Nacht. Vielleicht, dachte Claire, ist irgendwann das Maß dessen voll, was ein Mensch ertragen kann.

»Was ist denn das für eine komische Klamotte?«, mischte sich Claires Kollege Victor ein, der hinzugetreten war.

Claire musterte ihn kurz mit abschätzigem Blick. Sein sonst sorgsam zurückgegeltes Haar hing etwas unsortiert um seinen Kopf, er musste eine kurze Nacht hinter sich haben.

»Sie muss sich doch gewehrt und geschrien haben«, führte Claire ihr Gespräch mit Jean fort.

»Ich vermute, er hat ihr mit einer Hand den Mund zugehalten und mit der anderen zugestochen«, antwortete der.

»Also muss er ziemlich kräftig gewesen sein«, folgerte Claire.

»Davon ist auszugehen, ja. Genaueres können wir sagen, wenn wir uns die Einstichkanäle angesehen haben.«

Victor folgte ungeduldig dem Gespräch.

»Wann ist es passiert?«, fragte Claire weiter.

»Die Leichenstarre ist relativ ausgeprägt, Todeszeitpunkt etwa dreiundzwanzig Uhr, würde ich sagen. Auf jeden Fall vor Mitternacht.«

»Und dann hat man sie erst vorhin gefunden?«, hakte Claire nach.

Victor wandte sich ab und erkundete die Umgebung des Fundortes. Er lag mitten in Brügges historischem Zentrum, direkt hinter der Liebfrauenkirche. Niedrige, akkurat geschnittene Hecken säumten die Grünflächen des gotischen Ensembles und den Weg, auf dem die Tote lag.

»Nachts sind hier nicht mehr viele Leute unterwegs«, sagte Jean. »Bis Einbruch der Dunkelheit wäre das kein guter Ort für so eine Tat, doch sobald es finster wird, ist hier kaum noch jemand auf der Straße. Es gibt keine Kneipen, und in den umliegenden Gassen hier wohnt fast keine Menschenseele.«

»Was macht dann eine junge Frau um diese Uhrzeit hier?«, schaltete Marc sich ein.

»Gute Frage«, sagte Jean abwesend, während er den Kopf des Opfers abtastete.

»Wurde sie hierhergebracht, oder ist das hier auch der Tatort?«, fragte Claire.

»Es sieht nicht aus, als wäre die Leiche transportiert worden. Und auch nicht so, als habe ein Kampf stattgefunden, der auf eine Verschleppung hierher zu Lebzeiten hindeutet.«

»Vielleicht war sie schon bewusstlos?«

»Nein, ich würde davon ausgehen, dass das hier auch der Tatort ist«, sagte Jean bestimmt.

»Dann hat sie sich mit ihrem Mörder hier verabredet«, folgerte Marc.

»Gut möglich.«

»Oder sie ist mit ihm gemeinsam hierhergekommen, weil sie ihn bereits kannte«, sagte Claire.

Sie sah sich um, ob sie Victor irgendwo entdeckte.

»Victor?«, rief sie.

»Hm?«, kam es aus der Dunkelheit.

»Hast du denn irgendeine Idee zu der Kleidung, die dir aufgefallen ist?«

Victor trat langsam ins Licht der Scheinwerfer, die die Kollegen aufgestellt hatten. Es wirkte wie ein pathetischer Bühnenauftritt und erinnerte Claire an das letzte Video von David Bowie, in dem der aus dem Dunkel eines Schranks ins Licht getreten war. Leider blieb Victor ein trauriger Abklatsch, dachte sie, da konnte er noch so viele gut sitzende Anzüge tragen.

»Keine Ahnung, sieht doch aus wie eine Schwesterntracht aus dem letzten Jahrhundert oder so was«, rief Victor aus der Entfernung, kam näher und setzte nach: »Aber du musst mich jetzt nicht einbinden wie den schwierigsten Schüler der Klasse. Mir war das aufgefallen, allerdings hatte ich vergessen, dass du ja ab jetzt wohl den Hut aufhast und bestimmst, was wichtig ist.«

Claire überhörte die Spitze und wandte sich an Jean.

»Wissen wir denn schon, wer sie ist?«

»Ja, Lily Peeters, Alter dreiundzwanzig, wohnhaft in Sint-Andries«, sagte der Rechtsmediziner.

»Alleinstehend, verheiratet?«

»Das steht leider nicht in ihrem Ausweis«, antwortete Jean, während er, ohne hinzusehen, den blutverschmierten Personalausweis hochhielt.

5.

Claire saß hinter dem Steuer ihres Wagens und rieb sich die Augen. Eine halbe Stunde Schlaf und eine kalte Dusche hatte sie sich nach der Tatortbegehung gegönnt, bevor sie Eline zu ihrer Tante gebracht hatte und es für sie selbst in einen sicher langen Tag ging. Sie fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit in Richtung Präsidium und öffnete das Autofenster. Milde Frühlingsluft strömte herein. Von irgendwoher glaubte sie Trommelschläge zu hören. Claire bog am Stadttor Kruispoort über die schmale Brücke und zwischen den schweren mittelalterlichen Türmen hindurch in die Altstadt ein. Sie fuhr durch die Langestraat, bis sie aus der Ferne sah, dass die Straße weiter vorn gleich hinter der nächsten Brücke an der Hoogstraat gesperrt war – genau in der Richtung, aus der das Trommeln immer lauter wurde. Ein ganzes Trommlerregiment schien da zu lärmen, wunderte sich Claire. Sie fuhr bis zu dem Polizisten, der neben der Absperrbake stand, und nestelte ihren Dienstausweis hervor. Die Trommelei steigerte sich in ein furioses Finale und wurde von Posaunen abgelöst, die in ohrenbetäubender Lautstärke eine Fanfare bliesen. Claire zeigte ihren Ausweis, wegen der Musik konnte sie sich nur durch Gesten mit dem Beamten verständigen. Der zeigte hinter sich in Richtung der Lärmquelle und zuckte mit den Schultern. Claire verstand, fuhr rechts in den schmalen Verversdijk neben dem Kanal und stellte ihr Auto auf einem verbotenen Stellplatz ab. Sie sprang heraus, verriegelte im Laufen den Wagen, bog um eine Hausecke in die nächste Gasse und rannte in einen Pulk von Leuten. Sie standen ihr mit dem Rücken zugewandt und bestaunten das vorüberziehende Spektakel. Dicht gedrängt säumten Schaulustige die Straße, auf der sich unter Trommel- und Fanfarenklängen die Heilig-Blut-Prozession vorbeibewegte.

»Verflucht«, schimpfte Claire und versuchte, sich einen Weg durch die Menschenmassen zu bahnen. Sie hatte vollkommen vergessen, dass Himmelfahrtstag war. Da war in der Stadt immer der Teufel los, oder vielmehr drehte sich alles um dessen christlichen Widersacher: Jedes Jahr folgte an diesem Tag ein endloser Zug historisch kostümierter Gestalten einer eigenartigen katholischen Reliquie – einer Ampulle, die angeblich das Blut Christi enthielt. Es war das größte Spektakel des Jahres in Brügge. Claire drängte sich zwischen neugierigen Rentnerinnen und Vätern mit geschulterten Kindern hindurch, als ihr Telefon vibrierte. Sie holte es aus dem Mantel, lief weiter, nahm den Anruf an und verstand kein Wort.

»Noch mal, von wem?«, schrie sie ins Telefon. Sie stolperte unter Beschimpfungen der Zuschauer über einen Buggy, beendete die Verbindung, steckte das Telefon ein, sah hoch und blickte direkt in die schnaubenden Nüstern eines Pferdes, das dicht an ihr vorbeistreifte. Erschrocken wich Claire zurück. Sie hatte die Gasse erreicht, durch die der Prozessionszug sich bewegte. Vor ihr zog eine Kolonne riesiger Kaltblüter vorüber, auf ihnen saßen Männer in Ritterkostümen mit langen Lanzen. Die nächste Gruppe des Zuges schloss dicht hinter den Reitern auf: eine Schar junger Frauen in mittelalterlichen weißen Gewändern mit Häubchen im Haar, flankiert von Posaunenbläsern im Narrenkostüm. Claire rannte los und versuchte, zwischen den Gruppen die Straße zu überqueren. Sie erreichte die andere Seite der Gasse, drehte sich um und verharrte. Sie betrachtete die Mädchen in ihrem jungfräulichen Weiß. Genau so ein Kleid hatte das Opfer getragen! Die junge Frau musste zu dieser Gruppe gehört haben. Claire wurde schlecht. Plötzlich hatte sie die Vision, der Täter könnte noch mehr Teilnehmerinnen töten. Trommler setzten ein und begleiteten mit harten Schlägen die Posaunen. Die Mädchen in Weiß drehten sich zum Takt um die eigene Achse, glockenförmig hoben sich ihre Kleider. Claire starrte auf die tanzenden Mädchen und sah auf einmal Eline als Teenager in so einem Gewand vor sich. Das Bild erlosch, Claire kehrte zurück in die Gegenwart, unzählige Fragen schossen ihr durch den Kopf. War der Mord an der jungen Frau eine Beziehungstat gewesen? Oder hatte der Mörder sein Opfer zufällig gewählt? Gab es einen Zusammenhang mit dieser Folkloregruppe? Den weißen Jungfrauen folgte eine Schar mittelalterlich gekleideter Frauen in blutrotem Brokat. Sie trugen Buchstaben, die zusammen das Wort Kruistocht, Kreuzzug, bildeten. Claire zwang sich zum Weitergehen, sie war ohnehin spät dran. Sie drängte durch die Zuschauer auf dieser Seite der Gasse, die ihr nur widerstrebend Platz machten. Schließlich hatte sie den Menschenpulk durchdrungen und lief mit schnellen Schritten zum Präsidium. Die Fanfaren- und Trommlerklänge hallten ihr nach.

6.

Der Besprechungsraum füllte sich, mit Kaffeebechern in der Hand kamen die Mitarbeiter in den gläsernen Kubus in der Mitte der Büroetage. Auf dem Konferenztisch standen drei Flaschen Crémant und Gläser. Claire wartete, bis die meisten sich gesetzt hatten. In das nicht abebbende Gemurmel der Kollegen hinein erhob sie ihre Stimme.

»Guten Morgen zusammen«, rief sie.

Es kehrte Ruhe ein.

»Liebe Kolleginnen und Kollegen, danke, dass ihr trotz des Feiertages so schnell gekommen seid. Ihr habt es ja schon mitbekommen, wir haben den Mord an einer jungen Frau auf dem Tisch. Und sicher wisst ihr auch, warum ich jetzt hier stehe und euch das verkünde, der Flurfunk ist ja immer noch das zuverlässigste Kommunikationsmittel. Direktor Bertrand hat mich gestern gebeten, Bert Kuipers abzulösen und die Leitung der Abteilung zu übernehmen. Der liebe Kuipers ist auf dem Weg der Besserung, das ist die gute Nachricht, er wird nur leider nicht mehr zurückkommen. Ich werde versuchen, ihm in seiner Gelassenheit, seinem Humor, seinem Spürsinn und seiner Beharrlichkeit in nichts nachzustehen.«

Einige klatschten. Claire ließ die Ehrung des von allen sehr geschätzten Kollegen nachwirken und fuhr nach einer Pause fort. »Das dazu, ich habe mir meinen Einstand auch anders vorgestellt«, sagte Claire und zeigte auf die Crémant-Flaschen auf dem Tisch, »aber so ist das eben. Ich hatte gestern Abend noch schnell etwas besorgt, das muss jetzt warten. Kommen wir zu unserem Mord von letzter Nacht. Das Opfer heißt Lily Peeters, dreiundzwanzig, Hebamme, wohnhaft bei ihrer Mutter. Der Täter hat anscheinend nicht lange gefackelt, und er war gründlich. Dreizehn Messerstiche, vermutlich mindestens einer davon ins Herz. Jean wird dazu später mehr sagen können. Wir haben schon einen ersten Hinweis, vermutlich vom Mörder selbst. Jasper.«

Claire wies mit der Hand in Richtung des jungen IT-Spezialisten der Abteilung. Claires Vorgänger Kuipers hatte ihn erst einige Monate zuvor in die Abteilung geholt. Mit seinen zwanzig Jahren war er der Jüngste in der Runde, was sein Aufzug noch unterstrich: mit asymmetrisch rasierten Haaren, einem weinroten Hoodie und überweiten Loose Fit Jeans sah er aus, als wäre er direkt aus einer Halfpipe in Venice Beach hierher ins Dezernat gefallen.

»Ja, richtig, wir haben vorhin eine Art Bekennerschreiben erhalten, oder was auch immer das ist«, sagte Jasper, klickte eine Datei auf dem vor ihm stehenden Laptop an und schaltete den großen Monitor an der Wand ein. Der Screen zeigte die Schreibtischoberfläche des Computers. »Genauer gesagt ist uns eine anonyme Drohung hereingeflattert. Oder, um präzise zu sein, sie ist im Postfach der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit gelandet. Sie wurde über das Onlineformular unserer Website verschickt, nicht als E-Mail. Das ist zumindest ungewöhnlich. Also entweder ist da jemand unglaublich dilettantisch …«

»Oder er will, dass wir das glauben«, rief Victor dazwischen.

»Oder er will, dass wir das glauben, exakt, lieber Victor«, schaltete Claire sich ein. »Als Absender ist eine russische Mailadresse angegeben, sehr wahrscheinlich Bluff, so eine kann sich jeder Idiot innerhalb von fünf Minuten zulegen, nicht wahr, Jasper?«

Jasper nickte abwägend.

»Oder eben auch nicht jeder Idiot«, präzisierte Claire. »Jedenfalls muss man zumindest wissen, wie es funktioniert. Also vermutlich doch nicht ganz so dilettantisch.«

Claire fixierte Victor, um ihm klarzumachen, dass sie bereits einen Schritt weitergedacht hatte.

»Also ein noch etwas unklares Bild so weit, vor allem, wenn man auf den Inhalt sieht, wobei er vermutlich unsere Gedankengänge kalkuliert hat«, führte Claire aus. »Und warum er einen leicht zu durchschauenden Dilettantismus vortäuscht, werden wir herausfinden. Und ebenso, wer er ist.«

»Was steht denn nun in der Nachricht?«, rief jemand.

»Ja, was steht drin?«, rief eine zweite Kollegin.

»Das ist nur zum Teil sofort zu dechiffrieren.«

Claire gab Jasper ein Zeichen, der öffnete die Datei. Auf dem Monitor des Konferenzraums erschien die E-Mail des anonymen Absenders.

»Inhalt der Nachricht ist eine ungerichtete Drohung«, referierte Claire und las vor: »›Brügge wird bluten. Sommer ist der Mädchen Tod‹. Und dann noch etwas, das wie Latein klingt: ›Stabunt matres mox‹.«

»Die Drohung ist ja wohl nicht so schwer zu dechiffrieren«, raunzte Victor.

»Findest du? Dann erkläre uns doch gern mal den letzten Satz«, parierte Claire süffisant.

Die neue Praktikantin der Abteilung googelte sofort.

»Ich finde nicht genau den Satz, aber das hier: ›Meinten Sie Stabat mater?‹. Das ist ein mittelalterliches Gedicht über die Leiden der Mutter Jesu, ›Es stand die Mutter schmerzerfüllt‹ heißt es übersetzt«, referierte sie.

»Danke, Yvonne«, sagte Claire.

Jasper nickte der Rechercheurin anerkennend zu. Ihre langen, lockigen roten Haare bildeten allerdings einen so dichten Vorhang, dass sie seinen Blick gar nicht wahrnehmen konnte.

»Das ist Plural«, mischte sich Direktor Bertrand ein.

»Bitte?«, fragte Claire.

»Das klingt nicht nur wie Latein, das ist es auch. Und es bezieht sich wohl auf das, was die Kollegin da gefunden hat, nur ist es Futur und Plural. Meine Güte, lernt denn heute keiner mehr Latein? Was soll nur aus unserem kleinen Königreich werden?«, klagte Bertrand scherzhaft. »Es heißt also nicht ›Es stand die Mutter‹, sondern ›Es werden die Mütter stehen‹.«

»Und dieses ›mox‹? Das klingt wie ein Gift«, vermutete IT-Mann Jasper.

»Bald«, antwortete Bertrand.

»Wie, bald?«, fragte Victor.

»Bald. Es heißt ›bald‹. ›Bald werden die Mütter schmerzerfüllt stehen‹«, erklärte Bertrand.

»Warum Latein? Was soll das?«, fragte Marc.

»Vielleicht will er uns seinen Bildungsgrad vor Augen führen, um uns zu sagen, ihr habt es mit einem ganz besonders Schlauen zu tun«, vermutete Claire.

»Ich glaube, das ist ein Haiku«, meldete sich Praktikantin Yvonne zu Wort.

»Wie bitte?«, fragte Claire.

»Ich glaube, das ist ein Haiku«, wiederholte Yvonne. »Ich habe zwar leider kein Latein in der Schule gehabt, aber dafür etwas Japanisch. Und ich glaube, das ist ein Haiku, eine japanische Gedichtform.«

»Auf Flämisch?«

»Ja, Haikus werden in allen möglichen Sprachen geschrieben. Es kommt auf die Silbenzahl und den Rhythmus an.«

»Und was macht das hier jetzt zu so einem Haiku?«, nörgelte Victor.

»Es sind fünf, dann sieben und dann wieder fünf Silben. Und drei Zeilen.«

»Das ist alles? Und deshalb soll das gleich ein japanisches Gedicht sein?«, ätzte Marc.

»War ja nur eine Idee, Entschuldigung«, zog Yvonne ihren Einwurf zurück.

»Nein, nein, nein, warte mal«, sagte Claire. »Gibt es denn noch etwas, weshalb du das denkst?«

»Es wird eine Jahreszeit genannt und eine Stimmung, das ist eigentlich auch ganz typisch.«

»Ein japanisches Gedicht auf Flämisch mit einer Zeile auf Latein?«, fragte Marc skeptisch.

»Es sieht wohl zumindest erst mal so aus. Es ist, was es ist«, sagte Claire, »und wir können, glaube ich, davon ausgehen, dass der Verfasser der Zeilen genau dieses Rätselraten bei uns auslösen wollte. Also hat er schon mal einen Punkt gemacht, und der nächste sollte dann bitte schön dringend an uns gehen.«

»Okay, was fangen wir jetzt damit an?«, fragte Victor.

Claire murmelte die Zeilen vor sich hin und las sie dann rhythmisiert laut vor.

»Brügge wird bluten, Sommer ist der Mädchen Tod, Stabunt matres mox. Kein schönes Gedicht, aber es könnte zumindest eines sein.«

»Das kann doch alles ein ganz blöder Zufall sein«, warf Victor ein.

»Kann, völlig richtig, muss aber nicht. Vielleicht ist das ein Hinweis, der uns am Ende die entscheidende Idee bringt«, mahnte Claire.

»Ach ja«, meldete Yvonne sich noch mal zu Wort. »Ich weiß nicht, ob das wichtig ist. Das ist eigentlich eine etwas altmodische Form, ein Haiku zu schreiben.«

»Das jetzt auch noch«, raunte Marc.

Claire musterte ihn und fragte sich, warum er plötzlich so reizbar und übellaunig war.

»Wieso das, Yvonne?«, fragte sie unbeirrt und schickte dem Kollegen einen tadelnden Blick.

»Früher hat man immer fünf und sieben und fünf Silben geschrieben, so wie es hier gemacht ist, das wird heute eigentlich nicht mehr so streng gehandhabt.«

»Also eher ein Traditionalist, wenn an der Gedichtthese etwas dran ist«, folgerte Claire. »Das ist ein wichtiger Hinweis. Bravo, Yvonne, vielen Dank!«

Victor und Marc verdrehten die Augen.

»Vielleicht ein frustrierter Lateinlehrer«, rief Marc.

Ende der Leseprobe