Tödliche Jagd - John U. Brownman - E-Book

Tödliche Jagd E-Book

John U. Brownman

4,8

Beschreibung

Hier und heute können wir uns outen: etwa Mitte 1985 kamen meinem Co-Autor Hans Bräunlich und mir die Idee, mittels Krimis den jugendlichen Lesern in der DDR etwas über die USA - Geografisches und Alltägliches - nahezubringen. Und um glaubwürdiger zu wirken, wählten wir ein Pseudonym, indem wir Teile unserer Namen pur übersetzten. Der Schriftsteller John U. Brownman war geboren. Ehrensache war, dass nicht nur auf unsere Fantasie gesetzt wurde: In jedem der auf zehn Bände konzipierten Krimi-Reihe sollte Wissen über einen weltbekannten US Schriftsteller vermittelt werden. Die Fakten des Alltags lieferte der VEB Globus - ein Zeitungsausschneidedienst, der als Dienstleistung dem jeweiligen Kunden monatlich deutschsprachige Artikel zu angesagten Themen wie Kriminalität oder Alltagsgeschichten in den USA oder Kuriosa in aller Welt zuschickte. Alles – die notwendige staatliche Befürwortung und auch die Bezahlung leistete der Kinderbuchverlag Berlin. Nebenbei: Prominente DDR-Bürger, Künstler oder Sportler, nahmen den VEB Globus unter Vertrag, um sich Pressebeiträge für die Selbstdarstellung ihrer Persönlichkeit zukommen zu lassen. Also - an authentischem US Material mangelte es nicht. Als ersten unseren Krimi begleitenden Autor legten wir Jack London fest. Die entsprechende Lokalität war San Francisco und Umgebung. Wir verabredeten die Story - meine Aufgabe war es, eine diskussionswürdige Vorlage zu schaffen, die letztlich Hans Bräunlich mit mir zu einer Druckfassung formte. Die Story handelt grob umrissen vom Gewerkschaftsfunktionär Tom Eden, der den Betrügereien an ausländischen Hafenarbeitern seinen Kampf ansagt und schließlich eliminiert wird. Gemeinsam mit einem Schwarzen, dem ehemaligen Angehörigen der Green Berets, Anthony Lincoln, gelingt es Mike Eden, dem 12-Jährigen Sohn des ermordeten Gewerkschafters, Licht in die dunklen Geschäfte des Syndikats zu bringen. Obwohl beide über wohlmeinende Helfer verfügen - am Ende stehen sie allein einer Übermacht gegenüber und sie müssen Hals über Kopf vor den Killern der Organisierten Kriminalität fliehen. Eine wichtige Rolle spielt in dem aktionsreichen Krimi der Deutsche Schäferhund Ringo, dem der an Bord seiner Jacht in die Luft gesprengte Gewerkschaftsboss zu Lebzeiten eine entscheidende Funktion hinsichtlich der geheimnisvollen Videokassette Nummer sieben zugedacht hatte. Obwohl zwei Auflagen - die gebundene betrug 12 000 Exemplare; 60 000 Exemplare waren es als gleichnamiges Taschenbuch - vergriffen waren,

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Impressum

John U. Brownman

Tödliche Jagd

ISBN 978-3-86394-894-8 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1988 in Der Kinderbuchverlag Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Fred Westphal

John U. Brownman ist das Pseudonym für Hans-Ulrich Lüdemann und Hans Bräunlich.

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Wenn jemand ernsthaft behauptet, dass Mike Eden sich an diesem Sonnabend woanders wohler fühlen würde als in der kleinen Bucht der Richardson Bay, wenige Meilen südlich von Sausalito, dann ist er ein verdammter Lügner. Schließlich hat Mikes Vater ihn das erste Mal zu einer Wochenendtour mitgenommen. Bei Sausalito wassert nämlich Tom Edens schnittige Motorjacht AGATHA. Bislang war der Fünfzigjährige stur wie ein Fels gewesen, wenn sein Sohn ihn bat, zum Angeln mit hinausfahren zu dürfen. Aber irgendwann hatte der Mann sich hinreißen lassen, sehr gute Leistungen, die den weiteren Besuch der in Kalifornien bekannten und anerkannten privaten Hockley High School ermöglichen würden, als eine Art Jachtzoll festzusetzen. Und nun also hat Tom Eden wohl oder übel sein Wort einlösen müssen.

Die Lehrer würdigten Mikes Aufmerksamkeit und Fleiß in den meisten Unterrichtsfächern mit den bestmöglichen Prozenten! Aber - Ehre, wem Ehre gebührt - wenn von Wohl oder Übel die Rede tatsächlich gewesen sein sollte - dem Vater ist äußerst wohl bei der Erfüllung seines Versprechens! Um noch eins draufzusetzen, macht Tom Eden das Glück des Jungen vollkommen: Auch für Ringo gilt die Erlaubnis, an der Wochenendangeltour auf der AGATHA teilzunehmen! Und als ob der außerordentlich kräftige Deutsche Schäferhund-Rüde diese Ausnahme erkennt oder anerkennen will - sein Benehmen ist an diesem Tag einwandfrei. Bislang jedenfalls.

Der Zwölfjährige wirft verstohlen einen Blick auf das linke Handgelenk. Wenn sein Daddy großzügig ist, ist er es mit allem Drum und Dran! Zwei Uhr sieben Minuten und dreiunddreißig Sekunden zeigt die ladenneue CASIO-DATA-BANK Armbanduhr. Superspeicher mit zwölfstelliger Anzeige für Telefonnummern! Stoppuhr! Timer ... Mike Eden seufzt überwältigt vor Stolz und Glück, endlich Besitzer einer solchen Uhr zu sein.

Und doch stehen im Augenblick düstere Wolken über dem Liegeplatz der AGATHA. Nein, am Wetter hapert es nicht. Wenn es schöne Monate in diesem kalifornischen Landstrich gibt, dann sind es August, September, und Oktober. Tag für Tag Sonnenschein. An dem ansonsten oft geschmähten, am himmlischen Wettermanager Mr. Petrus kann also niemand seinen Zorn auslassen. Ein anderer Mann, der mit beiden Beinen auf der Erde steht, ist dabei, zumindest Tom Eden den gewohnten Wochenendsport zu verderben. Ob er will oder nicht.

„Man hat Sie gewählt, Tom, dass Sie den Bossen kräftig in die Suppe spucken! Stattdessen setzen Sie sich mit feinster Serviette auf den Knien bei diesen Herrschaften zu Tisch!"

Die Pause im Streit der beiden Männer verursacht bei Mike Eden ein Kribbeln in der Magengegend. Der Junge hat berechtigte Angst, dass sein Vater die Beherrschung verliert. In der letzten Zeit reagiert Tom Eden überaus empfindlich. Auch die Mutter hat darunter zu leiden. Irgendetwas scheint seinen Dad zu bedrücken, ahnt Mike. Aber was?

„Noch eine solche Bemerkung vor den Ohren meines Jungen, Lincoln, und ich sorge dafür, dass du die längste Zeit im Hafen einen Job bei der Sicherheit hattest. Dann kenne ich keine Rücksichten mehr. Auch nicht wegen Jonathan."

Mike lauscht auf. Jonathan heißt der Bruder. Oder besser - das war der Name des älteren Bruders gewesen, der in Grenada gefallen ist. Und seitdem hat dieser stämmig gebaute Schwarze Anthony Lincoln öfter die Familie Eden zu Hause besucht. Aber da er sich nur mit den Eltern abgibt, vornehmlich mit der Mutter stundenlang spricht, hat Mike den Schwarzen nicht weiter zur Kenntnis genommen. Zumal ihm scheint, der Vater legt keinen Wert darauf, dass sein Sohn diesen Anthony Lincoln näher kennenlernt.

„Okay, Tom", redet Lincoln auf Mikes Vater beruhigend ein. „Ihre Weigerung im Herbst 83, diese verdammten Pershings auf die ALEMANIA EXPRESS nach Europa zu verladen - da waren Sie voll am Wind, Mann! Gemeinsam mit den Schauerleuten! Ihr überraschender Wahlsieg geht voll in Ordnung, meinen die Docker. Wir gönnen Ihnen auch das feudale Haus in den Pacific Heights auf Gewerkschaftskosten. Aber diese Sache jetzt, Mann, lässt sich nicht steuern wie Ihre Motorjacht AGATHA: Das Ruder nach rechts legen, wenn Sie links anlegen wollen! Falls Sie das verstehen, Tom?!"

„Danke für die Belehrung. Da muss also erst einer kommen, den die Green Berets aus ihren Reihen gestoßen haben? Um mir klarzumachen, wie ich die Gewerkschaftsarbeit in Oakland aufzuziehen hätte? Ich habe doch deutlich gesagt, dass ich nach wie vor gegen den Einsatz von Leiharbeitern als Streikbrecher bin."

„Das genügt nicht, Mann! Kriegen Sie nicht mit, dass Sie zwischen Baum und Borke sitzen? Sie hängen quasi in der Luft zwischen diesem Steg und Ihrem Apfelsinenkahn!"

Nicht nur Mike braucht Zeit, bis er das letzte Wort verdaut hat. Dieses Boot baute sein Vater, als an die hohen Einkünfte als hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionär gar nicht zu denken war! Von Hause aus ist der gebürtige Chicagoer Bootsbauer. Mit abgeschlossener Lehre auf einer Werft am Michigansee. Eine Art Holzwurm also. Wenn der Vater das hinzusetzt, ist stets gute Laune angesagt. Ganz im Gegensatz zu dieser Sonnabendmittagsstunde.

„Man wird Sie wie eine Laus unterm Daumennagel zerquetschen, Tom! Wenn Sie sich nicht für, sondern gegen die Gewerkschaftsmitglieder entscheiden!"

„Soll das eine Drohung sein?" An den Schläfen des Vaters wölben sich die Adern.

„Stellen Sie sich eindeutig auf die Seite der Docker, verdammt noch mal! Keine Leiharbeiter als Streikbrecher! Aber auch nicht irgendwelche anderen illegalen Billiglohnarbeiter! Und wenn Waffen nach Lateinamerika verladen werden sollen - Streik!"

„Wir würden uns gegen die Regierung stellen, Lincoln! Und dann - ausgerechnet du hast die Stirn, mir das einzureden? Wer hat denn meinen Ältesten abgeknallt? Wer?!"

Nein, Mike will sich nicht in das Männergespräch einmischen, doch Ringo knurrt unmissverständlich. Anthony Lincoln scheint erst jetzt den Deutschen Schäferhund zu bemerken. Nachdem der Schwarze das Tier aufmerksam betrachtet hat, wendet er sich wieder Mikes Vater zu. Der hebt ahnungsvoll beide Handflächen, um jede neu zu erwartende Wortkanonade Lincolns abzublocken.

„Komm mir nicht wieder mit deiner fantastischen Märchengeschichte, was in Grenada passiert sein soll mit Jonathan! Das zieht bei mir nicht mehr!", fügt Mikes Vater abwehrend hinzu.

„Okay! Renn doch ins offene Messer, Mann! Aber denken Sie an meine Worte: Es geht um mehr, als Sie überhaupt ahnen können!"

„Meinst du!"

Die Art, wie Mikes Vater seine Antwort betont hat, lässt Anthony Lincoln aufhorchen. Er startet einen letzten Versuch, an Eden senior heranzukommen.

„Wenn Sie auch mehr wissen, Tom - umso gefährlicher für Sie!"

„Schluss jetzt mit diesem unsinnigen Palaver! Und ich glaube auch im Namen meiner Frau zu sprechen, Lincoln, wenn ich sage, dass wir Sie ab sofort nicht mehr in unserem Hause zu sehen wünschen! Haben wir uns verstanden?"

„Bin ja nicht taub! Hoffentlich ist es noch nicht zu spät. Denn Sie werden Ihre Worte bereuen! Wenn noch Zeit dafür bleibt, Tom Eden! Denken Sie doch auch mal an Ihren Jungen!"

Wortlos packt der Fünfzigjährige den überlangen Bootshaken. Die Holzstange allein ist zwar dünn und scheint wenig als Waffe geeignet; das angeschraubte Eisen hat es jedoch in sich.

Mike sieht die Fäuste, die die gefährliche Stange halten, weiß werden. Da ertönt ein Knurren, und mit einem Sprung ist der Schäferhund an dem Jungen vorbei. Gegen den Neger seine Zähne fletschend, hockt Ringo neben Mikes Vater.

„Du bist selbst für den Hund unerwünscht, Lincoln!"

„Bilden Sie sich ja nicht ein, dass ich Furcht hätte vor dem vierbeinigen Teufel da! Ich war schließlich bei den Green Berets. Und würde Ihr Sohn noch leben, könnte er Ihnen bestätigen, ein gewisser Nigger Anthony Lincoln hat vor nichts Angst! Halten Sie es Jonathans Andenken zugute, Tom Eden, dass Sie als sein Vater so mit mir reden durften!"

Die dünne gelbe Nappalederjacke spannt in den Nähten, als Lincoln sich bückt. Er streckt furchtlos seine Rechte dem offenen Fang des Schäferhundes entgegen. Ringo weicht zurück. Es hat den Anschein, als wolle er sich mit Schwung auf den vermeintlichen Angreifer stürzen. Dann aber - Vater und Sohn glauben ihren Augen nicht zu trauen -, Ringo leckt die dargebotene Hand! Nicht ohne den Schwanz unterwürfig zwischen die Beine zu klemmen. Eine Demutshaltung, die Mike bisher höchst selten bei dem kräftigen Rüden beobachten konnte.

„Solltest mal bei Jack London nachlesen, Junge", sagt der Schwarze, als er die staunenden Augen bei Eden junior bemerkt. „Der Mann ist immerhin in Oakland auf die Welt gekommen! Aber Lockruf der Wildnis ist sicher kein Lehrstoff für die Hockley High School, die dein Daddy für dich ausgesucht hat. Kostet doch bestimmt über fünftausend Dollar Schulgeld im Jahr! Und ein feines College danach für sicher fünfmal zehn Riesen ..."

Der Schwarze kommt aus seiner Hockstellung hoch, einem Revolver gleich richtet er den Zeigefinger auf Mikes Vater, der noch immer wie angenagelt steht. „Und das alles finanzieren seine ehemaligen Kumpels von der Hafenarbeitergewerkschaft! Oder?"

Anthony Lincoln lacht bitter auf. Sein strahlendweißes Gebiss ist ein nicht zu übersehender Kontrast zum pechschwarzen bartlosen Gesicht. Es dauert, bis das Schrittgeräusch seiner Knöchel hohen Lederstiefeletten auf dem hölzernen Steg verklungen ist. Tom Eden und sein Sohn Mike sehen stumm dem Davongehenden nach. Dann aber wollen beide, so schnell es geht, diese Begegnung vergessen. Und jeder hat dafür seinen Grund.

„Lass dir doch von so einem nicht die Sonne verdunkeln, Dad!" Nach diesem tröstend gemeinten Satz winkt Mike den Schäferhund-Rüden Ringo an seine Seite. Noch immer verblüfft über die Selbstsicherheit, mit der Anthony Lincoln dem Tier Respekt abgenötigt hatte.

„Schutz garantiert Ringo auch nicht gerade", sagt der Vater mit einem geringschätzigen Seitenblick auf den hechelnd dastehenden Hund. Tom Eden hat erst nach stürmischem Drängen von verschiedenen Seiten seinerzeit nachgegeben und nur widerwillig diese Anschaffung bei einem der besten Zwinger in der gesamten San Francisco Bay Area perfekt gemacht. Er scheint seine Entscheidung zu bereuen.

„Er hat doch nur auf einen Befehl von mir gewartet!“, nimmt Mike spontan seinen vierbeinigen Freund in Schutz. Insgeheim wächst des Jungen Wut auf jenen Anthony Lincoln. Musste der alles, aber auch wirklich alles an diesem sonnenklaren Mittag verderben?

„Befehl!? Befehl?!"

Mike erschrickt über die Erregung des Vaters. Fast mutlos hockt er sich nieder. Seine hohen Prozentzahlen in den einzelnen Unterrichtsfächern haben wohl nur für ein Zwischenhoch gesorgt? Ist die Schönwetterlage nun vorbei? Als ob Ringo ihn trösten will, fährt er mit der Schnauze in den offenen Hemdausschnitt des Jungen.

„Ein Hund an sich ist nicht das Wichtigste, mein Junge. Wenn ein Hund nichts mehr taugt, zieht der Mensch eben einen anderen groß. Aber dessen Halsband, das sollte einer stets in Ehren halten. Denk an meine Worte ..."

Mike begreift nichts. Auf Ringos Halsband steht ja nicht einmal der Name geschweige denn die Adresse, wo er zu Hause ist!

„Egal, was kommt, Mike: Denk immer an Ringos Halsband!", wiederholt der Vater seine Worte. „Manchmal ist das sogar ganz besonders wichtig."

Seit dem Streit auf dem Bootssteg ist eine auffällige Veränderung mit Tom Eden vorgegangen. Irgendwie wirkt der Fünfzigjährige auf einmal müde. Es ist aber nicht das Abgeschlafftsein eines Familienvaters, der sich müht, die notwendigen Dollars für seine Angehörigen heranzuschaffen - nein, eine Art Willenlosigkeit scheint ihn zu lähmen. Doch wo ist der Grund dafür zu suchen? Doch Tom Eden wäre kein in vielen Redeschlachten und Gewerkschaftskämpfen gestählter Mann, könnte er nicht jene Schwachheit überspielen.

„Alles, was Beine hat - an Bord!", schreit Mikes Vater und breitet die Arme aus. Er greift seinen Jungen und hebt ihn über die Reling auf die Jacht. Mit einem Satz springt Ringo sofort ebenfalls auf das Schiff. In diesem Augenblick ist das Knattern und Tuckern eines kleinen Motorbootes zu hören. Winzig und äußerlich derart altersschwach, dass jeder schon von weitem sich die Augen bedeckt, um nicht unmittelbarer Zeuge des unausweichlichen Untergangs zu sein, nähert es sich der Jacht. Dieser schwimmende Sarg scheint von Berkeley herüberzukommen und hält unbeirrt Kurs Richtung Golden Gate Bridge. Hat der Mann am Steuer dieses Seelenverkäufers vor, im Pazifik seine letzte Heuer abzuholen? Eine Rückkehr ans sichere Ufer hält Tom Eden nämlich für unmöglich. Aber nicht deswegen geht Mikes Vater nach Backbord, um jenen Schlickrutscher genauer unter die Lupe zu nehmen. Mitleid mit dem alten Mann drüben am Ruder ist es auch nicht. Tom Eden will keineswegs jenem wohl lebensmüden Steuermann eine Warnung zukommen lassen. Nein, Mikes Vater ist stocksauer, weil da drüben klammheimlich irgendetwas in das Wasser der Bucht gelenzt wird!

„Dreckskerl!!!"

Mike erschrickt fast mehr als der, dem diese Beschimpfung gilt, aber sich in seinem Tun nicht stören lässt. Es ist auch nicht der Ton. der den Jungen beunruhigt. Er findet nur, dass der Vater sich erneut über die Maßen an einer Sache hochzieht, die gewiss nicht gerade selten hier geschieht. Sich die Bootsnummer notieren, bei der Umweltschutzbehörde eine Anzeige machen - das genügte doch, um sich den Wochenendfrieden zu bewahren. Aber nein: Tom Eden verfolgt mit wutverzerrtem Gesicht den nahen Kurs des leicht dümpelnden Potts. Und er jagt von achtern zum Bugspriet, dabei wüste Flüche ausstoßend! Ärger hin, Ärger her - Mike findet dieses Gehabe gewaltig übertrieben. Aber es passt gegenwärtig zu Dad. Beinahe das Summen einer Mücke in ihrem großen Haus in den Pacific Heights reicht seit kurzem aus, dass der Mann sofort ausflippt.

Total überarbeitet, denkt Mike. Aber diese Erkenntnis ist für den Jungen nicht neu. Da hat er, ohne Dad zu fragen, kürzlich dessen Videokamera benutzt. Der Teufel wollte es, dass die Tonaufnahme-Automatik dabei einen Hieb abbekam. Nicht wörtlich gemeint. Mehr im übertragenen Sinne. Kurzum - Mike stellte das Ding klammheimlich ins Regal zurück. Nicht im Traum wäre ihm eingefallen, dass sein Alter einen solchen Affentanz deswegen aufführen würde. Wenn Agatha Eden, Mikes Mutter, nicht dazwischengegangen wäre - der Junge hätte wohl das erste Mal Ohrfeigen vom Vater bekommen ...

„Ringo! Bei Fuß!"

Von dem Gezeter, das Tom Eden an Bord verursacht, ist der Schäferhund immer unruhiger geworden. Mit lautem Bellen unterstützt er die Schimpfkanonade hinüber zu dem schwerfällig davon tuckernden Schrotthaufen.

„Riechst du es, Mike?! Verflucht noch einmal! Du riechst es doch auch?!"

Der Junge nickt. Mit einer Hand krault er beruhigend Ringos Hals. Jetzt könnten sie aber langsam mal ablegen ...

„Himmelherrgottnochmal!"

Erneut zuckt Mike hoch. Dieser Tag steht wahrlich unter einem verdammt schlechten Stern, denkt er. Der Mutter wird er von all diesen Zwischenfällen nichts erzählen, schwört sich der Junge. Sie hat ohnehin außergewöhnlich schwache Nerven. Ein ums andere Mal beklagt sie, dass man Vaters Heimatstadt Chicago verlassen hat. Dort hätten sie schließlich auch ihr Auskommen gehabt. Diese Karriere des Vaters in der Gewerkschaft werde noch allen in der Familie Eden Unglück bringen. Das luxuriöse Haus auf den Hügeln empfindet Mikes Mutter als einen goldenen Käfig. Und sie hat sich entschieden die Einstellung von Bediensteten verbeten. Nein, es liege ihr nicht, die Arbeit anderer Leute zu beaufsichtigen, lieber mache sie alles selbst ...

„Erst fehlt die Harpune! Jetzt hat deine Mutter auch noch vergessen, mir Zigaretten einzupacken! Sie kann es einfach nicht lassen, mir das Rauchen abgewöhnen zu wollen! Da drüben - am Anlegeplatz der Fähre ist ein Shop, Mike! Der hat geöffnet übers Wochenende. Meine Marke kennst du ja! Am besten bringst du gleich eine Stange!"

Dass Vater ein starker Raucher ist, weiß Mike zwar - aber eine Stange?! Sie sind doch nur zwei Tage auf dem Wasser! Erstaunt registriert der Junge jetzt, dieses schrottreife Boot von vorhin hat doch nicht Kurs auf die Golden Gate Bridge genommen, sondern gewendet. Der spindeldürre Kerl am Steuer hält ein zweites Mal auf die AGATHA zu …

„Ich beeil mich, Dad!"

Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmt Mike davon. Mit langen, geschmeidigen Sätzen folgt Ringo. Mal seinen Herrn überholend, mal ihn spielerisch umkreisend. Beide sind froh, den erneut lauthals über die Richardson Bay schallenden Wutanfall Tom Edens gegen den Umweltsünder nicht mit anhören zu müssen. Kaum hat der Junge den Shop erreicht, da erschüttert eine gewaltige Explosion den Fährhafen mit seinen vielen hundert Liegeplätzen für Motorboote und Segeljachten.

Mike duckt sich vor Schreck. Als er wieder hochkommt, hört er Ringo ängstlich fiepen. Eine zweite, schwächere Detonation folgt. Der Junge will es nicht wahrhaben - aber das Krachen muss genau aus der Richtung gekommen sein, wo die AGATHA an den Festmacherleinen schaukelt! Tom Edens Sohn muss Ringo nicht erst auffordern, ihm zu folgen. Als ob der Schäferhund etwas ahnt - auf dem Rückweg läuft er stracks voran - keinerlei Ansätze zum sonst üblichen übermütigen Spielen!

2. Kapitel

Hary Vanderbilt trägt nicht nur einen guten amerikanischen Namen, jedes Basketball-Team hätte ihn auch von der Statur her mit Handkuss für die Position des Centers genommen. Die enormen Körpermaße des Staatsanwalts würden ihn als Hauptangreifer in einer Basketball-Crew sehr befähigen. Sei es, wie es sei - das alles spielt am stark demolierten Liegeplatz für Sportboote keine Rolle. Heute und hier ist ein Center ganz anderer Art gefragt. Staatsanwalt Vanderbilt muss Ordnung in das sich seinen Augen bietende Chaos bringen. Er versucht, einen Überblick über das Geschehene zu gewinnen. Seine bisherigen Notizen sagen noch sehr wenig aus. Ein Unfall, wie so viele schon in diesem Sommer. Während er geduldig darauf wartet, dass der Junge vor ihm sich wieder seelisch erholt, denkt Vanderbilt an die unzähligen anderen Schäden durch fahrlässigen Umgang mit Gasflaschen bei Wassersportlern und auf Campingplätzen allgemein. Flüssiger Brennstoff allerdings erwies sich in der Vergangenheit als Gefahrenherd Nummer eins.

„Bist du okay?"

Mike Eden will antworten, doch ein Schluchzen schüttelt seinen Körper. Mehr automatisch als dankbar schlürft der Junge den ihm gereichten Saft aus einer Dose. In seiner Erregung wüsste er nicht einmal zu sagen, welchen Geschmack das Getränk hat.

„Also, Mike ..." Vanderbilt liest den Namen des Jungen von seinem Notizblock ab. Die Männer von der Highway Patrol, die sofort zum Unglücksort geschickt worden waren, haben ihn mit ersten Informationen versorgt.

„Es tut mir aufrichtig leid. Aber wir beide sind uns sicher einig - es muss sein. Dass wir jetzt miteinander reden."

Stumm nickt der Junge. Er kann es immer noch nicht fassen, dass Vater tot sein soll. Von der Seite stellt sich Ringo plötzlich hoch und legt seine Vorderpfoten zutraulich auf die Schultern des wie erstarrt dastehenden Mike Eden.

„Dein Hund?". fragt Vanderbilt bewusst ablenkend. Er sucht den Jungen in ein Gespräch zu verwickeln. Nur so kann er Einzelheiten erfahren, die vielleicht ausschließlich diesem Mike Eden aufgefallen sind. „Ein schönes Tier. Bestimmt auch sehr wachsam? War er bei dir, als du nach Zigaretten unterwegs warst?"

„Ja, Sir."

„Sag Hary zu mir, mein Junge! Ich heiße Hary Vanderbilt. Die Polizei hat mich gerufen. Das tut sie immer. In einem solchen Fall. Die Staatsanwaltschaft informieren. Und wir wollen dann alles genauestens wissen. Wie es sich zugetragen hat. Wer anwesend war. Was gesehen oder beobachtet wurde ..."

„Da war ein Mann, Sir!"

„Was für ein Mann, Mike?"

Nach kurzem Überlegen besinnt sich der Junge auf das Angebot des so freundlich wirkenden Staatsanwalts. Warum soll es ihm etwas ausmachen, den Mann mit seinem Vornamen anzusprechen?

„Ich kann Ihnen diesen Typ auch beschreiben, Hary!"

„Mike! Du bist ein cleverer Bursche!"

Vanderbilt bemüht sich, den Sohn des tödlich Verunglückten abzulenken und ihn in Form zu bringen. Für die Akte benötigt er handfeste Aussagen. Seine Arbeit wird nicht danach eingeschätzt, wie viel Stunden er bei Sausalito in der herrlichen Nachmittagssonne zugebracht hat. Je eher Vanderbilt brauchbare Angaben von diesem Mike Eden erhält, desto besser für beide. Es erscheint dem Staatsanwalt nötig und richtig, den zwölfjährigen Jungen, der auf ihn einen eher etwas schwächlichen und verzogenen Eindruck macht, schnellstens auf Vordermann zu bringen. Vanderbilt hat da seine eisernen Methoden ...

„Kennst du das Buch vom Malteser Falken? Von Dashiell Hammett? Hier in unserer City geschrieben und später verfilmt! Im Malteser Falken also, Mike, da gibt es einen Privatdetektiv Sam Spade. Stell dir vor, was solch ein Mann alles im Blick haben muss! Jedenfalls, wenn er erfolgreich für jemanden arbeiten will. Schließlich bekommt er ja nur für das bezahlt, was er ermittelt. Was er sagen kann über das, was sich da und da abgespielt hat. Vor seinen Augen ..."

„Ich habe es ja gar nicht gesehen! Die Explosion!", unterbricht Mike. Er ist drauf und dran, erneut in Tränen auszubrechen.

„Natürlich hast du was gesehen!", ruft Vanderbilt aufmunternd.

„Da war ein Mann in diesem kleinen Boot ...", sagt stockend der Junge. „Dad hat zweimal seinetwegen eine ungeheure Wut gehabt!"

Der Staatsanwalt nickt dem Jungen lächelnd zu. Und Mike beginnt jene hagere Gestalt am Steuer zu beschreiben. Obwohl er ihn nur entfernt und kurz gesehen hat - diesen Mann würde er, falls er ihn noch mal sieht, garantiert wiedererkennen.

„Kannte dein Vater den Mann von irgendwoher?"

„Nicht dass ich wüsste."

„Warum dann der Zorn?", erkundigt sich Vanderbilt gelassen, als würde ihr Gespräch vom schönen Wetter handeln.

„Er hat im Vorbeifahren etwas in die See abgelassen. Was durch die Strömung direkt auf unsere AGATHA zutreiben musste!"

„Benzin? Altöl?"

„Weiß nicht. Dad war jedenfalls ungeheuer sauer. Vielleicht weil er Mitglied bei den Greenpeace-Leuten ist, die für Umweltschutz und so sind …" Mike hat auf einmal bunte Blitze vor den Augen. Seine Hände greifen Halt suchend um sich. Aber da ist nur Leere, nur Luft. Staatsanwalt Vanderbilt, der aus den Augenwinkeln die Arbeit der Feuerwehr beobachtet, vermag den Jungen kurz vor der Erde gerade noch zu packen. Er winkt einen Mann zu sich.

„Hat keinen Zweck, Hary! Lass den Jungen erstmal in Ruhe." Der Polizeiarzt streift die Handschuhe aus durchsichtiger Folie ab. Die behelfsmäßige Bahre, auf der etwas liegt, das er als die verbrannten Reste eines menschlichen Körpers zu identifizieren hatte, steht hinter ihm.

„Aber ich brauch ihn, verdammt! Ohne ein Phantombild von diesem Alten im Boot kommen wir nicht weiter! Das ist ein wichtiger Zeuge, Doc! Sie müssen mir den Jungen wieder auf die Beine bringen! Und zwar schnellstens."

Der Polizeiarzt bleibt von der Erregung des Staatsanwalts unberührt. Er meint lakonisch: „Soviel steht schon fest - das Feuerwerk war nur Mittel zum Zweck! Die Verpuffung auf dem Wasser sollte nur davon ablenken, dass irgendwo ein Killer bereit saß, der den Mann auf der brennenden Motorjacht abservierte. Und wir hätten nichts mehr an Spuren vorgefunden, Hary, wenn die Feuerwehr nicht so schnell alarmiert worden wäre."

„Geben Sie ihm noch einmal eine schwache Dosis! Auf meine Verantwortung, Doc!"

Der Mediziner presst die Lippen aufeinander, als er dem hochgewachsenen Vanderbilt von unten herauf ins Gesicht sieht. Zwischen den Augenbrauen kerbt sich eine tiefe Falte, als der Arzt erregt reagiert: „Das mit der Verantwortung - sagen Sie das bitte nie wieder, Staatsanwalt Vanderbilt!"

„Okay, Doc!" Hary Vanderbilt lächelt. Er beugt sogar leicht die Knie, um eine Entschuldigung anzudeuten. Danach aber kann er ein überlegenes Grinsen nicht unterdrücken. Weil der andere nach seinen gewichtig klingenden Worten doch zur Spritze greift. Mag der Doktor sich ruhig aufspielen, denkt Vanderbilt. Hauptsache, sein Zeuge ist wieder ansprechbar!

Der Junge nimmt den Einstich nicht wahr. Dabei hat ihn sonst schon der Anblick einer Spritze erschreckt. Die Wirkung der Injektion lässt nicht lange auf sich warten.

„Daddy?!"

Mike Edens vergeblicher Schrei nach seinem Vater bewegt die umstehenden Männer. Sie tun plötzlich sehr geschäftig. Mit dem Ergebnis - der Junge und der Staatsanwalt sind schnell allein auf dem Steg. Es riecht nach verbranntem Holz. Aber jede Brandgefahr ist inzwischen beseitigt, und so verlässt als erstes Fahrzeug die Feuerwehr den Ort des Geschehens. Ihr folgen der Polizeiarzt und seine Kollegen von der Technik. Als Nachhut gewissermaßen setzt sich der Funkstreifenwagen in Bewegung.

„Ich bringe dich und den Hund jetzt nach Hause, Mike. Glaubst du, dass wir deine Mutter antreffen?", fragt Staatsanwalt Vanderbilt.

Mike hat das Gefühl, in einem superweichen Kissen zu sitzen oder zu liegen. Vor ihm oder über ihm spielt sich alles, was er sieht, wie auf einer dreidimensionalen Leinwand ab. Selbst Vanderbilt spricht zu ihm wie durch Watte. Angenehm gedämpft, aber deutlich zu verstehen.

„Wo ist euer Wagen, Mike?"

„Unser Wagen?" Der Junge versteht den Sinn nicht, der in Hary Vanderbilts Worten liegt.

„Wo hat dein Daddy seinen Wagen geparkt?", wiederholt der Staatsanwalt geduldig. Er packt Mike an den Schultern und schiebt ihn vor sich her zu seinem Dienstfahrzeug. Der Zwölfjährige trottet willenlos mit.

„Mein Dad macht keine halben Sachen! Seit er Mitglied ist bei diesen Greenpeace-Leuten, haben wir kein Auto mehr."

Verblüfft bleibt Staatsanwalt Vanderbilt stehen. Man kann es auch übertreiben, denkt er. Weil irgendwo das Wasser in einer Wüste knapp ist und die Leute dort nach jedem Tropfen dürsten, deswegen nimmt er trotzdem morgens und abends ein Vollbad. Bisher hat er immer angenommen, dass sich bei dieser weltweiten Organisation nur vernünftige Typen versammeln. War Tom Eden die oft zitierte Ausnahme?

„Wenn es sein muss, schickt die Gewerkschaft ein Auto. Dads Fahrer ist sonst überall dabei. Auch wenn Dad das nicht mag", brummelt der Junge im Weitergehen.

„Eine Art Leibwache also?"

Mike Eden weiß auf diese Frage keine Antwort und lässt sich von Hary Vanderbilt in dessen Auto mit den beiden Sondersignalleuchten auf dem Dach verfrachten. Unter anderen Umständen wäre es für den Jungen eine Sensation gewesen, in solch einem Fahrzeug durch die Straßen von San Francisco zu brausen.

„Hatte dein Vater Feinde, Mike?", fragt der Staatsanwalt.

Sie biegen links ab auf den U. S. Highway 101. Als der Junge wieder die Antwort schuldig bleibt, stellt Vanderbilt die Frage erneut. Dieses Mal aber schärfer. Zugleich langt er mit der Rechten zum Beifahrersitz und rüttelt die zusammengesunkene Gestalt. Insgeheim flucht der Staatsanwalt auf den Polizeiarzt. Hat er ihm nicht ausdrücklich zu verstehen gegeben, dass der Bursche noch als Zeuge benötigt wurde?! Stattdessen macht dieser gottverdammte Doc den Jungen derart fertig, dass der jetzt einen Babysitter braucht!

„Mike! Bist du okay?"

Mit Mühe hebt der Angesprochene den Kopf.

„Dad ist beliebt bei seinen Leuten im Hafen von Oakland. Sie haben ihn …“ Mike stockt. Dann setzt er schlaftrunken fort: „Es gibt aber auch welche, die Tom Eden zum Teufel wünschen. Verdammt sehr sogar, Hary!"

Vanderbilt rüttelt den Jungen heftiger. Trotzdem behält er die Fahrzeuge rechts und links neben sich im Auge. Die ersten Hinweise auf die zu entrichtende Gebühr für das Passieren der Golden Gate Bridge tauchen an den Straßenrändern auf. Entschlossen schaltet Staatsanwalt Vanderbilt das Sondersignal ein und schert nach links aus. Er schnauft zufrieden, als er erkennt, dass die übrigen Autofahrer sich diszipliniert der entnervend heulenden Sirene unterordnen.

„Wer wünschte deinen Vater zum Teufel, Mike? Vor wem hatte er Angst?!"

„Mein Daddy?! Nie!!! Mutter hatte Angst!"

3. Kapitel

Staatsanwalt Hary Vanderbilt sitzt an seinem Schreibtisch und starrt grübelnd in den halbvollen Kunststoffbecher mit starkem Kaffee. Vergeblich müht er sich dahinterzukommen, was ihn an diesem Sonnabend in der Frühe beim Aufstehen hätte warnen müssen, dass dieser Tag so und nicht anders ablaufen würde. Die ersten Stunden hatte er in seinem Büro gehockt und die Zeit mit überfälligen Berichten herumgebracht. Bis der Anruf wegen der Explosion bei Sausalito kam. Verdammte Amtshilfe! Damit fing die ganze Misere an. Eine halbverbrannte Leiche mit einer tödlichen Schussverletzung. Dazu die Sorge für den Sohn des Toten. Denn die übersensible Gattin des toten Gewerkschaftsbosses war ein glatter Ausfall. Nachdem sie gerade noch bestätigen konnte, sie hätte alles geahnt, weil der Mann immer so halsstarrig in seinem Gerechtigkeitswahn war, ist Agatha Eden ohnmächtig geworden und erst im Presbyterian Medical Center zwischen Clay Street und Sacramento Street wieder zu sich gekommen. Aber als die Frau ihren Jungen neben sich am Bett stehen sah und am Fußende ihn, den Staatsanwalt Hary Vanderbilt, da gerieten ihre Nerven durcheinander. Sie verwechselt seitdem den Namen des verunglückten Mannes mit dem des Schäferhundes ...

Vanderbilt hatte Mike kurzerhand gepackt und ihn zusammen mit Ringo ins Büro mitgenommen. Gänzlich uneigennützig war diese Obhut natürlich nicht. Es hatte länger gedauert als die Fahrt nach Sausalito hin und zurück, ehe Vanderbilt Jack the Rubber fand, der fähig war, nach den Angaben des Jungen ein Phantombild vom Fahrer des kleinen Motorbootes anzufertigen.

Als ein überlautes Stuhlbeinscharren die Büroruhe unterbricht, sieht der Staatsanwalt auf. Er wirft einen Blick hinüber in die Ecke. Neben dem Ständer mit den zwei gekreuzten Sternenbannern sitzen Jack the Rubber und Mike Eden. Vanderbilt ist schleierhaft, wie Radiergummi-Jack durch seine Haarsträhnen, die zwischen ihm und dem Zeichenkarton hängen, überhaupt etwas erkennen kann. Die Fähigkeit dieses Jack ist es, mit einem spitzen, harten Radiergummi aus der schraffierten Fläche ein Phantombild besonderer Art zu schaffen. Er ist in dem Metier in Fachkreisen hochgeachtet und ohne Konkurrenz. Ein halblaut geführtes Frage- und Antwortspiel begleitet den für die Ermittlungen wichtigen Vorgang.

Der Junge hat sich wieder erstaunlich gut in der Gewalt, denkt Staatsanwalt Hary Vanderbilt. War nicht falsch gewesen, ihn noch auf dem Flur im Medical Center hart anzupacken. Dass alles nun von ihm, Mike Eden, abhänge. Dass die Familie jetzt ganz allein auf ihn gestellt sei! Dass er für seine Mutter einzustehen habe. Denn Tom Eden sei zwar tot, doch Mike Eden, sein Sohn, am Leben! Und es gelte, noch eine Menge zu klären. Mit ihm, dem Staatsanwalt Hary Vanderbilt, würde er jedenfalls rechnen können. Ein Versprechen, gegeben unter Männern und dementsprechend in der Regel auch verdammt viel wert ... Vanderbilt fährt sich mit den Fingern durch den Haarschopf. Da hat er sich etwas eingehandelt. Reißt er sich also ein Bein aus in dieser Sache für ein zwölfjähriges Kind!

„Fertig!"

Langsamer als sonst kommt Vanderbilt von seinem Sessel in die Senkrechte. Obwohl ihn die Zeichnung brennend interessiert, vermeidet Hary Vanderbilt es tunlichst, dem Künstler zu nahe zu kommen. Denn dieser abgebrochene Oskar Kokoschka hält nicht viel von seiner Menschenpflicht, gelegentlich mit Seife und Wasser umzugehen. Jack lebt offenbar nach dem bekannten Motto: Erstunken ist noch keiner! Aber ertrunken sind schon viele! Als Hary Vanderbilt seine Hand nach dem immerhin weißen Zeichenkarton ausstreckt, denkt er bereits daran, nachher keinesfalls zu versäumen, die Räumlichkeit gut zu durchlüften. Bei allen Vorbehalten - die Zeichnung ist vortrefflich gelungen! Mit diesem äußerst realistisch wirkenden Phantombild lässt sich etwas anfangen. Wenn die Tageszeitungen es am Montag bringen, ist das ausreichend, entscheidet Hary Vanderbilt. Er hat Mühe, den Maler wieder loszuwerden. Jack zeigt sich überraschend fasziniert von Ringo und spricht ungewohnt pathetisch von der Urkraft der Natur, die sich in diesem Dämon Tier, nur für ihn sichtbar, zeige ...

Als erstes wäscht sich Staatsanwalt Vanderbilt die Hände, nachdem Jack das spartanisch eingerichtete Büro verlassen hat. Als zweites schaltet er die Klimaanlage auf Höchstleistung.

„Ich möchte nach Hause", sagt Mike plötzlich. „Vaters Freunde und die Nachbarn helfen mir schon."

Vanderbilt schaut überrascht zum Jungen hinüber. Nachdem der Staatsanwalt sein Handtuch sorgfältig am Haken verstaut hat, begibt er sich zum Schreibtisch. „Und ihr habt wirklich keine Verwandten in unserer Stadt?"

„Meine Leute wohnen in Chicago, Sir."

Der Staatsanwalt lächelt: „Wir waren schon einmal bei Hary, mein Junge. Also - du bist wieder okay?"

„Ganz okay, Hary!" Mike Eden bemüht sich um eine forsche Antwort. Dabei genügte ein leichter Tatzenhieb von Ringo, ihn von den Beinen zu holen. Aber der Junge will endlich allein sein. Zu Hause in seinem Zimmer sich einschließen und die Augen zumachen! Was dann kommt - es würde sich zeigen.

„Wie wär's mit einem Telefonat? Nach Chicago?"

„Mein Onkel hat kein Telefon, Hary!"

Die Blauäugigkeit der Antwort ist nicht zu überhören. Schon gar nicht für einen Staatsanwalt. Dennoch tut Vanderbilt, als würde er der Aussage des Jungen Glauben schenken. Für ihn letzten Endes eine Sache der Bequemlichkeit.

„Lassen Sie mich nach Hause, Hary!" Die Hand des Zwölfjährigen krault Ringos dickfelligen Hals. Der Hund reagiert auf diese Liebkosung, indem er seinen länglichen Kopf gegen Mikes Knie presst. Es ist still im Zimmer. Nur das schrittweise Rucken des Sekundenzeigers an der elektrischen Wanduhr ist zu hören.

Überlegt Hary Vanderbilt, ob er es verantworten kann, den Jungen gehen zu lassen? Und Mike Eden - woran denkt er? Wenn er nun Vanderbilt von dem Streit erzählte, den sein Vater und dieser Lincoln miteinander hatten?! Bevor Dad ihn zum Zigarettenholen schickte und der Kerl kam, der das Benzin lenzte! Ob diese Fakten Vanderbilt wohl deutlich machen würden, dass Mike sich wieder völlig okay fühlt? Dass wieder mit ihm zu rechnen sei? Dass man ihn sich selbst überlassen könne? Der Staatsanwalt stutzt tatsächlich, als der Junge plötzlich von Anthony Lincoln zu reden anfängt.

„Ein Schwarzer, sagst du?"

Mike Eden freut sich, dass Vanderbilt echtes Interesse zeigt und auf diesen Hinweis anspringt. „Wie alt?"

„Vielleicht dreißig?"

„Weißt du, wo er wohnt?"

Als Mike Eden verneinen muss, scheint der Faden ihres Gesprächs abzureißen. Aber da ist noch etwas anderes. Viel Wichtigeres, wie der Junge glaubt. „Sie haben sich gestritten, Hary! Und er hat meinem Daddy gedroht!"

„Die beiden kannten sich gut?"

Mike überlegt nicht lange. „Das muss mit meinem Bruder Jonathan zusammenhängen. Er ist gefallen. Auf Grenada. Der Neger und er waren in einer Einheit."

„Moment, Mike!" Vanderbilt hebt abwehrend beide Hände. Das geht ihm etwas zu hastig. Erst der eine Sohn? Dann der Vater? „Dieser Neger hat sich also an deinen Daddy rangemacht! Nachdem dein Bruder Jonathan tot war! Ist das so richtig, Mike?"

Jetzt zögert der Junge. Die Eltern hatten Anthony Lincoln immer wieder eingeladen. Vornehmlich die Mutter hat ihn gebeten, ihr alles, was er weiß, über den gefallenen Sohn zu erzählen. Ob einer das ranmachen nennen kann? Selbst Dad hat sich manchmal über die Langmut des Schwarzen gewundert, einiges drei- oder viermal zu berichten. Deswegen wohl auch Tom Edens Fürsprache. Was Lincolns Job bei der Hafensicherheit in Oakland, diesem gewaltigen Containerterminal, anging ...

„Ist das so richtig?!", drängt Staatsanwalt Vanderbilt, seine Frage wiederholend.

Mike hat nur noch eines im Sinn: mit Ringo dieses kalte Büro, mit seinen Stadtplänen von der San Francisco Bay Area an den Wänden, zu verlassen, um nach Hause zurückzukehren!

„Wo genau arbeitet dieser Lincoln? Worüber haben sie gesprochen?"

„Soviel ich mitgekriegt habe, Hary, hat er einen Job im Hafen von Oakland", verrät Mike. „Hat Dad ihm besorgt", setzt der Junge mit einem Anflug von Stolz hinzu.

„In Oakland?", wiederholt Vanderbilt. Er schaut über das Haupt des Jungen hinweg in östliche Richtung, wo ungefähr auf der anderen Seite der San Francisco Bay der größte Hafen des Landes liegt.

„Oakland also. Über die Hälfte der dort Lebenden sind Schwarze. War deshalb auch eine Brutstätte der Black Power Bewegung damals. Hatte dein Vater mit solchen Leuten etwas abzumachen? Als Gewerkschafter?"

„Keine Ahnung!", antwortet Mike schnell und wahrheitsgemäß.