Tödliche Oase - Emma Haughton - E-Book + Hörbuch

Tödliche Oase Hörbuch

Emma Haughton

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Beschreibung

Rasante Spannung mit Kino-Potenzial und einer starken weiblichen Stimme Mit »Tödliche Oase« legt die britische Autorin Emma Haughton ihren zweiten Locked-Room-Thriller vor: Nur wenige Leute dürfen zu diesem Ort kommen. Noch weniger dürfen ihn wieder verlassen: Willkommen in der Oase! Zoey kann sich nicht an letzte Nacht erinnern. Sie weiß nur, dass etwas gewaltig schiefgelaufen ist. Denn als sie aufwacht, ist sie nicht mehr in New York, sondern irgendwo in einer glühend heißen Wüste: in einem Haus, das ihr fremd ist, mit Menschen, die sie nicht kennt. Zoey wurde in der Oase aufgenommen, einem luxuriösen und total isolierten Rehazentrum mitten im unerträglich heißen Nirgendwo. Dort findet man Zuflucht vor dem Alltag – oder vor dem Gefängnis. Zoey hat zwar ihre Geheimnisse und das ein oder andere Problem, trotzdem ist sie davon überzeugt, alles unter Kontrolle zu haben. Bis mit jedem Tag und jedem Gespräch neue Erinnerungen hochkommen. Schließlich muss Zoey erkennen, dass jemand in der Oase ihr schaden, ja, sie offenbar sogar töten will … Entdecken Sie auch Emma Haughtons ersten atmosphärisch-beklemmenden Thriller »The Dark« über eine Forschungsstation in der Antarktis: »Ein lupenreiner Pageturner, der an einem der abgelegensten, kältesten und dunkelsten Orte dieser Welt spielt.« Krimi-Couch über den Thriller »The Dark«

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Zeit:11 Std. 39 min

Sprecher:Kaja Sesterhenn
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Emma Haughton

Tödliche Oase

Thriller

Aus dem Englischen von Cornelia Röser

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

Epilog

Danksagung

1

Die Hitze weckt mich. Und die Schmerzen. Ich liege auf dem Rücken, und zwischen meinen Brüsten, auf meinem Bauch und in meinen Halsfalten sammelt sich Schweiß. Mein Kopf dröhnt so sehr, dass mir übel wird.

Warum ist es so verflucht heiß in der Wohnung?

Ich strample die Decke weg und versuche, wieder einzuschlafen. Als ich es fast geschafft habe und gerade in die selige Besinnungslosigkeit hinabgleite, fällt mir plötzlich etwas auf.

Es ist zu still.

Die typische Geräuschkulisse des New Yorker East Village, der unablässige Lärm der Hupen und Sirenen, das tiefe Brummen der Flugzeuge im Anflug auf JFK oder LaGuardia – alles weg. Ich höre nichts als unheimliche Stille – und das leise bumm-bumm-bumm meines Herzens.

Verdammt, was ist hier …

Ich setze mich auf und warte, bis ich klar sehen kann. Mein Herzschlag beschleunigt sich, fällt vom Trab in Galopp. Das heillose Chaos, das ich im Gästezimmer meines Onkels angerichtet habe, ist verschwunden: die Bücherstapel, getragenen Klamotten, bergeweise Zeitschriften, schmutzige Tassen und Teller. Ebenfalls nicht da sind der Ikea-Schrank und die passende Kommode, der goldverzierte Spiegel, den Dan vor das freiliegende Mauerwerk gehängt hatte, und auch die scheußliche grüne Schale vom Flohmarkt auf der Columbus Avenue, die er als Ablage für Münzen und Schlüssel benutzt.

In diesem Zimmer gibt es nur weiß getünchte Wände und ein schmales Bett. Ein Fenster an der Seite ist einen Spaltbreit geöffnet, und ein dünner, cremefarbener Vorhang bauscht sich im warmen Luftzug. Auf der anderen Seite befindet sich eine schlichte Eichenholztür mit einem einzelnen Messinghaken daran, rechts daneben ein großer Kleiderschrank, der zur Hälfte aus offenen Fächern besteht und in dem ein Stapel frischer Unterwäsche liegt.

Ich sehe mich weiter um. Auf einem Tisch neben dem Bett stehen eine volle Wasserflasche und ein sauberes Glas.

Was soll das?

Wo bin ich?

Ich schließe die Augen, zähle bis fünf und bete, dass alles nur ein verrückter Traum ist. Doch als ich die Augen wieder öffne, ist das Zimmer noch da und die Luft noch genauso heiß und drückend. Die Stille fühlt sich so dicht und erstickend an, als wäre sie ein lebendes Wesen.

Verdammt, was ist letzte Nacht passiert? Als ich mich zu erinnern versuche, steigt Panik in mir auf. Mir dröhnt der Schädel vor Anstrengung. Wir waren in einer Bar in der Avenue A, mit Franny, Rocco und Roccos Freunden. Dann vereinzelte, bruchstückhafte Bilder aus dem Club. Wir reden mit ein paar Typen an unserem Tisch. Trinken Tequila. Mehr ist da nicht.

Als ich die Bettdecke ganz zurückschlage, stelle ich erleichtert fest, dass ich meine zerrissenen Jeans und das Ramones-T-Shirt noch anhabe – die Kleidung, in der ich gestern aus dem Haus gegangen bin. Meine Lederjacke und meine Lieblings-Doc-Marten’s kann ich allerdings nirgends entdecken.

Ebenso wenig wie mein Handy oder meine Zigaretten, wie ich feststelle. Ich stehe auf und trete ans Fenster. Ein bisschen wackelig bin ich auf den Beinen, meine Kehle ist wie ausgedörrt. Dann schiebe ich den Vorhang zur Seite, und mir fährt der Schreck in die Glieder. Meine Knie fangen an zu zittern.

Nichts.

Keine Straßen, keine Häuserblocks, keine Türme in der Ferne. Keine Autos, Taxis, Geschäfte, Restaurants oder Cafés. Nur Leere und Weite, so weit das Auge reicht. Wüste. Trockene rote Erde, Kakteen und dürre kleine Sträucher.

Heilige Scheiße! Wo bin ich?

Mir wird schlecht, und ich wimmere vor Angst und Schreck. Wurde ich … entführt? Oder halluziniere ich? Habe ich meinem Hirn jetzt endgültig den Rest gegeben und bin durchgeknallt? Allerdings fühlt sich der heiße Wind, der durchs Fenster hereinweht, schon ziemlich real an, und in der Luft liegt ein trockener, erdiger Geruch. Im grellen Sonnenlicht muss ich die Augen zusammenkneifen, und Schmerz zuckt durch meinen Kopf.

Ich sehe mich weiter um. Unter dem Bett entdecke ich ein Paar Flipflops und ziehe sie an. Dann gehe ich zur Tür – die sich zu meiner Erleichterung sofort öffnen lässt.

Eingesperrt bin ich also nicht.

Ich blicke in einen langen Korridor mit mehreren geschlossenen Türen. Was ist das hier? Eine Art Hostel?

Ich trete in den Flur hinaus und klopfe an die benachbarte Tür. Nichts geschieht. Ich drehe den Knauf, und die Tür lässt sich öffnen. Der Raum dahinter ist leer, bis auf ein Bett mit einer unbezogenen Matratze. Ich gehe weiter durch den Flur. Durch die nächste Tür gelange ich in ein kleines Duschbad. Ich werfe einen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken.

Himmel, ich sehe furchtbar aus. Übernächtigt, die Wimperntusche verschmiert, die Haut bleich und fleckig und mit einem Schweißfilm überzogen. Meine dunklen Haare fallen mir offen und verfilzt bis fast auf die Schultern. Ich taste nach meinem Nasenring. Die Haut dort ist rot, geschwollen und berührungsempfindlich.

Dann sehe ich an mir hinab und bemerke einen Fleck auf meiner Jeans – ein brauner Streifen auf dem linken Oberschenkel. Das sieht aus wie … o Gott … getrocknetes Blut!

Mit heftiger klopfendem Herzen ziehe ich die Jeans herunter und untersuche mein Bein. Keine Anzeichen einer Verletzung. Ich ziehe die Hose wieder hoch und inspiziere nun mein Gesicht, taste meine Kopfhaut nach Wunden oder Beulen ab. Nichts.

Schwer atmend lehne ich mich ans Waschbecken. Mein Magen rebelliert.

Was ist mit mir passiert?

Wo bin ich?

Auf den Waschbeckenrand gestützt, suche ich nach den Erinnerungen an letzte Nacht. Zuerst finde ich nur Leere vor, wo meine Erinnerungen sein sollten. Dann tauchen unvermittelt Sirenen und blitzende Lichter auf. Ich werde in ein Auto geschoben.

Ein übermächtiges Gefühl von Angst und Verzweiflung.

Plötzlich werden Schwindel und Durst so stark, dass ich kaum noch aufrecht stehen kann. Ich taumle in das Zimmer zurück, in dem ich vorhin aufgewacht bin, und trinke die Wasserflasche in einem Zug leer. Einen Moment lang stehe ich schwer atmend da, bevor ich erneut in den düsteren Korridor hinaustrete.

Dieses Mal gehe ich in die andere Richtung. Durch einen steinernen Türbogen gelange ich in ein riesiges, lichtdurchflutetes Atrium. Eine Wand ist ganz aus Glas und bietet einen unverstellten Blick auf die Landschaft: Sand und Kakteen, meilenweit, bis zu einer Hügelkette am Horizont. Ein Teleskop in der Ecke ist auf den Himmel ausgerichtet. Auf der anderen Seite des Raums, vor einem großen, gemauerten Kamin, stehen zwei gesteppte Ledersofas und ein schwerer, flacher Holztisch, darauf eine große Vase mit frischen Blumen. Über dem Kamin hängt ein riesiges Ölgemälde: eine Wüstenszene in kräftigen, satten Farben.

Liebevoll gepflegte Topfpflanzen verleihen dem Raum mit seinen polierten Steinfliesen Behaglichkeit, und von den freiliegenden Eichenholzbalken unter der Zimmerdecke hängen zwei gewaltige schmiedeeiserne Kronleuchter.

Meine Güte, was für ein Haus!

»Hallo?«, rufe ich, erst zögerlich, dann lauter. »Hallo? Ist hier jemand?«

Keine Antwort. Doch am anderen Ende des Raums entdecke ich nun eine breite, geschwungene Treppe, die ein Stockwerk höher führt. Keuchend vor Anstrengung steige ich hinauf. Oben öffne ich die erste Tür, die ebenfalls unverschlossen ist, und betrete ein wunderschönes Zimmer mit einem Mahagoni-Schlittenbett und Ausblick auf den rückwärtigen Bereich des Anwesens. Anders als die Zimmer im Erdgeschoss ist dieses hier eindeutig bewohnt. Jemand hat einen weißen Frotteebademantel aufs Bett geworfen, und auf der Kommode liegen ein Föhn, eine Haarbürste und ein Schminktäschchen.

»Hallo?«, rufe ich noch einmal. Ob die Bewohnerin des Zimmers im angrenzenden Badezimmer ist?

Stille.

In den anderen Räumen ist es dasselbe. Alle sind unverschlossen und menschenleer, aber offensichtlich bewohnt. Das letzte Zimmer, ganz am Ende des Flurs, ist das größte von allen. Es ist mit einem luxuriösen Doppelbett und schweren, auf Hochglanz polierten Holzmöbeln ausgestattet. Es gibt sogar einen offenen Kamin mit echtem Holz darin und einen Deckenventilator. Große Fenster zu zwei Seiten des Zimmers bieten einen Panoramablick über die Wüste, außerdem führt eine Flügeltür auf einen Balkon.

Ich öffne sie und beuge mich weit über die verschnörkelte schmiedeeiserne Brüstung, in der Hoffnung, irgendwo andere Häuser oder Verkehr zu entdecken. Doch keine Spur von irgendwelchen Gebäuden. Offenbar steht dieses Haus tatsächlich mitten im Nirgendwo.

Ich schließe die Balkontüren wieder und werfe einen Blick in das riesige Bad. Dominierendes Element ist eine elegante frei stehende Badewanne, wie man sie in erstklassigen Hotels findet. Die Dusche daneben hat einen dieser großen, runden Duschköpfe, aus denen das Wasser wie warmer Regen fällt. Jeder Zentimeter, sogar die gewölbte Decke, ist mit Mosaiken verkleidet.

Dieses Haus ist umwerfend, und es stinkt nur so nach Geld. Wäre da nicht der Umstand, dass man die Türen nicht abschließen kann, würde ich es für ein teures Hotel oder eine Luxuspension halten.

Ich inspiziere die Toilettenartikel auf dem Waschbeckenrand. Kiehl’s, Dior, Tom Ford. Alles Produkte für Männer. Dann wohnt hier also wirklich jemand? Habe ich mich im Club von einem irrsinnig reichen Typen abschleppen lassen?

Normalerweise zieht das Unravel zwar nicht gerade Wall-Street-Typen an, aber wer weiß? Vielleicht hatte jemand Lust auf einen Abstecher in die Schmuddelecke. Fand es amüsant, mit einem rotzarmen Grungegirl auf primitiv zu machen.

Aber das ergab trotzdem keinen Sinn. Dieser Ort hier kann nicht ansatzweise in der Nähe von New York sein, aber wenn ich zum Flughafen gefahren oder in ein Flugzeug gestiegen wäre, würde ich mich doch wohl daran erinnern?

Und warum wäre ich dann vollständig bekleidet in diesem Schuhkarton von einem Zimmer im Erdgeschoss gelandet?

Wieder fühle ich mich entmutigt und beklommen. Ich laufe die geschwungene Treppe hinunter und reiße wahllos irgendwelche Türen auf. Hinter einer finde ich eine Bibliothek, in der jede Wand mit Regalen voller Bücher und Zeitschriften gesäumt ist. Die nächste Tür führt zu einer geräumigen Lounge mit langen Ledersofas, die um einen marmornen Couchtisch gruppiert sind. Im hinteren Bereich ist in einem Kamin frisch gehacktes Feuerholz aufgeschichtet. Hinter einer dritten Tür entdecke ich einen Abstellraum mit Besen, Staubsaugern und anderen Putzutensilien. Schließlich komme ich in einen kurzen Gang, der zu einem anderen, schlichteren Anbau mit weiteren Zimmern führt – doch diese sind offenbar abgeschlossen. Ich probiere nur ein paar Türen, bevor ich es aufgebe.

Ich drehe um und laufe in die entgegengesetzte Richtung weiter, bis ich mich in einem zu allen Seiten von Gebäuden umschlossenen Innenhof wiederfinde. Hier halte ich kurz inne und lasse das Bild auf mich wirken. Was für ein idyllischer Ort das hier ist. Sofas und hölzerne Tische stehen auf einer lang gezogenen, überdachten Terrasse, dazwischen große Übertöpfe mit Pflanzen. Den Boden zieren hübsche alte Terrakottafliesen, und die Wände sind in diesem wüstentypischen Rosarot gestrichen. Hinter einer Reihe steinerner Torbögen schließt sich ein Garten an, in dem ein großer Baum gepflegten Rasen und einen angrenzenden Teich beschattet. Überall erstrecken sich Beete mit dunklen Grünpflanzen und verschiedenen, leuchtend bunt blühenden Blumen.

Die Luft in diesem begrünten Innenhof ist feucht und einige Grad kühler als im Haus, und eigentlich will ich nicht wieder in die erdrückende Hitze zurück. Aber ich muss irgendjemanden finden. Ich muss herauskriegen, wo ich bin – und warum.

Ich laufe den Weg wieder zurück, biege im Flur zum Atrium jedoch nach links ab und gelange so in einen weitläufigen Empfangsbereich, wo ich plötzlich vor einer breiten Eingangstür aus Holz und Glas stehe. Ich halte direkt darauf zu – voller Angst vor dem Augenblick, in dem ich erkennen muss, dass die Tür verschlossen ist und ich eine Gefangene bin im luxuriösesten Knast der Welt.

Doch im nächsten Moment stehe ich draußen auf einer überdachten Veranda. Als ich aus dem Schatten heraustrete, habe ich das Gefühl, gegen eine Wand aus Hitze zu laufen. Die Sonne brennt so intensiv, dass ich fast wieder zurückweiche. Das gleißende Licht blendet mich.

»Hallo?«, schreie ich. Mit einer Hand schirme ich meine Augen gegen das grelle Licht ab. Ich sehe mich um. Das ist surreal.

Wo sind denn bloß alle?

Ich zwinge mich, in die unfassbar heiße Luft hinauszutreten, und wanke in den geborgten Flipflops über den Kies zu einer Reihe von Nebengebäuden – drei große, mit hellem Holz verkleidete Lagerhäuser. Auf den Dächern sind Solarmodule angebracht, und ich höre das tiefe Brummen eines Generators. Außerdem gibt es eine Art Carport, unter dem ein einzelnes Fahrzeug parkt. Ein Offroader für raues, offenes Gelände.

Davon gibt es hier reichlich.

Das Grundstück ist von einer flachen Mauer umschlossen. Ich lasse den Blick daran entlangwandern, bis er an einem schweren Eisentor hängen bleibt. Der Anblick lässt mich stutzen.

Hinter dem Tor ist nichts. Keine Straße, nicht mal eine Schotterpiste.

Ich gehe zum Carport zurück und versuche, die Tür des Jeeps zu öffnen. Abgeschlossen. Die Augen mit der Hand abgeschirmt, spähe ich ins Wageninnere und hoffe, dort wenigstens mein Handy zu entdecken. Doch bis auf mehrere Zwanzig-Liter-Kanister Wasser ist der Wagen leer.

Angst durchzuckt mich.

Was zum Teufel geht hier vor? Bin ich ganz allein hier?

»HALLO!«, rufe ich, so laut ich kann. Doch der warme Wind trägt meine Stimme davon, und nichts kommt zurück.

Trotz meiner Kopfschmerzen und dem Druck in meinem Magen ziehe ich los, um die gesamte Anlage ein Mal zu umrunden. Der Gebäudekomplex steht auf einer kleinen Anhöhe, und die einzelnen Häuser sind mit überdachten Wegen und Bogengängen im Hacienda-Stil miteinander verbunden, einmal sogar mit einer Brücke. Einige Häuser sind rosarot gestrichen, die Dächer mit traditionellen Terrakottaschindeln gedeckt, andere bestehen aus dunklem Granit, wie zum Beispiel ein hoher, runder Turm, an dessen Spitze ich eine Satellitenschüssel und einen Wetterhahn entdecke.

Das Haus ist von Olivenbäumen umgeben, an deren knorrigen Stämmen silbriges Laub und schwere grüne Früchte wachsen. Dazwischen verstecken sich wilde Tiere und Vögel – geformt aus Metall und Stein. Hügelabwärts erstreckt sich ein Garten bis zur Umgrenzungsmauer, in dem ich Obstbäume und Gemüsebeete ausmachen kann sowie sämtliche Arten von blühenden Sträuchern und Pflanzen, die in diesem Klima überleben können.

Die weinlaubberankte, umlaufende Veranda des Haupthauses bietet einen unvergleichlichen Blick auf die ausgedörrte Landschaft hinter der Mauer. Ich gehe um die Veranda herum und suche den Horizont mit den Augen in alle Richtungen ab, kann jedoch nirgendwo eine Siedlung oder Farm ausmachen, nicht einmal eine Stromleitung.

Das hier ist eine Oase. Ein prachtvoll gestalteter Zufluchtsort inmitten schier endloser Wildnis. Der Bau dieser Anlage muss einen Mordshaufen Geld gekostet haben.

Als ich um die hintere Ecke des Haupthauses biege, weckt ein leises Plätschern meine Aufmerksamkeit. Ich trete aus dem Schatten der Veranda und nähere mich einem wunderschönen Steingarten mit Kakteen und grünen Yucca-Palmen, in dem ein kleiner Wasserfall über kunstvoll arrangierte Steine springt und sich schließlich im Kies verliert. Dahinter liegt ein großer, rechteckiger Swimmingpool mit Infinity-Rand, an dem das türkisfarbene Wasser nahtlos mit dem tiefblauen Himmel verschmilzt.

Während ich noch wie gebannt dastehe, streift plötzlich etwas mein Bein, und ich schreie vor Schreck auf. Ich sehe nach unten und entdecke eine kleine, schwarz-weiße Katze, die schnurrend zu mir aufblickt, einen Buckel macht und den Schwanz aufstellt. Sie öffnet das Maul zu einer stummen Begrüßung, um dann davonzuspazieren und zwischen den blühenden Sträuchern auf der anderen Seite des Pools zu verschwinden.

Mit einem tiefen Atemzug versuche ich, mein rasendes Herz zu beruhigen. Dann trete ich näher an den Pool heran und schaue ins Wasser. Es liegt ganz ruhig und glatt da und ist so tiefblau wie der Himmel darüber. Ich betrachte mein glitzerndes Spiegelbild, das ziemlich mitgenommen und verzweifelt aussieht.

Und furchtbar allein.

Mein Magen rotiert, wieder überkommt mich heftige Übelkeit. Desorientiert schließe ich die Augen und versuche, mich zu beruhigen. Etwas dringt aus den fernen Tiefen meines Bewusstseins an die Oberfläche. Ein Geräusch, ein anhaltendes, ohrenbetäubendes Dröhnen, gefolgt von einem Gefühl, emporgehoben zu werden.

Aber alles ist so wirr, so verschwommen. Ich versuche, die Erinnerung zu fassen zu bekommen und scharfzustellen, doch sie entgleitet mir, und zurück bleiben nur Fragen.

Habe ich mich auf einen völlig verrückten Roadtrip eingelassen? Hatten Franny oder Rocco sich in den Kopf gesetzt, mit dem Auto die ganze Strecke bis runter nach New Mexico oder Arizona zu fahren?

Aber das hätte doch Tage gedauert, oder nicht?

Und wie könnte ich einen solchen Trip vergessen haben?

Das ergibt alles keinen Sinn. Ich hätte New York nie freiwillig verlassen. Ich soll Onkel Dans Wohnung hüten und seine beiden anspruchsvollen Manxkatzen versorgen, da kann ich nicht einfach abhauen.

Davon abgesehen bin ich pleite. In meinen Gelegenheitsjobs könnte ich zehn Jahre ohne Pause durcharbeiten und hätte trotzdem nicht das Geld für einen Laden wie diesen.

Bei Rocco und Franny sieht es nicht anders aus.

Mein Gesicht brennt in der erbarmungslosen Sonne. Ich werfe einen Blick zum Himmel: kein Wölkchen in Sicht.

In diesem Augenblick höre ich ein Geräusch. Der heiße Wüstenwind trägt es von jenseits der Umgrenzungsmauer zu mir herauf. Gegen das gleißend helle Licht anblinzelnd, lasse ich den Blick suchend über die karge, unwirtliche Landschaft wandern, bis ich schließlich etwas entdecke, das ich bisher übersehen hatte, weil es von den Außengebäuden verdeckt war. Gut hundert Meter entfernt steht auf einer ebenen Fläche unterhalb des Hauses ein großes rundes Zelt, von dem strahlenförmig Abspannseile abgehen. An der Spitze der Mittelstange flattert ein dreieckiges rotes Fähnchen.

Und von dort höre ich schwach ein schrilles, durchdringendes Geräusch.

Schreie einer Frau.

2

Wie gelähmt stehe ich da, die Schreie gellen durch die Stille. Meine paar verbliebenen Hirnzellen wollen, dass ich weglaufe, mich verstecke, mich in dem Zimmer von vorhin verbarrikadiere. Ein paar Sekunden lang zögere ich, presse unentschlossen die Lippen aufeinander, dann springe ich mit einem Satz über die niedrige Steinmauer und renne auf das Zelt zu.

Scheiße, Mann, was machst du da?, schreit eine Stimme in meinem Kopf.

Bist du völlig irre?

Schweiß läuft mir in Strömen über das Gesicht, den Hals und den ganzen Körper, während ich zwischen Steinen und Kakteen hindurch über den ausgedörrten Wüstenboden laufe. Die Hitze hat alle Feuchtigkeit aus der Luft gesogen, und ich ringe keuchend nach Luft.

Ernsthaft, Zoey, warum machst du das? Was willst du beweisen?

Ich laufe weiter.

Als ich näher komme, höre ich zwischen den Schreien auch Schluchzer, unterbrochen von wildem Wutgeheul. In den Pausen ist eine andere Stimme zu vernehmen.

Männlich. Wütend.

Ich suche nach einem Gegenstand, mit dem ich mich verteidigen kann, finde aber nichts außer grobem Gestrüpp mit großen Dornen, das ich unmöglich anfassen kann. Hektisch suche ich weiter, bis ich eine durchhängende Zeltleine entdecke. Der zugehörige hölzerne Zeltpflock liegt auf dem Boden. Ich umfasse ihn mit festem Griff und gehe zum Zelteingang.

»Du behauptest, ich denke mir das aus?«, schreit eine Frau. Atemlos brechen die Worte aus ihr hervor. »Willst du mich umbringen, verdammte Scheiße? Willst du das?«

Ihre Stimme schwillt zu einem lang gezogenen, gequälten Heulen an. »Du willst, dass ich sterbe? Warum bringst du es nicht selbst zu Ende, dann haben wir es hinter uns?«

Ich schwinge den Zeltpflock wie eine Waffe, bereit, zuzuschlagen. In meinem Kopf taucht ein Erinnerungsfetzen von gestern Abend im Club auf. Wie ich etwas anderes mit der Hand umklammere, etwas Glattes, Schweres, und wie mein Körper von Wut und Adrenalin geflutet wird.

Ich schiebe die Erinnerung beiseite und stürme ins Zelt. Nach dem gleißenden Sonnenlicht ist es hier drinnen stockfinster. Ich zögere, blinzle und blicke verwirrt um mich, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben.

Nach ein paar Sekunden sehe ich sie. Zwölf Menschen sitzen auf Klappstühlen im Kreis und starren mich an. Die meisten sind offenbar genauso geschockt wie ich, ein paar allerdings wirken amüsiert.

»Hey, Riley, die Kavallerie ist da«, bemerkt ein Mann mit schwarzer Wollmütze grinsend.

Ich starre die junge Frau an, die in der Mitte des Kreises steht. Sie hat die Hände zu Fäusten geballt, ihre zierlichen Gesichtszüge sind zu einer schmerzverzerrten Grimasse erstarrt. Trotz der Hitze trägt sie ein langärmliges graues Shirt und eine weite blaue Trainingshose, die glatten Haare sind von Schweiß und Tränen verklebt.

»Na großartig!«, faucht sie mich an. »Ganz großes Kino. Tolles Timing, blöde Kuh.« Sie lässt sich auf den freien Stuhl fallen und wischt sich die Wuttränen aus dem Gesicht.

»Tut mir leid«, stammele ich mit einem Blick in die Gesichter der Sitzenden. In meinem Kopf dreht sich alles, ich bekomme kaum noch Luft. »Aber was ist hier verdammt noch mal los?«

Ein Mann mit kurz gestutztem Bart steht auf. »Hi, Zoey, schön, dass du es geschafft hast«, sagt er beschwichtigend und nimmt mir den Zeltpflock aus der Hand. »Setz dich doch.« Er deutet auf einen freien Stuhl.

Ich rühre mich nicht vom Fleck. Ich bin unfähig, mich zu bewegen. Keuchend ringe ich nach Atem, während mein Hirn fieberhaft versucht, die Situation zu verarbeiten.

»Woher weißt du, wie ich heiße?«, will ich fragen. »Wo zum Teufel bin ich?«

Meine Lippen formen die Wörter, doch aus meinem Mund dringt kein Laut. Im nächsten Augenblick wird die Welt um mich herum schwarz, und ich sinke zu Boden.

3

Als ich zu mir komme, liege ich auf einer Untersuchungsliege in einem schlicht möblierten Raum, offenbar eine Arztpraxis. Links von mir erhebt sich ein großer, doppeltüriger Metallschrank, daneben stehen auf einem Rolltisch Schachteln mit Tüchern, Gummihandschuhen und anderen medizinischen Utensilien. Auf der anderen Seite des Zimmers befindet sich ein Schreibtisch mit einem Laptop.

Eine kleine, hübsche Frau mit asiatischen Zügen streift mir eine Blutdruckmanschette über den Arm. »Noch nicht aufsetzen«, sagt sie mit weichem kanadischem Akzent und drückt mich behutsam auf die Liege zurück. »Lass dir noch ein paar Minuten Zeit.«

Schweigend beobachte ich, wie sie die Manschette aufpumpt und dann die Zahlen abliest, während die Luft entweicht. »Mit dir ist alles okay«, sagt sie, nimmt mir die Manschette ab und hält mir ein Digitalthermometer an die Stirn. »Dein Blutdruck ist ein bisschen niedrig, und dein Puls zu schnell, aber wahrscheinlich bist du einfach nur dehydriert und überreizt. Wie fühlst du dich?«

»Grässlich«, krächze ich. Die Kleidung klebt mir auf der Haut. »Mein Kopf bringt mich um.«

Sie liest die Temperatur vom Thermometer ab. »Also Fieber hast du nicht. Deine Temperatur ist normal.«

»Wo bin ich?«, frage ich. »Wer sind Sie?«

»Erinnerst du dich nicht mehr, Zoey?«

Ich schüttle den Kopf. In meinem Schädel explodiert eine Schmerzsalve, gegen die das Hintergrunddröhnen von vorher ein Witz war.

»Ich heiße Sonoya. Dr. Sonoya Kimura. Ich bin die Ärztin und Psychotherapeutin dieser Einrichtung. Ich habe mich letzte Nacht schon vorgestellt.«

Ich stochere in meinem Gedächtnis herum, doch ohne Ergebnis. Dann fällt mir das Mädchen im Zelt wieder ein. »Die Frau, die so geschrien hat – geht es ihr gut?«

»Du meinst Riley? Ja, mit ihr ist alles okay.«

»Sie ist nicht verletzt oder so?« Ich sehe Dr. Kimura blinzelnd an. »Sind Sie sicher? Sie wirkte ziemlich verzweifelt.«

»Gruppentherapie kann einem ganz schön an die Nieren gehen.« Sie lächelt. »In Rileys Fall war es tatsächlich eine Art Durchbruch.«

Ich runzle die Stirn. »Gruppentherapie? Was soll das heißen?«

»Rory und Mike werden dir gleich alles erklären. Bis dahin setz dich doch bitte auf und trink das hier.« Sie reicht mir ein großes Glas mit einer grellorangenen Flüssigkeit darin, aus der ein Plastikstrohhalm ragt.

»Was ist das?« Ich stemme mich hoch und blicke skeptisch auf das Glas.

»Orale Rehydrationslösung, um deinen Elektrolythaushalt wieder ins Gleichgewicht zu bringen.«

Ich mustere Dr. Kimuras gelassenen Gesichtsausdruck und frage mich, ob ich ihr trauen kann. Dann nehme ich das Glas und trinke einen Schluck. Gar nicht so übel, ein leichter Orangengeschmack, angenehm süß. Ich stürze alles hinunter und lege mich wieder hin. Mein Kopf pocht.

»Was ist das hier für eine Einrichtung, und warum ist es so infernalisch heiß?«, jammere ich.

»Die Klimaanlage ist kaputt«, antwortet Dr. Kimura, ohne auf meine erste Frage einzugehen. »Deshalb war auch niemand da, als du aufgewacht bist. Mike und Alejandro waren im Technikgebäude, um sie zu reparieren.«

»Haben Sie vielleicht eine Schmerztablette?«, frage ich, als sie ihre Instrumente wegräumt. »Mein Kopf tut echt weh.« Das hier entpuppte sich als schlimmster Kater der jüngeren Geschichte.

Wie viel habe ich letzte Nacht getrunken?

Doch sicher nicht so viel?

»Ich fürchte, nein«, sagt Dr. Kimura. »Die Kopfschmerzen kommen vermutlich vom Alkohol in Verbindung mit der Dehydrierung. Wir wollten dich bei deiner Ankunft dazu bewegen, reichlich Wasser zu trinken, aber du warst nicht sonderlich kooperativ.«

»Bei meiner Ankunft wo?«, frage ich, inzwischen gereizt. Zu allem anderen überkommt mich jetzt starkes Verlangen nach einer Zigarette. »Wann werden Sie mir verraten, was hier eigentlich los ist?«

»Einen Moment.« Die Frau verlässt den Raum. Ich starre an die Decke. Falls dieses orangefarbene Getränk irgendeine Wirkung haben soll, spüre ich sie jedenfalls nicht. Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals so elend gefühlt zu haben.

Nach ein paar Minuten kommt Dr. Kimura zurück. »Wenn du bitte mitkommen würdest, Zoey? Rory und Mike möchten dich im Büro sprechen.«

Sie hält mir die Tür auf, während ich mit wackligen Beinen von der Liege aufstehe. Ich folge ihr durch einen schmalen Flur und den Empfangsbereich bis zu einem Raum neben dem Haupteingang, wo ein gedrungener Mann an einem großen Eichenholzschreibtisch sitzt. Er ist Ende vierzig, schätze ich, und trägt ein kurzärmliges weißen Hemd mit feuchten Flecken unter den Achseln. Sein gerötetes Gesicht glänzt vor Schweiß.

»Setz dich, Zoey«, sagt er mit breitem Birminghamer Akzent, der so gar nicht hierher passt. Er zieht die Nase kraus und deutet auf den Stuhl vor dem Tisch. »Ich bin Mike. Ich leite dieses Zentrum.«

Bevor ich fragen kann, was für ein Zentrum das ist, schwingt die Tür auf, und ein zweiter Mann kommt herein. Das ist der Typ, der mir vorhin den Zeltpflock aus der Hand genommen hat, kurz bevor ich umgekippt bin. Er setzt sich auf einen der freien Stühle und betrachtet mich nachdenklich.

Ich erwidere die Musterung. Groß, gut aussehend, Mitte dreißig, Cargoshorts und ein rostrotes Poloshirt. Die rötlichen Haare und der Bart sind so säuberlich gestutzt, als würde er das täglich machen.

»Ich sehe dann mal nach Riley.« Mit diesen Worten verlässt Dr. Kimura den Raum und schließt die Tür hinter sich.

Der Mann namens Mike betrachtet mich einige Augenblicke lang, dann räuspert er sich. »Wir möchten uns dafür entschuldigen, dass niemand da war, als du aufgewacht bist. Rory und Sonoya waren in der Gruppensitzung, und Alejandro und ich hatten in einem der Versorgungsgebäude zu tun. Offen gesagt hatten wir erwartet, dass du länger schlafen würdest – bei dem Zustand, in dem du hier angekommen bist.«

»Bei dem Zustand?«, wiederhole ich, und mir fällt auf, wie heiser meine Stimme klingt. Meine Kehle schmerzt von der Überanstrengung. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Und was ist das hier für eine Einrichtung? Warum kennen alle meinen Namen?«

»Wie ich dir heute Nacht schon erklärt habe«, sagt der andere Mann, »ist das hier Die Oase.« Sein Akzent könnte australisch sein. Oder neuseeländisch.

»Die Oase?« Stirnrunzelnd sehe ich ihn an. »Was für eine Oase? Und wer sind Sie überhaupt?«

»Ich heiße Rory, und ich leite das Programm. Die Oase ist ein therapeutischer Rückzugsort, an dem Klientinnen und Klienten ihr Leben wieder ins Lot bringen und ihre jeweiligen Probleme angehen können.«

»Ein therapeutischer Rückzugsort?« Verständnislos starre ich die beiden an. »Was zum Geier soll das sein? Eine Art Entzugsklinik?«

»Ja, wir sind ein eingetragenes Genesungszentrum für Suchterkrankungen«, erklärt Mike und wischt sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß vom Gesicht. »Wir unterstützen Patientinnen und Patienten mit Suchtproblematik, aber wir nehmen niemanden auf, der medizinische Betreuung bei der Entgiftung braucht.«

»Wir verstehen die Oase eher als radikale Alternative zu konventionellen Rehazentren«, ergänzt Rory. »Eine einmalige Chance für intensive Heilung und Lebensumstellung. Menschen kommen aus den unterschiedlichsten Gründen hierher, nicht zwingend wegen eines Suchtproblems. Manche brauchen einfach einen Ort, an dem sie zu sich finden und sich neu sortieren können, Körper und Geist von den Strapazen des Alltags entlasten.«

Ich starre die beiden an. »Klingt nach komplettem Bullshit. Aber davon abgesehen: Was habe ich hier überhaupt verloren? Ich bin nicht süchtig, und mein Leben muss nicht umgestellt werden.« Schmerz durchzuckt meinen Schädel, und ich verziehe das Gesicht. Fast muss ich mich übergeben.

»Bist du dir da sicher?« Mike betrachtet mich mit einem wissenden Lächeln, für das ich ihm am liebsten eine reinhauen würde.

»Erklären Sie mir doch einfach, wie ich hierhergekommen bin.«

»Du kannst dich wirklich nicht erinnern?« Rory sieht mich stirnrunzelnd an.

Ich schließe die Augen gegen das gleißende Sonnenlicht, das hinter ihm durchs Fenster ins Zimmer fällt. Ein weiterer Erinnerungsfetzen treibt an die Oberfläche. Zwei Männer in meinem Zimmer in Dans Wohnung. Ich protestiere und flehe. Sie stehen unerbittlich da.

Dann nichts mehr. Leere.

Waren sie real oder eine Halluzination?

Ich stöhne, die Augen weiter fest geschlossen. Wäre ja nicht das erste Mal, oder, Zoey? Dass du dir Sachen einbildest, wenn du getrunken hast? Wie damals, als ich überzeugt war, jemand sei bei Dan eingebrochen, weil ich ein solches Chaos in der Wohnung angerichtet hatte. Oder dieser megapeinliche Vorfall, als ein Lieferant mit einer Riesenpizza vor der Tür stand, und ich felsenfest davon überzeugt war, meine Kreditkarte sei gestohlen worden – ich war so hackedicht, dass ich mich nicht mehr an die Bestellung erinnern konnte.

»Ich brauche eine Kopfschmerztablette«, krächze ich, »und eine Zigarette. Ehrlich, mir geht’s elend.«

»Tut mir leid, Zoey.« Mike räuspert sich ausgiebig. »Aber die Oase ist eine absolut drogenfreie Einrichtung, und darunter fallen auch Alkohol, Zigaretten sowie alle Medikamente, die nicht ausschließlich zur Behandlung von Vorerkran…«

»Ich will doch nur eine Scheißparacetamol oder Aspirin«, fauche ich ihn an. »Diese Kopfschmerzen bringen mich um, ich kann nicht klar denken.«

»Schmerz ist der Preis für die Freiheit, Zoey.« Von Rorys scheinheiliger Miene wird mir noch übler. »Wir müssen den Körper entgiften, um den Geist zu entgiften, und dazu gehört auch die Neigung zur Selbstmedikation …«

»Das ist doch irre!« Ich springe auf und kippe beinahe um, als mir das Blut in den Kopf schießt. »Mein Freund Rocco hatte Geburtstag, und wir haben gefeiert. Ein paar Drinks in der Bar um die Ecke, dann sind wir ins Unravel weitergezogen. Und als Nächstes wache ich hier mitten im« – ich deute zum Fenster – »mitten im verschissenen Nirgendwo auf.«

Ich bin den Tränen nahe, aber ich will verdammt sein, wenn ich vor diesen beiden Schwachköpfen die Fassung verliere.

»Hey, Zoey.« Rory steht auf. »Bleib ruhig. Es bringt doch nichts, sich wieder aufzuregen. Lass uns über alles reden, okay?«

Mit einem Mal werden meine Knie so weich, dass ich fast zusammensacke. Ich setze mich wieder hin und schlucke hart, um eine neue Welle von Übelkeit zu unterdrücken.

»Was ist das Unravel?«, fragt Mike.

»Ein Club in Tribeca.« Ich mustere ihn von oben bis unten, sein Polyesterhemd und die Bürohose. »Wohl kaum was für Sie.«

»Du hast also getrunken? Und sonst ganz sicher nichts genommen?«

»Nein«, sage ich empört.

»Aber erinnern kannst du dich nicht?«

Ich knirsche mit den Zähnen, antworte aber nicht. Mein Blick fällt auf den Blutfleck auf meiner Jeans. Der Schweiß in meinen Achselhöhlen fängt an zu stinken. Wahrscheinlich komme ich genauso schäbig rüber, wie ich mich im Moment fühle.

»Dann nimmst du also keine Partydrogen?«, hakt Mike nach. »GHB, Methamphetamin, Ketamin, so was in der Richtung?«

»Nein«, zische ich und starre ihn wütend an. »Jedenfalls nicht oft. Das Runterkommen macht mich fertig.«

»Marihuana?«

Ich ringe mir ein sarkastisches Lachen ab. »Wollen Sie ernsthaft behaupten, wer ab und zu einen Joint raucht, muss zum Entzug?«

Mike und Rory wechseln einen Blick.

»Wie viel hast du denn letzte Nacht getrunken?«, fragt Rory.

»Ich sage doch, ich weiß es wirklich nicht mehr. Dass ich ein paar Tequila hatte, bestreite ich gar nicht. Es war Freitagabend, ein Freund hatte Geburtstag. Aber ich kapier nicht, warum ich hier gelandet bin – oder wie.«

»Du weißt also nicht mehr, was im Club passiert ist?«, fragt Mike. »Oder danach?«

Kläglich schüttle ich den Kopf. »Kaum noch. Es ist alles so verschwommen. Woran ich mich aber erinnere, ist, dass zwei Typen in meinem Zimmer standen.« Ich betrachte die beiden Männer vor mir forschend. »Waren die wirklich da?«

Mike nickt. »Manchmal setzen wir externe Begleitpersonen ein, um eine sichere Anreise für unsere Klientinnen oder Klienten zu gewährleisten.«

»Begleitpersonen?« Ungläubig starre ich ihn an. »Sie … Sie haben mich also … entführen lassen? Ist das überhaupt legal? Ich bin erwachsen. Ich habe Rechte. Und garantiert war ich nicht damit einverstanden, hier« – ich mache eine ausholende Geste – »hierherzukommen, wo auch immer hier ist.«

»Doch, Zoey, das warst du.« Mike öffnet eine Schublade, nimmt einen Pappschnellhefter heraus und reicht mir ein Dokument. Meine Hände zittern so stark, dass ich die Wörter kaum erkennen kann, daher lege ich das Blatt auf den Tisch und beuge mich darüber, um zu lesen.

»Das sind deine Einverständniserklärung und der Haftungsausschluss. Und hier« – Mike dreht das Blatt um und deutet auf den unteren Seitenrand – »hier hast du unterschrieben.«

Beim Anblick des blauen Kugelschreibergekrakels zieht sich mir der Brustkorb zusammen. Ein bisschen schief zwar, ja, sogar verwackelt, aber es ist eindeutig meine Unterschrift.

»Das verstehe ich nicht«, stammle ich. »Dem hätte ich nie zugestimmt. Und … ist das hier … kostenlos? Ich hab da ’ne Info für Sie: Ich bin komplett blank. Falls es Ihnen um Geld geht, ich hab keins.«

Mike hüstelt, gefolgt von einem kurzen Lachen. »Kostenlos ist es nicht, nein. Aber dafür wurde gesorgt.«

Ich runzle die Stirn. »Was meinen Sie damit?«

»Die Rechnung wurde von einer dritten Person übernommen.«

»Von wem?«

»Ich bin nicht befugt, das zu sagen.«

Ich lege die Stirn in noch tiefere Falten. »Sie machen Witze, oder? War es mein Vater?« Kaum habe ich die Worte ausgesprochen, wird mir bewusst, wie unwahrscheinlich das ist. Wir haben in den letzten drei Jahren zwar nur selten miteinander gesprochen, aber ich weiß, dass er nach seiner zweiten Scheidung selbst ziemlich abgebrannt ist.

Also mein Onkel? Aber das ist auch nicht sehr wahrscheinlich. Dan hat sich nie über meinen Lebenswandel beklagt. Der genehmigt sich weiß Gott selbst gern mal den einen oder anderen Jack Daniels. Also warum sollte er das tun?

Und vor allem: Wie zum Teufel könnte er sich das leisten? Sicher, Dan hat einen guten Job, aber eine dicke Hypothek auf der Wohnung und keine Ersparnisse. Und ich kann mir kaum vorstellen, dass das hier billig ist.

Bleibt noch Mum. Das würde immerhin passen, sie liegt mir seit Jahren damit in den Ohren, dass ich mein Leben auf die Reihe kriegen soll. Karriere machen oder mir wenigstens einen richtigen Job suchen. Und aufhören zu rauchen. Aber es ist völlig ausgeschlossen, dass sie sich diesen Laden hier leisten könnte. Was sie in ihrem Job bei der Stadtverwaltung verdient, reicht gerade mal für ihre Hypothek und den Lebensunterhalt.

»Ihre ›Begleitpersonen‹ haben mich also hierhergebracht.« Ich blicke aus dem Fenster über die ebene Wüstenlandschaft mit der stumpfen roten Erde. »Und wo sind wir hier genau?«

»In der Sonora-Wüste«, erwidert Mike. »In Nordmexiko.«

»Mexiko!« Mir klappt so schnell die Kinnlade herunter, dass mein Zungenpiercing klirrend gegen die unteren Zähne stößt. »Sie verarschen mich doch. Wie zum Teufel bin ich hierhergekommen?« So sehr ich mir das Hirn zermartere, es wollen keine Erinnerungen auftauchen.

»Privatflugzeug von La Guardia nach Hermosillo. Von da mit dem Hubschrauber.«

Privatflugzeug? Hubschrauber?

Ich bin so vor den Kopf geschlagen, dass ich kein Wort herausbringe. Aber plötzlich weiß ich, dass es stimmt. Das laute Dröhnen, an das ich mich erinnere, das müssen die Rotoren gewesen sein.

»Wie lange soll ich hierbleiben?« Ich reibe mir die Schläfen und bete, es möge sich nur um ein paar Tage handeln.

»Du hast für das volle Zehnwochenprogramm unterschrieben«, teilt Rory mir mit.

Ich starre ihn an. »Das hätte ich nie gemacht!«, protestiere ich. »Ich muss die Katzen von meinem Onkel füttern. Die kann ich nicht einfach allein lassen.«

»Dafür wurde gesorgt«, versichert Mike mir. »Das alles wurde dir bereits erklärt, Zoey, und es steht auch in der Verzichtserklärung, die du unterschrieben hast. Nichts ist ohne deine Einwilligung geschehen.«

Mein Kopf hämmert, und das Verlangen nach einer Zigarette ist so stark, dass ich nicht mehr klar denken kann. Ich will bloß noch hier raus und mir eine Bar oder ein Café suchen. Ich will einen großen, kühlen Drink und eine Schachtel Camel Lights. Und eine Busfahrt nach New York, sobald ich mich wieder wie ein Mensch fühle.

»Dann ziehe ich meine Einwilligung zurück.« Ich stehe auf, diesmal langsamer. »Ich will nach Hause.«

»In diesem Fall darf ich dich auf das Kleingedruckte in dem von dir unterschriebenen Formular verweisen.« Wieder zieht Mike die Nase kraus und tippt mit dem Finger auf den obersten Abschnitt der zweiten Seite. »Solltest du vom Vertrag zurücktreten, werden dir die Kosten für die Anreise in Rechnung gestellt. Außerdem die Kosten für die Rückreise. Von den Konsequenzen, die dir in New York drohen, noch gar nicht zu reden.«

»Die Konsequenzen, die mir in New York drohen?«, wiederhole ich lauter. »Wovon zum Geier reden Sie da?« Jetzt klinge ich schon fast wie das hysterische Mädchen vorhin im Zelt.

Rory hebt beschwichtigend die Hand. »Sieh mal, Zoey. Ich verstehe, dass das ein ziemlicher Schock für dich sein muss, und es tut mir leid, wenn du dich überrumpelt fühlst. Ich kann nur wiederholen, dass dir bei der ursprünglichen Intervention alles erläutert wurde und du eingewilligt hast. Ich würde dir dringend raten, dir ein bisschen Zeit zum Nachdenken zu nehmen, um einzusehen, dass dir hier eine unschätzbar wertvolle Chance geboten wird. Wirf sie nicht weg.«

»Aber ich brauche keine Therapie«, wende ich ein. »Ehrlich. Das ist doch lächerlich. Ich trinke nur, wenn ich ausgehe, und das ist nur zwei, höchstens drei Mal pro Woche.«

»Wie schon gesagt, von unserem Programm kann jede und jeder profitieren«, sagt Rory ungerührt. »Die Leute bezahlen ein Heidengeld, um hierherzukommen – oder gefährdete Familienmitglieder unterzubringen –, und wir haben eine sehr hohe Erfolgsquote hinsichtlich der Rückfallrate.«

Urplötzlich breche ich in Tränen aus. Die ganze Wut und die große Klappe lösen sich in Luft auf, und ich habe einfach nur noch Angst. Das ist surreal. Grotesk. In einem Moment hänge ich mit meinen Freunden in unserer Lieblingsbar in der Avenue A ab und freue mich auf eine ausgelassene Nacht, und im nächsten Moment wache ich in einem kuriosen Therapiezentrum mitten in der mexikanischen Wüste auf.

»Ich will mein Handy«, heule ich. »Und meinen Pass.«

»Handys sind hier leider nicht erlaubt.« Rory steht auf und geht zur Tür. »Aber du kannst dich darauf verlassen, dass wir es sicher aufbewahren, genau wie deine Papiere.«

Entgeistert starre ich ihn an. »Und wie zum Teufel soll ich dann meine Freunde und Familie erreichen? Ihnen sagen, dass ich hier bin? Sie haben doch Computer hier, oder? Kann ich ins Internet?«

Mike schüttelt den Kopf und tippt wieder auf das Stück Papier auf dem Schreibtisch. »Das wurde dir alles …«

»Ach, scheiß auf Ihre Verzichtserklärung!«, poltere ich und stapfe aus dem Raum.

Rory holt mich mit wenigen, langen Schritten ein. »Ich würde dir empfehlen, dich ein bisschen hinzulegen, Zoey. Du bist müde, und ganz offensichtlich hast du Schwierigkeiten, alles zu verarbeiten. Ich lasse dir etwas zu essen aufs Zimmer bringen. Und heute Nachmittag kannst du dann mit Sonoya sprechen, wenn du weniger … aufgewühlt bist. Sie wird dir alles Weitere über das Programm erklären, auch darüber, was dich während deines Aufenthaltes hier erwartet.«

Ich öffne den Mund und will widersprechen, doch mir fehlt die Kraft.

Ich gehe jetzt schlafen, beschließe ich, und wenn ich wieder aufwache, bin ich in meinem Bett in Dans Wohnung in der Seventh Street. Ich werde mich krankmelden und meine Schicht im Supermarkt tauschen, und dann rufe ich Franny und Rocco an, damit wir uns zum Brunch treffen, und ich werde mich mit French Toast und Fritten vollstopfen, während ich ihnen von diesem üblen Traum hier erzähle.

4

Ich ziehe mich bis auf die Unterwäsche aus und krieche in das schmale Bett. Trotz aller Erschöpfung kann ich nicht einschlafen. Mir ist zu heiß, und alles juckt, und ich sehne mich nach einer Zigarette. Obwohl das Fenster weit geöffnet ist, ist die Luft so dicht und schwer, dass ich das Gefühl habe zu ersticken.

Mit pochendem Schädel liege ich da und versuche zu verarbeiten, was geschehen ist, seit ich vor ein paar Stunden in diesem beklemmend engen Zimmer aufgewacht bin. Doch alles ist viel zu wirr und durcheinander. Meine Versuche, die Einzelteile der letzten Nacht zusammenzusetzen, lösen sich immer wieder in unaufhörlich kreisende, angsterfüllte Gedanken auf. Wie in einem Karussell, nur nicht so lustig. Ich denke an Franny und Rocco, die daheim in New York wahrscheinlich gerade im Waverly Diner sitzen, ihrem Kater mit Eiern und Hashbrowns zu Leibe rücken und das Ganze mit reichlich Kaffee und frisch gepresstem Orangensaft hinunterspülen.

Ob sie sich fragen, wohin ich verschwunden bin? Warum ich nicht auf ihre Anrufe reagiere? Und Dan? Wer kümmert sich um Binx und ZeeZee, solange ich hier festsitze? Und was ist mit meinen Schichten im Supermarkt? Hat da irgendjemand Bescheid gesagt?

Ich denke an Mum, zu Hause in Guildford. Weiß sie, dass ich hier bin? Und vor allem: Weiß sie, wer mir das angetan hat? Ich fühle mich furchtbar verraten. So richtig kann ich immer noch nicht glauben, dass jemand mich ohne jede Vorwarnung mitten im Nirgendwo aussetzen würde.

Uff. Ich schließe die Augen, kämpfe gegen die wieder aufsteigende Übelkeit an und versuche mich darauf zu konzentrieren, was ich jetzt verdammt noch mal tun soll. Wenn das auf diesem Dokument tatsächlich meine Unterschrift ist, habe ich keine Ahnung, wie ich hier rauskommen soll, ohne mich Gott weiß wie tief in Schulden zu stürzen.

Das kann doch nicht legal sein, oder? Müssen einem solche Einrichtungen nicht eine Bedenkzeit einräumen, innerhalb derer man seine Meinung ändern kann?

Vielleicht kann ich sie verklagen. Darauf plädieren, dass ich bei der Einwilligung nicht im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte war.

Wovon denn, Zoey? Du bist pleite. Du hast kein Geld für einen Anwalt, ganz zu schweigen von den Kosten im Fall einer Niederlage.

Frustriert balle ich die Fäuste. Die Luft um mich herum verschwimmt und schillert. Ich brauche mein Handy. Ich hätte vorhin im Büro darauf bestehen sollen, dass es mir ausgehändigt wird. Was ist das überhaupt für ein Scheiß? Wozu soll man vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten sein?

Ein Klopfen an der Tür lässt mich hochschrecken. Dr. Kimura kommt mit einem Tablett herein. »Hey, Zoey.« Sie lächelt. »Wie geht es dir?«

Sie stellt das Tablett auf meinem Nachttisch ab. Darauf steht ein weiteres Glas mit dieser orangefarbenen Flüssigkeit und ein Brötchen mit Salat und Käse. »Ich wusste nicht, was du magst, da habe ich dir ein Sandwich gemacht. Iss das, dann fühlst du dich besser.«

Sie greift nach meinem Handgelenk und legt zwei Finger an meinen Puls. »Rory sagt, du kannst dich immer noch nicht erinnern, wie du hergekommen bist?« Sie neigt den Kopf zur Seite. »Vielleicht können wir uns ja später unterhalten. Dann können wir besprechen, was passiert ist und wie es jetzt weitergeht.«

»Es gibt nichts zu besprechen, Dr. Kimura«, entgegne ich schroff. »Ich habe nicht vor, hierzubleiben.«

Sie betrachtet mich mit absolut ausdrucksloser Miene. »Ich verstehe, du kommst gerade wieder runter, und das alles muss ziemlich verwirrend sein. Und bitte, nenn mich doch Sonoya – wir sind hier alle per du.«

»Ich komme von gar nichts runter, verdammte Scheiße, Sonoya.« Schwerfällig setze ich mich auf. In meinem Kopf dreht sich alles. »Ich kapier das nicht. Das hier ist viel schlimmer als ein normaler Kater. Ich fühle mich echt komisch.«

Auf Sonoyas glatter Stirn bildet sich eine Falte, doch sie erwidert nichts. »Iss dein Sandwich, und ruh dich ein bisschen aus. Wir besprechen alles heute Nachmittag in deiner ersten Therapiesitzung. Dann reden wir über deinen Behandlungsplan und die weiteren Optionen.«

»Ich brauche keine Therapie und auch keinen Behandlungsplan«, protestiere ich abermals, doch sogar in meinen eigenen Ohren klingen die Worte kraftlos und wenig überzeugend. Ohne auf meinen Einwand einzugehen, blickt Sonoya auf die kleine silberne Uhr an ihrem Handgelenk. »Sagen wir, um halb drei im Sprechzimmer? Das ist der Raum neben dem Büro von vorhin.«

Sie öffnet die Tür zum Wandschrank, der ordentlich aufgereihte Toilettenartikel und einen Stapel saubere Kleidung enthält. Darunter entdecke ich sogar einen Sonnenhut, Sonnenbrille und ein paar Ledersandalen. »Du hattest nicht viel dabei, deshalb hat Elena saubere Kleidung und Hygieneartikel für dich aus dem Lager rausgesucht. Frischmachen kannst du dich im Bad am Ende des Flurs.«

»Ihr habt hier Kleidung auf Vorrat?«, frage ich erstaunt.

»Oft lassen Gäste bei der Abreise Dinge hier, die sie nicht mehr wollen oder brauchen. Und ja, wir halten einen Vorrat an frischer Unterwäsche und anderen Artikeln bereit, die gern vergessen werden oder ausgehen.«

Und damit ist Sonoya verschwunden. Erst als sie weg ist, fällt mir ein, dass ich ohne mein Handy nicht weiß, wie viel Uhr es ist. Schäumend vor Wut sitze ich da. Was für eine Scheiße! Immer nur Phrasen und Ausweichmanöver und nie eine klare Antwort auf eine einfache Frage.

Ich beiße in das Sandwich. Hunger habe ich zwar nicht, aber wenn ich von hier abhauen will, werde ich meine ganze Kraft brauchen. Und meinen Pass, fällt mir ein. Ich werde meinen Pass und mein Handy zurückfordern und dann zu Fuß zurück in die Zivilisation marschieren. Von dort aus werde ich Dan anrufen und ihn anflehen, mir das Geld für die Busfahrt nach New York per Paypal zu schicken. Oder ich rufe Rocco an und überrede ihn, einen Wagen zu mieten und mich abzuholen. Für ein Abenteuer ist er immer zu haben – vor allem, wenn es mit Tequila zu tun hat.

Bis zur nächsten Stadt kann es nicht weit sein, überlege ich. Eine Anlage wie diese kann man nicht betreiben, ohne die Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln, Treibstoff für die Generatoren und Ähnlichem zu gewährleisten. Und schließlich können sie mich ja nicht daran hindern, zu gehen – oder? Was wollen sie machen, mich einsperren?

Und wenn der schwitzende Mike mir die Kosten für die Anreise aufhalsen will, na viel Glück – da würde er nur schlechtem Geld noch gutes hinterherschmeißen. Wenn ich herausfinde, wer dafür verantwortlich ist, wird derjenige blechen.

Irgendjemand hat mich immerhin in diese Scheiße hineingeritten.

Dann kann mich dieser jemand auch verdammt noch mal wieder rausholen.

5

He du, hast du eine Ahnung, wie spät es ist?«

Der Typ, der gerade durchs Atrium schlendert, dreht sich um, als er meine Stimme hört. Dunkle Haare liegen nass und glatt an seinem Kopf an, er trägt kurze Chinos, ein schwarzes T-Shirt und einen fast schon mürrischen Gesichtsausdruck. Er sieht mich dermaßen ausdruckslos an, dass ich mich frage, ob er vielleicht kein Englisch versteht. Ich tippe mir ans Handgelenk und blicke auf die teuer aussehende Uhr an seinem, eines dieser lächerlich klobigen Dinger mit zig komplizierten Knöpfen und Ziffernblättern.

»Zehn nach zwei«, sagt er mit gebildetem Westküstenakzent, ohne einen einzigen Blick auf die protzige Uhr geworfen zu haben. Ich glaube, ihn aus dem Zelt wiederzuerkennen, er hatte auf dem Stuhl neben dem der schreienden Frau gesessen.

»Danke«, sage ich.

Er verschwindet die geschwungene Treppe hinauf, und irgendwie bin ich beleidigt. Hätte es ihn umgebracht, ein bisschen freundlicher zu sein? Vergiss es, sage ich mir. Du bist hier bald wieder weg. Wen interessiert da irgendein fremder Typ.

Ich hole die Toilettenartikel aus dem Schrank in meinem Zimmer und schließe mich im Duschbad ein. Wieder blicke ich in den Spiegel über dem Waschbecken. Ein bleichgesichtiger Ghul blickt mir entgegen. Ich sehe noch schlimmer aus als vorhin. Meine Haare sind strähnig, stumpf und verschwitzt. An meinen Piercings in Lippe und Nase ist die Haut gerötet und geschwollen. Meine Wangen glänzen fleckig, und ich habe dunkle Schatten unter den Augen. Zombie-Punk-Zoey. Mit ein paar Blatt Klopapier wische ich mir die verschmierte Wimperntusche ab. Viel besser wird es dadurch nicht, aber wenigstens ein bisschen.

Ich zeige meinem Spiegelbild den Mittelfinger, dann setze ich mich aufs Klo und versuche zu pinkeln. Es dauert ewig, und als etwas kommt, hat es eine komische Farbe, viel orangener als normal.

Dehydrierung? Oder eine Nebenwirkung dieses grellen Getränks?

Nachdem ich gespült habe, ziehe ich mich aus und versuche, nicht daran zu denken, wie sehr es mich nach einer Zigarette verlangt. Hier muss doch irgendjemand welche haben? Rob – der als Einziger von meinen Bekannten schon mal in einer Entzugsklinik war – ist von seiner Kokainsucht runtergekommen, hat danach aber zwanzig Kippen am Tag geraucht.

Unter der Dusche brause ich mich ab und wasche mir die Haare. Anschließend wickle ich mich in ein Handtuch, schnappe mir meine Klamotten und gehe eilig wieder in mein Zimmer, wo ich feststelle, dass ich mich gar nicht abzutrocknen brauche. Innerhalb von Sekunden bin ich von allein getrocknet. In der Hitze verdunstet die Feuchtigkeit von meiner Haut und lässt die kleinen Härchen auf meinen Armen und Beinen zu Berge stehen.

Mein Blick fällt auf meine durchgeschwitzten Klamotten auf dem Bett. Ich bringe es nicht über mich, sie wieder anzuziehen, also schaue ich mir an, was der Kleiderschrank zu bieten hat. Voller Erleichterung entdecke ich auf einem Bügel meine Lederjacke, und darunter stehen die Doc Martens. Ich suche mir einen weißen Slip und einen passenden BH aus – beides neu und noch verpackt –, dann entscheide ich mich für eine weite Baumwollhose mit Tunnelzug und ein hellblaues Top. Ich werfe einen Blick auf die Etiketten.

Heilige Scheiße! Die Hose ist von Ralph Lauren. Von der Marke des Tops habe ich noch nie gehört, aber nach Gewicht und Qualität des Stoffes zu urteilen, kommt es garantiert nicht von TK Maxx oder Walmart.

Nach dem Anziehen wende ich mich unschlüssig meiner eigenen Kleidung zu. Die werde ich später wieder brauchen, wenn ich abhaue – um nichts in der Welt werde ich in Ralph Lauren hier rausspazieren. Also gehe ich erneut ins Duschbad und weiche die Jeans und das Ramones-T-Shirt mit Shampoo im Waschbecken ein. Ich spüle beides aus und hänge sie im Schlafzimmer über die Fensterbank. Bei diesen Temperaturen sollten sie in einer Stunde trocken sein.

Wieder klopft es an der Tür. Wieder diese Therapeutin. Ihr Blick fällt sofort auf die nassen Klamotten auf dem Fenstersims. »Im Personaltrakt haben wir eine Waschküche«, sagt sie. »Lass sie dir von jemandem zeigen.« Dann: »In fünf Minuten?«

Bevor ich antworten kann, hat sie die Tür wieder geschlossen. Unschlüssig stehe ich vor dem Bett. Am liebsten würde ich mich hinlegen, um Kraft für den Marsch in die Stadt zu sammeln. Ich fühle mich immer noch so furchtbar wie bei einem richtig üblen Kater, nur irgendwie schlimmer, geschwächter und ausgelaugter.

Aber gleichzeitig bin ich neugierig und habe den Kopf voller unbeantworteter Fragen – vielleicht bekomme ich ja tatsächlich die eine oder andere Antwort, schaden kann es nicht.

Ein paar Minuten später sitze ich im Sprechzimmer, das im Vergleich zum Luxus des Haupthauses überraschend spartanisch eingerichtet ist. Nur zwei Sessel mit einem niedrigen Tisch dazwischen. Ich beobachte die makellose Sonoya dabei, wie sie Handy, Notizblock, Stift und eine schlichte Mappe zu einer ordentlichen Pyramide zurechtlegt, sich dann zurücklehnt und mir wieder ihr typisches ausdrucksloses Lächeln schenkt.

Dämliche kleine Miss Perfect, denke ich. Bestimmt hat Sonoya in der Schule ganz vorn gesessen und sich bei jeder Frage als Erste gemeldet. Wie um alles in der Welt kommt sie mit dieser Bullenhitze zurecht? Sie sieht aus, als würde ihr nie der Schweiß ausbrechen. Mein frisches blaues Top hingegen klebt mir schon wieder auf der verschwitzten Haut.

»Wann wird die Klimaanlage repariert?«, frage ich.

»Alejandro bringt ein neues Bedienfeld an. Dürfte nicht mehr lange dauern.« Sie mustert meine verzweifelte Miene. »Wahrscheinlich schwitzt dein Körper gerade die Giftstoffe aus.«

Ich atme durch. Darauf springe ich nicht an. »Was hat das mit den kostenlosen Klamotten auf sich? Lassen die Leute ihre Sachen einfach hier, wenn sie abreisen?«

»Ja.« Sonoya seufzt. »Wir empfehlen immer, nicht zu viele persönliche Sachen mitzubringen, aber viele Gäste ignorieren diesen Rat.«

»Warum?«, frage ich. »Ich meine, warum sollen sie nicht ihr Zeug mitbringen?«

Sie sieht mich prüfend an. »Unserer Erfahrung nach hat es eine ausgleichende Wirkung. Die meisten unserer Klientinnen und Klienten sind sehr reich und benutzen materielle Güter als Statussymbole, aber auch, um sich dahinter zu verstecken. Oder als Krücke, als Ersatz für das, was sie wirklich brauchen.«

»Und das wäre?«

»Selbstachtung. Echte Beziehungen zu anderen Menschen. Ein Gefühl von Sinn. Das Gegenteil von Sucht ist nicht Nüchternheit, sondern ein authentisches Verhältnis zu uns selbst, zu anderen und zu unserem eigenen Leben.«

Dazu sage ich nichts. Es gäbe auch nicht viel zu sagen, außer dass die Abwesenheit von materiellen Besitztümern mein Leben bisher auch nicht unbedingt mit Sinn und Verbundenheit erfüllt hat.

»Deshalb bestehen wir auch darauf, dass die Gäste hier offline bleiben«, fügt Sonoya hinzu. »Und wir setzen diese Regel strikt durch. Wenn man weiterkommen will, muss man raus aus seinem normalen Umfeld und seinen üblichen Routinen, ob das jetzt jeden Abend ein paar Flaschen Wein sind oder stundenlanges Scrollen in Social Media. Willenskraft allein reicht nicht aus, um Abhängigkeitsmuster zu durchbrechen oder die Nachwirkungen eines Traumas zu bewältigen. Man muss sich einen Lebensstil aufbauen, der neue Gewohnheiten möglich macht.«

Wenig überzeugt ziehe ich die Augenbraue hoch. »Dann kann man hier also wirklich gar nichts machen?«

Sonoya lächelt nachsichtig. Dabei zeichnen sich an ihren Augenwinkeln schwache Fältchen ab, die mich meine Alterseinschätzung korrigieren lassen: nicht Anfang dreißig, wie ich zuerst dachte, sondern eher Richtung vierzig. »Du wirst feststellen, dass es hier eine Menge zu tun gibt. Neben den Einzeltherapiesitzungen, dreimal pro Woche, findet täglich Gruppentherapie statt, und Tamara und Rory bieten ein umfangreiches Aktivitätsprogramm an, zum Beispiel täglich Yoga und Meditation. Außerdem kannst du hier schwimmen oder den Fitnessraum benutzen. Im Aufenthaltsraum auf der anderen Seite des Innenhofs steht sogar ein Billardtisch.

Ein Swimmingpool – na, davon habe ich ja viel. Das Gleiche gilt für den Fitnessraum. Meine Vorstellung von Training besteht darin, ein paar Blocks zu Fuß zu gehen, statt die U-Bahn zu nehmen. Zum Glück lässt mich mein Stoffwechsel damit durchkommen.

»Also, wie sieht es bei dir aus?« Die Therapeutin greift nach Kugelschreiber und Notizblock und schlägt eine neue Seite auf. »Was glaubst du, fehlt in deinem Leben, Zoey?«

»Jetzt gerade eine Zigarette und ein kühles Bier. Oh, und mein Handy, mein Pass und ein Ticket, das mich von hier wegbringt.«

Sonoya ignoriert meinen Sarkasmus. »Das klingt, als wäre das alles eine Art Schock für dich gewesen.«

»Sag bloß«, erwidere ich. »Mitten in der Wüste aufzuwachen, ohne zu wissen, wie man da hingekommen ist. Ja, das könnte man wohl als ›eine Art Schock‹ bezeichnen.«

»Du kannst dich also allen Ernstes nicht an die Ereignisse erinnern, die dazu geführt haben, dass du jetzt hier bist?« Sie macht sich eine Notiz.

»Nicht so richtig.«

»Die Begleitpersonen berichten, du seist sehr aufgebracht gewesen, als sie dich abholten.«

»Könnte daran gelegen haben, dass ich gerade entführt wurde.« Ich starre sie finster an, doch Sonoya zeigt keinerlei Reaktion.

»Zoey, du hast allem zugestimmt. Dir wurde ganz genau erklärt, was du da unterschreibst und was die Alternativen wären.« Langsam dreht sie den Stift zwischen ihren schmalen Fingern, während sie mich betrachtet. »Erzähl mir doch, woran du dich an diesem Abend noch erinnerst. Du kannst versichert sein, dass alles, was du mir sagst, streng vertraulich ist.«

Ich seufze, schließe für einen Moment die Augen und öffne sie wieder. »Rocco hatte Geburtstag. Wir waren mit ihm, ein paar seiner Freunde und meiner Freundin Franny in einer brasilianischen Bar in der Avenue A. Wir hatten jeder ein paar Bier, haben uns Nachos und Pommes geteilt und sind dann ins Unravel weitergezogen – das ist ein Club in Tribeca.«

»Und weißt du noch, was dort passiert ist?«

»Nicht viel. Ich werde wohl ein paar Tequila getrunken haben. Bisschen getanzt. Das Übliche halt.«

Sonoyas Miene bleibt teilnahmslos. Mir kommt der Gedanke, dass sie womöglich noch nie in einem Nachtclub gewesen ist.

»Dann hast du an die späteren Ereignisse keine Erinnerung?«

Ich runzle die Stirn. »Nein. Was meinst du?«

Die Therapeutin tippt sich mit dem Ende des Kulis gegen die Zähne und notiert sich eilig etwas. Ich verkneife mir die Frage, was sie da schreibt.

»Darf ich fragen, ob du vorher schon mal Blackouts hattest, Zoey?«

Ich sehe sie blinzelnd an. Öffne den Mund und schließe ihn wieder. Du hast dir das hier nicht ausgesucht, rufe ich mir in Erinnerung. Du brauchst bei diesem Quatsch nicht mitzumachen.

»Deiner Krankenakte zufolge ist es nicht das erste Mal, richtig?«, fragt die Therapeutin nach einer geschlagenen Minute Stille.

»Ich protestiere dagegen, dass Sie meine Krankenakte lesen«, sage ich. »Wie zum Teufel sind Sie überhaupt daran gekommen?«

»Wie Mike vorhin erklärt hat, hast du uns in der von dir unterschriebenen Verzichtserklärung die Erlaubnis dazu erteilt, Zoey.«

Ich atme tief durch. »Meinen Sie nicht auch, Dr. Kimura, dass man einer Sache nicht wirklich zugestimmt hat, wenn man sich an diese Zustimmung nicht mehr erinnern kann?«

Sonoya geht über diesen Einwand hinweg, als hätte ich nichts gesagt. »In der Akte steht, dass deine Mutter dich einmal bewusstlos in ihrem Haus in England aufgefunden hat, als du zwanzig warst. Sie konnte dich nicht wecken, und dir wurde in der Notaufnahme der Magen ausgepumpt. Du musstest über Nacht dort bleiben.«

»Ich konnte nicht schlafen, das war alles«, protestiere ich lautstark. Dann zwinge ich mich, leiser weiterzusprechen. »Ich hatte die Uni geschmissen und ’ne schwere Zeit durchgemacht, deshalb habe ich ein paar von Mums Schlaftabletten genommen. Hat mich ziemlich umgehauen – offenbar soll man sie nicht zusammen mit Alkohol nehmen.«

»Woher weißt du das, Zoey?«

»Stand auf der Packung.«

»Nein, ich meine, du hast der Psychiaterin erzählt, du könntest dich an nichts von alledem erinnern. Nicht mal daran, dass dir der Magen ausgepumpt wurde, was eine ziemlich unangenehme Prozedur ist.«

»Hab ich mir zusammengereimt. Eins und eins zusammengezählt.«

»Dann war es kein Suizidversuch?«

»Ich habe nicht versucht, mich umzubringen, nein.« Wieder werde ich laut. »Das würde ich nie tun, nicht, nachdem …« Ich unterbreche mich. Schlucke. »Darüber will ich wirklich nicht reden.«

»In Ordnung«, sagt Sonoya ruhig. »Dafür ist später noch genug Zeit.«

»Es gibt kein Später. Ich will nicht hierbleiben. Wo muss ich unterschreiben, damit ich gehen kann?«

Die Therapeutin sieht mich fest an. »Das können wir nicht so aus dem Stand entscheiden, Zoey. Es war Teil der Vereinbarung mit dem NYPD und der Person, die du angegriffen hast, dass du dich zu vollen zehn Wochen Entwöhnungsprogramm verpflichtest. Solltest du darauf bestehen, nach New York zurückzugehen, müssen wir die Polizei informieren, und die wird dann womöglich Anklage erheben.«

Ich starre sie mit offenem Mund an. Polizei? Anklage?

Die Person, die ich angegriffen habe?

Wovon zum Geier redet die da?

Mir wird eng um die Brust, was das Atmen in diesem Raum noch schwerer macht, aber ich verkneife mir weitere Fragen. Das ist eindeutig ein Bluff. Ein Trick, damit ich hierbleibe. Und bei dieser Farce spiele ich garantiert nicht mit – die Polizei hätte mich ja wohl kaum aus dem Land ausreisen lassen, wenn ich wirklich etwas Schlimmes getan hätte.

»Hör mal.« Sonoya beugt sich vor und balanciert ihren Stift auf den Spitzen beider Zeigefinger, während sie nach den richtigen Worten sucht. »Ich verstehe, dass du wütend und durcheinander bist und wahrscheinlich alle möglichen körperlichen Nachwirkungen von letzter Nacht spürst. Das kann ich nachvollziehen. Ich möchte dich nur bitten, nichts Überstürztes zu tun. Gib dir eine Woche oder so und schau, wie du dich fühlst.« Wieder schenkt sie mir ein kleines Lächeln. »Wer weiß, vielleicht gefällt es dir ja.«

Nicht in einer Million Jahren, denke ich, sage aber nichts.

»Ich glaube wirklich, du bekommst hier eine einmalige Gelegenheit, dein Leben in die richtige Bahn zu lenken«, fährt sie unbeirrt fort, »und so etwas sollte man nicht leichtfertig wegwerfen.« Sie beugt sich weiter vor, bis ich ihren Blick erwidern muss. »Kannst du ehrlich behaupten, dass es in deinem Leben überhaupt keine Probleme gibt?«

Zu meinem Entsetzen kullern mir ein paar Tränen über die Wangen. Beschämt wische ich sie weg.

»Denk wenigstens darüber nach, Zoey«, sagt die Therapeutin abschließend. Sie klappt ihren Notizblock zu und nimmt die Mappe und ihr Handy vom Tisch. »Nur ein paar Tage. Wenn du am Ende der Woche immer noch wegwillst, werden wir darüber reden, versprochen.«

Ich nicke und verlasse eilig den Raum, damit sie mich nicht weinen sieht.

6

Als ich gerade endlich wegdämmere, klopft es an meiner Tür. Genervt stöhne ich auf und bete, dass nicht schon wieder die kleine Miss Perfect etwas von mir will. Ich habe stundenlang über die Worte der Therapeutin nachgegrübelt. Über die Sache mit der Polizei. Darüber, dass ich jemanden angegriffen haben soll. Ich habe krampfhaft versucht, mich an irgendetwas von gestern Abend zu erinnern.