Tomorrow It´s Still Us - Marina Maass - E-Book

Tomorrow It´s Still Us E-Book

Marina Maaß

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Halte mich, wenn ich kurz davor bin, in Stücke zu zerbrechen. Seit dem tragischen Ereignis, das Kaylas Welt vor fünf Monaten erschütterte, ist nichts mehr wie zuvor. Fünf lange Monate sind vergangen, in denen sie keinen Kontakt zu Jake hatte. Die Gefühle füreinander lodern weiterhin, und während Kayla sich in ihrem neuen Leben zurechtfindet, knüpft sie langsam wieder eine Verbindung zu Jake. Doch als eine neue Frau in Jakes Leben tritt, wird ihre junge Liebe auf eine harte Probe gestellt. Und dann ist da auch noch das Geheimnis, das Kayla seit fünf Monaten mit sich herumträgt. Werden sie den Stürmen des Lebens standhalten können oder alles verlieren, wofür sie gekämpft haben?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 351

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



© privat

Marina Maass wurde 1996 in Niedersachsen geboren und hat die Liebe zu Büchern und dem kreativen Schreiben bereits im frühen Alter entdeckt. Gemeinsam mit ihrer Familie und zwei Hunden lebt sie in einem kleinen Dorf am Rande der Südheide.

Nach Tonight It’s Us wird mit Tomorrow It’s Still Us ihre erste Dilogie beendet.

Mehr zu Marina Maass gibt es auf Instagram unter:

marinamaass_official

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

 

Copyright © 2023 bei Buntstein Verlag, ein Imprint des Bookspot Verlags

1. Auflage

 

Lektorat: Yvonne Schmotz

Korrektorat:Anne-Sophie Kahnt

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Ilona Gostynska-Rymkiewicz

Titelmotiv: © wojciech/wacomka/lulya alle stock.adobe.com

 

eISBN 978-3-95669-205-5

 

 

Für meine Eltern

 

Liebe Leser:innen,

in diesem Buch werden Themen behandelt, die negative Reaktionen auslösen können. Deshalb findet ihr auf Seite 260 einen Hinweis zu den Content Notes.

Wir wünschen uns das bestmögliche Leseerlebnis für euch.

Eure Marina und der Bookspot Verlag

Kapitel 1 – Kayla

Ich sitze am Fenster und beobachte, wie die anderen Patienten mit ihren Familien und Freunden durch die groß angelegte Parkanlage schlendern. Es ist Donnerstag, einer der beiden Besuchstage, welche die Oceanside Rehaklinik anbietet. Heute ist das Wetter besonders schön: Die Sonne scheint und ein leichter Windhauch lässt vereinzelt Palmwedel erzittern. Ihm ist zu verdanken, dass die heißen Temperaturen erträglicher sind. In der Ferne kann ich sogar das Wasser des Pazifiks glitzern sehen.

Es hätte mich deutlich schlechter treffen können. Dave, mein leiblicher Vater, von dem ich erst vor einigen Monaten erfahren habe, hat eine ganze Stange Geld in die Hand genommen, um mich hier in dieser schicken Privatklinik unterzubringen. Fernab von Los Angeles, sodass meine Wunden und auch ich in Ruhe heilen können. Meine Versicherung hätte die Kosten für den Aufenthalt sicherlich ebenfalls übernommen, aber davon wollte Dave nichts hören. Er versucht, die verlorenen neunzehn Jahre jetzt mit Geld wiedergutzumachen.

Das Rascheln von Papier und eine sanfte Stimme reißen mich aus meinen Gedanken und zwingen mich, meine Aufmerksamkeit wieder in den Raum zu lenken, in dem ich mich befinde.

»Was ist das für ein Gefühl zu wissen, dass Sie heute wieder nach Hause können, Kayla?« Nach Hause … die Worte klingen fremd in meinen Ohren. Sie haben keinerlei Bedeutung mehr und lösen keine Begeisterung in mir aus. Denn ein Zuhause habe ich nicht mehr. Zumindest keines, das die Geborgenheit ausstrahlt, die ich normalerweise mit diesem Wort verbinde.

»Fühlt sich nicht wie nach Hause kommen an«, erwidere ich schlicht und drehe mich zu meiner Gesprächspartnerin um. Dr. Joan Miller ist Anfang dreißig, hat gerade ihre Facharztausbildung beendet und mit mir einen harten Brocken als Patientin bekommen.

»Wieso nicht?« Sie sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und ich bereue direkt, etwas gesagt zu haben. Schweigend nestle ich am Saum meines Ausschnitts herum. Eine lästige Angewohnheit, die ich mir in den letzten Wochen angeeignet habe.

»Ich ziehe in ein fremdes Haus. Zu Leuten, die es nicht einmal für nötig gehalten haben, mich zu besuchen, um mich kennenzulernen«, erkläre ich und bemerke, dass Wut in mir aufsteigt. »Zu meinem Vater, der krampfhaft versucht, eine Verbindung zu mir aufzubauen und dabei nicht versteht, dass man neunzehn verlorene Jahre nicht in fünf Therapiesitzungen wieder aufholen kann.«

Dr. Miller nickt. Sie betreut neben meinen Einzelsitzungen auch die Treffen zwischen Dave und mir und weiß deshalb genau, was ich damit meine. Die einstündigen Gespräche laufen immer gleich ab: Er redet, ich schweige und antworte nur, wenn ich direkt angesprochen werde. Das wirkt nach außen hin wahrscheinlich so, als würden mein Vater und ich uns überhaupt nicht verstehen, dabei ist das nicht der Fall. Wir kommen wunderbar miteinander aus, aber diese Vater-Tochter-Therapie ist auf seinem Mist gewachsen, und wenn es nach mir ginge, hätten wir damit ruhig noch warten können.

Ich habe momentan genug mit meinen eigenen Dämonen zu kämpfen und weiß, dass es Dave ähnlich geht. In meinen Augen sind wir noch nicht bereit, diese Sache gemeinsam anzugehen.

»Mein ganzes Leben ist aus den Angeln gehoben worden. Die Frau, die ich für meine Mutter hielt, hat sich als jemand entpuppt, der mich aus dem Kinderbett hat entführen lassen. Dadurch wurde mir die Chance verwehrt, meine leibliche Mom kennenzulernen, denn die ist an dem Verschwinden ihrer eigenen Tochter zerbrochen und hat sich das Leben genommen. Also nein, es fühlt sich nicht wie nach Hause kommen an. Ich bin rastlos, heimatlos und habe keine Ahnung, wie ich diese Gefühle jemals wieder ablegen kann.«

Dr. Miller sieht aus, als wolle sie etwas sagen, doch ich bin mit meinem Monolog noch nicht am Ende.

»Die einzigen Konstanten in meinem Leben sind meine Freunde und …« Ich stoppe abrupt. Jake. Um ein Haar hätte ich ihr von ihm erzählt. Aber seinen Namen laut auszusprechen würde bedeuten, dass ich mir eingestehen müsste, dass er kein fester Bestandteil meines Lebens mehr ist.

Jake, den ich weggestoßen habe, damit er meinen absoluten Tiefpunkt nicht mitansehen und sich nicht mit dem gebrochenen Teil von mir auseinandersetzen muss. Mit der Kayla, die nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Gezeichnet von den Fehlern ihrer vermeintlichen Mutter.

Jake, dessen Nachrichten ich so lange ignoriert habe, bis er es schließlich aufgegeben hat, mir zu schreiben. Der nachts aber immer noch einen Weg in meine Träume findet, sodass ich ihn nicht vergessen kann. Er ist kein Teil meines Lebens mehr, dabei bräuchte ich ihn jetzt mehr denn je. Aber mein Stolz und meine Sturheit hindern mich daran, auf ihn zuzugehen.

Ich lenke den Blick aus dem Fenster, während die Mine von Dr. Millers Stift pausenlos über das Papier kratzt. Die Rückkehr nach Los Angeles nähert sich mit jeder Minute und bereitet mir Kopfschmerzen. Ich ziehe nicht zurück nach Beverly Hills, sondern nach Santa Monica. Dave und seine Familie bewohnen dort ein luxuriöses Anwesen direkt am Strand. Einerseits ist es gut, dass einige Meilen zwischen mir und dem Haus liegen, in dem ich monatelang gefangen war, ohne mir dessen bewusst zu sein. Andererseits reißt mich dieser Umzug noch weiter aus meinem gewohnten Umfeld und macht die ganze Situation für mich dadurch umso schwerer.

»Ich bin überrascht, dass du ausgerechnet heute bereit bist, über deine Gefühle zu sprechen.« Dr. Millers Stimme dringt an meine Ohren und zieht mich aus der Abwärtsspirale von Gedanken, in der ich mich gerade befinde.

Stimmt, sie ist ja auch noch da.

Ich zucke lediglich mit den Schultern, dabei überrascht es mich selbst. So viele zusammenhängende Sätze habe ich während der ganzen Therapie nicht gesagt.

»Wie läuft es mit dem Schlafen? Sind die Albträume besser geworden?« Ich schlucke und schüttle den Kopf, ohne sie anzusehen. Die Albträume sind Flashbacks, die mein Unterbewusstsein erst Wochen nach dem Feuer an die Oberfläche gebracht hat. Dr. Saxton hat damals im Krankenhaus zu mir gesagt, dass ich während des Brandes teilweise wach gewesen bin. Dass die Erinnerungen daran nur bruchstückhaft wiederkommen, ist eine Schutzreaktion meines Körpers. Nachts träume ich beispielsweise davon, in einem Raum zu liegen und mich nicht bewegen zu können. Rechts und links züngeln Flammen in die Höhe und dunkler Rauch senkt sich immer weiter auf mich herab. Droht mich zu ersticken. Manchmal kommt Jake, um mich zu retten. Aber meistens bleibe ich allein und verliere den Kampf gegen das Feuer. Dann wache ich schweißgebadet auf und höre den Nachklang des monotonen Piepsens der Maschinen, die mich im Krankenhaus am Leben gehalten haben.

»Kayla, ich würde dir empfehlen, deine Therapie zu Hause weiterzuführen. Der Heilungsprozess deiner Psyche ist mindestens genauso bedeutsam wie der deines Körpers. Wenn nicht sogar wichtiger.« Ich löse meinen Blick vom Fenster und sehe meine Therapeutin an. Sie hat vollkommen recht. Mein Körper heilt gut, auch wenn es anfänglich Schwierigkeiten gab.

Etwa eineinhalb Wochen nachdem ich ins Krankenhaus eingeliefert wurde, bekam ich eine Lungenentzündung. Mein Körper war durch das Feuer, die Rauchgasinhalation und den Sturz stark vorgeschädigt. Aufgrund meines schlechten Allgemeinzustandes musste die Operation für die zweite Hauttransplantation nach hinten verschoben werden, was den ganzen Heilungsprozess in die Länge gezogen hat.

Meine Narben hingegen heilen hervorragend. Sowohl die Ärzte als auch die Physiotherapeuten sind restlos begeistert. Ansehen kann ich sie mir allerdings nicht, weshalb ich selbst bei rekordverdächtigen Temperaturen bodenlange Kleider mit langen Ärmeln trage. Nur meinen Handrücken kann ich nicht verstecken, weshalb ich mich an seinen Anblick bereits gewöhnt habe. Es sind Babysteps, aber sie gehen in die richtige Richtung.

»Kayla?« Verwirrt sehe ich zu Dr. Miller. Sie scheint noch etwas gesagt zu haben, aber weil ich so mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt war, habe ich es nicht mitbekommen.

»Entschuldigen Sie, wie bitte?« Sie lacht und legt ihr Notizbuch mitsamt Stift beiseite, um sich etwas nach vorne zu lehnen.

»Ich sagte, dass wir unsere Sitzungen auch per Videocall fortführen können, wenn du dir keinen neuen Therapeuten suchen willst.«

Ich atme erleichtert aus und nicke. Dave würde einem Ende der Therapie ohnehin nicht zustimmen. Dr. Miller kennt mich, meine Probleme und Eigenheiten und weiß, wie sie damit umgehen muss. Von daher nehme ich ihr Angebot dankend an. Allein die Vorstellung, meine Geschichte einem neuen Therapeuten erzählen zu müssen, bereitet mir Unbehagen.

Ein Klopfen unterbricht unser Gespräch und Dr. Miller steht auf, um die Tür zu öffnen. Sie begrüßt den Besucher und an seiner Stimme erkenne ich, dass es Dave ist. Sofort zieht sich etwas in mir zusammen. Nervosität kriecht in jede Faser meines Körpers und ich versuche, durch bestimmte Atemtechniken, die ich hier gelernt habe, ruhig zu bleiben. Daves heutiges Auftauchen läutet das Ende meines Aufenthalts in der Oceanside Rehaklinik ein, doch ich weigere mich, den Gedanken zuzulassen, dass es wirklich schon Zeit ist aufzubrechen.

Die beiden unterhalten sich leise in einigen Metern Entfernung, aber ich verstehe sie trotzdem gut. Dr. Miller informiert meinen Vater darüber, dass ich meine Therapie bei ihr fortsetzen werde und er stimmt begeistert zu. Sehr gut. Diese Diskussion habe ich schon mal umgangen.

»Ich finde es wichtig, dass Kayla so schnell wie möglich zurück in ein normales Leben findet. Soziale Kontakte, Aktivitäten, alles das, was für ein neunzehnjähriges Mädchen üblich ist.«

Dave nickt, doch ich stoße nur schnaubend Luft aus. Ein soziales Leben? Dr. Miller hat schon verstanden, dass ich vor dem Brand weit von der Normalität entfernt gewesen bin?

»Hat sie … ähm … also hat sie wieder angefangen zu malen?« Daves Stimme ist jetzt so leise, dass ich mich wirklich anstrengen muss, um ihn zu verstehen. Beide werfen mir einen Blick zu, sodass ich schnell nach unten schaue und mich plötzlich brennend für meine nicht manikürten Fingernägel interessiere. Sie müssen nicht unbedingt wissen, dass sie im Tuscheln richtige Nieten sind.

»Nein«, entgegnet Dr. Miller. »Sie hat jedes Kunstprogramm, das wir ihr angeboten haben, vehement abgelehnt.« Dave seufzt und ich spüre seinen Blick schwer auf mir.

Kurz darauf beenden sie ihr Gespräch und kommen zu mir herüber. Dave lächelt mich herzlich an. Allerdings sehe ich Unsicherheit in seinen Augen aufblitzen. »Bereit für dein neues Zuhause?«

Am liebsten hätte ich »Nein« geschrien und mich in meinem Zimmer eingesperrt. Ihm zuliebe schlucke ich jedoch alle negativen Emotionen hinunter und nicke. Zu einem Lächeln kann ich mich allerdings nicht durchringen.

»Super. Dein Gepäck habe ich schon zum Wagen gebracht und Vivienne und die Mädchen können es kaum erwarten, dich endlich kennenzulernen.« Ich habe eine blühende Fantasie und kein Problem damit, mir die absurdesten Szenarien vorzustellen, aber das sicher nicht. Wenn die Vorfreude von Daves Frau und seinen Töchtern so groß wäre, hätten sie fünf Monate lang Zeit gehabt, um mich zu besuchen und kennenzulernen. Aber nichts davon ist passiert. Jedoch will ich Dave auch nicht die Illusion einer großen, glücklichen Familienzusammenführung rauben.

Also verabschiede ich mich höflich von Dr. Miller und mache mit ihr einen Videosprechstundentermin für kommenden Donnerstag aus. Anschließend gehe ich schweigend neben Dave zu seinem Wagen. Naja, eigentlich humple ich eher. Meine Füße hat das Feuer am schlimmsten erwischt und obwohl alle Nerven intakt geblieben sind, fällt es mir schwer zu gehen. Das liegt vor allem an den Schmerzen, die mich tagtäglich begleiten. Der Heilungsprozess verläuft gut, ja, aber ohne Medikamente halte ich es nur kurz aus. Weite Strecken oder längeres Stehen sind kaum zu bewältigen und Treppensteigen verlangt mir ebenfalls einiges ab. Aber ich beiße die Zähne zusammen, um mir nichts anmerken zu lassen, und sinke schließlich erleichtert auf den Beifahrersitz des großen, dunklen SUVs.

»Ich kann es kaum erwarten, dir das Haus und dein Zimmer zu zeigen. Wir haben es extra renovieren und ein Bad für dich anbauen lassen.« Dave klingt wie ein kleines Kind an Weihnachten, weshalb ich mir vornehme, wenigstens etwas Begeisterung zu zeigen. Auch wenn mir eher nach Weinen und Schreien zumute ist, je näher wir Los Angeles kommen.

Er biegt auf die Interstate 5 ab und ich schließe die Augen, um innerlich ein wenig Kraft für die bevorstehenden Begegnungen zu tanken. Vielleicht aber auch, um weiteren Gesprächen aus dem Weg zu gehen.

Fünf Monate des Versteckens, Erholens und Heilens sind vorbei. Jetzt geht der Ernst des Lebens wieder los, auf den ich mental noch nicht vorbereitet bin. Sofort kommt mir die Stimme meiner besten Freundin Giulia in den Sinn. Wie würde sie es formulieren? Augen zu und durch. Gemeinsam schaffen wir das!

Trotz aller Sorgen legt sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen, denn wenn ich ehrlich bin, sind meine Freunde das Einzige, auf das ich mich bei meiner Rückkehr wirklich freue.

Kapitel 2 – Kayla

Wir fahren etwa anderthalb Stunden und mit jeder Meile, die wir uns von Oceanside entfernen, nimmt meine Aufregung zu.

Giulia, Toni und sogar Mario texten mir zwischendurch und erkundigen sich nach meinem Wohlbefinden. Alle drei erhalten dieselbe Antwort: Am liebsten würde ich mich übergeben.

Und ja, zwischen Giulias Bruder, dem überheblichen, zu sehr von sich überzeugten, unausstehlichen Nachwuchsfriseur und mir hat sich tatsächlich eine Freundschaft entwickelt. Er hat mich so oft es ging im Krankenhaus besucht, um mir die Langeweile zu vertreiben, und bei den wenigen Malen, die Giulia und Toni mich in der Reha besuchen konnten, war er ebenfalls dabei. Wir haben uns zu einer Viererclique entwickelt, auch wenn Giulia ihren Bruder an manchen Tagen lieber nicht dabeihätte.

»Er ist manchmal so aufdringlich«, hat sie letztens am Telefon geschimpft, was mich direkt zum Lachen gebracht hat. »Ist ja nicht so, dass er keine eigenen Freunde hat, mit denen er Zeit verbringen kann.«

Dieser Gedanke ist mir ebenfalls gekommen. Giulia und ich sind knapp fünf Jahre jünger als er und ich kann mir nicht erklären, warum er es cool findet, mit uns abzuhängen. Es gibt genug Leute, die sich eine Hand abhacken würden, um einen Abend mit Mario Marino zu verbringen. Trotzdem entscheidet er sich meistens für unsere Gesellschaft. Die Nachmittage mit ihm sind lustig, und obwohl Giulia sich gern über seine Anwesenheit aufregt, weiß ich, dass sie sich insgeheim darüber freut. Sie vergöttert ihren Bruder nach wie vor. Eine Tatsache, die ich inzwischen verstehe.

Wir biegen von der Interstate 405 ab, und laut Navi sind es jetzt nur noch fünfzehn Minuten, bis wir unser Ziel erreichen.

Fünfzehn Minuten, bis ich auf die Leute treffe, die sich meine neue Familie nennen.

Fünfzehn Minuten, bis ich das Zimmer sehe, in dem ich im kommenden Schuljahr leben werde, das ich wiederholen muss, weil ich wegen des Brandes die Abschlussprüfungen verpasst habe.

Fünfzehn Minuten, in denen ich Zeit habe, mich vollkommen verrückt zu machen.

Mir wird übel. Nervös ziehe ich den Ärmel meines Kleides über den linken Handrücken und versuche, die Narben darauf zu verstecken. Ich mag mich an ihren Anblick gewöhnt haben, andere noch lange nicht.

Dr. Saxton hat damals im Krankenhaus von Glück gesprochen, nachdem er mich über den Brand aufgeklärt hat. Zu dem Zeitpunkt habe ich nicht verstanden, was er damit meint. Wie konnte er von Glück reden, wenn ich derartige Verbrennungen davongetragen habe? Zwölf Prozent meiner Haut sind dem Feuer zum Opfer gefallen!

Inzwischen weiß ich, wie er es gemeint hat. Von der Hüfte aufwärts bin ich, abgesehen von meinem linken Arm, unversehrt geblieben. Da ich mit den Füßen zum Feuer lag, wurde mein Rumpf nur minimal verbrannt. Diese Wunden sind innerhalb kürzester Zeit verheilt. Auch mein Gesicht ist verschont geblieben. Die Wimpern sind inzwischen nachgewachsen und länger als zuvor. Meine Augenbrauen sind ebenfalls wieder vorhanden, auch wenn ich sie an der einen oder anderen Stelle mithilfe eines Augenbrauenstifts nachbessern muss. Aber das ist nur temporär. Eines Tages werden sie wieder dicht genug sein, sodass das nicht mehr notwendig ist. Meine dunklen Haare, die mir früher bis zur Taille gingen, mussten abgeschnitten werden. Die Hitze des Feuers hatte sie stark angesenkt. Natürlich sind sie immer noch lang, reichen mir jetzt aber nur noch bis knapp über die Brust.

»So, da sind wir.« Der Wagen kommt zum Stehen, und Dave kann die Aufregung in seiner Stimme nicht verbergen. Ich schlucke und betrachte das imposante Haus, das vor mir in die Höhe ragt. Er hat nicht übertrieben, als er meinte, dass es direkt am Meer liegt. Es gibt sogar eine kleine Treppe, die direkt hinunter zum Strand führt. Beeindruckend.

Wir steigen aus und ich muss meine Füße daran erinnern aufzuwachen und richtig zu funktionieren. Neben mir höre ich das Meer rauschen. Die Luft schmeckt salzig. Der Schrei eines Vogels lässt mich kurz zusammenzucken. Das sind vollkommen andere Geräusche, als ich sie aus Beverly Hills gewohnt bin.

Dave trägt mein Gepäck. Es ist nicht viel, nur ein einzelner Koffer. Den Großteil meiner Kleidung musste ich im Haus zurücklassen. Francesca durfte damals unter Aufsicht der Feuerwehr nur das Nötigste holen. Aber Dave hat mir versichert, dass seine Frau Vivienne sich um meine Garderobe kümmern wird. Der Gedanke daran, was mich jetzt in meinem Kleiderschrank erwartet, jagt mir in etwa genauso viel Angst ein, wie das Zusammentreffen mit ihr selbst. Ich will nicht voreingenommen sein oder sie verurteilen, bevor wir uns persönlich kennengelernt haben, aber durch Daves Erzählungen hat sich ein Bild in meinem Kopf manifestiert, das sich nicht mehr so leicht ändern lässt. Was für Kleidung kauft eine L.A.-Barbie, die hauptberuflich Ehefrau ist? Ich kann es mir in Ansätzen vorstellen und hoffe sehnlichst, dass ich falschliege.

Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen und bin wie erschlagen, als wir die Eingangshalle betreten. Sie ist groß. Wobei das nicht der richtige Ausdruck ist. Riesig trifft es eher. Die Wände sind in einem schlichten Cremeweiß gehalten. Ein Teil der Decke besteht ausschließlich aus Glas, was einen beeindruckenden Blick auf den wolkenlosen, blauen Himmel ermöglicht. Rechts von uns gehen zwei weitere Räume ab, deren Eingänge so breit sind, dass keine Tür der Welt sie hätte verschließen können. In der Mitte der Eingangshalle führen zwei leicht geschwungene Treppen halbkreisförmig nach oben und münden in einer Empore, die Teil des Flurs im ersten Stock ist. Darüber kann ich eine weitere balkonartige Konstruktion erkennen, über deren Geländer jetzt ein Gesicht auftaucht.

»Da seid ihr ja endlich!« Die Stimme hallt von den hohen Decken wider und ist angenehmer, als ich erwartet habe. Es folgt das hastige Klacken von Absätzen auf teurem Marmorboden und sofort werden Erinnerungen in mir wach. Augenblicklich höre ich wieder das monotone Geräusch von sich entfernenden Absatzschuhen, während ich auf dem Boden liege und vor Schmerzen keine Luft bekomme.

Kaum merklich beuge ich mich nach vorne und presse meine Hände auf den Bauch. Ruhig atmen, Kayla. Alles ist gut. Dir passiert nichts.

Es dauert ungefähr eine halbe Minute, dann habe ich mich wieder unter Kontrolle. Vielleicht waren es auch 60 Sekunden. Auf jeden Fall hat sich in der Zeit eine Frau zu uns gesellt, die Dave mit einem Kuss begrüßt. Sie ist groß, mindestens einen Meter achtzig und hat eine Taille, die sich die meisten Mädchen in meinem Alter erträumen. Ihre Sanduhrfigur wird durch ein enges, weißes Kleid besonders hervorgehoben. Ihre Beine gleichen denen eines Supermodels. Sie hat eine schmale Stupsnase, die perfekt zum Rest ihres symmetrischen Gesichts passt.

Ich beobachte sie und Dave zusammen. Ihre Augen strahlen. Sie sieht ihn an, als wäre er das Beste, das ihr jemals passiert ist, und Dave erwidert ihren Blick ebenso liebevoll. Die beiden unterhalten sich kurz, bevor sie sich mir zuwendet. Ihre Lippen verziehen sich zu einem freundlichen Lächeln, während sie mich mustert. Schnell, aber nicht so unauffällig, wie sie vielleicht dachte. Ihr Blick wirkt nicht abwertend, sondern eher … neugierig.

»Du musst Micaela sein! Ich freue mich so, dich endlich kennenzulernen!« Bei der Erwähnung meines Geburtsnamens läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Ich zucke zusammen, was sie nicht bemerkt, Dave aber durchaus wahrnimmt.

»Vivienne, Schatz. Ich hatte doch erzählt, dass wir uns darauf geeinigt haben, nur den Nachnamen zu ändern. Nenn sie bitte Kayla.«

Sofort bröckelt ihr strahlendes Lächeln und sie sieht mich schuldbewusst an. Genau wie Dave vorhin in Oceanside wirkt sie unsicher. Kein Wunder, schließlich ist diese Situation für uns alle neu.

»Entschuldige, Liebes. Das habe ich ganz verdrängt. Ich freue mich nur so dich kennenzulernen!«

Ich wische ihren kleinen Fauxpas mit einer lässigen Handbewegung beiseite, als hätte es mir nichts ausgemacht. Dabei wühlt mich dieser Teil meiner Vergangenheit noch immer auf.

Bei unserem ersten Aufeinandertreffen habe ich Dave klargemacht, dass ich meinen Vornamen gern behalten würde. Trotzdem hat er noch dreimal versucht, mich zu überzeugen, ihn doch zu ändern. Er versteht nicht, dass die Änderung meines Vornamens meine momentane Identitätskrise nur verstärken würde. Viel mehr noch: Es würde sich anfühlen wie ein kompletter Identitätsverlust. Ich habe mein Zuhause und meine Mutter verloren, ist es da nicht verständlich, dass ich mich an den kleinen Rest klammere, der mir aus der Vergangenheit geblieben ist? Auch wenn es nur ein Name ist.

Die Gespräche mit Dave waren lang und kräftezehrend. Irgendwann war ich es leid, immer wieder dasselbe Thema durchzukauen. Also habe ich ihm einen Kompromiss vorgeschlagen: Ich bleibe Kayla und gebe dafür meinen Nachnamen Hudson auf, um stattdessen eine Kingston zu werden. Damit konnte er sich glücklicherweise anfreunden und ich hatte endlich meine Ruhe. Auch wenn es immer noch merkwürdig ist, jetzt mit Kayla Kingston zu unterschreiben.

»Wir sollten hier nicht nur so rumstehen. Die Mädchen kommen gleich aus der Schule und bis dahin können wir dir ja dein Zimmer zeigen!« Vivienne klatscht aufgeregt in die Hände. Auf diesen Moment scheint sie den ganzen Vormittag hin gefiebert zu haben. Irgendwie süß.

Schnurstracks steuert sie auf die Treppe zu, während ich unschlüssig im Foyer stehenbleibe. Mein Zimmer ist doch hoffentlich nicht im ersten Stock? Oder viel schlimmer noch im zweiten? Ich kann zwar Treppen steigen, aber es dauert lange und ist anstrengend.

Dave bemerkt mein Zögern und lächelt mir aufmunternd zu. »Ursprünglich wollten wir dich im Erdgeschoss unterbringen, aber dein Physiotherapeut meinte, dass es gut wäre, wenn du Treppen steigst. Deshalb haben wir uns umentschieden.« Ich nicke und beiße die Zähne zusammen. Wird schon klappen.

»Wo bleibt ihr denn?« Viviennes Stimme erklingt ungeduldig aus dem oberen Stockwerk. Ich kann ihre Euphorie ein Stück weit verstehen. Sie hat sich sicherlich viel Mühe bei der Gestaltung meines Zimmers gegeben. Aber ich bin davon ausgegangen, dass Dave ihr erzählt hat, dass ich nicht mehr die Schnellste bin.

Mühsam erklimme ich die siebzehn Stufen - ja, ich habe mitgezählt -, die von heute an meine Endgegner sein werden. Oben angekommen lehne ich mich ans Geländer und atme tief durch. Meine Füße schmerzen und ein Blick auf die Uhr zeigt, dass es Zeit wäre, meine Medikamente einzunehmen. Ein frustriertes Seufzen entflieht mir, als mir klar wird, dass die Tabletten noch in der Reisetasche sind, die unten im Foyer steht. Also werde ich damit warten müssen. Auf keinen Fall laufe ich die Treppe wieder herunter, nur um mich dann erneut in den ersten Stock zu kämpfen. Ich zwinge mich, weiterzugehen und folge Dave in das Zimmer gleich links neben der Treppe.

Es ist vollständig eingerichtet. An der Wand steht ein großes, von beiden Seiten zugängliches Bett. Ein Schreib- und ein Schminktisch haben ihren Platz rechts und links von der Tür, und im hinteren Teil des Raumes befindet sich eine kleine Nische, die als begehbarer Kleiderschrank dient. Ich schlucke, als ich die vielen kurzen Hosen und Kleider sehe, die fein säuberlich auf Bügel gehängt wurden. Vivienne hat beim Einkaufen sicher daran gedacht, was junge Frauen in meinem Alter heutzutage tragen, aber wie kommt sie darauf, dass ich sowas anziehe? Erneut beschleicht mich das Gefühl, dass Dave seiner Familie meine körperlichen Einschränkungen verschwiegen hat. Aber wenn das der Fall wäre, hätte sie mich eben bei der Begrüßung sicher darauf angesprochen. Scheinbar ist ihr nicht in den Sinn gekommen, dass ich mich mit meinen Narben in solchen Outfits unwohl fühlen könnte.

Um nicht zu zeigen, wie sauer ist bin oder im schlimmsten Fall etwas Unangemessenes zu sagen, drehe ich mich schnell wieder um.

Die Wände sind in einem zarten Fliederton gestrichen. Ich rümpfe die Nase. Nicht unbedingt meine Farbe. Es wurden sogar einige Gemälde aufgehängt, und bei genauerem Hinsehen bemerke ich, dass es sich dabei um meine eigenen Bilder handelt. Sofort bildet sich ein Kloß in meinem Hals. Wie zur Hölle kommen die hierher? Ich dachte, unser altes Haus dürfe nicht mehr betreten werden? Schon gar nicht die oberen Stockwerke. Wegen Einsturzgefahr oder so.

»Und, ist die Überraschung gelungen?« Vivienne klingt, als würde sie vor Stolz gleich platzen. »Dank der Feuerwehr konnten wir ein paar Bilder retten und das sind echte Kunstwerke! Du bist so talentiert, Kayla.«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Am besten gar nichts, um Vivienne nicht zu kränken. Sie kann schließlich nicht wissen, dass ich seit dem Brand keinen Pinsel mehr angefasst habe. In der Reha haben sie öfters versucht, mich zum Malen zu überreden, aber in jedem Kurs habe ich stundenlang einfach nur die leere Leinwand angestarrt. Es scheint so, als wäre mit dem Auffliegen von Moms … nein, Mirandas Lüge auch meine Inspiration verschwunden. Zusammen mit allem, was mich sonst noch ausmacht. Ich verspüre keine Begeisterung, keine Motivation mehr, mich an eine Staffelei zu stellen. Allein der Blick auf meine Bilder reicht aus, um mich daran zu erinnern, was ich verloren habe. Ich habe Kunst geliebt. Aber diese Liebe basierte auf einem Leben, dass es so nicht mehr gibt.

Zum Glück komme ich um eine Antwort auf Viviennes Frage herum, denn unten fällt die schwere Tür ins Schloss und helles Lachen erfüllt das Haus. Sofort eilt Daves Frau aus dem Raum und ruft nach ihren Töchtern. Mein Magen krampft sich zusammen. Das Aufeinandertreffen mit ihr war angenehmer als erwartet. Ich befürchte allerdings, dass es mit meinen Stiefschwestern schwieriger wird. Mädchen in meinem Alter können unglaublich fies sein, wenn sie einen Schwachpunkt entdecken. Und von denen habe ich reichlich.

Wenige Augenblicke später betreten zwei junge Frauen den Raum. Sie sind beide blond, wobei ihr Haar etwas dunkler ist als das ihrer Mutter. Sie tragen High Heels, von denen mir bereits vom Hinsehen die Füße wehtun. Dazu dunkle Faltenröcke und weiße Blusen mit aufgesticktem Logo auf der Brust. Sieht stark nach einer Schuluniform aus.

»Ashley, Jillian, das ist Kayla.«

Ich lächle die beiden kurz an und winke mit der gesunden Hand. Sie sind Zwillinge. Das wusste ich bereits von Dave. Zu meinem Entsetzen sind sie jedoch eineiig, was mir das Unterscheiden nicht leichter machen wird. Also versuche ich, mich auf die wenigen Unterschiede zu konzentrieren, die mir auffallen. Ashley ist ein Stückchen größer als ihre Schwester und trägt die Haare länger.

»Dann herzlich willkommen in der Familie, oder so.« Ihre Stimme ist eisig und ein Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Ist es im Zimmer gerade kälter geworden, oder bilde ich mir das nur ein? Der Ausdruck in ihren grünen Augen wirkt hart, sodass ich mich direkt unerwünscht fühle.

»Was meine Schwester sagen will«, entgegnet Jillian und stößt Ashley mit dem Ellenbogen in die Seite, »wir freuen uns sehr, dass du jetzt hier bist.«

Ihre Augen haben einen deutlich wärmeren Ausdruck und das Lächeln, welches ihre Lippen umspielt, wirkt echt. Wenigstens eine der beiden scheint mich nicht als Eindringling zu betrachten.

»Ich freue mich, euch kennenzulernen«, sage ich leise und streiche mir eine verirrte Strähne hinters Ohr. Sofort zucken ihre Blicke zu dem Geflecht aus Narben auf meiner Haut, weshalb ich die Hand direkt verstecke.

»Ich … ähm … bin ziemlich erledigt. Würde es euch etwas ausmachen, wenn ich mich ein bisschen hinlege?«

»Überhaupt nicht, Schätzchen«, zwitschert Vivienne und schiebt die anderen aus dem Zimmer. »Sag Bescheid, wenn du etwas brauchst.«

»Könntest du meine Tasche hochbringen? Da sind die Medikamente drin«, frage ich an Dave gewandt. Er nickt, und kurze Zeit später bringt er mein Gepäck, bevor er die Tür hinter sich schließt und ich endlich allein bin. Nachdem ich die Schmerzmittel mit einem Schluck Wasser eingenommen habe, falle ich erschöpft aufs Bett und merke, wie abgekämpft ich tatsächlich bin. Das hat mich alles furchtbar angestrengt. Ich schließe die Augen, und ehe ich mich versehe, bin ich auch schon eingeschlafen.

Als ich aufwache, ist es draußen bereits dunkel. Verwirrt sehe ich mich um und weiß im ersten Moment nicht, wo ich bin. In meinem Zimmer in Oceanside definitiv nicht. Nachdem meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkenne ich, dass jemand ein Tablett mit Essen auf den Schreibtisch gestellt hat. Da fällt es mir wieder ein. Ich bin in Los Angeles. Im Haus meiner neuen Familie.

Unsicher taste ich nach dem Schalter der Nachttischlampe und knipse sie schließlich an. Vom Licht geblendet kneife ich die Augen zu. Beim Blinzeln tauchen immer wieder die Umrisse der Glühbirne vor meinem inneren Auge auf, bis sie schließlich verschwunden sind, und ich einen Blick auf den Wecker werfen kann, der zeigt, dass es bereits elf Uhr abends ist. Wow, ich habe fast sechs Stunden geschlafen!

Vorsichtig stehe ich auf und lasse mich auf den Schreibtischstuhl sinken. Toast, Aufschnitt, ein inzwischen kaltes Rührei und eine Flaschen Wasser warten auf mich. Doch ich habe keinen Hunger. Schon während der Reha hat sich eine immer noch andauernde Appetitlosigkeit bei mir eingestellt. Dr. Miller meint, dass sie ein Symptom einer beginnenden Depression sein könnte. Aber egal wie sehr ich mich zwinge, mehr als ein paar Bissen bekomme ich nie runter.

Das macht sich inzwischen auch an meiner Figur bemerkbar. Die Kleidung, die Francesca mir mit ins Krankenhaus gebracht hat, ist zu groß. Meine Kurven haben sich deutlich zurückgebildet, und meine Brüste sind ebenfalls kleiner geworden.

Ich atme tief durch, nehme mir einen Toast und beiße die Ecken ab. Während ich langsam darauf herumkaue, schlüpfe ich in meinen neuen Pyjama und krabble zurück ins Bett. Vielleicht wäre es höflich gewesen, sich unten blicken zu lassen, aber die Aussicht darauf, diese furchtbare Treppe noch einmal runter und wieder hochsteigen zu müssen, lässt mich die Idee schnell verwerfen. Ich habe noch genug Zeit, um aktiv am Familienleben teilzunehmen. Damit muss ich nicht zwangsläufig heute beginnen.

Am nächsten Morgen bekomme ich dafür gleich die volle Familiendröhnung. Weil ich so viel geschlafen habe, bin ich schon früh aufgewacht und habe den Morgen damit begonnen, meine Bilder von den Wänden zu nehmen und sie in der hintersten Ecke des Kleiderschrankes zu verstecken. Meine Kunst anzuschauen, bereitet mir beinahe körperliche Schmerzen, weshalb ich sie schnellstmöglich wieder verschwinden lassen will. Vielleicht hat Toni die Möglichkeit, die Bilder an einige Käufer zu vermitteln, die sich im Gegensatz zu mir über ihren Anblick freuen. Durch das Gerumpel verrate ich den anderen allerdings, dass ich bereits auf den Beinen bin, und werde prompt von Dave zum Frühstück genötigt.

Zu fünft sitzen wir am Tisch im Esszimmer, eine komplett neue Erfahrung für mich. Die Male, die ich gemeinsam mit Miranda gefrühstückt habe, sind vor allem in Los Angeles sehr rar geworden. Da gab es nur Francesca, Toni – wenn er Zeit hatte – und mich.

Hier läuft das Radio leise im Hintergrund. Dave liest den Wirtschaftsteil der Zeitung, und Vivienne diskutiert mit ihren Töchtern eine höchst wichtige Modefrage. Dabei redet größtenteils Ashley und ignoriert mich vollkommen. Jillian dagegen lächelt mich zwischendurch immer mal wieder entschuldigend an. Die beiden sehen selbst am frühen Morgen wie aus dem Ei gepellt aus. Perfekt geschminkt und frisiert. Die Schuluniform schmiegt sich so eng an ihre Körper, dass ich mir sicher bin, dass sie maßgeschneidert ist. Ein kurzer Stich durchzuckt meine Brust, den ich im ersten Moment nicht einordnen kann. Früher habe ich mir doch nichts aus Schönheitsidealen gemacht oder mich gefragt, ob die Kleidung anderer Leute maßgeschneidert ist.

Während ich jetzt an meinem Croissant knabbere, merke ich allerdings, dass es Neid ist, den ich den Zwillingen gegenüber empfinde. Neid auf ihr Aussehen. Ihr Auftreten. Darüber, dass sie sich keine Gedanken machen müssen, was andere womöglich über sie sagen.

Als die beiden zur Schule aufbrechen, wird es etwas ruhiger. Jetzt konzentriert Vivienne ihre Aufmerksamkeit auf mich und stellt mir tausend Fragen, die ich alle geduldig beantworte. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Dave zufrieden lächelt.

Trotzdem falle ich danach vollkommen erschöpft auf das große Sofa im Wohnzimmer. Zum Treppensteigen kann ich mich gerade nicht aufraffen. Außerdem kommt mein Physiotherapeut heute vorbei und wird mich sicherlich genug quälen. Da kann ich mich jetzt noch ein wenig entspannen und mit meinem Handy beschäftigen.

Kayla: Wisst ihr schon, wann ihr vorbeischaut?

Nachdenklich drehe ich mein Telefon zwischen den Fingern. Giulia, Toni und Mario wollen mich heute besuchen und die Aussicht darauf, meine Freunde zu sehen, hebt meine Laune ins Unermessliche. Sie sind mein Stück Normalität in dieser aufwühlenden Zeit.

Giulia: Gegen fünf, wenn dir das passt?

Kayla: Klingt super! Meinst du Mario könnte mir einen Gefallen tun?

Giulia: Mit Sicherheit. Was soll er machen?

Kayla: Sein Friseurbesteck mitbringen. Es wird Zeit für eine weitere Veränderung.

Kapitel 3 – Jake

Ein leises Kichern dringt an meine Ohren und weiche Lippen fahren über die Haut an meinem Hals. Ein blonder Haarschopf taucht vor mir auf und blaue Augen funkeln mich verschmitzt an.

»Es freut mich total, dass du doch noch Zeit gefunden hast«, schnurrt Kim und widmet sich wieder meinem Hals und meinem nackten Oberkörper.

Zeit … ist das der richtige Ausdruck? Ich würde den Anruf bei ihr eher als Ablenkung betiteln. Aber das sage ich ihr natürlich nicht. Denn wie ich sie kenne, würde sie schnurstracks wieder abziehen.

Fahrig gleiten meine Hände ihre Taille hinab. Sie hat sich bereits aus ihren Klamotten geschält und liegt nur noch in ihrer teuer aussehenden Unterwäsche auf mir. Einem Hauch von Nichts. Jeder andere Mann wäre sofort über sie hergefallen, und wenn ich ehrlich bin, habe ich in den letzten vier Monaten nichts anderes getan, wenn wir uns gesehen haben. Sex. Ein bedeutungsloser One-Night-Stand. Mehr sollte es nicht werden. Das war der Deal, den wir in einem sehr betrunkenen Zustand im Midnight geschlossen haben. Aber aus einer Nacht wurden zwei. Dann drei, dann vier und so weiter. Wir haben keine Dates oder uns gegenseitig unseren Eltern vorgestellt. Es ist eine lockere Liaison, bei der wir beide auf unsere Kosten kommen.

Kim war der Versuch, eine Lücke zu füllen. Die Lücke, die Kayla mit ihrem Verschwinden hinterlassen hat, und die Lynn dadurch, dass sie mir plötzlich die kalte Schulter zeigt, noch größer hat werden lassen. Kein Alkohol dieser Welt hat geholfen, diese Leere zu füllen. Die langen Partynächte haben mir eher zugesetzt als gutgetan. Doch dann habe ich Kim getroffen, und plötzlich wusste ich, wie ich die Trauer und die Wut am besten abbauen kann. Das diese Bewältigungsstrategie durch einen schlichten Satz ein jähes Ende findet, hätte ich nicht gedacht.

»Wir essen heute bei den Kingstons.« In Dauerschleife spult sich diese Ankündigung meines Vaters immer wieder in meinem Kopf ab.

Wir. Essen. Bei. Den. Kingstons.

Heute Abend.

Dabei ist das eigentlich nichts Ungewöhnliches. Nach dem Tod von Daves Frau haben wir diese Essen eingeführt, um ihm das Gefühl zu geben, nicht allein zu sein. Und auch als er neu geheiratet hat, haben wir diese Tradition fortgeführt. Allerdings weiß ich, welchen speziellen Grund diese Familienzusammenführung heute hat: Kayla ist wieder aus der Versenkung aufgetaucht. Zumindest hat Dad meiner Mom das erzählt. Sie hat darauf kaum etwas erwidert. Sie hört inzwischen lieber nur zu. Der Krebs hat sie so schwach gemacht, dass sie kaum mehr aufsteht und wenn doch, sitzt sie im Rollstuhl. Laufen strengt sie zu sehr an. Einmal täglich kommt der Pflegedienst, um sie zu duschen und frisch zu machen. Alle anderen Dinge erledigen Dad, Justin und ich. Jolina wollen wir damit nicht belasten. Ich habe meine Abschlussarbeit unterbrochen und Dad hat seine Arbeit im Büro drastisch reduziert. Wir wollen die verbleibende Zeit mit Mom ausnutzen und bei ihr zu Hause verbringen.

Seit Dads Hiobsbotschaft am Morgen bin ich zu nichts mehr zu gebrauchen. Meine Gedanken kreisen um Kayla und unser Wiedersehen. Mit jeder Stunde, die verging, ist es in meinem Kopf lauter geworden, bis ich es schließlich nicht mehr ausgehalten und Kim angerufen habe. Ablenkung erschien mir der richtige Weg, doch damit lag ich eindeutig falsch.

»Du bist gar nicht richtig dabei.« Kim pustet sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und verzieht die Lippen zu einem Schmollmund.

»Tut mir leid.« Ich seufze und lasse mich zurück in die Kissen sinken. »Mir geht gerade viel durch den Kopf.«

Sie rollt sich von mir runter und setzt sich auf die Bettkante.

»Willst du drüber sprechen?« Nachdenklich sehe ich sie an. Bisher haben wir nie … geredet.

»Nein, danke. Das ist eine lange und komplizierte Geschichte.«

Kim seufzt und beginnt damit, sich wieder vollständig anzuziehen. Mit gerunzelter Stirn sehe ich ihr dabei zu.

»Du gehst?«, frage ich verwundert, woraufhin Kim die Hände ineinander faltet und mich entschuldigend anlächelt.

»Ich kann das nicht mehr, Jake«, gibt sie zu. »Es ist immer dasselbe. Wir treffen uns, haben Sex, verabschieden uns und das war’s. Aber das reicht mir nicht. Nicht mehr. Ich möchte gern von deinen Problemen hören. Mit dir Essen gehen und mich richtig unterhalten«, gesteht sie leise.

»Wir waren uns doch einig. Ich meine … seit wann denkst du so?«, stammle ich entgeistert.

Kim nickt, doch die Traurigkeit in ihren Augen ist nicht zu übersehen.

»Schon eine Weile. Es ist okay, dass du nicht mehr willst. Allerdings sollten wir an dieser Stelle einen Schlussstrich ziehen.«

Jetzt nicke ich, weil mich dieses Gespräch überfordert. Bisher habe ich nie das Gefühl gehabt, dass Kim unsere Liaison anders sieht, als ich.

»Dann … bye.« Sie wirft mir ein letztes Lächeln zu und steht auf.

»Bye«, murmle ich und sehe ihr hinterher, als sie mein Bungalow verlässt.

Das schlechte Gewissen nagt nur für den Bruchteil eines Augenblicks an mir. Hätte ich aufmerksamer sein müssen? Hat sich die Veränderung in ihrer Denkweise irgendwie angekündigt und ich habe es übersehen? War es unfair, uns die Chance auf mehr zu verwehren? Andererseits … wäre ich definitiv nicht dazu bereit gewesen. Es dauert keine 15 Sekunden, bis meine Gedanken zurück zu Kayla wandern. Wie der heutige Abend wohl ablaufen wird? Es ist schwer vorstellbar, dass wir genau an dem Punkt anknüpfen können, an dem wir vor fünf Monaten aufgehört haben. Ich weiß auch gar nicht, ob ich das will. Sie war diejenige, die ohne Erklärung den Kontakt abgebrochen hat. Müsste sie dann nicht auch diejenige sein, die wieder einen Schritt auf mich zugeht? Mir eine Erklärung liefert, weshalb sie spurlos verschwunden ist und keine meiner Nachrichten beantwortet hat? Seufzend sinke ich in die Kissen zurück und starre an die Decke. Schlagartig weiß ich, was ich von diesem Essen erwarte: Antworten. Antworten auf die vielen Fragen, die seit Monaten durch meinen Kopf wirbeln.

Ich schnappe mir mein Handy und sehe, dass es allerhöchste Zeit wird, mich umzuziehen, wenn ich keinen Ärger mit Dad haben will. Trotzdem bleibe ich liegen und starre auf das Foto von Kayla und mir aus der Kunstgalerie. Ihr strahlendes Lächeln macht jedem Stern am Himmel Konkurrenz und erinnert mich daran, weshalb ich damals nur Augen für sie hatte. Sie war mit Abstand das beeindruckendste Kunstwerk, das ich an jenem Abend in der Galerie gesehen habe. Aber wenn ich mir unser einziges gemeinsames Bild so anschaue, kommt es mir vor, als stamme es aus einer anderen Zeit. Aus einem anderen Leben. Als wären die beiden Personen auf dem Foto vollkommen andere Menschen, als wir es jetzt sind.

Es gibt ein Davor – die Zeit vor Kaylas Verschwinden. Ein Jetzt – die Zeit, in der ich gelernt habe, ohne sie zu leben. Und es gibt ein Danach – die Zeit, die nun anbricht, weil sie wieder aufgetaucht ist. Wie die aussehen wird, erfahre ich in weniger als dreißig Minuten.

Das sanfte Vibrieren meines Handys holt mich zurück in die Gegenwart und kündigt eine neue Nachricht an.

Jolina: Hoffe, du bist schon ansatzweise fertig. Wir wollen gleich los & Dad rastet aus, wenn wir deinetwegen zu spät kommen.

Seufzend werfe ich das Handy neben mich auf die Matratze. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als mich umzuziehen und mein bestes Lächeln aufzusetzen. All die Gefühle, die gerade in mir aufkommen, muss ich im Keim ersticken und runterschlucken. Dass ich wegen Bauchschmerzen nicht mitkommen kann, wird mir wohl keiner abkaufen.

Natürlich sind wir zu spät und ich bin daran schuld. Bis zur letzten Sekunde habe ich es hinausgezögert, meinen Bungalow zu verlassen. So lange, bis Dad schließlich der Kragen geplatzt ist und er mich beinahe eigenhändig zum Auto geschleift hätte.

Etwa fünfzehn Minuten später stehen wir vor dem Haus der Kingstons, und mein Magen rutscht mir fast bis in die Kniekehlen.

Dabei ist zu Beginn alles wie immer. Dad und Onkel Dave umarmen sich, während Jolina von Jillian und Ashley mit einem Küsschen auf die rechte und linke Wange begrüßt wird. Von Vivienne ist nichts zu sehen. Sie wird ihren großen Auftritt haben, wenn alle bereits am Esstisch sitzen. Dann wird sie sich darüber beklagen, wie furchtbar aufwendig das Kochen gewesen ist. Obwohl jeder weiß, dass sie außer der Verantwortung nichts in der Küche getragen hat. Auch Kayla kann ich nirgends entdecken, doch bevor ich die Chance habe mich richtig umzuschauen, hat Ash sich schon bei mir eingehakt und klimpert aufreizend mit den verlängerten Wimpern. Sie kann es echt nicht lassen.

Nur höchst widerwillig begleite ich sie ins Esszimmer und muss ein Seufzen unterdrücken, als sie auf den Stuhl neben mir sinkt. Schon jetzt kann ich den eingeschnappten Blick meiner Schwester auf mir spüren. Jolina hasst es, wenn ich mehr Aufmerksamkeit von Ash bekomme als sie. Dabei würde ich alles dafür tun, mich dieser zu entziehen.