Transit 43. Europäische Revue - Ivan Krastev - E-Book

Transit 43. Europäische Revue E-Book

Ivan Krastev

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Beschreibung

Gegenwärtig erlebt die Europäische Union die Erosion ihrer Fundamente: die gemeinsame Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, der geopolitische Pakt in Abgrenzung zur Sowjetunion sind nicht mehr von entscheidender Bedeutung. Mit der Verringerung des allgemeinen Wohlstands verliert die Europäische Union scheinbar ein weiteres Kernstück ihrer politischen Legitimität. Doch "Schlicht anzunehmen, dass die Union gar nicht zerfallen könne, weil das die Beteiligten teuer zu stehen käme“ ist für Ivan Krastev kein Argument einer tragfähigen Diskussion. Die Artikel des zweiten Teils widmen sich der Rolle des Balkans, im Kontext der Entwicklung Gesamteuropas im 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die eigentümliche, manchmal paradoxe Kombination normativ unvereinbarer Positionen und ideologischer Hybride - so Diana Mishkova - verleiht dem Balkan eine Originalität und Kreativität im Prozess des Transfers der Moderne, die im Guten wie im Schlechten, etwas über das Wesen der Moderne selbst sichtbar werden läßt. Webb Kean spricht in seinem Beitag zu dem von Charles Taylor geleiteten IWM-Forschungsprojekt 'Religion und Säkularismus' von einem "moralischen Narrativ der Moderne“, in dem der Säkularismus als wichtiger Aspekt enthalten ist. Auch David Martin sieht dem Kampf gegen die Religion eine säkulare Meistererzählung zugrunde liegen, "die der Idee des Fortschritts verpflichtet ist und Umstände und Entwicklungen übergeht, die ihr widersprechen.“ Gemeinsam ist diesen beiden Beiträge eine Untersuchung der bisher undurchschauten, normativen Voraussetzungen der Säkularisierungsprozesse.

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Transit wird herausgegeben am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien und erscheint im Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main

Herausgeber: Krzysztof Michalski (Wien/Boston)

Kurator des Bildteils: Walter Seidl (Wien)

Redaktion: Klaus Nellen (Wien)

Redaktionskomitee: Cornelia Klinger (Wien), János M. Kovács (Budapest/Wien), Ivan Krastev (Sofia/Wien), Timothy Snyder (Yale/Wien)

Beirat: Peter Demetz (New Haven), Timothy Garton Ash (Oxford), Elemer Hankiss (Budapest), Claus Leggewie (Essen), Petr Pithart (Prag), Jacques Rupnik (Paris), Aleksander Smolar (Warschau/Paris), Fritz Stern (New York)

Redaktionsanschrift: Transit c/o IWM, Spittelauer Lände 3, A-1090 Wien, Telefon (+431) 31358-0, Fax (+431) 31358-30, www.iwm.at

Unverlangte Einsendungen können nicht in jedem Fall beantwortet werden.

Anzeigenpreisliste wird auf Wunsch zugesandt.

 

Transit erscheint zweimal im Jahr. Jedes Heft kostet 14 Euro (D). Transit kann im Abonnement zu 12 Euro (D) pro Heft (in D und A portofrei) über den Verlag bezogen werden.

Verlagsanschrift: Verlag Neue Kritik, Kettenhofweg 53, D-60325 Frankfurt am Main, Telefon (069) 72 75 76, Fax (069) 72 65 85, E-mail: [email protected]

 

Textnachweise: Der Beitrag von Ivan Krastev geht auf den Artikel »A Fraying Union« im Journal of Democracy vom October 2012 zurück. Jacques Rupniks Artikel erschien zuerst unter dem Titel »Leçons centreuropéennes de la crise de l’euro« in Esprit vom Mai 2012. Julia Hartwigs Gedichte sind ein Vorabdruck aus Und alles wird erinnert. Gedichte 2001- 2011, herausgegeben und übertragen von Bernhard Hartmann, Verlag Neue Kritik 2013. Boris Mezhuev war im Sommer 2012 Gast im Rahmen des Russia in Global Dialogue-Programms des IWM; wir danken der Open Society Foundation für ihre Unterstützung.

 

ISSN 0938

 

Transit ist Partner von Eurozine – the netmagazine (www.eurozine.com), einem Zusammenschluss europäischer Kulturzeitschriften im Internet. Transit is regularly listed in the International Current Awareness Services. Selected material is indexed in the International Bibliography of the Social Sciences.

 

© 2013 für sämtliche Texte und deren Übersetzungen Transit / IWMDie Printausgabe erschien 2013 im Verlag Neue Kritik

E-Book-Ausgaben 2014:

ISBN 978-3-8015-0510-3 (epub)ISBN 978-3-8015-0511-0 (mobi)ISBN 978-3-8015-0512-7 (pdf)

Transit 43 (Winter 2012/2013)

 

Editorial

 

Demokratie und Krise

 

Ivan Krastev

Die Logik des Zerfalls

Demokratie und die Krise der Europäischen Union

 

Jacques Rupnik

Mitteleuropäische Lehren aus der Eurokrise

 

Janos M. Kovacs

Tradition, Nachahmung, Erfindung

Neue Kapitalismen in Osteuropa

 

Boris Mezhuev

Perestroika 2.0

Dilemmas der politischen Transformation in Russland

 

 

Der Balkan als Laboratorium der Moderne

 

Diana Mishkova

Transfer der Moderne

Liberalismus und Tradition auf dem Balkan des 19. Jahrhunderts

 

Dessislava Lilova

Die Konstruktion des Balkans als Heimat

 

Constantin Iordachi

Unerwünschte Bürger

Die »Judenfrage« in Rumänien und Serbien zwischen 1831 und 1919

 

Julia Hartwig

Gedichte

 

Martin Krenn

City Views (2003- 2008)

Photographien

 

David Martin

Religion und Gewalt

Eine Kritik des »Neuen Atheismus«

 

Webb Keane

Secularism as a Moral Narrative of Modernity

 

Slawomir Sierakowski

Verlieren für die Menschen

Czesław Miłoszs Science-Fiction-Roman »Die Berge des Parnass«

 

Zu den Autorinnen und Autoren

Editorial

 

 

 

Gegenwärtig erlebt die Europäische Union die Erosion der Fundamente, auf denen sie errichtet wurde: Die gemeinsame Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist verblasst, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat die geopolitische Dimensionan Bedeutung verloren, der Wohlfahrtsstaat steht unter Beschuss, und der Wohlstand, Kernstück der politischen Legitimität des europäischen Projekts, schwindet. »Wenn heute allenthalben das Risiko eines Zerfalls der Europäischen Union beschworen wird«, schreibt Ivan Krastev in seinem einleitenden Beitrag, »ist das nicht nur Rhetorik, nicht nur ein Schreckgespenst, das alarmierte Politiker hervorholen, um den unglücklichen Wählern Sparmaßnahmen aufzuzwingen. Der Zerfall der Union ist eine reale, gegenwärtige Gefahr. Die Schicksale der Habsburgermonarchie, der Sowjetunion und Jugoslawiens führen vor Augen, dass die enormen wirtschaftlichen Kosten ihres Auseinanderbrechens kein Hinderungsgrund für ihren Untergang waren. Schlicht anzunehmen, dass die Union gar nicht zerfallen könne, weil das die Beteiligten teuer zu stehen käme, ist folglich nur ein schwaches Argument für ihre Stabilität.«

Ein wenig Hoffnung geben die Beiträge von Jacques Rupnik und Janos Matyas Kovacs. Rupnik zeigt, dass die Länder Mitteleuropas der Krise – entgegen weitverbreiteten Annahmen – besser widerstanden haben als der Rest der Europäischen Union. Und Kovacs führt uns durch die osteuropäischen neuen Kapitalismen, die vielleicht keine blühenden Landschaften darstellen, deren Vielfalt jedoch eine gewisse Resistenz gegen die Malaisen der westlichen Varianten bietet.

In Fortsetzung der Diskussion über Russland im letzten Heft attestiert Boris Mezhuev dem Land eine schwere Neurose, welche die längst fällige ökonomische und politische Transformation blockiert.

Die Artikel des zweiten Teils sind aus einem Projekt im Rahmen des von dem Historiker Timothy Snyder am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) geleiteten Forschungsschwerpunkts Vereintes Europa – geteilte Geschichte hervorgegangen, das die Rolle des Balkans, seiner Kultur(en) und seiner politisch-gesellschaftlichen Strukturen im Kontext der Entwicklung Gesamteuropas im 19. und frühen 20. Jahrhundert untersucht.

Wie Diana Mishkova schreibt, ist es gerade die eigentümliche, manchmal paradoxe Kombination normativ unvereinbarer Positionen und ideo-logischer Hybride, die die Originalität und Kreativität des Balkans im Prozess des Transfers der Moderne, im Guten wie im Schlechten, sichtbar werden lässt und auf diese Weise etwas über das Wesen der Moderne selbst lehrt. Das Bild des Balkans als rückständige Peripherie des »Westens« ist längst obsolet. Zwei Beispiele – die Konstruktion des Balkans als »Heimat« und die Schaffung gesetzlicher Instrumente zum Ausschluss von Juden aus der serbischen bzw. rumänischen Gesellschaft – zeigen, wie früh und intensiv die Entwicklungen in der Region mit jenen in Westeuropa korrespondierte.

Wir freuen uns, unseren Lesern eine Auswahl von Gedichten der 1921 geborenen, in Warschau lebenden Lyrikerin, Übersetzerin und Essayistin Julia Hartwig vorzulegen.

Die Arbeit »City Views« des in Wien und Belfast lebenden Künstlers Martin Krenn führt durch verschiedene europäische Städte. Die zusammen mit StadtbewohnerInnen mit Migrations-Hintergrund gemachten Photographien und begleitenden Kommentare thematisieren alltägliche soziale und kulturelle Probleme, mit denen die Protagonisten konfrontiert sind.

Die beiden Beiträge des Religionssoziologen David Martin und des Ethnologen Webb Keane sind aus dem von Charles Taylor geleiteten IWM-Forschungsprojekt Religion und Säkularismus hervorgegangen und untersuchen die undurchschauten normativen Voraussetzungen der Säkularisierung.

In den Augen Martins ist es ein Paradox, dass sich die Kreuzritter des »Neuen Atheismus (…) als Vertreter einer unzweideutigen Wahrheit präsentieren, wie sie den gesicherten Erkenntnissen der Naturwissenschaft eigen ist, unter Ausschluss anderer Arten der Wahrheit. Auch sie ergötzen sich an der Erhebung ausschließlicher Wahrheitsansprüche und an einem Selbstbild als Krieger, Helden und Märtyrer um der Sache der Wahrheit willen.« Ihrem Kampf gegen die Religion als Quelle der Gewalt liegt eine säkulare Meistererzählung zugrunde, »die der Idee des Fortschritts verpflichtet ist und Umstände und Entwicklungen übergeht, die ihr widersprechen.« Niemand bestreitet die emanzipatorische Leistung der Aufklärung, aber gern sehen wir ihr, so Martin, ihren Beitrag zur Gewalt nach – »ihre Beihilfe zu Rassismus, Autokratie und Expansionismus ebenso wie ihre Forderung nach Unterwerfung unter ihre Normen«.

Keane spricht von einem »moralischen Narrativ der Moderne«: Es erzählt die Geschichte als Befreiung von falschem Glauben und Fetischismus. Der Säkularismus ist ein Aspekt dieses Narrativs. Aus der ethnologischen Perspektive lässt sich allerdings zeigen, dass er von der Furcht vor seinem Anderen und vor seiner Unvollendbarkeit heimgesucht wird: »Secularism’s triumphalism is undercut with anxiety«. Zu den Paradoxen des Säkularismus gehört, dass sich die Forderung nach Emanzipation von den Götzenbildern nicht mit einer anderen Forderung derselben aufklärerischen Tradition vereinbaren lässt, nämlich dass der Andere in seiner Andersheit Anspruch auf unsere Anerkennung hat. »It is this paradox that helps make the debates of Islam in Europe so fraught: they are not merely between left and right, but produce divisions and contradictions within the traditional political positions.«

Der abschließende Beitrag von Slawomir Sierakowski setzt sich mit einem bisher unpublizierten, als Science Fiction-Roman verkleideten moralischen Traktat von Czesław Miłosz auseinander.

 

Wien, im Januar 2013

 

 

Ivan Krastev

DIE LOGIK DES ZERFALLS

Demokratie und und die Krise der Europäischen Union

 

 

 

Europa steckt in der Klemme. Wenn heute allenthalben das Risiko eines Zerfalls der Europäischen Union beschworen wird, ist das nicht nur Rhetorik, nicht nur ein Schreckgespenst, das alarmierte Politiker hervorholen, um den unglücklichen Wählern Sparmaßnahmen aufzuzwingen. Der Zerfall der Union ist eine reale, gegenwärtige Gefahr. Die Schicksale der Habsburgermonarchie, der Sowjetunion und Jugoslawiens führen vor Augen, dass die enormen wirtschaftlichen Kosten ihres Auseinanderbrechens kein Hinderungsgrund für ihren Untergang waren. Schlicht anzunehmen, dass die Union gar nicht zerfallen könne, weil das die Beteiligten teuer zu stehen käme, ist folglich nur ein schwaches Argument für ihre Stabilität. Ihr Auseinanderbrechen muss auch nicht das Resultat eines Siegs antieuropäischer Kräfte sein. Wenn es zum Kollaps kommt, wäre er wohl eher die Folge einer Lähmung der Union, wobei gleichgültig ist, ob diese Lähmung real ist oder vielleicht nur eine Fehlwahrnehmung der Eliten.

Gegenwärtig erlebt die Europäische Union die Erosion der Fundamente, auf denen sie errichtet wurde: Die gemeinsame Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist verblasst;1 durch den Zusammenbruch der Sowjetunion ist das geopolitische Motiv der europäischen Einheit weggefallen; der demokratische Wohlfahrtsstaat, Anker des politischen Konsensus der Nachkriegszeit, steht unter Beschuss; und der Wohlstand, Kernstück der politischen Legitimität des europäischen Projekts, ist arg gebeutelt.

Die Finanzkrise hat die Lebenserwartung von Regierungen, ganz gleich welcher Couleur, stark verkürzt und den Weg für populistische und Protestparteien geebnet. Die öffentliche Stimmung lässt sich am besten als eine Kombination aus Pessimismus und Wut beschreiben. Es wird allgemein erwartet, dass die politische und soziale Instabilität infolge der geplanten Budgetkürzungen zunehmen wird.2

Die neue Stimmung der Angst und Ungewissheit spiegelt sich in der aktuellen, von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenen Studie Future of Europe vom April 2012.3 Sie zeigt, dass die Mehrheit der Europäer zwar gern in der EU lebt, dass ihr Vertrauen in die Wirtschaftsleistung der Union und ihre weltpolitische Bedeutung jedoch gesunken ist. Über sechs von zehn Europäern glauben, dass es die heutigen Kinder im Leben schwerer haben werden als ihre eigene Generation. Noch besorgniserregender ist, dass fast 90 % der Europäer einen tiefen Graben zwischen der öffentlichen Meinung und den Entscheidungen der politischen Führung erkennen.

Wenn wir die Desintegration der Union für eine denkbare Option halten, ist es wichtig zu begreifen, was ein solcher Kollaps bedeuten würde. Im Fall des Habsburgerreichs, der Sowjetunion und Jugoslawiens bedeutete Zusammenbruch, dass jeweils ein Staatsgebilde von der Landkarte verschwand und eine Reihe neuer Staaten an seine Stelle trat. Aber die EU ist kein Staat, und selbst wenn sie zusammenbricht, würde sich auf den Landkarten nichts ändern (bei Großbritannien, Belgien und Spanien mag eine geringe Wahrscheinlichkeit eines krisenbedingten Auseinanderfallens bestehen). Und eine Auflösung müsste ja nicht heißen, dass die Mitgliedsstaaten aufhörten, Marktdemokratien zu sein, oder ihre Kooperation aufkündigten und ihre gemeinsamen Institutionen abschafften. Was also ist unter der Desintegration der Europäischen Union eigentlich zu verstehen? Würde der Austritt eines Landes aus der Eurozone oder der Union den Beginn des Zerfalls markieren? Wäre mit dem Verlust von großen Errungenschaften der europäischen Integration, wie sie etwa die Freiheit von Grenzkontrollen oder der Europäische Gerichtshof darstellen, der Zerfall besiegelt? Würde der Kollaps des Euro das Ende der EU signalisieren oder einfach die Rückkehr zum früheren Status quo? Es könnte sich erweisen, dass es sich mit der Desintegration wie mit der Pornografie verhält: Sie ist schwer zu definieren, aber man erkennt sie, wenn man sie sieht. Es ist zu früh, um vorherzusagen, welches Ende die Desintegration der Europäischen Union nehmen wird; sicher ist nur, dass die EU derzeit eine Desintegration erlebt: Der Kollaps des Euro ist eine reale Gefahr, und auch wenn es den europäischen Staatschefs gelingt, den Euro zu stützen, lässt sich der gegenwärtige Status quo nicht halten.

Der Untergang der europäischen Imperien im 20. Jahrhundert ist eine Geschichte der Zerstörung (mehr oder weniger intoleranter) undemokratischer Imperien durch die demokratische Mobilisierung der Öffentlichkeit. Der Aufstieg demokratischer Politik war ein Faktor dieser Desintegrationsprozesse, solange die Liberalen auf der Verliererseite standen. Im Habsburgerreich waren 1848 Liberale und Nationalisten in ihrer gemeinsamen Opposition gegen das autoritäre, nicht ethnisch definierte Zentrum vereint. 1918 endeten sie als Feinde. »Am Ende«, so schrieb Ernest Gellner, »wandten sich praktisch alle ›Ethnien‹, sogar oder gerade die deutschsprachigen, gegen das Zentrum, das sich, wie dynastisch oder traditionalistisch auch immer, schließlich nur noch auf die neuen Leute stützen konnte: die Meritokraten aus Handel und Industrie, Universitäten und gehobenen Berufen, die an der Bewahrung eines offenen Marktes für Waren, Menschen und Ideen und an einer universalistischen, offenen Gesellschaft interessiert waren.«4 Was die sowjetische und die jugoslawische Föderation betrifft, so fielen sie nicht nur ihrer strukturellen Schwäche zum Opfer, sondern auch dem unbändigen Verlangen ihrer Völker nach Demokratie. Kurz, die Demokratiebegeisterung der Menschen gehörte zu den Hauptgründen für den Zerfall der neueren europäischen Reiche.

Das Außergewöhnliche an der gegenwärtigen Krise der Europäischen Union besteht darin, dass es sich um die Krise eines »demokratischen Imperiums« handelt, einer freiwilligen Quasi-Föderation demokratischer Staaten, in der die Rechte und Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger garantiert werden und die demokratische Legitimation der Regierung eine notwendige Bedingung für den Beitritt eines Landes darstellt, in der sich aber mittlerweile Enttäuschung über die Demokratie breit gemacht hat. Beide Faktoren – dass die EU-Mitgliedsstaaten Demokratien sind und dass sich ihre Bürger von der Demokratie enttäuscht zeigen – sind von gleichrangiger Bedeutung. Die zitierte Studie zur Zukunft Europas zeigt, dass nur ein Drittel der Europäer das Gefühl hat, dass ihre Stimme auf EU-Ebene zählt; 18 % der Italiener und 15 % der Griechen glauben nicht einmal, dass sie im eigenen Land ins Gewicht fällt.

Zum ersten Mal seit das europäische Projekt nach dem Ende des Kriegs in Angriff genommen wurde, befinden sich die Ziele, enger zusammenzurücken und zugleich die Demokratie zu vertiefen, im Widerstreit. Solange die Mitgliedsstaaten der Union nicht mehr demokratische Souveränität abgeben, kann eine gemeinsame Fiskalpolitik zur Stützung des Euro nicht funktionieren. Andererseits kann der Zerfall der gemeinsamen Währung zum Auseinanderbrechen der Union führen – mit der Folge, dass in einigen süd- und osteuropäischen Staaten die Demokratie unter die Räder kommt (Ungarn, Rumänien und Griechenland geben einen Vorgeschmack auf Demokratieverachtung und Unregierbarkeit). Vor die Entscheidung gestellt, die Demokratie einzuschränken, um den Euro zu retten, oder in der ungewissen Hoffnung auf eine demokratische Erneuerung einen Kollaps der Währung in Kauf zu nehmen, sehen sich die Europäer gezwungen, das Schlechte gegen das Schlimmere zu verteidigen.

Ich möchte hier die These aufstellen, dass die Europäische Union entgegen den Erwartungen der Demokratietheoretiker nicht aufgrund eines Demokratiemangels der europäischen Institutionen kollabieren wird. Ebenso wenig wird sie durch die demokratische Mobilisierung der Zivilgesellschaft gerettet werden. Paradoxerweise gibt gerade der Demokratieverdruss, der verbreitete Glaube, dass die nationalen Regierungen vor den globalen Märkten machtlos sind, Anlass zu der Hoffnung, dass die neu entstandene Spannung zwischen dem Ziel der Vertiefung der europäischen Integration und dem Ziel des Ausbaus der Demokratie gelöst werden könnte. Allerdings steht die Hoffnung, dass Demokratiemüdigkeit das europäische Projekt retten könne, auf wackligen Beinen. Das Maß der Enttäuschung über die Demokratie unterscheidet sich beträchtlich innerhalb des Kontinents, ebenso wie ihre Auswirkungen an der Peripherie und im Zentrum der Union deutlich variieren. In den Peripherieländern Europas könnte die Enttäuschung über die uneingelösten Versprechen der Politik die Gesellschaften dazu bewegen, mehr Macht an das europäische Zentrum abzugeben, doch zur Verhinderung eines politischen Backlash gegen die Sparpolitik leistet sie nichts. Aufgrund ihres noch verbliebenen Vertrauens in die nationalen demokratischen Institutionen wird es hingegen den nordeuropäischen Wählern wohl schwer fallen, eine politische Union zu akzeptieren. Kurz, ich möchte hier argumentieren, dass Südeuropa nicht nach dem Modell Osteuropas reformiert werden kann und dass es eher die Wählerinnen und Wähler des europäischen Nordens sein werden, nicht jene des Südens, die Deutschlands Idee einer politischen Union zur Stützung der gemeinsamen Währung blockieren.

Warum kann der Süden nicht nach dem Modell des Ostens reformiert werden?

Zu Beginn des postkommunistischen Übergangs postulierte der deutsche Soziologe Claus Offe ein Trilemma der Transformation, das die Politikwissenschaftler aufschreckte. Nach seiner Analyse liegen die drei Ziele Demokratieaufbau, Einführung des Kapitalismus und Staatsbildung im Widerstreit miteinander. Während sich freier Markt und politischer Wettbewerb historisch gegenseitig bestärkt hatten, so dass man fast vermuten konnte, sie seien »Wahlverwandte«, glaubte Offe, dass die politischen und wirtschaftlichen Reformen, die vonnöten waren, um die osteuropäischen Gesellschaften zu transformieren, einander blockieren würden. Wie konnte man den Menschen die Macht geben, sich selbst zu regieren, und gleichzeitig von ihnen erwarten, sich für eine Politik zu entscheiden, die anfänglich zu höheren Preisen, höherer Arbeitslosigkeit und wachsender sozialer Ungleichheit führen würde? Nach Offes Ansicht konnte »eine Marktwirtschaft nur unter vordemokratischen Bedingungen in Gang« kommen.5 Kurz, Mitteleuropa war dazu verurteilt, zwischen Marktsozialismus und autoritärem Kapitalismus zu wählen.

Zum Glück funktioniert das, was nach der Theorie zum Scheitern verurteilt ist, zuweilen doch in der Praxis. Mittel- und Osteuropa waren in ihrem gleichzeitigen Übergang zu Markt und Demokratie erfolgreich (auch wenn der Erfolg wohl problematischer war, als gemeinhin angenommen wird). Und es ist die gelungene mitteleuropäische Transformation, die in Deutschland das politische Denken im Blick auf die gegenwärtige europäische Krise wesentlich prägt. Es ist die Erfahrung Polens in den 1990er Jahren, und nicht jene der Weimarer Republik in den 1930ern, die Berlins starken Glauben daran erklärt, dass sich eine Sparpolitik auch dann umsetzen lässt, wenn die Menschen ihre Regierung frei wählen können. Es war der Erfolg der Transformationen in Mittel- und Osteuropa, der die deutschen Politiker davon überzeugt hat, dass man schmerzliche Wirtschaftsreformen durchführen kann, die de facto auf eine Demontage des Wohlfahrtsstaats hinauslaufen, ohne damit notwendigerweise einen populistischen Rückschlag auszulösen; dass äußere Einmischung in die Innenpolitik souveräner Staaten nicht zur Delegitimierung der nationalen demokratischen Institutionen führen muss, sondern diese stärken kann. »Im Süden vollbringen, was im Osten erfolgreich war«, so lässt sich Deutschlands Reformagenda für Europa zusammenfassen: die Schaffung fiskalpolitisch verantwortungsbewusster Mitgliedsstaaten. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Spanien in den 1990er Jahren noch das Demokratisierungsmodell für Polen abgegeben hat, während Polen 2012 zum Transformationsmodell für Spanien und Italien geworden ist.

Aber besitzt die mitteleuropäische Transformationserfahrung tatsächlich universelle Gültigkeit? Meiner Meinung nach gibt es mehrere Faktoren, die eine Transformation des Südens nach dem Modell des Ostens zu einer riskanten Strategie machen. Der intellektuelle, ideologische und psychologische Kontext hat sich seit den 1990er Jahren dramatisch gewandelt. Das Gelingen des osteuropäischen Übergangs (soweit hier von einem nachhaltigen Erfolg die Rede sein kann – Ungarn zeigt, dass er nicht unumkehrbar ist) beruhte auf mehreren Vorbedingungen, die im heutigen Kontext nicht gegeben sind.

Die erste dieser Vorbedingungen war der starke Konsens in der Ablehnung der Vergangenheit und die Existenz eines unstrittigen Modells der guten Gesellschaft, dem die Mitteleuropäer folgen wollten. Die Mehrheit wollte mit dem Kommunismus brechen und war überzeugt, dass Demokratie und Kapitalismus Wohlstand und einen westlichen Lebensstil schaffen würden. Die Lage im Süden ist anders. Während den Griechen, Italienern und Spaniern die Dysfunktionalität ihres politischen Systems bewusst ist, halten sie an ihren Wohlfahrtsstaaten fest, und es gibt kein alternatives Erfolgsmodell, dem sie nacheifern könnten. Während die Mitteleuropäer optimistisch waren, sind die Südeuropäer deprimierend pessimistisch. Den Griechen wird versprochen, dass ihre Wirtschaft im Fall erfolgreicher Reformen binnen eines Jahrzehnts wieder auf dem Niveau vor der Krise liegen wird – in der Tat keine inspirierende Perspektive. Während die mitteleuropäischen Politiker ihre Bürger mit dem Verweis auf das, was sie für die Reformen bekommen würden oder bereits bekamen – Reisefreiheit, ein besseres Leben, EU-Beitritt –, um Geduld bitten konnten, versuchen die südeuropäischen Politiker, ihren Wählern Angst zu machen, indem sie ihnen vor Augen führen, was sie verlieren würden, sollten sie sich der Reformpolitik widersetzen. Es überrascht nicht, dass diese »verängstigten Öffentlichkeiten« wütend und unberechenbar geworden sind. Während die Jugend der Hauptgewinner der Reformen in Mitteleuropa war, ist sie heute in Südeuropa der größte Verlierer der Austeritätspolitik. Die Jugendlichen haben keine Arbeit und ihr Geld wurde bereits von ihren Eltern ausgegeben (in Bezug auf die rücksichtslose Schuldenmacherei der griechischen Regierung sprechen deutsche Banker gerne von den Rechten der ungeborenen Griechen). Da nimmt es nicht wunder, dass sich die Verhältnisse im Vergleich zu 1968 umgekehrt haben: Während damals in Westeuropa die Studenten protestierten, um sich vom Lebensstil ihrer Eltern loszusagen, strömen heute junge Menschen auf die Straße, um auf ihr Recht zu pochen, es so gut wie ihre Eltern zu haben.

Der zweite wichtige Unterschied zwischen Mitteleuropa in den 1990er Jahren und Südeuropa heute ist, dass sich das kommunistische Erbe im Osten als der beste Verbündete radikaler Reformen erwies, während sich das Erbe des Kampfes um Demokratie für den Süden als Problem erweisen könnte.

Die frühen 1990er Jahre waren im Osten eine surreale Zeit. Gewerkschaften traten für Stellenstreichungen ein, ehemals kommunistische Parteien waren versessen darauf, die Wirtschaft zu privatisieren. Es gab Wut gegen den Kapitalismus, aber es gab weder eine Partei noch auch nur eine politische Sprache, mittels deren sich die antikapitalistischen Gefühle der Transformationsverlierer hätten mobilisieren lassen. Der Kommunismus hatte die Fähigkeit der Gesellschaft zu kollektivem Handeln entlang der Klassengrenzen erodiert. Jede Kritik an der Marktwirtschaft wurde mit Nostalgie für den Kommunismus gleichgesetzt. Antikommunistische Gegeneliten und exkommunistische Eliten unterstützten den wirtschaftlichen Wandel – Erstere aus ideologischen Gründen, Letztere aus Eigeninteresse. Statt als Nachteil erwies sich das Fehlen einer professionellen politischen Klasse für die Reformpolitik als Vorteil. Die erste Generation mitteleuropäischer Reformer war eifriger bestrebt, in die Geschichtsbücher einzugehen, als in die nächste Regierung zu kommen (so denken Politiker normalerweise nicht). Die populäre Sehnsucht, nach Europa »zurückzukehren«, verstärkt durch die Anziehungskraft der Europäischen Union, ermöglichte es den Gesellschaften, die Umverteilungsinstinkte der Demokratie mit der Notwendigkeit von Geduld und einer langfristigen Vision zu versöhnen – eine wesentliche Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg.

Das ist im Süden nicht der Fall. Dort ist die Geschichte des Kampfes um Demokratie gleichzeitig eine Geschichte des Kampfes gegen den Kapitalismus. Die politischen Eliten sind daher bestrebt, die Lösungen für die Krise in eine Richtung zu lenken, die ihnen das Überleben in einer Atmosphäre von establishmentfeindlicher Empörung und tiefem Pessimismus ermöglicht.

Dass es sich in Mitteleuropa um einen Systemwandel handelte, erleichterte es der Öffentlichkeit außerdem, die Auflagen Brüssels als Bestrebung zu deuten, mehr Demokratie zu schaffen, statt als Versuche, die Macht des Volkes zu beschneiden. Auch geopolitisch war der Druck aus Brüssel für die Mitteleuropäer akzeptabler als der Druck, der heute von Berlin auf die Südeuropäer ausgeübt wird.

Kurz, die Faktoren, die den Erfolg des Übergangs zu Marktwirtschaft und Demokratie in Mitteleuropa erklären, sind im Süden nicht gegeben. Und es wäre ein Fehler zu erwarten, dass die Sparpolitik im Süden in ähnlicher Weise funktionieren würde wie seinerzeit im Osten. Die Enttäuschung über die Demokratie in Ländern wie Italien und Griechenland kann zu einer geringen Wahlbeteiligung führen, aber nicht zu Geduld mit den Reformen.

Warum sich der Süden gegen die Sparpolitik wehrt, der Norden aber die politische Union blockieren wird

Bei der Beurteilung der Aussichten für eine vertiefte politische Integration und der Auswertung der jüngsten Eurobarometer-Umfrage kommen die Forscher von Absolute Strategy Research, einer in London beheimateten Unternehmensberatung, zu einer interessanten Einschätzung. Als Folge der europäischen Krise habe sich zwar überraschend wenig Druck gegen den Euro aufgebaut, dafür habe die Krise jedoch zu einem dramatischen Vertrauensverlust in alle Institutionen geführt. Bei näherer Betrachtung folge dieser Vertrauensverlust aber einer deutlich unterschiedlichen Logik, je nachdem, ob man den Kern oder die Peripherie der Eurozone betrachtet. Den Gesellschaften an der Peripherie seien das Vertrauen in ihre nationalen Institutionen und ihre Fähigkeit, einen Wandel zu bewirken, völlig abhandengekommen, während die Bürger der Kernländer zwar das Vertrauen in die europäischen Institutionen verloren, sich aber das Vertrauen in ihre nationalen Institutionen bewahrt hätten. Sie seien noch immer überzeugt, dass ihre Stimme zählt und Demokratie sich lohnt. Es sollte daher, so argumentieren die Forscher, nicht überraschen, dass Gesellschaften, die mit der Demokratie zu Hause eher unzufrieden sind, den fiskalpolitischen Entscheidungen auf EU-Ebene aufgeschlossener gegenüberstehen. Jene hingegen, die mit ihrer Demokratie eher zufrieden sind, sträuben sich gegen jeden Machttransfer an Brüssel. Die Schlussfolgerung der Forscher lautet, dass Deutschlands Drängen auf stärkere Integration auf größere Opposition in Nordeuropa (einschließlich der eigenen Wähler) als in Südeuropa stoßen wird.

Man sollte diese Beobachtungen ernst nehmen. Die Lehre aus der sowjetischen und jugoslawischen Geschichte ist, dass – in Abwesenheit von Krieg und anderen extremen Umständen – die Hauptgefahr für das politische Projekt nicht aus der Destabilisierung der Peripherie, sondern aus einer Revolte im Zentrum erwächst (auch wenn die Krise an der Peripherie ansteckend sein kann). Es war wohl eher Moskaus Entscheidung, die Union aufzugeben, die das Schicksal des Sowjetstaats besiegelte, als der hartnäckige Wunsch der baltischen Republiken, der Union zu entkommen. Wenn die Nordeuropäer, also die größten Nutznießer der Integration, anfangen, sich als deren hauptsächliche Opfer zu betrachten, dann droht großes Ungemach.

Die Asymmetrie der Verzweiflung – das Misstrauen des Südens in die nationalen Institutionen, während der Norden in erster Linie mit Argwohn auf die europäischen Institutionen schaut – deutet darauf hin, dass Demokratieverdrossenheit als alleinige Triebkraft nicht ausreichen wird, um eine politische Union herbeizuführen.

Schlussfolgerung

Es ging mir darum, das Augenmerk auf die Rolle der Demokratie in der gegenwärtigen Krise der Europäischen Union zu richten. In jüngster Zeit gab es viel Diskussion darüber, wie sich die demokratische Verfasstheit der EU-Mitgliedsstaaten bzw. das »Demokratiedefizit« der europäischen Institutionen auf die Entwicklung der Krise auswirken könnte. Es gibt eine wachsende Literatur über den Zusammenprall von Technokratie und Populismus in der EU. Wir sind hier zu dem Schluss gekommen, dass die Unzufriedenheit mit der Demokratie ein wesentlicher Faktor der europäischen Krise ist. Die Verheißungen demokratischer Politik hatten einen großen Anteil am Untergang politischer Gebilde im 20. Jahrhundert; das Streben nach nationaler Selbstbestimmung und der Wunsch nach individueller Freiheit waren kritische Faktoren beim Zusammenbruch des Habsburgerreichs, der Sowjetunion und Jugoslawiens. Die Krise der Europäischen Union ist anderer Natur. Die Versprechen der Politik sind gebrochen. Viele Bürger sind von der Demokratie, wie sie heute praktiziert wird, enttäuscht. Auch wenn die meisten sich nicht von undemokratischen Alternativen angezogen fühlen, gibt es doch einen wachsenden Konsens, dass demokratische Regierungen nicht die Macht haben, die Gewalten des globalen Marktes zu zähmen. In den letzten Jahren haben wir in den meisten Ländern der Union, den angestammten wie den neu hinzugekommenen, eine Abnahme der politischen Beteiligung erlebt. Das Interesse der Menschen an Wahlen geht zurück, sie treten keinen politischen Parteien mehr bei, ihr Vertrauen in demokratische Institutionen hat nachgelassen. Die größte politische Lethargie findet sich dabei in den am meisten benachteiligten Gruppen der Gesellschaft – bei den Armen und den Einwanderern – jenen also, die doch theoretisch das größte Interesse haben sollten, mithilfe der Politik ihr Leben zu verbessern. So bleibt das Modell der Demokratie zwar unangefochten, doch immer mehr Bürger kehren ihm den Rücken zu.

In ihrem Versuch, eine politische Union zu schaffen, die die gemeinsame Währung retten und der europäischen Integration eine neue Form geben könnte, zielen die europäischen Politiker auf eine radikale Transformation der Demokratien der Mitgliedsstaaten. Diese waren immer eingeschränkt. In den Tagen des Kalten Kriegs wurde die Außen- und Sicherheitspolitik praktisch aus den Wahlen herausgehalten. Die Wähler konnten die Regierung austauschen, aber sie konnten nicht die geopolitischen Allianzen ändern (das erklärt, warum die mächtige Kommunistische Partei Italiens vor 1989 nie an die Regierung kam). Was europäische Politiker heute ihren Öffentlichkeiten verkaufen, ist eine andere Version der eingeschränkten Demokratie, eine, in der die wirtschaftlichen Entscheidungen von der Wahl ausgenommen sind: Die Wähler können zwar die Regierung wechseln, aber nicht die Wirtschaftspolitik. Es scheint, es neigten die Politiker zu der Überzeugung, dass nur diese Art der Demokratie das Überleben des Euro garantieren und die Desintegration der Union verhindern könne. Sie könnten recht haben. Aber die kritische Frage bleibt, ob es möglich ist, eine funktionierende Demokratie ohne echte politische Wahlmöglichkeiten zu haben, in der die Wirtschaftspolitik weitgehend von nicht demokratisch legitimierten und kontrollierten Akteuren und Instanzen bestimmt wird, von Zentralbanken, internationalen Agenturen, transnationalen Unternehmen. Kann eine solche Demokratie das Risiko permanenter politischer und sozialer Instabilität vermeiden?

Aus dem Englischen von Andreas Simon dos Santos

1 So weiß die Hälfte der deutschen Oberschüler zwischen 15 und 16 Jahren nicht mehr, dass Hitler ein Diktator war, während ein Drittel gar glaubt, er habe die Menschenrechte geschützt. Quelle: Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, Nr. 45-48/2012; (»Zeitgeschichtliche Kenntnisse von Schülern in vier Bundesländern«; www.cms.fu-berlin.de/v/fsed/aktuelles/120808_Regionalstudien.html).

2 Vgl. hierzu die Studie von Jacopo Ponticelli und Hans-Joachim Voth »Austerity and Anarchy: Budget Cuts and Social Unrest in Europe, 1919-2009«, welche die Verbindung zwischen Haushaltskürzungen und der Eskalation sozialer und politischer Proteste zeigt (Discussion Paper No. 8513, Centre for Economic Policy Research, August 2011); www.voxeu.org/sites/default/files/file/DP8513.pdf

3Future of Europe. Report.Special Eurobarometer 373, April 2012; http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ebs/ebs_379_en.pdf

4 Ernest Gellner, Language and Solitude. Wittgenstein and Malinowski, and the Habsburg Dilemma, Cambridge 1998, S. 11.

5 Claus Offe, »Capitalism by Democratic Design? Democratic Theory Facing the Triple Transition in East Central Europe«, in: Social Research, Bd. 71, Nr. 3 (2004), S. 501-528; http://homes.ieu.edu.tr/~ibagdadi/INT435/Readings/General/offe%20-%20capitalism%20by%20democratic%20design.pdf

Jacques Rupnik

MITTELEUROPÄISCHE LEHREN AUS DER EUROKRISE

 

 

 

Mitteleuropa im Angesicht der Eurokrise – das ergibt kein einheitliches Bild: Die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise in den einzelnen Ländern der Region sind so unterschiedlich wie es die Auffassungen darüber sind, was auf dem Spiel steht und wie angemessene Antworten aussehen könnten. So ist Polen das einzige Mitgliedsland der Europäischen Union, das die internationale Krise ohne Rezession überstanden hat; während die Tschechische Republik und die Slowakei die Schäden in Grenzen halten konnten, trifft es Ungarn weiterhin mit voller Wucht; Estland war in der Lage, rasch Anpassungen vorzunehmen und ebenso wieder in Schwung zu kommen wie Lettland, dem ein beispielloses Sparprogramm auferlegt worden war.1 Ein erster Versuch, die verschiedenen Positionen zu koordinieren, war das Treffen der Länder der Visegrád-Gruppe (Polen, Ungarn, Tschechische Republik, Slowakei) Ende Februar 2009 am Vorabend eines EUGipfels unter tschechischer Präsidentschaft. Der ungarische Ministerpräsident forderte einen europäischen Rettungsplan, um ein »ökonomisches Jalta« für Europa zu verhindern. Sein tschechischer Amtskollege lehnte dies kategorisch ab, und zwar mit der Begründung, dass gerade ein solcher Rettungsplan die Idee eines immer noch geteilten Europas in den Köpfen zu verfestigen drohe. Der damalige slowakische Ministerpräsident Robert Fico setzte noch eins drauf, indem er sagte: »Unsere Situation ist tausendmal besser als die in Ungarn.« Diese Formulierung, die das völlige Fehlen mitteleuropäischer Solidarität widerspiegelt, lässt sich nur verstehen, wenn man weiß, dass die Slowakei tausend Jahre lang eine Provinz von Ungarn war, dessen Könige sich in Pozsony krönen ließen, das auch unter dem Namen Pressburg bekannt war, noch nicht aber als Bratislava …

Dennoch weist die Region angesichts der Krise einige gemeinsame Züge auf, die man folgendermaßen zusammenfassen könnte: Die Länder Mitteleuropas haben der Krise – entgegen weitverbreiteten Annahmen – besser widerstanden als der Rest der Europäischen Union. Das Wahljahr 2010 hat in einem krisenhaften Kontext zu rechtsliberalen und/oder rechtskonservativen Koalitionsregierungen geführt (Ungarn müsste man diesbezüglich gesondert behandeln). In ihrer Antwort auf die Krise fühlen sich die Länder der Region der deutschen Strenge näher als der französischen Position und bringen der laxen Haushaltspolitik, die sie den südeuropäischen Ländern zuschreiben, keinerlei Nachsicht entgegen. Angesichts der Eurokrise verläuft die Kluft nicht mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen Nordeuropa und Südeuropa; und Polen zum Beispiel gehört nach Aussage seines Außenministers ganz entschieden zu ersterem.2 Schließlich und vor allem: Diese Länder fürchten einen starken Zusammenhalt des Paares DeutschlandFrankreich, das seine Lösungen als Schritte auf dem Weg zur Konstituierung eines »harten Kerns« und eines Europas der zwei Geschwindigkeiten durchsetzen würde.

Von den Ländern, die den Euro eingeführt haben, haben sich Slowenien3 und Estland (das sogar die Wette einging, diesen Schritt mitten in der Krise zu vollziehen) den neuen Zwängen gebeugt, ohne zu murren, während die Slowakei sich weigerte, mitten im Spiel die Regeln zu ändern – aus einem diskussionswürdigen Grund: der Pleite Griechenlands. Am Ende des EUGipfels vom 8. bis 9. Dezember 2011 unterstützte Polen die unterbreiteten Vorschläge, während sich der ungarische Ministerpräsident Orbán zunächst dem britischen Veto anschloss, bevor er sich anders besann und wie die Tschechen empfahl, zuerst die Zustimmung des nationalen Parlaments einzuholen.4 Am Ende sind die Tschechen der Position Londons gefolgt und haben sich geweigert, den neuen Vertrag über Stabilität und Haushaltsdisziplin zu unterzeichnen.

Die kontrastierende Wahrnehmung der betroffenen Länder und das breite Spektrum ihrer Reaktionen auf die Eurokrise – sowie, allgemeiner betrachtet, auf die Frage nach der Zukunft des europäischen Projekts als solchem – lassen sich zum Teil aus der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Lage erklären. Man kann diese Vielfalt aber auch als politische Lehren darstellen, die die Länder der Region aus der europäischen Währungs-krise gezogen haben.

Tschechische Republik: Die Lehre der Süffisanz und des euroskeptischen Pragmatismus

»Der Euro ist nie eine gute Idee gewesen. Sein Scheitern musste kommen.«5 So äußerte sich im November 2011 der Präsident der Tschechischen Republik, der seinen Worten noch folgende Erinnerung hinzufügte: »Ich hatte es Ihnen ja gesagt …« Man muss Václav Klaus in der Tat zugestehen, dass seine Opposition gegen die Einheitswährung vom selben Tag datiert, an dem diese auf den Weg gebracht wurde. Er stimme, so sagte er, mit der Ansicht des früheren britischen Finanzministers Nigel Lawson überein, der die Währungsunion als den »unverantwortlichsten Akt der Nachkriegszeit« bezeichnet. Václav Klaus, von seiner Ausbildung her Ökonom, fügte hinzu, dass seiner Ansicht nach eine Auflösung den gegenwärtigen Rettungsversuchen vorzuziehen wäre: Die europäische Fiskal oder Umverteilungsunion sei nur eine Sackgasse, die zu einer administrierten Wirtschaft führe, »wie sie der Kommunismus versucht hat; und wir wissen, dass es im kommunistischen Tunnel kein Licht gab und dass wir diesen Tunnel verlassen mussten«. Der Euro sei finanziell gescheitert, darüber hinaus aber würde die Krise seine gefährliche Logik offenbaren, die den Nationalstaat und die Demokratie bedrohe, insbesondere aufgrund der Gefahr einer Alleinregierung durch Frankreich und Deutschland.

Präsident Klaus trägt dick auf, steht damit aber repräsentativ für die Ablehnung einer Dominanz des Paares DeutschlandFrankreich. Er gibt damit auch den Ton für die tschechischen Medien vor, die seine Themen gerne aufgreifen und Artikel über die »EuroSklaverei« (in Bezug auf den Rettungsplan für Griechenland)6 oder über »Mitglieder zweiter Klasse«7 bringen. Mit anderen Worten: Man ist erleichtert, nicht im Euroraum zu sein, gleichzeitig aber frustriert, nicht an Entscheidungen beteiligt zu werden, die dessen Zukunft betreffen, die auch die Zukunft der Europäischen Union ist.

Wie gewohnt gibt Václav Klaus in Prag den Ton in der Europadebatte vor, nun aber ohne das Gegengewicht seines politischen Rivalen Václav Havel, dessen euroföderalistische Reden im Ausland mehr Widerhall fanden als im eigenen Land. Zwei Hauptströmungen lassen sich auf der politischen Bühne ausmachen.

Da ist zum einen die ODS, die rechtskonservative Partei von Ministerpräsident Petr Nečas, die eine souveränitätsbetonte Haltung einnimmt und eine gelockerte Integration fordert. Ihrem britischen Vorbild getreu hat die ODS im Europaparlament die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) verlassen und gemeinsam mit den britischen Konservativen und der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) der Brüder Kaczyński eine Gruppe unerbittlicher Euroskeptiker gebildet. Nach den Worten der ODS-Abgeordneten Jana Černochová wäre »die Europäische Freihandelszone (EFTA) exakt jene freie Assoziation von Staaten, die zu uns passt«8