Trauergesellschaft - Rainer Lindow - E-Book

Trauergesellschaft E-Book

Rainer Lindow

4,7

Beschreibung

Wenn eine Idee zur Staatsdoktrin erstarrt und alles ausgrenzt und bekämpft, was ihr nicht dient, gerät sie früher oder später in eine Krise und kehrt sich gegen sich selbst. Im Herbst 1989 setzt ein Volk seine Regierung gewaltlos ab. Noch nie gab es in der deutschen Geschichte einen derartigen Vorgang. Dieses Buch, sieben Jahre davor geschrieben und von Verlagen der DDR aus politischen Gründen abgelehnt, berichtet mit tragikomischen, dokumentären und fantastischen Mitteln von den Ursachen, die das Volk auf die Straße brachten. Josef der Zimmermann ist einer aus der jungen Generation, der an den Lügen der traurigen Gesellschaft zu zerbrechen meint. Gezwungen von seiner polnischen Freundin Zofia, kommt Josef der wahren Geschichte seines ertrunkenen Vaters, die verwoben ist mit der Geschichte des polnischen und des jüdischen Volkes, auf den Grund. Darüber vergehen dem Josef drei Leben, die er die Zeit der Finsternis, die Zeit der Zweifel und die Zeit der Heiterkeit nennt. Der Junge erkennt, dass sein Vater schon zum Untergang, zum Abtreten verurteilt war, als er nach seiner Heimkehr aus den Lagern und der polnischen Gefangenschaft Wahrheit zu verschweigen begann. Dass nach der schändlichen Leidenschaft für die Schwester Siglinde, nach dem Zusammenstoß mit der Staatslimousine, nach den Schikanen beim Militär, nach der Liebe zur Frau eines Solidarnosc-Führers, nach dem Leben mit dem auferstandenen Vater und mit dem rachsüchtigen Szymon, der nicht sterben kann, aus Josef dem Narren kein Weiser wird, ist der Wahrhaftigkeit dieses parabelhaften Romans geschuldet. Das Buch durfte erst acht Jahre nach seiner Vollendung 1990 im Mitteldeutschen Verlag erscheinen. Der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist daran ein gewisser Anteil nicht abzusprechen. Das Erscheinen des Romans ging jedoch in den Vereinigungswirren unter.

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Impressum

Rainer Lindow

Trauergesellschaft

Wie Josef der Zimmermann die Geschichte erlebte

ISBN 978-3-86394-255-7 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1990 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

ICH BIN EIN NARR und habe drei Leben. Sie heißen die Finsternis, der Zweifel, die Heiterkeit. Am Anfang war die Finsternis. Sie begann bei meiner Geburt und endete an jenem Tag, als der Vater in die Erde fuhr und Zofia erschien. Die Zweifel setzten ein nach der Auferstehung des Vaters. Seit drei Jahren will ich ein heiterer Mensch werden.

Die Mutter habe ich gequält, die Schwester geschwängert. Aber ich bin kein verkommenes Subjekt. Ich bin der glücklose Josef, der stets die Stunde verpasst, wenn der Schöpfer die nützlichen Eigenschaften verteilt. Meinen Vater trieb ich in den Fluss. Aber nicht, um seinen heißen Kopf zu kühlen, den er sich aus dem Krieg mitgebracht hatte. Bewaffnet mit dem Lineal, fiel ich über ihn her, nachdem er auferstanden, nur drosch ich keine Fliegen und wollte auch nichts begradigen. Es war nichts mehr zu begradigen. Der Stuhl, auf dem ich stand, brach unter der Wucht des Schlages, ich stürzte aufs Kreuz und war tot.

Dem Friedhofstor gegenüber lagen wir im Familiengrab: meine Schwester Siglinde, mein Vater Fritz und mein verzweifeltes Leben. Jeden Freitag schlurfte die Mutter über den Kies und goss uns aus dem Eisentopf Wasser auf die Seelen. Es reinigte. Ich spürte die süße Feuchte, und das Salz der Tränen schmeckte ich. Benommen kroch ich, einen Kloß im Hals und wieder belebt, aus der öden Gruft. Meiner Mutter verdanke ich alle meine Leben, meiner Mutter und den Umständen. Sie gebar, legte mich beiseite wie einen Erdklumpen, bis sie anderes geschaffen, und, allein geblieben, erinnerte sie sich meiner. Behutsam stellte sie mich auf die Füße, das Hemd war mir viel zu weit. Sie knotete mir meine verdammte Seele an die Knochen und zog den weißen Kittel aus, in dem sie mich besuchte. Ich lehnte mich gegen ihre warme Brust. Kühl stieg der Nebel vorm Krankenhaus auf, schwere Wolken tränkten die Wipfel der Linden. Die Autos klebten vom Honigtau. Ich war erstaunt, dass die Welt schon fertig war. Was sollte ich tun? Was anfangen mit meinem gewonnenen Leben?

Ich fahre nach Warschau, sagte ich entschlossen.

Ja, sprach meine Mutter, fahre nur. Sie legte mir ihren Mantel um die Schultern.

Ich muss endlich wissen, was für ein Mensch er war.

Ja, sprach sie, aber versprich dir nicht zu viel.

Warum hat er mich gehasst? fragte ich.

Ja, sagte sie. Das war nicht recht von ihm.

Ich hasste ihn auch, flüsterte ich heiser.

Ja, sprach sie. Beide habt ihr es euch schwer gemacht.

Ich muss endlich ein heiterer Mensch werden, rief ich wütend.

Ja, sagte sie. Das musst du unbedingt.

Der Mantel hing von meinen Schultern wie von einer Vogelscheuche. Jemand spuckte mir im Vorbeigehen auf die Wade. Meine Mutter hielt mich zurück und wischte den Fleck von der Hose. Sie hatte recht, ich muss mir abgewöhnen, hinter jedem Zufall eine gemeine Folgerichtigkeit zu sehen. Wer sich Weisheit erwirbt, erwirbt sich Kummer, und in der Fülle des Wissens liegt eine Fülle des Schmerzes. Vom Weltgeschehen unter den Strich gedrängt, lag diese Erkenntnis wochenlang als oberste in der Barackenecke. Der Spruch stammte von einem gewissen Erasmus Mörtelklecks. So nannten wir ihn, weil der größte Teil des Namens unter einem Mörtelklecks begraben lag. Die Ereignisse heute gleichen noch denen der letzten Jahrhunderte, zu vieles verblasst in der Inflation der Gefahren. Wir hetzen von einer Katastrophe zur nächsten und streuen unbekümmert alte Erfahrungen ins Meer. Ich warf den Satz schließlich zum Altgut und hätte ihn vergessen, wenn er sich nicht, häufiger, als mir lieb wäre, wie eine Mauer vor mich gestellt hätte. Mauern reizen mich, entweder ich überwinde sie oder renne mir den Schädel wund. Das letztere überwog in meinem Dasein.

Kaum neu belebt, ging ich fort aus dem Hospital, vergaß mein Unglück und suchte Brücken. Das verlangt man vom heiteren Menschen. Brücken, die Übergänge sein können, aber keine Geländer haben. Brücken, die man abbricht, sich unter den Füßen weghaut oder schlägt. Du machst Versprechungen, reißt Pfeiler ein, benutzt andere Wege. Kennen Sie das Spiel? Das uralte Narrenspiel: Man sitzt beieinander und denkt sich reihum Begriffe aus, die zu einem ersten Wort in Beziehung stehen. Sich treffen, sich lieben, sie hat zwei wunderschöne blaue Augen und einen Bubikopf. Man flüchtet hinüber, verbindet Gewässer, plant eine Autobahn von der Seine bis nach Moskau, sucht gemeinsam nach Pflugscharen. Brücken über Brücken, über Grenzen, über Köpfe hinweg.

Mein Vater baute sie, ich verschalte die Fundamente. Es gibt viele, aber zwischen uns beiden gab es keinen Steg. Bis zu seinem Tod vor sieben Jahren nicht.

2. Kapitel

VOR SIEBEN JAHREN. Der Mann, den sie da hinabließen in das schmale Loch, in seinem Holzpanzer, und dem sie die Erde nachschmissen, dieser Mann war mir fremd, obwohl wir siebzehn Jahre unter einem Dach gelebt hatten. Alte Männer, zerfurcht, krumm und bleich, spielten ihm mit viel Blech, einer Pauke und einer Violine den Abschiedsmarsch. Den kannte ich als Klaviersonate von Chopin. Es war eine miese Kapelle. Wir heulten. Vor drei Monaten hatten wir hier meine Schwester begraben. Sie war aus dem Fenster gesprungen. Er ist ihr doch nicht so hastig gefolgt, um sich noch vor mir in der Erde einen ruhigen Platz zu sichern? Einmal wollte er Siglinde vergewaltigen, doch er war zu betrunken. Nun war er mit ihr vereint.

Ich sah den fremden Mann mit der Violine und seine blasse Tochter. Die hatten sich wohl in der Beerdigung geirrt.

Sein Herz schlug in heißer Liebe zum Leben!

Der Redner lenkte mich ab, seine Stimme klang unduldsam, er schien Widerspruch nicht gewohnt zu sein. An einem weniger feierlichen Ort hätte er - ein ehemaliger Kollege - es nicht ausgesprochen, doch nun täte er es: Mein Vater hatte sein Herz von der heldenhaften Bewegung geerbt, wenig gefragt, aber Antworten genug erhalten. Diese dröhnten posaunengleich in seinen Ohren. Nach dem Krieg wäre der Vater an Marx herangetreten wie an einen Propheten.

Freunde und Genossen, Fritz ist gestorben. Heben wir sein Banner und folgen seinem Beispiel!

Ich stellte mir vor, wie sie einer nach dem anderen die Kleider ablegten und in den Fluss sprangen.

Bewahren wir ihn in seiner Reinheit. Noch unmittelbar vor seinem Tode mag er gelacht und gescherzt haben, wir wissen es nicht. Wir alle haben seinen Tod nicht erwartet. Jetzt heißt es, in seinem Sinne arbeiten. Er hat seine Familie glücklicher gemacht, weil er selbst glücklich war. Mit vollen Segeln steuerte er sein Schiff durch die Jahre und ging niemals unter und wird niemals untergehen! Niemals hat er einen Vorteil für seine Person beansprucht, bis zuletzt blieb er sich treu, verehrt, geliebt, betrauert.

Ich fürchtete, dass sie ihn ins amtliche Verzeichnis der anerkannten Heiligen eintrugen, und hob protestierend die Hand. Doch der Redner ließ sich nicht beirren.

Unersetzlich ist er, einer, der nicht sterben kann, ein Mann mit Menschenverstand und tierisch-ernstem Humor. Hier war ein gerechter Mensch, so sollte man sein! Nie wird er als unser Gewissen verstummen, denn wir sind mit ihm begraben durch unser gemeinsames Schicksal.

Mir grauste vor einem glatzköpfigen, nach Tabak und Schweiß riechenden väterlichen Gewissen. Die glimmende Pfeife im Gesicht, verfolgt es mich auf Schritt und Fahrt und Flug. Tränen schwitzte ich aus den Augen. Meine Mutter fror. Sie friert, solange ich sie kenne. Mein Blick blieb an den fünf abgehärmten Männern hängen, die unter der Schwere des musikalischen Satzes Nacken und Schultern krümmten. Je inbrünstiger sie spielten, desto näher schoben sich meine Mundwinkel zu den Ohren. Man nickte mir mitleidig zu.

Hat gelebt wie ein Idiot, ist gestorben wie ein Idiot, sagte ich dumpf. Unseligerweise in eine plötzliche Stille hinein. Die Trompete verpasste den Einsatz, die Tuba geriet aus dem Takt. Einem der Männer, die den Sarg hinabließen, glitt der Gurt aus den Händen. Mein Vater verkantete. Meine Mutter versetzte mir einen Schlag. Ich verlor mein ohnehin angeschlagenes Gleichgewicht und sah mich bereits meinem Vater kopfüber folgen. Da setzte ich über die Grube und fuhr in die Kapelle. Hinter mir polterten Erdklumpen auf den Sargdeckel. Ich trat gegen die Pauke, schlug die Trompete zu Boden und geriet unter die Tuba.

Das Jüngste Gericht, sagte meine Tante tonlos. Sie ist nach dem Tode meines Onkels wieder katholisch geworden. Disziplin und Unterordnen kannte sie von der Partei und wollte es nicht mehr missen. Zudem erhoffte sie vom Papst durchschlagende Schritte gegen den Krebs, an dem sie zu leiden glaubte. Der Heilige Stuhl hat bessere Beziehungen zu Geld und Gott, war ein von ihr gern gebrauchtes Wort.

Niemand lachte. Als ich mich schuldbewusst aufs Knie hob und den feuchten Kies vom Anzug klopfte, sah ich ringsum in feindselige Gesichter. Die Musikanten bedrängten mich stumm und rachsüchtig mit ihren Ellenbogen. Meine Mutter schaute mich an, dass es kalt durch mein Gebein zog. So musste Kain seinen Bruder Abel durchbohrt und jeglicher Krieg seinen Anfang genommen haben.

Wer waren sie denn, dass sie sich erhabener fühlen durften, dass ein verbeultes Instrument wichtiger war als ein gebeutelter Mensch, der ich doch unbestreitbar war? Alte Leute, unfähig, sich ein eigenes Leben aufzubauen! Ausgespuckte, die irgendwo kleben geblieben sind! Kriegsopfer, die immer noch im Krieg stehen! Gebissträger mit Schweißfüßen und Angewohnheiten!

Jeder wusste, dass der kinderlose Rudolf sich täglich überwinden musste, wenn er ins Krematorium von Untereichfurt die Trompete blasen ging. Jeder konnte sehen, wie er am Fenster saß und das Instrument putzte, dass es schien, er würde onanieren, bis er dann plötzlich in Hast aus dem Haus floh, manchmal nur die blanke Trompete unterm Arm. Die Haustür stand stundenlang offen. Ich weiß nicht, wie oft die Beerdigungsgäste, der Pfarrer und die Totengräber auf ihn warten mussten und wie oft er sich nicht entschließen konnte, seinen Platz am Fenster zu verlassen.

Auch zu Vaters Begräbnis war er zu spät erschienen, an den Füßen je einen braunen und einen schwarzen Halbschuh. Marke Salamander. Er galt als unzuverlässig und war dafür bekannt, dass er sich aus dem Leben stehlen wollte. Einmal war ihm wie vieles andere auch der kleine Zettel an der Tür nicht auf gefallen. Voller Vertrauen in die jährlich für ihre Plantreue und Luftverpestung ausgezeichneten Gaswerke bettete Rudolf oben in seiner Küche den Kopf ins Kissen, das auf der Bratröhrenklappe ruhte, und entschlief, den Monteur nicht ahnend, der unten im Keller den Haupthahn schloss. Das Aufhängen misslang auf andere Weise. Der Hocker, den er sich aus dem Möbelkaufhaus liefern ließ, war schlecht verleimt oder beim Transport unsachgemäß behandelt worden. Im falschen Augenblick brach das Holz unter Rudolfs starken Gliedmaßen, er klemmte beide Hände zwischen Kinn und Seil und brachte sie nicht mehr heraus. Als man Rudolf auf dem Wäscheboden fand, war er eiskalt vom Westwind und litt wochenlang an Heiserkeit. Im Krieg fand er auf dem Weg nach Hause in einem geplünderten Gut eine Trompete. Er fand auch blutige Bettwäsche, Machorka, gestopfte Socken, ein Schaukelpferd und einen randvollen Nachttopf. Die weiße Emaille war vom Henkel abgeplatzt. Die einen türmen vor den Russen, die anderen kehren heim und müssen die zurückgelassene Scheiße wegräumen, fasste Rudolf später seine Erfahrungen zusammen. Er nahm die Trompete und brachte sich darauf das Spielen bei. Das besänftigte die Ängste, die er aus dem Lager mitgebracht hatte, und er begann wieder zu essen, wie er neun Jahre nicht hatte essen dürfen.

Der Waldarbeiter Julius hatte von drei Frauen fünf Kinder. Mit der letzten Frau, die gut zu ihm war und die seinen Haushalt führte, wollte ihm kein Kind gelingen. Ein Sohn lebte in Paris, eine Tochter war verheiratet in Rochester, New York. Als er nach dem Krieg in sein Dorf im östlichen Galizien zurückkehrte und hörte, dass man alle seine Angehörigen in der Heide mit Benzin übergossen und verbrannt hatte, lief er Hals über Kopf über Grenzen davon und wollte nie mehr zurückkehren. Vielleicht trete ich auf den Gebeinen meiner Mutter herum, wenn ich über die Heide gehe, sagte er. Was er erzählte, klang von Mal zu Mal konfuser. Vor dem Krieg will er in einem sibirischen Lager seine Schuhsohlen gegessen haben, Rotarmist will er gewesen sein, aus einem deutschen Gefangenenlager floh er. Mit polnischen Partisanen sprengte er Schienen, im Suff vergewaltigte er ein deutsches Mädchen, an französischen Kaminen wurde er geliebt. Von seiner galizischen Kapelle war er allein übrig. Wieso er in unserer Gegend strandete, wusste niemand genau. Man erzählt sich, er wäre mit der Frau seines Sohnes durchgebrannt, die hätte ihn später verlassen, und er begann sich mit dem Spaten ein Loch zu graben und ein Haus hineinzubauen. Im Laufe der Jahre wurde er Rentner und blies die Tuba, als wollte er zum Gebet rufen.

Von Adolf wusste man, dass er allein lebte und in einem Café Akkordeon und Posaune spielte. Von seinem verdienten Geld kaufte er elektrisches Spielzeug für drei verwöhnte Enkel, die er abgöttisch liebte. Er studierte die Musik auf einem Konservatorium. Im Krieg blieb er sauber, kämpfte schneidig und suchte den ehrlichen Zweikampf. Besonders die hochgewachsenen blonden Engländer schätzte er als Gegner und hätte sich gern mit ihnen gemessen. In der amerikanischen Gefangenschaft erfror er sich die Zehen, in russischen Internierungslagern verlor er ein Auge, seine Frau starb vor zwei Jahren am Hitzschlag, seine Söhne sind Berufsoffiziere geworden. Der eine schießt mit Raketen, der andere schießt Böcke.

Schließlich war da noch Gustav, die Pauke zum Blech. Ein flinker, in Gesellschaft stets fröhlicher Mann, der seit über dreißig Jahren jedes Verhältnis zu seiner Frau löste, indem er ihr alle Habe überließ und davonging. Nie hat er Geld, aber eine Menge Feinde, weil er keine Rücksichten kennt und zur Wahrheit neigt. Wie die Leute sagen, soll er in der Regierung gewesen sein, bis herauskam, er hatte bei der Gestapo gesungen, nicht im Chor, sondern unter der Folter. Als nach zäher Ermittlung erwiesen war, dass der genannte Mann längst im Zuchthaus gesessen hatte, also gar nicht mehr verraten werden konnte, wurde Gustav rehabilitiert. In die Regierung zurück durfte er nicht. Gustav sang auch heute noch beachtlich. Nach seiner Regierungszeit, als alle ihn mieden, stieß er auf Vaters Kapelle, und Adolf brachte ihm das Pauken bei.

Jeden Monat kamen sie aus den umliegenden Städtchen zu uns in die gute Stube, packten ihre Instrumente aus, aßen unseren Kuchen und tranken unseren Wein und hingen an Erinnerungen. Rudolf verlangte jedes Mal mehr Gerechtigkeit, Julius träumte von galizischen Mädchen, Adolf schwor auf die preußische Disziplin, Gustav lachte über die kindischen Politiker, die offenbar mit dem Erdball, der ihnen vom Volk anvertraut wurde, nichts Besseres anzufangen wussten, als ihn in handliche Stücke einzuteilen und in die Luft zu sprengen.

Mein Vater Fritz saß schweigend in ihrer Mitte. Ich glaubte damals, dass er sich vor den Männern schämte wegen seiner Bedeutungslosigkeit. Ich wusste nichts von Demut, die man sich erwerben kann durch allzu häufige Misserfolge.

Soeben war ich braun gebrannt und mit neuen Zähnen aus dem Kinderferienlager heimgekehrt, wo wir drei Wochen im Gleichschritt marschiert waren, aber ansonsten tun und lassen durften, was wir wollten. Wie mein Vater da unter seinesgleichen saß und in die Mundharmonika blies, wurde mir schmerzhaft bewusst, dass er der einzige von uns war, der niemals ein Lager betreten und durch gemeinsames Essen eine Freundschaft geschlossen hatte. Ich hockte unterm Stubentisch. Über mir stimmten die Gäste ihre Instrumente und zankten sich, wie man ein Lager am klügsten überleben konnte, und übertrafen einander an Beispielen. Und es geschah, dass Gustav mir auf die Hand trat. In meinem Schmerz goss ich dem Vater Rotwein über die Socke. Denn während sie zu Gange waren, hatte ich mir die Neigen vom Tisch gelangt und ausgetrunken. Mein Vater hob die damastene Tischdecke, fasste mein Ohr und zog mich hervor. Weinerlich wies ich den halbrunden, sandig verschmutzten Abdruck vor, der über meine Hand lief. Mein Vater wollte nichts davon sehen.

Es tut mir leid, sagte ich bockig.

Was tut dir leid? fragte er und runzelte die Stirn.

Alle Augen starrten mich neugierig an, und ich vergaß vor Verlegenheit den Schmerz. Meine Ohren glühten, als ich hervorstieß: Ich wünsche mir so sehr, dass du auch einmal in ein Lager kommst.

Erwartungsvoll und im Gefühl, meinem Vater aus dem Herzen gesprochen zu haben, blickte ich zu ihm auf. Gustav lachte schrill. Ich riss die Arme schützend vors Gesicht. Doch mein Vater war schneller. Erst hinter der Tür spürte ich die Ohrfeige.

Er hatte mich vor allen Leuten geschlagen!

Seitdem verstimmten mich die Konzerte.

Den kleinen Geschenken, die sie meiner Schwester und mir zusteckten, brachte ich kein Interesse mehr entgegen. Ich stellte mir vor, wie sie ihr Geld in Krematorien und Kneipen verdienten, und es ekelte mich. Besonders ein Traum verfolgte mich nach den Konzerten: In weißen Hemden hüpfen sie über den nächtlichen Friedhof, rot leuchten die Grabsteine, rosa die Waden und gelb die Hinterteile. Plötzlich, obwohl die schauerliche Musik nicht abbricht, fallen sie zu fünft mit ihren Instrumenten, die ihnen zwischen den Beinen hervorwachsen, über die Erde her und graben sich damit besessen in die Tiefe. Ich sehe, worauf sie dabei stoßen! Schöne Frauen sind es, glutäugige mit entblößten Brüsten, Kinder und Greise. Sie tanzen miteinander um die Grube, die sie verlassen und in der es jetzt rot und feurig fackelt. Sie tanzen und küssen sich innig, lachen und sind gelassen und froh. Aber da geschieht es, dass ich hinter einem Grabstein hervortrete. Sie bemerken mich, und sie starren mich an, fremd und fassungslos, und nach einem grässlichen Tusch stoßen sie einander in die feurige Tiefe. Die Kinder klammern sich an die weißen Hemden, die jungen Frauen an die Beine der fünf Männer. Doch die treten die um Nachsicht flehenden Wesen ins Feuer hinab. Die Flammen züngeln hoch, Funken versengen die Blätter der Bäume, die Erde schließt sich wie eine Wunde. Ich laufe und laufe, aber ich komme nicht weg. Die Wunde schnappt nach mir, schmatzend, unersättlich, im Quintenabstand.

Ihre Musik verfolgte mich.

Kaum sah ich einen der Musikanten durchs Tor schlurfen, sprang ich hinten über den Zaun. Ich verkroch mich hinterm Maschendraht, vom noch flach am Boden wachsenden Rhododendronbusch kaum verdeckt, und blickte sehnsüchtig zu ihnen hinüber. Wie gern hätte ich einen davon zum Vater erhoben, wenn sie es nur gemerkt hätten. Jeden Tag würde ich Rudolfs Trompete geputzt und achtgegeben haben, dass er niemals mehr heiser würde. Mit Julius’ Kindern wollte ich spielen und ihm die schwere Tuba tragen. Wenn niemand klatschte im Café, würde ich begeistert aufspringen, um Adolfs Mundwinkeln ein Lächeln zu entlocken. Und ich wäre jede Woche mit einem Stapel politischer Bücher zu Gustav gelaufen, um mit ihm über Politik zu schimpfen. Alle wären sie mir lieber als Fritz. Doch ein Vater wird einem Kind bestimmt, es kann sich keinen aussuchen. Selbst dann nicht, wenn er nie für einen da ist. Darüber wird man erwachsen und hasst, obwohl man sich nach Liebe sehnt.

Musikalische alte Männer begleiteten meine Kindheit. Doch wer zum Teufel war jener Mensch, der seine Augen hinter einer schwarzen Brille verbergen musste und hingerissen auf der Violine kratzte? Der Dicke war neu in der Runde. Er gehörte, wie das Mädchen und die massige Frau, die meiner Mutter je einen Ellenbogen stützten, weder zu den Verwandten noch zu den Bekannten unserer Familie.

Niemand sah, wie in diesem Augenblick mein erstes, mein finsteres Leben ein Ende nahm. Der Kies unter meinem Knie gab nach, und ich glitt in die Grube. Alle waren beschäftigt, wieder Ordnung ins Begräbnis zu bringen. Man übersah mich schlichtweg. Schaufelweise deckte mich der Sand zu. Ich war unfähig, mich zu rühren.

Warum verfolgst du mich? fragte mein Vater verärgert. Verliebe dich in das Mädchen und lass mich in Ruhe. Ich will endlich meine Ruhe!

Verstimmt darüber, dass er mein Missgeschick als Verfolgung nahm, fuhr ich aus der Gruft und rannte über die Friedhofsallee den anderen nach. Das Atmen fiel mir leichter. Die Blätter der Kastanien gilbten. Ein trockener Sommer ging zu Ende. Geboren 1922, gestorben 1974. Den bin ich los, dachte ich.

3. Kapitel

DANN SASSEN WIR unterm Apfelbaum in weißen Metallstühlchen, nahmen, was meine Mutter aufgetragen hatte, und gaben mit gestopftem Magen sauertöpfisch Aussagen zum besten.

Angenehme Musik. War das nicht ...?

Chopin, ganz recht.

Chopin!

Der gedämpfte Jubel war nicht zu überhören. Betreten schwieg man, bis nach einer ziemlichen Weile das Gemurmel erneut anschwoll. Hämisch blickte ich in die Runde. Niemandem schien bewusst zu sein, dass der Mörder am Tisch saß, dass ich der Mörder war und meinem Vater die Grube geschaufelt hatte, in die er prompt gefallen war.

Gut ausgewählt, die Musik, mit Geschmack. Wodka oder Weinbrand? Das ist dänischer Krabbensalat. Ich hab schon lange keine Krabbe mehr angefasst, haha. Verzeihung.

Meine Mutter wieselte von Gast zu Gast, schwenkte Flaschen und Teller und tat besorgt. Ihre Miene blieb scheu und demütig, als wollte sie fragen: Nicht wahr, ihr habt doch nichts dagegen, dass mein Fritz uns verlassen hat?

Wodka bitte. Weinbrand bitte. Ich probier mal den Krabbensalat. Vielleicht eine Selters, ich bin mit dem Wagen ... Ein Verkehr ist das, kein Wunder, dass die Unfälle zunehmen. Herzliches Beileid. Eine taktvolle Grabrede. Begräbnisse gehen mir an die Nieren. Eher der Schnaps, was? Haha, Verzeihung. Früher sind die Menschen nicht so roh miteinander umgegangen wie beim Verkehr. War es nicht ein wenig unpassend? Chopin! Weil der Fritz in der Weichsel ertrunken ist? Verzeihung, aber ich glaube, die Musik war gut gewählt. Er liebte Polen. Das sagen Sie - als Pole!

Wieder schwieg man betreten.

Ist nicht Chopin wie der arme Fritz im Ausland gestorben?

Ertrunken, ach was? Bitte langen Sie zu! Lasst euch nicht bitten. Es ist genug da. Gehungert wird woanders.

Meine Mutter lächelte herüber. Während ich mir die Füße in den Bauch gestanden hatte und zur Schlange, dem treuen Symbol unserer Erfolge, geworden war, sammelte ich reichlich Gift, um es in die traurige Gesellschaft zu spritzen. Wenn man die Tür zur Speisekammer aufschloss, fiel einem die Nahrung vor die Füße.

Wenn’s nicht reicht, hol ich noch was, rief ich boshaft. Niemand soll darben. Meine Mutter wandte sich verlegen ab.

In den besten Jahren, wie man so sagt. Schrecklich, dieser Unfall. Hast du dich mit der Versicherung beraten? Als man uns in Polen den Wagen aufgebrochen hat, ist die Versicherung dafür eingesprungen. Und als du in Toruri gegen die Burgmauer gefahren bist ... Aber, das ist doch ein ganz anderer Fall. Ein wunderschönes Haus. Ein gepflegter Garten. Diese Mühe und Sorgfalt. Werden Sie verkaufen? Wie die arme Frau das jetzt schaffen soll - ohne ihn.

Man hörte bald die brüchig-schrille Stimme meiner Tante heraus: Aus Namslau sind Sie? Namyslow. Was Sie nicht sagen. Unsere Großeltern stammen aus dieser Gegend. Aus Breslau - oder Wroclaw sagt man wohl heute besser.

Sie machte sich ungeniert an den dicken Violinspieler heran. Vor acht Jahren war mein Onkel gestorben. Monate schickte man ihn von einem Arzt zum anderen. Zuletzt guckten sie ihm durch den Hals in den Magen. Zu sehen war nur ein Geschwür. Das schnitt der Chirurg heraus, und es war gutartig. Allerdings war der Magen nicht mehr zu retten. Mein Onkel wurde wieder verschlossen und starb drei Wochen später bei einem Spaziergang. Noch heute klagt die Tante, weil er ihr nicht aufs Dorf gefolgt war, sondern sie ihm in die Neustadt. Er war ein guter Mensch, sagte die Tante. Warum musste er seinen Magen von Chemikalien zerfressen lassen. Neben Gott hatte sie die schleichende Zerstörung seiner Schöpfung entdeckt und verbot uns, Spülmittel, Spraydosen und Waschmaschinen zu benutzen. Sie schrieb Eingaben an die Behörden, um über dem Ärger, den sie dadurch auf sich zog, den Verlust ihres Mannes auszugleichen.

Je häufiger die Tante es beteuerte, desto ähnlicher schien der polnische Violinvirtuose auch uns meinem Onkel.

Soso, Wroclaw, sagte der Pole, und Lachfältchen wölbten sich zum Entzücken der Tante an seinen Augenwinkeln. Unsere Völker wohnen schon lange eng beieinander. Er betonte lange und eng derart, dass meine Tante errötete.

Und ich habe meinen Vater umgebracht! schrie ich. Aber es drang nicht weit, nicht einmal bis zu meinen Lippen. Niemand aus unserer Familie würde mich anklagen. Meine Schwester war tot, und meine Mutter würde sich eher die Brust zerfleischen, die mich nährte, als mich ausliefern. Nichts Übleres konnte meinem Selbstwertgefühl widerfahren als dieses Schweigen. Es gestattete mir ja nicht einmal, den Triumph auszukosten, den ich mir versprach. Missmutig fing ich den Blick ab, den mir das holzblonde Mädchen zuwarf. Gebläht stolzierte ich auf die Kleine los. Sie war die einzige, die ich mit meinem Geständnis schrecken konnte. Ich musste nur den passenden Augenblick erwischen.

Doch eine starke Hand hielt mich zurück. Die am unteren Tischende vereinten Musikanten durchfuhr ein Windstoß. Ich glaubte einen Luftzug lang Vaters milden Tabak zu riechen, da beugten sich die vier Männer über den Fleischsalat und flüsterten. Einer nach dem anderen wandten sie sich mir zu. Ihre Augen weit geöffnet, drängten sie das fremde Mädchen zur Seite und schoben sich heran, die Nasenflügel geweitet, ein Stuhl polterte zu Boden, Gustav drang mit seinem Ellenbogen in die Butter, und als sich Rudolf auf meinen Kopf schwang, scherte er sich nicht um den auslaufenden Ketchup. Nacheinander erklommen sie meinen Schädel, trampelten mit ihren eisenbeschlagenen Stiefeln auf meinem Hirn herum und sprachen im monotonen Chor: Wer einen Menschen in den Tod schickt, schickt auch drei in den Tod, und wer drei schickt, schreckt nicht zurück, Tausende in den Tod zu schicken. Und immer, wenn sie das Wort »schickt« aussprachen, traten sie besonders hart auf.

Wie viel Menschen hast du auf den Schlachtfeldern sterben lassen? Zweiunddreißig Millionen? Wie viele hast du verwundet, verkrüppelt, arbeitsunfähig gemacht? Neunundzwanzig Millionen? Wie viele Frauen, Kinder und Greise sind von deinen Bomben getötet, verschüttet, verbrannt worden? Fünfzehn Millionen? Wie viele hast du eingesperrt, deportiert, evakuiert? Fünfundvierzig Millionen? Wie viele Wohnungen hast du zerstört? Dreißig Millionen? Wie viele Menschen sind in deinen Lagern umgekommen? Sechsundzwanzig Millionen? Wie viele Juden mussten sterben? Sechs Millionen? Wie viele Brücken wurden gesprengt, die nicht mehr zu reparieren sind?

Ich kicherte hemmungslos und versuchte, die Musikanten vom Kopf zu schütteln. Mein Herz tanzte Polka, hinweg über Messer, Gabeln, Fettflecke und Weinspritzer.

O ja, ich war ein Mordskerl! Was macht schon der Unterschied zwischen einem und einer Million. Grimmig biss ich in ein süßsaures Fischbrötchen, spreizte die Finger und ließ den schäbigen Rest unter den Tisch fallen. Unsere schwarze Katze sprang zur Veranda herein und nahm das angebissene Stück zwischen die weißen Pfoten, sie nagte daran und legte den Rest meiner Tante in den Schuh. Die Tante hatte die Gewohnheit, eng werdende Schuhe abzustreifen. Die mütterliche Linie hat sich in mir stärker ausgebildet. Auch ich verspüre die Lust, zu enge Häute abzustreifen.

Was hat der Junge mit den Toten zu tun? fragte meine Mutter und nahm die Musikanten herunter. Er ist Jahrgang siebenundfünfzig. Könnt ihr niemals mit eurem Krieg aufhören? Lasst doch den Kindern ihren Frieden.

Das fremde Mädchen sah mich aus ihren moorbraunen Augen mitleidig an, als ich vor ihr stehen blieb, den Kopf schüttelte und kicherte. Sie ahnte nicht, was ihr bevorstand.

4. Kapitel

IN DEN NACHKRIEGSPROZESSEN ist jeder in den Lagern begangene Mord mit einer Mark pro Mensch oder zehn Minuten Gefängnis geahndet worden, sagte Zofia zu mir in Warszawa. Das war schon in meinem heiteren Leben. War es in jenem getäfelten Café hinterm heiligen Nepomuk, der dort steht zur Erinnerung an den letzten Stein, den man dort ins Pflaster setzte, damals, 1756, da August der Dritte als König von Polen im geerbten Sachsen saß und aus Polen sieben Jahre lang ein Durchgangslager für die kämpfenden russischen, preußischen und österreichischen Soldaten machte?

Schön wär’s, sagte Zofia, wenn in all den Kriegen, die Warschau heimsuchten, jeder Stein an seinem Platz geblieben wäre. Es gab hier jede Menge Holzköpfe, die sich die Schädel einrennen mussten.

Fünf skeptische Jahre nach der Trauergesellschaft war ich ihren Einladungen gefolgt. Jahr um Jahr hatte sie mich gebeten, nach Warschau zu kommen. Ihre Eltern würden sich freuen, mich und meine Mutter zu sehen, schrieb sie. Meine Mutter weigerte sich, an den Fluss zu gehen, in dem mein Vater jämmerlich ertrunken war.

In mir war am Tage der Trauer indes eine Art Liebe zu dem Verblichenen erwacht. Ich schlug mich zwischen dem Begräbnis und dem Eintreffen auf dem Gdansker Bahnhof als Soldat unpatriotisch mit meinem Vater und auf dem Feld der Ehre, ich wurde verletzt, ich brachte meinen auferstandenen Vater das zweite Mal um und kam in einem Krankenhaus zu mir.

Ich fahre nach Warschau, sagte ich. Ich muss endlich ein heiterer Mensch werden. Ja, sprach die Mutter, das musst du unbedingt.

Nun stand ich da mit meinen weitergehenden Hoffnungen. Niemand erwartete mich. Zu meinem Ärger war ich nicht der einzige Bursche mit Schnauzbart und Kutschermütze. Ich zählte mindestens vier ähnliche Gestalten. Einer fragte, ob ich Geld tauschen wolle. Ich tauschte. Er schien nicht zufrieden, er hatte wohl mehr, eine größere Summe, erwartet.

Eine junge, kräftige Dame, das holzblonde Haar zu einem Knoten gesteckt, eilte durch die gläsernen Flügeltüren. Sie verharrte und ging zögernd auf einen kutschermützigen Kerl zu, dessen Augen über ihren Pullover strichen, als wären es Hände. Sie lächelte verkrampft und blickte sich suchend um.

Sollte das die dünne, platte Zofia sein?

Ich machte einen Schritt auf sie zu, stolperte über meine Reisetasche und trampelte, mit den Armen das Gleichgewicht suchend, quer durch die Halle, wobei es mir gelang, ein vierjähriges Mädchen umzustoßen. Zum Glück fiel ich nicht hin. Die Mutter des Mädchens löste sich aus der Schlange am Kartenschalter, riss das Kind schimpfend auf die Füße zurück und trieb es unter Püffen vor sich her. Ein Milizionär führte eine zeternde Zigeunerin weg. In einer Ecke schlug ein betrunkener Bauer einen anderen. Alles in einem Augenblick. Eine schmale Hand, auf der drei winzige Warzen miteinander um Aufmerksamkeit rangen, legte sich auf meinen Arm.

Die gut gewachsene Dame im weißen Pullover war Zofia. Sie reichte mir die Kutschermütze, die ich verloren hatte. Ich war überwältigt und drauf und dran, alle Brücken hinter mir abzubrechen und an Zofias Arm Katholik zu werden. Jemand stieß mir einen Kinderwagen gegen die Wade und schmetterte mir in schlesischer Mundart ins Ohr: Wie zur vierten Teilung, Bus hat Verspätung, Ampel kaputt. Sauwirtschaft, polnische.

Ich blickte auf ein finsteres rundes Gesicht hinunter, in dem zwei grüne Äuglein vergnügt umhersprangen.

Das ist Krzysztof, mein Mann, sagte Zofia und lächelte, als wäre sie Mona Lisa und nicht vor zwei Sekunden aus der Fassung geraten. Krzysztof nickte zustimmend, zeigte auf das Kind im Sportwagen und nannte es Helena.

Ich schluckte an meiner Enttäuschung sichtbar länger, als mir lieb war. Wozu lud sie mich hartnäckig ein, wenn sie schon einen Mann hatte? Bis zum Abend sprach ich kaum ein Wort und lief böse neben den dreien her. Dieser Krzysztof gefiel mir überhaupt nicht. Abgesehen davon, dass er kleiner als Zofia war, schimpfte er bei jeder Gelegenheit auf die polnische Wirtschaft. Er redete ununterbrochen, war schlecht zu verstehen und rechthaberisch. Am Abend in jenem Café hinterm Nepomuk fuhr ihm Zofia endlich wütend ins Wort. Zuerst hatte er das Essen, dann die Musik und schließlich die Bedienung schlechtgemacht, uns zu Opfern eines chaotischen Systems degradiert und nach der Revolution verlangt. Als wir ihm keinen Beifall zollten, erhob er sich gekränkt und ging an einen Tisch, wo er zwei Bekannte entdeckt hatte.

Er ist unglücklich, sagte Zofia leise und lächelte traurig.

Warum? fragte ich.

Sie schwieg. Ihre Augen schimmerten feucht. Ich wollte meine Hand auf ihre legen, aber die suchte schon nach einem Taschentuch, und ich bekam nur die kühle Tischplatte zu fühlen. Dass sie mich in Polen brauchte, war mir nun klar. Ich griff in meine Hose, lehnte mich nach hinten, um das Tuch aus der Tasche zu zerren, und fiel auf den Rücken. Vase und Teller folgten mir. Die Band neben der Tür spielte einen Tusch. Alle lachten. Ich kniete nieder, um die Scherben aufzulesen. Aus den Gesten der herbeieilenden Serviermädchen schloss ich, dass ich hier im Wege war. Zofia war aufs Klosett verschwunden. Mit rotem Kopf stand ich herum. Krzysztof hing über seiner Lehne und grinste schadenfroh. Jedes Lachen traf mich wie ein Peitschenhieb. Wer weiß, worüber die Leute lachten. Aber ich hätte in jedes lachende Gesicht schlagen mögen.

Das hat man nun, wenn man weint, sagte Zofia und setzte sich.

Sind bei euch alle Brücken kaputtgegangen? fragte ich und unterdrückte nicht den hoffnungsvollen Unterton. Sie sah mich verwirrt an.

In Warschau, sagte sie mühsam, alle fünf Brücken. Wenn du das meinst. Im letzten Krieg.

Ich bin Brückenbauer, sagte ich, als würde das meinen Unterton erklären können. Sie warf mir einen kühlen Blick zu und dozierte: In den ersten vier Jahren wurde jedes Jahr eine Stahlbrücke errichtet, auf den übrig gebliebenen Pfeilern. Die fünfte ist neunzehnhundertneunundfünfzig fertig geworden, die nächste in dem Jahr, als dein Vater begraben wurde. Jetzt haben wir mit den Eisenbahnbrücken sechs, eine siebte wird im Norden der Stadt gebaut.

Noch immer spürte ich die Blicke von den Nachbartischen. Das war die alte Zofia aus der Trauergesellschaft. Ihr Kopf glich einem Lexikon, was ich von meinem nicht behaupten konnte, und sie benutzte ihn. Wir gingen nach Hause. Bis sie mir schrieb, war auch ich überzeugt, dass sie aus Namyslów stammten. Stammen sie aber nicht, sondern aus dem Warschauer Praga. Dort wohnen sie noch heute zu fünft nahe des Zoos in der Namyslówska. Ich hatte das Gefühl, Zofia wollte mich nicht verstehen. Zu Hause hätte ich bleiben sollen!

5. Kapitel

WIR PROBIERTEN VOM ERDBEERKUCHEN. Geräuschvoll klapperten die Tassen. Man war froh, Peinlichkeit in Geschäftigkeit ummünzen zu können. Meine Mutter liebte es, mehrere Gänge zu servieren. Widerspruchslos hatte sie diese Unsitte von ihrem Mann übernommen, der stets gut zu speisen verlangte.

Der Gegenstand meines Leidens war beerdigt und ließ sich von Würmern fressen. Es war Zeit, unter den Sitten aufzuräumen. Ab morgen würde sich meine Mutter auf höchstens vier Gänge am Tag umstellen müssen! Die Musikanten könnten sich eine andere Bude zum Lärmen suchen! Keiner von denen würde mich mehr am Ohr packen und vor die Tür setzen wie einen Hund! Die Gäste, die mich mit ihrem Geschwätz zwangen, an Vaters Pfeife zu denken, würden morgen abreisen. Dann war ich hier der Narr. Ich atmete auf.

Schluss mit der peniblen Sauberkeit! Ordnung nur, um die Nägel zu finden! Uneingeschränkte Wahrheit jedem gegenüber! Nieder mit der Niedertracht! Hoch die Tassen.

Das waren meine Zehn Gebote.

Ich lümmelte mich an die Schallplattenkommode und starrte grimmig auf den grimmigen Beethoven. Wie hatte uns mein Vater mit den Sinfonien gequält! Ich hörte weder mutige Töne noch den Geist revolutionärer Heroik, die aufrichtige Reinheit eines zukunftweisenden Charakters schon gar nicht. Vielmehr wurmte mich das Entzücken meines Vaters für Ludwig van ... noch heute. Wieso hat er ihn mehr geliebt als uns? Morgen werde ich Beethoven verschenken!

Ich spürte, wie sich die vom Spülwasser nassen Arme meiner Schwester um meinen Hals legten, während Beethoven Klavier spielte, und sah mir die kleine Polin an. Mit Siglinde kein Vergleich! Blond und ein wenig zu rasch gewachsen. Nicht meine Nagellänge, zum Anstechen noch nicht reif genug. Wir hatten andere Vorstellungen auf der Baustelle. Wenn es nicht tropfte beim Pflücken, lohnte es nicht, nach den Früchten zu greifen. Dieses Bild wurde durch steilbrüstige Schönheiten genährt, die wir an die Wände der Spinde gepinnt hatten. Eine Polin kriegst du nur über den Umweg zur Messe, hieß es bei uns. Aber sie sind scharf wie die russischen Weiber auf deutsche Männer, weil bei uns die Läden voller sind. Im Alter werden sie allerdings sentimental und fett. Das mit der Kirche und der Sentimentalität stimmte: Die Kleine heulte am Grab meines Alten und führte mit dem Alten im Himmel Zwiegespräche!

Drüben am Tisch steckten sie die Köpfe zusammen.

Wieso kommt er nicht zurück an den Tisch? Ist das nicht sein Sohn? Wer ist sonst der Sohn?

Der Pole hob seine Handflächen und krächzte: Nu, sein wird er es. Ist dieselbe Schlottergestalt, derselbe finstere Blick, so von unten, verstehst du, als will er los auf einen mit dem Messer.

Ich schluckte betroffen und verglich mich mit meinem Bild in der Verandatür. Schlottergestalt! Der spinnt doch!

So sah er früher aus, sein Vater? fragte das Mädchen.

Ich schnitt eine Grimasse und steckte mir ein Messer quer zwischen die Zähne. Ernst sahen sie mich an.

Ganz früher, sagte er. Wenn er sich ärgerte.

Wütend drehte ich ihnen den Rücken zu, nahm das Messer aus dem Mund, konnte mich aber nicht zwingen, auch die Ohren abzuwenden. Das habe ich häufig an mir beobachtet. Ich will etwas, aber eine andere Kraft kehrt es ins Gegenteil. Wie im Kleinen, so im Großen: Ein Land, das abhängig wurde von den Mächtigen der Welt, ist eher geneigt, sich den Landsleuten gegenüber durch Intoleranz auszuzeichnen, als vor den Gewaltigen eine eigene Haltung durchzustehen.

Er hält sich abseits, warum? fragte sie.

No, weiß man’s, Zofia.

Vier Nadeln stachen mir ins Kreuz. Gelangweilt schob ich das Messer zwischen die Platten. Vielleicht sprachen sie gar nicht deutsch miteinander, und ich habe mir ihre Worte eingebildet? Ich verfüge nämlich über Einbildungskräfte. Manchmal sind sie so stark, dass ich Wirkliches von Unwirklichem nicht trennen kann. Ich nehme Dinge, die ich mir dachte, als geschehen und vergesse Dinge, die es tatsächlich gab. Heute, in meinem heiteren Leben, scheint mir unmöglich, dass die Polen als unsere Gäste in ihrer Muttersprache redeten. Das würde ihrer Auffassung von Anstand und Kultur widersprechen. Wie auch immer, sie erinnerten mich wieder an das Übel des Tages - den verstorbenen Fritz.

Als wir miteinander verkehrten, gab es keinen Steg zwischen uns. Kaum war einer von uns beiden tot, kamen sie emsig herbei aus aller Welt und häufelten Steine, um darauf eine Brücke zu errichten. Ich lachte, lachte und fühlte, wie ich vor Wut immer dicker wurde. Als wäre ich nicht ich selbst und überhaupt nicht dabei, hob ich mich, mein Gewicht auf ein Bein verlagert, vom Boden und hüpfte, schwebte, drehte mich, ganz Ballon, um mich selbst, jeden Augenblick gewärtig, an der Glut einer Zigarette zu zerplatzen.

Er hatte mich als Kind in der Stube sitzen lassen:

Ich hocke, in einem rot-weißen Pullover, auf einem schmuddlig-braunen Teppich, der schon mehrere Generationen überdauert hat. Um mich herum sind Bauklötzer verteilt, die ich nicht einräumen will. Ich höre nicht, was meine Mutter schreit. Ich werde größer und größer, größer als mein Vater, und noch immer sitze ich auf dem Teppich, meine Mutter schreit, und mein Vater geht zur Tür hinaus. Ich soll meinen Eltern keinen Kummer bereiten, sagen die alten Männer und blasen den Trauermarsch von Chopin. Sie schwitzen vor Rührung, als lägen sie selbst im Sarg. Die Geige, die im lauten Blech untergeht, jammert steinerweichend. Aber ich will meinen Eltern Kummer machen!

Es ist ein heißer Sonnabend im August. Ich gehe mit Karin in den Wald. Karin ist fünfzehn, ich bin ein Mann. Nicht jeder in Untereichfurt weiß, dass ich ein Mann bin. Vor uns kommt ein Junge aus dem Gartentor. Sein Vater ist bei der Kriminalpolizei. Ich frage, ob er Streichhölzer habe. Er hat keine, aber er bietet mir einen Fliegenpilz an. Hätte dieselbe Wirkung wie ’ne Zigarette. Karin lacht. Ich erzähle einen Polizistenwitz. Er grinst dämlich und geht weiter. Ich laufe ihm nach, reiße ihn herum und schlage zu. Er versucht auszuweichen, ich schlage noch einmal. Ich wollte mich nicht schlagen. Ich habe erwartet, dass er zurückschlägt. Das wäre fair. Ich musste zeigen, wer von uns beiden der Mann ist.

Wir laufen den Pfad zum Flüsschen hinunter. Da schreit Karin und zeigt auf meine Hose. Erschreckt hockt sie vor mir nieder und tastet nach der vermeintlichen Wunde. Der Mund trocknet mir ein. Zwischen ihren rötlich braunen Haaren sehe ich ein zitterndes Brüstepaar und eine eckige Schulter. Meine Augen beginnen zu tränen. Wie groß ist mein Erstaunen, als sich auf ihrer Schulter ein Blutstropfen bildet. Er quillt aus meiner Hand. Während ich hilflos zusehe, wie das Blut das Gras unter der krummen Weide färbt, holt Karin ein geblümtes Taschentuch hervor und verbindet meine Hand. Ich drücke meine Lippen auf den dunkelroten Tropfen an ihrer Schulter. Ihr abwehrender Schrei raubt mir den letzten Sinn. Ich zerre an ihrer Bluse. Schweigend ringen wir um Vorteile. Plötzlich krümmt sich ihr Leib unter meinen Händen, sie gackert und schnappt nach Luft. Ich verfluche meine engen Hosen und erobere ihren Schlüpfer. Karin windet sich mit hochgeschobenem Kleid auf der Erde. Da geschieht es, dass ich aufheule und in den trocknen Sand gebe, was für das Mädchen bestimmt war.

Die Arme wie zwei vom Kreuz genommene Sünder gebreitet, liegen wir im Gras und starren böse in die Äste.

Mir ging manches daneben.

Am nächsten Tag steht Karins Mutter in unserer Küche und beschuldigt mich. Wenn meine Mutter nicht fähig sei, ihren Sohn zu beaufsichtigen, müsse sie mich kastrieren lassen. So sei ich jedenfalls eine Gefahr für alle anständigen Mädchen in Untereichfurt. Meine Mutter sagt nichts. Sie öffnet die Tür und zeigt zur Gartenpforte. Den Kopf gesenkt, geht Karins Mutter. Ich sehe, dass sie weint, und lache brutal.

Der blöden Kuh haben wir’s gegeben, blöke ich und nicke meiner Mutter bewundernd zu. Ein kurzer, harter Schlag mit dem Handrücken schließt mir die Lippen. Sie presst ihre schmerzende Hand an die Brust und holt zum zweiten Schlag aus. Ich renne hinaus, gefolgt von meiner Mutter. Schwesterchen Siglinde tritt mir in den Weg. Wir fallen aufeinander. Ich reiße mich los und setze über den Zaun. Als ich mich atemlos umwende, liegt meine Mutter bäuchlings im Bauschutt, umhüllt von Staubwolken. Später pflanzte mein Vater dort den Rhododendron.

Die neunte Klasse musste ich zweimal besuchen. Es hieß, ich würde meine Fähigkeiten nur gering nutzen. Ich musste lachen, als mein Klassenlehrer das sagte. Denn meine einzige Fähigkeit war meine Fantasie. Und die nutzte ich. Jede Einzelheit wusste ich über meinen Vater, der die ganze Welt mit Viadukten verband. Seine Brücken hingen an riesigen Ballons zwischen den Kontinenten, sie überquerten den weiten Dschungel, verknüpften Inseln und Berge. Er kämpfte mit Bären, schoss auf Krokodile, fiel in tiefe Schluchten, wurde von Mambas und Menschenhaien gebissen, stürzte mit Flugzeugen ab und erfror auf eisigen Gletschern. Mein Vater war ein Kerl wie keiner von den Vätern aus Untereichfurt, kein Polizist, der falsch parkende Autos aufschreibt, kein Intellektueller, der seine Nase nicht aus den Büchern kriegt und alles durchschaut, kein Händler, der seinen Räucherfisch in Paprika wälzt und für den doppelten Preis verkauft, kein Funktionär, der den Händler zwingt, den Räucherfisch in Paprika zu wälzen, um ihn teuer zu verkaufen.

Kaum trat mein Vater wirklich in unsere Stube, roch es säuerlich. Er hatte getrunken, seine rissigen Hände kratzten sich in unsere Haut. Meiner Schwester schlug er auf den prallen Hintern, dann jagte er uns in den Garten. Wir hörten das Bett ächzen und meine Mutter erstickt schreien. So war es immer, wenn er kam. Am Abend hörten wir nur noch das Geschrei der Eltern. Es ging um Frauen und Geld. Beides hatte er genug, aber das eine fraß das andere, und meine Mutter lief zu fremden Leuten Wäsche waschen und Zimmer wischen, um für uns Milch kaufen zu können. Irgendwann während seiner kurzen Aufenthalte zu Hause verbot er meiner Mutter, sich derart zu verkaufen, und schwor, sein Leben zu ändern. Wie ein Besessener mauerte, grub und pflanzte er. Und eines Morgens, als wir zum Frühstück herunterkamen, war er schon wieder unterwegs, und die Mutter klagte über das schlechte Licht, weil ihr die Augen voller Tränen standen.

In solchen Morgenstunden schwor ich, ihn umzubringen. Er hatte so gar nichts von dem, was ich mir von einem Vater wünschte. Solange ich ihn kannte, war er mit seinen Dingen beschäftigt. Kinder rechnete er nicht zu seinen Dingen. Er war ungerecht! Mit meiner Mutter ging er ins Bett, meine Schwester umarmte und kniff er, mir gab er höchstens die Hand.

Ich musste ihn umbringen!

In voller Höhe ging mir die Luft ab. Ich fiel von der Decke. Aus dem Gebabel im Zimmer, dem Zwitschern der jungen Schwalben an der Dachrinne und dem Zirpen der Grashüpfer hörte ich Zofia und ihren Vater heraus, als stünden sie neben mir auf dem schmuddlig-braunen Teppich.

Warum gehst du nicht zu ihm?

Als Dame?

Was bist du schon für eine Dame? Ist er denn ein Herr?

Du könntest ihm was sagen. Er ist immerhin sein Sohn.

Geh nur. Geh, Zofia.

Was soll ich ihn fragen?

Frag ihn, warum er so böse ist, ob er uns nicht leiden kann.

No, hörte ich es empört aus ihrem Munde.

No, grunzte er, dann frag nach seiner Schuhgröße.

Mit dir kann man nicht reden.

Sag ich doch, geh hin, rede du mit ihm. Mit den Augen hat er dich schon genascht.