Traumafolge(störung) DISsoziation - Zora Kauz - E-Book

Traumafolge(störung) DISsoziation E-Book

Zora Kauz

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Beschreibung

Wissen ist Macht. Sprache kann vernichtende Gewalt sein, aber auch eine befreiende Kraft. Die Macht des Wissens soll über die Kraft der Sprache geteilt und zugänglich werden. Denn Gewalt hat Folgen. Chronische Gewalt hat chronische Folgen. Ein Psychotrauma soll eine Erschütterung sein, aber was ist, wenn Menschen diese Erschütterung als Normalzustand angenommen haben? Was bedeutet Traumatisierung eigentlich, wenn überall Stress mit »Trauma« beschrieben wird? Was sollen all die körperlichen Symptome, wenn doch die Psyche erschüttert wurde? Warum ist Persönlichkeit dynamisch und was passiert, wenn es diese Dynamik nicht in funktionellem Zusammenfluss gibt? Wer lebt weiter, wenn Gewalt tödlich war? Mithilfe neurobiologischer Prozesse werden Natur- mit Humanwissenschaften verbunden, um sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Dissoziation klingt fachlich vielleicht fremd, doch ist es ein Phänomen, das in gewissen Formen alle Menschen in ihrem Alltag kennen. Unbekannter sind die pathologischen Extreme und ein anderes Spektrum – die Strukturelle Dissoziation, welche in ihrem Ursprung ein Überlebensmechanismus ist. Charaktere, die in Medien als »Multiple Persönlichkeit« Massenmörder darstellen, verzerren das Bild von Menschen, deren Organismen eigentlich nur schon zu früh und zu oft in ihrem Leben auf instinktive, unbewusste Überlebensmechanismen zurückgreifen mussten. Menschen, die nicht vervielfacht (»multipel«), sondern (durchaus funktionell und lebensfähig) gespalten sind. Auch geht es um das Leben, nach dem Überleben, welches mehr sein sollen darf als Schuld und Scham. Denn Menschen mit Dissoziativen (Identitäts-)Störungen sind mehr als ihre Traumatisierungen, auch wenn Narben bleiben und es keinen Neuanfang geben wird.

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Über die Autorin

Die Autorin schreibt als Getroffene von chronischer Traumatisierung und deren Folgen. Sie schreibt mit Erfahrungs- und Fachwissen, um eine Transferleistung von klinisch steriler Theorie in alltäglich verständliche Sprache und wenig sterile Praxis zu versuchen. Diese Texte entstanden mit dem Anliegen, ihre Privilegien des Wissens und der zu Teilen (wieder)gefundenen Sprache (mit)teilen zu dürfen.

Zora Kauz

Traumafolge(störung) DISsoziation

Aufschriebe, um teilend Verständnis zu versuchen

Engelsdorfer VerlagLeipzig2021

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Titelbild © Zora Kauz

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Intro

1Trauma

1.1 Begriffs(er)klärung

1.2 Unser Nervensystem im Trauma

1.3 Okay. – Und jetzt?

2Differentialdiagnosen

3Ein Einstieg zu uns

3.1 Wofür Anteile?

3.2 Anteile durch Traumatisierung

Exkurs: Erklärung von Introjektion zum Verständnis der Täterintrojekte

„Bewusste“ Theorie und Praxis

4(K)eine Diagnose (nur für Titel-Interessierte)

5Dissoziation

5.1 „Alltags-Dissoziation“

5.2 Dissoziation im Trauma

5.3 Erinnerungen und Trigger

6Therapie – Bisschen reden und so

6.1 Akkuschrauber, Bits und Schraubenköpfe

6.2 Die Theopraxis der drei Phasen

6.3 Wir in der Therapie

7Ausdruck

7.1 Worte bis Alles

7.2 Musik

8C16H13CLN2O

9Über das Leben reden reicht nicht, um zu überleben

9.1 Die Vita der Suizidalität

9.2 Gibt es Hoffnung(slosigkeit)?

9.3 Wer beim Sterben dabei war, „hilft“ später gefährlich

10Warum wir nicht gestört sind

Erstens: Grundsätzlich

Zweites Erstens: Lernen

Zweitens: Alte Schmerzen sind keine Einbildung

11Ent-wicklung einer Wohnkommunikation

12Wieder wie ein Kind – Oder auch nicht

13Versteckspiel

13.1 Kontrollverlust

13.2 Soziale Versuche

13.3 Quanten(psychologie), Quarks und Schuld

13.4 Versteckte Einsamkeit

14Schreiendes Schweigen

14.1 Keine Stimme

14.2 Wir schweigen nicht grundlos

14.3 Tödliche Scham

15Schamvolle Hochleistung

15.1 (Be-) Schämende Rudeltiere

15.2 Etiketten sind für Dosen

15.3 Zum Leben-Lernen

16Unser Leben ist mehr als Traumatisierung

17Atmen

17.1 Kleine Schönheiten

17.2 Sympathische Power

17.3 Hirn- und Körperbewusstsein

17.4 Energy-Yoga

18Tägliches Chaos

19Häufig gestellte Fragen oder eher: Häufig getroffene Aussagen

19.1 „Du machst mir Angst.“

19.2 „Wenn du Panik hast, schlägst du dann wild um dich?“

19.3 „Ich mag dein anderes Ich viel lieber.“

19.4 „Richtig interessiert hat es dich wohl nicht, sonst hättest du besser zugehört.“

19.5 „Lüge doch nicht. Natürlich hast du das (nicht) getan.“

19.6 „Was denn, du hast auch körperliche Symptome?“

19.7 „Ach, du, das kenne ich auch. Mach doch einfach dies und das.“

19.8 „Aber du kannst das ja immer noch machen.“

19.9 „Kannst du es nicht einfach hinter dir lassen, damit abschließen und nach vorne blicken?“

19.10 „…?“

19.11 „Nimm doch nicht immer alles so ernst.“

20Wird schon

20.1 Keine Pause

20.2 Realitäten

20.3 Wut hilft gegen Selbstzerstörung

20.4 Wissen, um zu denken, handeln, um zu sein

Glossar

Literatur

Intro

Es sollte mal „etwas Großes“ werden, ich hatte die Vorstellung, etwas gut Zugängliches zu schreiben, das Wissen, die Erfahrungen, die Aufklärung, Sensibilisierung in etwas Ganzes zu verpacken. Denn es ist so die Annahme, dass es überschaubar und leicht verpackt sein muss. In einer fortlaufenden Geschichte, sodass es einfach und vor allem gut und gerne zu lesen ist. Aber das ist nun mal nicht unsere Realität. Unser Alltag ist meist keine fortlaufende Geschichte. Sehr viele Erinnerungen, (noch) keine sinnstiftenden Erzählungen, und einige werden es nie sein.

Es mag variieren von eher fachlichem Ausdruck zu erlebensnaher Sprache, doch hoffe ich, so manches verständlich machen zu können, was im Fachlatein doch abschreckend kompliziert aussieht und auch oft wenig mit der Praxis zu tun hat, allein schon, weil unsere Perspektive dort meist nicht vorkommt. Es sind Gedanken, „Raus-schriebe“, Bitten, Wissensteilungen, um Verständnis, oder zumindest etwas in dieser Richtung, zu schaffen. Wichtig an dieser Stelle hinzuzufügen ist mir, dass auch, wenn wir nicht (nur) von uns als System, also einem Menschen, schreiben, sondern andere mit einbeziehen möchten, wir unmöglich „Wahrheiten“ beschreiben können. Jedes Erleben und jede Lebensrealität ist unterschiedlich und wer wirklich auf konkrete Fragen Antworten will, muss immer den Mensch selbst fragen. Ob es dann eine (verständliche) Antwort gibt, ist natürlich nicht garantiert. Andere mit einbeziehen bedeutet nicht, für andere schreiben zu können! Es bedeutet lediglich, dass wissenschaftliche Grundlagen, der Fakt, dass Gewalt kein Einzelfall ist, und dass immer individuell geschaut werden muss, allgemein gelten. Ich will vermeiden, dass sich Menschen von diesen Aufschrieben distanzieren müssen, weil ihnen unterstellt wird, mit dieser oder jener Diagnose so oder so sein zu müssen. (Eine Diagnose sagt nichts über individuelle Fähigkeiten, Interessen, Möglichkeiten, nichts Konkretes über die Geschichte oder Einstellung dazu aus, und etwas, das gerne unbeachtet bleibt – Diagnosen, auch die, die mit komplexer Traumatisierung in Verbindung stehen, erzählen allein nichts über die Intelligenz eines Menschen, ob emotionale, körperliche, soziale oder kognitive) Es sind (Mit-)Teilungen, um teilzuhaben und teilhaben zu lassen.

Wir schreiben manches mehr als Vision, als dass wir es schon verinnerlicht hätten, doch wollen wir diese teilen. Tatsächlich verstehe ich sehr viel nur theoretisch, mit Distanz, und kann oft noch keinen Bezug zu uns herstellen. Dann weiß ich Dinge schon, jedoch begreife ich sie erst Monate oder Jahre später. Auch schreiben wir von scheinbaren Überzeugungen, von denen ich wahrlich für andere Menschen überzeugt bin, nur für uns selbst noch nicht. Ich glaube, Schützendes für andere zu formulieren, ist ein Schritt, um es irgendwann auch für uns selbst zu können. Ich schreibe in den Momenten, in denen ich dazu in der Lage bin, weil sie kostbar und nicht immer verfügbar sind. Vielleicht ist es verschwendete Energie, weil es für andere nicht das sein kann, was ich mir wünschen würde, dann wäre es „nur“ für uns wertvoll. Das Schreiben ist unser „sicherer Ort“, hier darf Ausdruck sein, hier schaffen wir es, Verbote zu umgehen, hier sind Auseinandersetzungen, ohne Einfluss von außen, möglich und dadurch ist es sehr wahrhaftig. Und wenn ein Mensch davon liest und sich in Teilen wiederfinden kann oder es ihm_ihr vielleicht einen Moment der Hoffnung bringt, weil es spürbar macht, nicht ganz alleine zu sein, oder es ein Mensch liest und in einer Begegnung mit einer betroffenen Person daran denkt und vielleicht dadurch weitere Verletzungen vermeiden oder gar Unterstützung bieten kann, dann reicht mir das. Dann weiß ich: Dafür hat es sich gelohnt. Denn wir schreiben auch für all die Male, in denen wir erneut geschwiegen haben, in denen wir wieder schweigen, in denen wir schweigen werden, in denen die Stimme versagt und niemand das schreiende Schweigen hört und noch viel weniger hören will. Nach einer Besprechung der Hilfeplanung, in der wir nur zustimmend genickt haben, weil der Versuch aufzuklären zu kraftintensiv und zu wenig erfolgversprechend gewesen wäre: Ich bin mal wieder halb erstickt am Schreien, im Innen, weil Selbstvertretung nicht geht, wenn du nicht weißt, wer oder was mit „selbst“ gemeint sein könnte. Für uns eine Tortur mit Folgen, für die anderen nur ein Termin im Arbeitskalender. Für die anderen eine Akte, für uns ist es das, was wir Leben nennen. Es ist so viel einfacher hier, alleine Dinge zu formulieren, ohne die Präsenz eines anderen Menschen. Ich weiß, dass wir es dann (noch) nicht können. Aber so kann ich es, und auch das war ein Weg.

Es sind verschiedene Aufschriebe, die Wirkungskraft der Texte kann deutlich umschwingen, denn nicht jedes Ich, das hier schreibt, ist ein und dasselbe Ich, ist nicht das, was von außen als du bezeichnet wird. Alle Fachbegriffe oder sonstigen Bezeichnungen finden entweder direkt oder im Glossar ihre Erklärung, bei ihrer Erstnennung sind sie fett markiert.

Die Scham der Beschämung will auch hier schon gehört werden: „Wer bildest du dir ein zu sein? Du bist es nicht wert, gehört zu werden. Wie kannst du es wagen, das zu schreiben?“ Aber ich weiß, dass ein leiserer Teil der Scham mit ähnlichen, nicht ganz so vehement formulierten Aussagen uns eigentlich nur vor Zurückweisung, erniedrigenden Kommentaren oder harter Kritik schützen will. Sie wird uns begleiten. Immer wieder. Manchmal direkt, oft zwischen den Zeilen. Ich weiß, wir nehmen all das, wovor die Scham warnt, in Kauf für den Fall, dass dies nicht nur auf einem USB-Stick gesichert und dann vergessen wird. Einer der Hauptgründe, weshalb die Verwirklichung von diesem Schreibprojekt sehr oft gefährdet ist, ist nämlich tatsächlich die Scham. Aber in einer anderen Form. In einer Weise, in der sie ihre giftigen Fasern um uns schlingt und uns zu ersticken droht. In ihrer existenziellen Macht, mit welcher sie uns unsere Daseinsberechtigung nimmt. In ihrer Zusammenarbeit mit der Schuld, weil wir eigentlich unter keinen Umständen wollen, dass irgendwer irgendetwas weiß. Wie bescheuert ist es denn, sich tagtäglich zu verstecken, Symptome mit aller Kraft zu vertuschen, Ausreden zu finden und dann über all das, was wir verheimlichen, zu schreiben und es andere lesen zu lassen? So denke ich oft, dass wir es nicht schaffen, dass ich es gar nicht schaffen will, aber dann treffen wir auf Vorurteile, Unverständnis, Ausgrenzung, Entwertung, auf Verletzungen aus Unsicherheit und schaffen es nicht, etwas zu sagen, und wissen, dass wir damit nicht alleine sind, auch wenn es sich so anfühlt. Darum denke ich, dass es, darauf bezogen, total egal ist, was die Scham sagt, weil es nicht um uns, sondern um viele viele geht, weil viel zu viel schreiendes Schweigen nicht gehört wird, weil ich weiß, dass wir Privilegien haben, mit denen wir den Versuch wagen können, kleine Verständnis-Bereiche zu erschaffen.

Wir schreiben das hier nicht aus Freude am Thema. Ich würde gerne andere Dinge schreiben. Wir sind nicht stolz darauf, gleichzeitig fühle ich uns sehr privilegiert, das hier überhaupt schreiben zu können. Ich empfinde es als großes Privileg, überhaupt Worte gefunden zu haben und mich über die Theorie soweit von mir entfernen zu können (als Mechanismus, den ich absichtlich wähle und durch den ich bei Bewusstsein bleibe!), damit ich es ertragen kann, das hier zu schreiben. Manchmal ist es entweder Theorie oder eigene Betroffenheit, weil beides gleichzeitig nicht immer auszuhalten ist. Ohne Meta-Distanz wäre es uns nicht möglich, Fachliteratur zu lesen, was durch die dort verwendete Sprache erleichtert wird. Aus Vorausgegangenem erschließen sich auch die Grenzen der Themen, die wir beschreiben. Es sind keine Erlebnisberichte von traumatischem Geschehen und wir beschreiben auch die Prozesse der Anteilsbildung/Entstehung der dissoziativen Struktur nicht konkret persönlich, sondern ihren prinzipiellen und wissenschaftlichen Hintergrund. So auch primär nur das (konditionierte) Lernen im Bereich der Erfahrungskonditionierung. Es ist nichts, was wir zum Friede-Freude-Zeitvertreib tun, aber ich finde jeden Versuch, etwas zu teilen, um Verständnis überhaupt möglich machen zu können, wichtig. Und alle, die es versuchen können/wollen, kann ich nur bestätigen und ihren Mut anerkennen. Es ist unglaublich anstrengend, ständig Dinge erklären oder rechtfertigen zu müssen, und all das, von dem wir glauben, dass es ohnehin nie verstanden werden kann, zu vertuschen. So kann es auch eine Art Selbstbestrafung sein, einfach immer zu nicken, wie gelernt, uns als das zu sehen, was uns von außen gesagt wird, mit allen Konsequenzen, die das, auch im Hilfesystem, haben kann. Nicht mehr versuchen, verstanden zu werden, bedeutet auch erneute oder anhaltende Abkapselung und das ist früher oder später tödlich. Verstehen bedeutet hier eigentlich zunächst mal nur wissen, also unser Erleben, unserer Realität „nur“ geistig aufnehmen. Wenn wir dann tatsächlich damit angenommen werden, es also wahrgenommen und assoziiert werden kann, dann entsteht vielleicht nachvollziehende Erkenntnis. Das impliziert nicht unbedingt Empathie auf emotionaler Ebene. Die Aufklärung im Bereich der Dissoziativen Störungen oder allgemein komplexen Traumafolgen hat glücklicher Weise ja Fortschritte gemacht hat, ist aber wahrlich noch ausbaubar und bislang nur dort vertreten, wo Menschen sich dazu entscheiden aktiv etwas für die eigene Aufklärung oder Weiterbildung zu tun.

Wir möchten schreiben, damit sich vielleicht hier oder da ein Mensch nicht zusätzliche Schuld für die eigene Fehlerhaftigkeit und Schwäche aufbürden muss, sondern lernen darf, für sich zu sorgen, weil sehr viel sehr viel Sinn ergibt. Denn wir sind nicht krass krank und völlig kaputt. Wir haben einfach nur überlebt und müssen mit den Nachfolgen lernen umzugehen. Aufklärung, damit wir uns der eigenen Leistungsfähigkeit bewusst werden können, weil unser Organismus für unser Überleben sorgte in Situationen, in denen dieses ernsthaft bedroht war. Um mit dem Glauben an die eigene Kraft zu stolpern, zu fallen, durchzuhalten, auszuhalten und zu (er)tragen lernen, um leben zu dürfen und zu können. Das ist es, worum es in diesen Texten geht. Wir sind nicht gestört, schwach oder krank, weil wir unter den Folgen von traumatischen Ereignissen leiden. Wir sind nur Menschen, die Traumatisierung erfahren mussten. Das ist etwas, das uns passiert ist, das ist nicht alles, was wir sind, auch wenn es für immer zu uns gehören wird. Eben weil ein Trauma Narben hinterlässt, die nie vergehen werden, ist es so wichtig zu verstehen, was mit uns passiert bzw. passiert ist. Zunächst, um die Unterstützung zu bekommen, die wir brauchen, aber auch, um uns selbst verstehen und annehmen zu können.

„Wissen Sie, Wissen ist Macht“, sagte eine Ärztin in einer Klinik damals und überreichte uns mit diesen Worten ein Buch zu Sozialen Phobien, mit dem Zusatz, dass sie keine klassische Soziale Phobie diagnostizieren möchte, aber dass ich etwas zur Scham lesen könnte. Soziale Phobien standen zu Beginn unserer Klinik-Diagnosen-Karriere auf den Diagnoseachsen, später hat man sich aber wieder dagegen entschieden, dass extra zu diagnostizieren. Tatsächlich las ich nicht viel in diesem Buch, da ich zu dem Zeitpunkt eine Konzentrationsspanne von etwa 12 Sekunden hatte. Aber bis dahin hätte ich nie gedacht, dass ich mich schäme. Auch wenn alles andere zusammengestürzt war, diesbezüglich war alles, wie es immer gewesen war. Das gehörte zu mir, dieses Gefühl, etwas zu sein, das es selbst nicht gibt, das nur mit einem Du existieren kann, die Überzeugung, bei Aufmerksamkeit verschwinden zu müssen und falsch zu sein. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, dass ich mich schäme, geschweige denn, dass das dann ja etwas mit anderen zu tun haben muss, weil es ein soziales Gefühl ist, somit also mindestens einen anderen Menschen braucht, um dieses Gefühl entstehen zu lassen. Am allerwenigsten wäre ich auf die Idee gekommen, dass diese Scham nicht nur natürlich, sondern auch aus aktiver Beschämung entstand, also mit Gewalt auferlegt wurde und nur sehr wenig mit eigener Fehlerhaftigkeit zu tun hat.

Aber es stimmt. Wissen ist bekanntlich Macht. Wissen löst keine Angst, kann aber die Angst vor der Angst lindern. Wissen widerlegt das Argument, völlig gestört zu sein, Wissen macht Hoffnung, weil unser Gehirn so unfassbar flexibel ist und verdammt viel überstehen kann. Ganz oft nimmt uns Wissen Erfahrungen, weil Menschen sich gerne einbilden, etwas schon zu kennen, darüber Bescheid zu wissen, dann ist der Super-effiziente-Denk-Kopf an, aber die Sinneserfahrung aus. Jetzt ist es aber genau andersrum, wenn wir ein daueralarmiertes Alarmsystem haben, das uns alle Gefahr anzeigt, wir in keinster Weise wissen, woher all diese Emotionen, Wahrnehmungen, Stimmen, Zeitverluste kommen, und uns ständig in eine Überforderung und dadurch Dissoziation treiben. Dann läuft das andersherum. Jedenfalls gab mir Wissen zunächst Halt. Dinge ergaben Sinn. Erstaunlich viel sogar. Zunächst nur die Symptomatik, Erlebnisse, die traumatisch genannt wurden, noch lange nicht. Das dauert noch ein paar Ewigkeiten. Aber als ich so ganz Grundlegendes verstand, konnten wir uns auf vieles Hilfreiche einlassen. Ich lernte den gravierenden Unterschied zwischen erdender Achtsamkeit und überreizter Wachsamkeit. Wissen gab uns den Startschubser, um glauben zu können, dass Traumatherapie vielleicht etwas bewirken kann, Wissen ist sympathischer als Vertrauen. Irgendwann hilft uns auch Wissen nicht mehr weiter, weil wir durch Erfahrung lernen müssen. Doch war es ein Grund, auf dem wir bauen konnten. Irgendwann konnten wir dann beginnen, das mit dem Zutrauen zu versuchen. Manchmal gibt es Momente, da glaube ich, dass es sogar vertrauensvoll ist, bei uns, in der Therapie. Denn wir genießen das Privileg von einer Therapeutin begleitet zu werden, die ihre eigenen Ängste kennt, die sich nicht scheut, ihre Wut oder Ohnmacht kennenzulernen, die weiß, wie es sich anfühlt in ihr selbst. Empathie kann Scham übertragen. Und genauso auch Mitgefühl. Im Idealfall haben wir in der Therapie ein Vorbild, das uns zeigt, was Mitgefühl ist, um uns, die Empathie als Überträgerin nutzend, anstecken zu lassen. Damit wir im Prozess, immer wieder ein Stückchen mehr, diese Nachsicht und Akzeptanz, für uns selbst entwickeln können.

„Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“ F. Nietzsche

Chaos haben wir genug. Diese (Mit-)Teilungen hier sind kein wunderschönes Himmelsbild, keine Besonderheit und auch kein erleuchtender Sternzeichenführer. Aber vielleicht können sie ein kleiner, unscheinbar tanzender Stern in einem Himmel voller Sterne sein, deren innenliegende Erfahrungsweisheit gemeinsam scheinend tatsächlich Wege erleuchten und Möglichkeiten aufzeigen kann. Denn Wissen und Erfahrungswerte, also wirklich Gelerntes, können erst für kollektive Entwicklungschancen wirksam werden, wenn sie geteilt werden.

1Trauma

1.1 Begriffs(er)klärung

Das Wort „Trauma“ wird oft sehr ungenau und sowohl umgangssprachlich als auch in den Medien seiner Definition entfremdet und leider ziemlich inflationär benutzt. Ich habe ewig gebraucht, bis ich akzeptieren konnte, traumatisiert zu sein, was auch nur der Verleugnung diente, aber die großzügige Verwendung dieses Wortes macht es nicht leichter. Denn wenn jemand von der wiederholten Tatsache, im Regen draußen ohne Regenschirm zu sein, „traumatisiert“ ist, warum leide ich dann so sehr, wenn es das ist, was mir zugeschrieben wird? (Es gibt ernsthaftere Beispiele, dieses kommt aus einem Sachbeitrag, in dem sich drei Fachleute zum Thema posttraumatische Belastungsstörung äußern und über psychische Krankheiten aufklären … Ja, genau. Wir können den Kopf darüber schütteln, dass diese Menschen wohl etwas nicht verstanden haben – schade. Aber es ist nicht einfach „nur“ schade. Es ist viel schlimmer, weil ein riesiger Schaden angerichtet wird, den Traumatisierte, mit wesentlich eingeschränkterer oder gar keiner Stimm-Reichweite aushalten müssen. Wir müssen aushalten, wenn Menschen mit geradlinigerem Lebenslauf und bester Bildung darüber bestimmen, wie uns begegnet wird, wie wir behandelt werden, welche Vorurteile über uns verbreitet werden. Ebenso schlimm, dass sie es vielleicht gar nicht böse meinen und mit ihrem verfälschten Bericht darum sehr seriös und glaubhaft wirken/auftreten. Es wäre zwar immer noch wenig aufgeklärt, aber wohl menschlich, wenn sie im Dienstzimmer so reden oder privat sich unbedacht äußern, und mir dann auch egal, weil es dann keine so direkte Auswirkung hätte. Aber wenn Menschen mit angeblicher Fachkenntnis öffentlich behaupten, dissoziative Amnesien seien „praktisch, um sich vor Gericht zu ent-schuldigen“, dann ist das ein gewaltiger Schlag ins Gesicht, und ich weiß, wovon ich spreche. Mit dieser Aussage klingt die Dissoziative Identitätsstörung wie eine vorteilhafte Einbildung/Erfindung. Damit wird die Traumatisierung geleugnet, all das Leid, welches weiterhin durch die Folgen entsteht, so klingt es nach bewussten, manipulativen Entscheidungen. Dabei geht es um chronische Kontrolllosigkeit und Ohnmacht jeglicher Entscheidung gegenüber. Es lähmt, so etwas hören zu müssen. Und wenn ich neben dieser verletzenden emotionalen Falschheit die Fakten mit einbeziehe, ist es eben nicht so, dass eine Diagnose vor Gericht schützt und Freiheit sicherstellen würde. Denn wenn ein Mensch eine Straftat begeht, der bspw. unter schweren akuten psychotischen Symptomen leidet und/oder eine Intoxikation vorliegt, er somit vermindert oder gar nicht schuldfähig ist, geht er_sie statt ins Gefängnis, in die Forensik – den Maßregelvollzug zur Besserung und Sicherung – was ja bei tatsächlicher Gefährdung auch richtig so ist.)

Aber auch in ernsthaften Beispielen finde ich es schade, dass alles krankhaft gemacht werden muss, damit es eine Berechtigung hat, schwer zu sein. Trauer wird als Störung diagnostiziert, wenn sie einen bestimmten Zeitraum anhält bzw. diese Zeit den Grenzwert für die Diagnose überschreitet. Es ist aber so, dass Trauer keine Zeitangaben kennt. Trauer wird immer da sein, auch wenn sie sich verändern kann und vielleicht weniger überflutend wird. Es ist schlimm, dass gesunde Menschen Krankheitsmodelle auf das Leben, mit seinen Krisen, Schicksalsschlägen, Triumphen und Höhen, überschreiben und mehr Leid entstehen lassen als eigentlich da ist. Denn wie der Tod, gehören auch Schmerz, Leid und Trauer zum Leben dazu. Auch für traumatische Ereignisse sind wir evolutionsbedingt ausgelegt, um sie zu überstehen. Wenn wir diese Mechanismen chronisch nutzen müssen, um zu überleben, dann wird es destruktiv oder „krankhaft“. Zudem, dass sich Zustände verschlimmern können, weil sie ja als krankhaft bezeichnet sind und dadurch die Kompetenz abgesprochen wird, sie zu überstehen, werden tatsächliche psychische Erkrankungen weniger ernst genommen. Wenn jede Verstimmung eine Depression ist, eine schützende Angstreaktion, nach einem Unfall beispielsweise, eine Angststörung, die Trauer um ein verlorenes Kind eine Trauerstörung, dann bedeutet das, dass es ein gesundes Leben gar nicht gibt, dass jede Art der Bewältigung irgendwie krankhaft ist. Gleichzeitig sind psychische Erkrankungen gar nicht ernst zu nehmen, weil ja jede Krise eine solche ist.

Im ursprünglichen Sinne bedeutet Trauma (griechisch traũma) Wunde, Verletzung und wird erst seit Ende des 19. Jahrhunderts auch in der Psychologie für Schock oder seelische Erschütterung verwendet. In verschiedenen medizinischen Bereichen beschreibt das Wort den Schweregrad einer Verletzung oder genauer deren Folgen. Wir hatten ein Frontzahntrauma infolge eines der psychologischen Traumata, was einfach nur heißt, dass ein Schneidezahn zerbrochen und die Wurzel verletzt war. So ist auch ein Geschehen an sich kein Trauma. Vielleicht gibt es Menschen mit stabileren Zähnen, die vorher noch nie angebrochen waren, oder die ohnehin eine Zahnlücke haben, diese hätten in derselben Situation kein Frontzahntrauma erlitten. Genauso kann es auch mit den seelischen Verwundungen sein.

Verschiedene Ereignisse können potentiell traumatisch sein. Die Intensität und Unberechenbarkeit des Geschehens spielen eine Rolle sowie die Unkontrollierbarkeit durch unmittelbare Gewalt eines anderen Menschen, einer Naturkatastrophe oder eines Verkehrsunfalls. Für mich die Quelle des Leides ist, von den Flutwellen immer wieder eingeholt und erneut von den tödlichen Wassermassen verspult zu werden, was definitionsgemäß einem Trauma zugrunde liegt, das Ausgeliefertsein in Momenten der Todesangst.

Traumata können vor und mit der Geburt entstehen, und je jünger wir sind, umso wahrscheinlicher ist es, dass uns für bestimmte Situationen die Fähigkeiten fehlen, um auf schlaue Säugetier-Art damit umgehen und somit das Erleben integrieren zu können. Die Auswirkungen von vorgeburtlichen Traumata und frühkindlichen Belastungen, die auch durch problematische oder kontroverse Bindungserfahrungen entstehen, sind schon länger bekannt, allerdings nur selten offensichtlich, da zu solch frühen Erlebnissen schließlich auch ohne dissoziative Amnesie oft die bewussten Erinnerungen fehlen. Solche Erfahrungen manifestieren sich im Erwachsenenalter aber nicht unbedingt in Traumafolgestörungen, sondern sind oft auch Ursache von anderen psychischen oder körperlichen Krankheiten wie allgemeine Immunschwächen. Somit können auch Vernachlässigung oder Beziehungsabbrüche, besonders von wichtigen Bindungspersonen im Kindesalter, welche nicht direkt lebensbedrohlich sind, durch die entstehende Todesangst traumatisch werden. Als deutliches Beispiel das Bild eines Säuglings, welcher vor Angst/Unruhe oder Hunger schreit und nicht erhört wird, wodurch eine lebensgefährliche Situation für das Wesen entsteht, denn ein Säugling hat keine andere Möglichkeit, sich Hilfe zu holen, Nahrung zu erlangen, und auch keine Fähigkeiten, um sich selbst zu beruhigen, Zustände allein zu regulieren. Wenn in dieser Stresssituation keine Beruhigung oder Befriedigung des Bedürfnisses erfolgt, ist der Säugling der Situation ausgeliefert und kann sie lediglich überstehen (oder auch nicht, s. unten), denn er hat keine andere Chance, um den Stress zu bewältigen. Genauso kann Vernachlässigung durch Menschen, die eigentlich die Verantwortung für ein Kind tragen und in anderen Momenten doch Zuneigung zeigen, das Verständnis und die Bewältigungsmöglichkeiten überschreiten.

„Ein Trauma ist ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, welches mit dem Gefühl von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“ (Fischer und Riedesser)

Das ist nun ein bisschen verrückt von unserer Alltagssprache, beschreibt aber den grundlegenden Faktor des schutzlosen Ausgeliefertseins und die Todesangst, um die es beim Trauma geht, da unser Verstand und Rationalität einfach nichts mehr zu melden haben. Das „Diskrepanzerlebnis“ besagt, dass wir keine Möglichkeiten mehr haben, die Gefahr im Säugetier-Modus bewältigen zu können.

Was mich immer wieder verunsichert hat, ist diese „Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis“. Fast überall, wo Traumata besprochen oder beschrieben werden, wird diese „Erschütterung“ genannt. Das verunsicherte mich, weil ich nicht erschüttert war. Ich kann mich an kein Ereignis erinnern, dass zu einer Erschütterung von meinem Selbst- oder Weltbild geführt hat, und ich glaube, dass das nicht nur an den Amnesien liegt. Es ist vielmehr so, dass, wenn wir chronisch (und früh) traumatische Erfahrungen machen müssen, sich unser Selbst- und Weltverständnis an diese Erschütterungen anpasst, damit wir die wiederkehrende Gefahr überstehen können und nicht jedes Mal wieder erschüttert werden. Das bedeutet, dass das, was andere erschüttert, unsere Richtigkeit, unsere Realität wird, die in sich dann wieder logisch ist. Auch die Frage von therapeutischer Seite, ob „ich“ noch wüsste, wie es vorher war (damals wusste noch niemand, dass sehr viel mehr Lücken in unserer Biografie sind), konnte ich nicht beantworten. Es gibt kein Vorher und kein Nachher, wenn da für manche nichts war und dieses Selbst- und Weltverständnis schon immer so besteht, denn da, wo ich angefangen habe, haben wir schon so funktioniert. Das, was mein Selbst- und Weltbild erschüttert, ist die Therapie. Denn sie greift genau dieses Schema an, in dem all die Gewalt richtig ist.

Ähnlich verunsichernd wie die „Erschütterung“ war es mit der Fachbeschreibung von Flashbacks. Dies sei „ein filmhaftes Wiedererleben traumatischer Situationen“ oder ähnliches. Hatte ich aber nie. Das war für mich auch der Beweis, nicht traumatisiert sein zu können, weil Flashbacks anfangs für mich lediglich körperlich auftraten; es waren nur Schmerzen und Übelkeit, später auch Gerüche und Geräusche, aber das war ja alles echt für mich. Ich konnte all das nicht als Flashback einordnen (noch heute sind bestimmte Empfindungen eine große Herausforderung oder es ist mir in manchen Situationen auch gar nicht möglich zu differenzieren, ob etwas tatsächlich Hier-und-Jetzt einen Reizauslöser hat oder „alt“ ist), weil ich dachte, „echte“ Flashbacks sind so hundertprozentig mit Allem zurück, und Bildern und Szenen und all so was. Ist halt nicht unbedingt so. Und es ist auch kein Wieder, wenn es doch für uns neu ist. Inzwischen gibt es Bilder, aber das sind mehr Schnipsel, keine Szenen. Mal sind bestimmte Schmerzen da, ein anderes Mal ein Geruch, ob oder was und wie das zusammengehört, müssen wir noch herausfinden. Aber das scheinbare Fehlen von so „richtig echten“ Flaschbacks war eine von mehreren Theorien, die ich ordentlich ausarbeitete, um zu „beweisen“, dass das mit dem Trauma eigentlich nicht sein kann. Unsere Therapeutin hat meist einige Belege widerlegt. Aber ja, Vermeidung und Verleugnung können sehr zeit- und energieaufwändige Beschäftigungen sein. In der Therapie wird unsere Schuld, ebenso wie die Selbstzerstörung, infrage gestellt, jedoch nicht, ohne ihre Wichtigkeit zu Zeiten der Gewalt anzuerkennen. Die Scham wird eingeladen, ausgehalten und ihre Überzeugungen hinterfragt, unsere Daseinsberechtigung und unser Wert als Mensch wird einfach so als Fakt dargestellt. Das ist Erschütterung! Immer wieder. Denn was über lange Zeit und Wiederholung ausgebildet, gelernt oder auch antrainiert wurde, braucht auch Zeit und Wiederholung, um umgelernt zu werden.

1.2 Unser Nervensystem im Trauma

Die erste Gefahren-Abwehr-Stufe, die bei Bedrohung betreten wird, ist fightflight (kämpfen oder flüchten), für das wir alle ausgelegt sind. Das ist ein aktives Tun, welches aber ohne Überlegung, sondern automatisiert im Bruchteil einer Sekunde von sich geht und uns aus einer Situation retten kann. Allerdings können wir, wenn wir zwar aus Geschwindigkeitsersparnis die Rationalität umgehen, auch umgekehrt nicht überlegt handeln, sondern nur impulsiv. Dabei stellt unser Körper uns für den Überlebenskampf oder eben die Flucht eine enorme Energie zur Verfügung. Dann kann es sein, dass z. B. ein Unfall, dessen Folgen ein Mensch durch die „Alarm-Energie“ und reflexartiges Handeln verhindern kann, immer noch sehr belastend ist, aber da daraus gelernt wurde, wie und vor allem dass solch eine Situation gut überstanden werden kann, schenkt das Gehirn sogar ein Hochgefühl durch körpereigene Glücksgefühle. Essentiell ist hierbei, dass diese Reaktion stattfinden konnte und der Körper die restliche Energie wieder „runter fahren“ darf, nachdem er sie sinnvoll gebraucht hat. Dass also nicht im Alarmzustand haften geblieben wird. Wenn wir aber mit aktivem Tun nichts ändern können, wir also hilflos sind, um dem Tod zu entgehen, dann kommt es zu dem weiteren Überlebensreflex bzw. dem nächsten Mechanismus in der Überlebens-Kettenreaktion: Freeze and Fragment (einfrieren und fragmentieren): Wir erstarren im Schockzustand, sind handlungsunfähig und gelähmt, wobei wir innerlich zunächst noch in einem sehr hohen Erregungszustand sind, da alle Energie für einen möglichen Kampf oder die Flucht bereits bereitgestellt wurde. Wir sind also wie erfroren, meist auch tatsächlich kalt, atmen sehr flach, aber schnell, sind innerlich für alles bereit. Die durch die Todesangst übermäßig produzierten Stresshormone blockieren die normale Integration dessen, was wir wahrnehmen. Wir sind also nicht bei vollem Bewusstsein, wenn wir Bewusstsein als integrativen Prozess betrachten. Die Informationen, die sonst eine beschreibbare Erinnerung bilden, zerbrechen in Einzelteile und bleiben ohne Beschriftung im limbischen System als akute Empfindung hängen, weil, vereinfacht geschrieben, der Austausch zwischen Amygdala und Hippocampus blockiert ist. So erreichen die einzelnen Wahrnehmungsaspekte keine passenden Orte in der Großhirnrinde, wo sie als Erinnerung erkennbar wären. Wenn die Bedrohung weiter da ist, schaltet sich der Parasympathikus zunehmend ein und wir fallen gänzlich in die Selbstaufgabe und Unterwerfung – submit. Wir werden unfähig, uns zu bewegen, weil die Angst uns lähmt, wobei manche ohnmächtig werden. Es gibt diesen Punkt, da schaltet der Körper ab. Dann ist alles tot. Dann ist da nur noch Kälte. Sonst nichts. Ich kann nichts mehr spüren, aber auch nichts bewegen. Abgesehen vom Ausgeliefertsein, durch die Lähmung, ist es aber kein schlimmer Zustand. Dieses Erleben ist für mich etwas, das in der standardisierten Aufreihung von „fight-flight-freeze“ vergessen wird. Darum schreiben wir auch immer von fight-flight-freeze-submit (siehe Grafik unten). Weil es etwas gibt, dass viel kälter ist, als das freeze. Es mag von außen sehr ähnlich aussehen; wir sind unbewegt und eher kalt und ggf. mit starrendem Blick. Aber das Erleben ist ein gänzlich anderes. Im freeze ist noch Todesangst da. Da ist es noch schrecklich angespannt und das Nervensystem in der Bereitschaft in flight umzuschalten, falls möglich. Das ist ein extrem leidvolles Erleben der Todesangst. Die Lähmung „danach“, ist nicht leidvoll. Es ist der vermutlich traurigste Zustand, den ich kenne, aber nicht im Moment selbst, sondern nur, wenn ich ihn danach beschreibe. Traurig, weil hier alles schon aufgegeben ist. Auch die letzte Hoffnung auf Bindung zur Welt, zum Leben, zu uns selbst, ist vergangen. Dieser Zustand ist total okay, denn wenn wir dann sterben, dann ist es wenigstens vorbei. Dann hört der Schmerz auf. Dann geht die Kälte weg. Dann ist es endlich vorbei. Der Tod ist in seinem Kommen akzeptiert, mit jedem Ausatmen ist es mehr okay, dass wir gerade Sterben. Danach ist es schlimm. Es ist ertränkend traurig. Es ist wie richtiges Trauern, um das Sterben. Ich bin mir noch nicht sicher, ob Trauern um das, was verstorben ist/scheint oder darum, dass das Sterben aufhörte und wir zurück auf die Erde gekracht sind. Traurig ist es auf jeden Fall. Aber in diesen relativ ganzheitlichen Lähmungszuständen ist der Angst-Terror nicht da. Leider ist dieses „Ja, es ist ok jetzt zu sterben.“ nicht kognitiv durch Mantras willentlich herzustellen. Also für mich zumindest nicht. Wenn, dann kommt das vom Körper bzw. von ganz tief innen.

Die sogenannte tonische Immobilität, also eine Unfähigkeit, sich zu bewegen, wirkt nicht unbedingt traumatisch. Sie begründet das Trauma aber, wenn sie mit Angst und Hilflosigkeit oder Bedrohung verknüpft ist. So ist auch die Lähmung an sich nicht traumatisierend, da sie aber mit der Todesangst verbunden ist, bleiben wir in dem Wissen, dass wir Angst nicht überleben können. Und schon das Herzrasen lässt uns später instinktiv dissoziieren, weil das die Technik ist, mit der wir es doch überlebt haben. Dissoziation ist ein Phänomen, welches vitale Funktionen hat, auch wenn es später nicht mehr so scheint, doch würde es ohne diese Wichtigkeit nicht biologisch garantiert werden.

Ein Trauma ist also nicht einfach etwas Schlimmes, was uns zustößt, oder eine chronische Abfolge von schrecklichen Erlebnissen. Es ist etwas, das grundlegend unsere neuronalen und biologischen Abläufe in Stresssituationen und körperlichen Empfindungen bzw. deren Verarbeitungsprozesse und Erinnerungsspeicherung beeinflusst und verändert. Von außen kann nicht entschieden werden, ob etwas traumatisch ist oder nicht, jedoch findet der Begriff alltäglich veränderte Verwendung, weil jeder Schrecken und aller Stress als Trauma bezeichnet wird. Auch nicht all das, was traumatisch wirkt, ist unbedingt traumatisierend, weil es ggf. abgefangen werden kann, weil es danach kein „allein bleiben“ gibt oder weil es zwar zu Bedrohung und Angst, aber nicht zu Todesangst kommt. So vermittelt die inflationäre Verwendung des Begriffs ein falsches Bild, weil dadurch Dinge kleingeredet bzw. fehlerhaft verglichen werden. Ob Trauma oder nicht, Leid lässt sich nicht objektiv vergleichen. Ohnehin ist jedes Trauma individuell, auch wenn Verletzungen verschiedener Menschen in derselben Situation entstanden. Chronische Traumatisierungen in der Kindheit formen die Ent- oder auch Ver-wicklung unseres Gehirns. Gedanken, Gefühle, Verhalten, Empfindungen, Wahrnehmungen werden nicht verknüpft gespeichert, Informationen anders organisiert. Die Traumata malten verzerrte Weltbilder und wir haben viele verschiedene davon auf einmal in uns, weil wir, als einzelne „Anteile“, voneinander getrennt und jede_r für sich, uns an unser jeweiliges Weltverständnis anpassten. So zerstört oder verhindert es auch unser Selbstbewusstsein, im wörtlichen Sinn, denn es gibt lange kein Bewusstsein darüber, wer wir sein könnten. Es wird gesagt, dass Zeit für alle Wunden Heilung bringt. Doch Traumata sind Verwundungen, die die Zeit von allein nicht heilt.

Wir glauben, Nichts zu sein. Die tote Kälte lebt in uns, weil wir nicht (von allein) in einen Normalzustand kommen und uns innerlich verstorben scheinen.

Nichts – und wenn doch etwas, dann schwach und erbärmlich, denn als es um unser Überleben ging, konnten wir uns kein Stückchen bewegen, kein kleines bisschen, es war uns nicht möglich, weil wir von der Angst gelähmt waren. Wir müssen also mit einer Grundstabilität an dieses Gefühl der Lähmung ganz langsam, Schritt für Schritt herantreten, um nicht von den verknüpften Gefühlen überfordert zu werden und zu dissoziieren. Deshalb funktioniert auch das: „Mach das doch einfach“ oder „Jetzt stell dich nicht so an“ nicht. Wir stellen uns nicht einfach an, und zu schnelle oder heftige, besonders unerwartete Konfrontationen führen, wenn wir nicht bereit sind, zur erprobten Dissoziation oder zu einer Retraumatisierung. Das Tempo ist nicht von außen zu steuern. Leider, denn es braucht so unfassbar viel Ausdauer, „all das“ langsam, stückweise auszubuddeln, aber anders wäre es nur wieder überwältigend. Zum Glück, denn es soll ja um das Erfahren eigener Handlungsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit gehen.

„Boah, bist du ein Tier.“ – Diese Aussage kann wohl bedeuten, dass eine sportliche Leistung erbracht wurde. So sagen manche Menschen statt: „Hast du aber eine Ausdauer“, oder: „Du bist ja richtig stark“, eben: „Boah, bist du ein Tier.“

Und das sind wir alle. Ein bisschen zumindest. Oder ziemlich sogar (wenn wir all die schönen entwicklungsgeschichtlich neuen Hirnareale mal weglassen). Unser peripheres Nervensystem ist nämlich sehr tierisch. So auch zentral der Hirnstamm (in der Psychotraumatologie oft als Reptilien-Hirn bezeichnet), etwas in dem Organ, weswegen wir glauben, so ganz anders, „die Krone der Schöpfung“ zu sein. (Ich glaub ja nicht, dass wir damit zu krönen sind.) Menschen haben sich nur so weit von instinktiven Wurzeln entfernt, dass sie diese nicht nur nicht spüren, sondern oft sogar verleugnen. Aber wir sind nun mal Säugetiere.

Unser Nervensystem wird einerseits nach Form und Struktur gegliedert: Es gibt das zentrale Nervensystem; Gehirn und Rückenmark. Und das periphere Nervensystem, das ist quasi der ganze Rest, alles was sonst an Nerven im ganzen Körper verteilt ist und uns glücklicherweise „nervt“.

Funktionell wird es ebenfalls in zwei große Kategorien unterteilt: einerseits das somatisch/animalisch/willkürliche Nervensystem, für, wie der Name verrät, willkürliche Muskelkontraktionen oder bewusstes Wahrnehmen, und das autonome/vegetative/unwillkürliche Nervensystem, welches wir nicht willentlich bzw. nur indirekt beeinflussen können.

Letzteres wird wiederum in drei Bereiche unterschieden, von denen uns hier zwei besonders interessieren: das sympathische und das parasympathische Nervensystem. Der Sympathikus ist der aktivierende Teil, der Parasympathikus hemmend. Jeweils geht es ohne das andere nicht. Aktivierung ohne Bremse ist nicht lange funktionell und Bremse ohne Aktivierung ist wenig lebendig. Der Begriff Autonomes Nervensystem, geprägt vom britischen Physiologen J. Langley, hat schon Sinn. Wir können nämlich nicht mitentscheiden, ob unser Sympathikus die reaktive fight-flight-Energie aufbringt oder nicht. Das ist auch ganz gut so, weil wir im Falle des Falles dafür zu viel Zeit bräuchten. Gefahr bedeutet physiologische Reaktion und unüberlegtes Kampf- oder Fluchtverhalten.

Der größte Nerv des Parasympathikus ist auch noch einmal aufgeteilt. (Damit sind wir hier jetzt auf der letzten Differenzierungs-Stufe angelangt.) Das ist der Vagusnerv. Er ist der einzige der zwölf Hirnnerven, die zumeist dem Hirnstamm entspringen, welcher über den Hals hinaus in die inneren Organe des Körpers verläuft und in seiner Größe mit der Wirbelsäule zu vergleichen ist. Ist also ein sehr großes, ziemlich bedeutendes Ding. Charles Darwin hat schon Ende des 19. Jahrhunderts, lange vor der Zeit der psychosomatischen Medizin, die wechselwirkende Verbindung vom Körper zum Gehirn erkannt. Er schrieb vom heutigen Vagus als „pneumo-gastric nerve“. Der Vagus besteht aus dem ventralen (vorderen) Vagus System, das sind Fasern des Nervs mit einer Biomembran als Sensibilitäts- und Beschleunigungs-Isolierung, und dem dorsalen (hinteren) Vagusnerv, welcher primitiver ist und ohne Markscheide. Das Dorosal Vagal System besaßen schon primitive knochenlose Fischen vor 500 Millionen Jahren. Es sorgt laut Stephen Porges für den „shutdown“, für Immobilität in der Unterwerfung, für Dissoziation. Nach Porges’ Aufarbeitung reagieren Menschen bei Angst auf Bedrohung zunächst mit einer hochentwickelteren Säugetier-Taktik. Wir nutzten das Ventral Vagal System, welches für soziale Einbeziehung und die Kommunikation von Emotionen (viel über Mimik) zuständig ist. Dieser Teil des Nervs ist relativ neu (ca. 80 Millionen Jahre alt) und kommt nur in Säugetieren vor. Wir suchen mit dem Social engagement system (SES) des Ventral Vagal Systems nach Kontakt und Schutz oder Besänftigung durch andere. Was auch erklärt, warum schon die Präsenz eines wohlwollenden Mitmenschens und Erdung durch akustische oder taktile Signale das Alarmsystem herunterfahren und in einen ruhigeren Zustand bringen kann. Wenn das nicht klappt oder niemand da ist, der Schutz bieten kann, schaltet sich der Sympathikus ein. Der Sympathikus stellt die Kampf- oder Fluchtenergie in unseren Gliedern bereit. Sind wir ernsthaft bedroht, brauchen wir alle Kraft, die möglich ist, um kämpfen oder fliehen zu können. Wenn auch das unmöglich ist, frieren wir ein, denn tote Beute ist für die meisten Raubtiere uninteressant. Doch zunächst sind wir innerlich hocherregt, im potentiellen Flutchtmodus. Wir sind zwar unbeweglich, aber auf der Suche nach Möglichkeiten, der Situation zu entkommen, und somit extrem wachsam. Wenn wir wirklich oder jedenfalls für unsere Wahrnehmung keine Möglichkeit mehr zur Flucht haben und die Todesangst weiter besteht, wird das Dorsal Vagal System ausgelöst. Dieses wird ausschließlich bei Todesangst aktiviert. Wir verlieren alle Energie, unser Organismus schaltet auf stand-by, oder, im schlimmsten Fall, ganz aus; Es gibt das Phänomen des Voodoo-Todes. Hier führt die Todesangst zum Tod, obwohl keine lebensbedrohlichen Verletzungen vorliegen, weil der primitive Teil des Vagusnervs den Organismus bis zum Herzstillstand und oder Atemdepression herunterfährt. Bei Tieren wurde dies beobachtet und aufgezeichnet, von erwachsenen Menschen ist es selten beschrieben, aber nicht unbekannt, bei Säuglingen im Bezug auf Vernachlässigung wurde es aufgewiesen; sie können neben dem „klassischen“ Freeze-Voodoo-Tod auch durch fehlende Pflege, Fürsorge und Bindung „verhungern“, da sie noch nicht in der Lage sind, ihre physiologischen Sub-Systeme zu koordinieren, Affekte selbst zu regulieren.

Wir tragen die Überlebens-Kettenreaktion in uns, weil Traumata an sich vorkommen, weil lebensbedrohliche Situationen und Todesangst in unserer gesamten Evolution vorkamen und logischerweise von einem Leben mit Tod am Ende nicht wegzudenken sind. Wir brauchen diese Funktion, um zu überleben. Es ist total genial, dass sich unser Organismus so schützen kann vor Situationen, die wir nicht überleben würden, wenn wir unsere neuen komplexen Hirnareale dafür benützten. Es sollte allerdings keine Dauerlösung sein. Denn auch wenn Lebensgefahr zum Leben dazugehört, so ist chronisch traumatisierende Gewalt nichts, was einfach so zum Leben dazugehören sollte. Überlebens-Mechanismen sind nicht dafür ausgelegt chronisch genutzt zu werden. Denn dann sitzen wir in der Therapie und bemerken, dass wir unserem Hirn 420 Millionen Jahre Evolutionsnachhilfe geben müssen (500 Mio. minus 80 Mio.), weil wir mit dissoziativen Störungen im primitiven Fischstatus festhängen, weil wir dauerhaft abspalten.

Es fühlt sich zumindest manchmal nach so viel Arbeit an. 420 Millionen Jahre.

Wenn wir z. B. zu Beginn der Stunde in der Psychotherapie-Praxis umkippen, weil das Nervensystem sagt: Anders kommen wir hier nicht raus. Wobei die Gefahr nur ein Trigger war und das Umkippen keine den Umständen angepasste Taktik ist, um sich einer Gefahrensituation zu entziehen. Wir brauchen also Nachhilfe und müssen mit vielem tatsächlich von vorne anfangen. Wir brauchen das Erregungsniveau unseres Nervensystems in einem funktionellen Mittelfeld, denn nur dann kann unser Gehirn Orientierung und Integration koordinieren. Funktionelles Mittelfeld heißt, dass wir nicht in lähmender Todesangst und Untererregung feststecken und uns auch in keiner impulsiven Übererregung befinden. Erst dann können wir den neueren Teil des Vagus aktivieren und damit irgendwann die Abkapselung verändern und uns als Teil dieser Welt empfinden. Weil wir erst dann sozialen Kontakt herstellen können, ohne von der Scham isoliert und der Erfrierung abgehalten zu werden.

Etwa 80 Prozent der Fasern des Vagus, die Körper und Gehirn verbinden, sind sensorisch, also vom Körper zum Hirn kommunizierend. Die anderen 20 Prozent motorisch und kommunizieren vom Hirn zum Körper. Im Verhältnis 8:2 steht also, was der Vagus dem Hirn vom Körper erzählt, was er so empfindet, zu dem, was er dem Körper vom Gehirn erzählt, was der machen soll. Jetzt sag mir eine_r: „Das ist nur in deinem Kopf.“ Nein. Traumatisierungen sind sehr körperlich verankert. Auch all das, was unser Kopf abspalten konnte. Das erklärt, warum Traumata nicht ausschließlich mittels „Drüber-reden“ oder kognitiver Analyse zu „heilen“ sind, weil wir nichts analysieren können, wofür wir keine Worte oder Gedanken haben. Wir müssen grundlegend lernen, Empfindungen wahrzunehmen, diese auszuhalten und unserem Körper zuzuhören. Unser Kopf herrscht nicht über unseren Körper, vielmehr forschen und untersuchen unsere Gedanken unsere Empfindungen, sind somit oft ihre unbewussten Folgen, nicht Auslöser.

Der primitive Teil des Vagusnervs stellt auch eine kommunikative Verbindung zwischen den meisten unserer inneren Organe und dem Gehirn dar. Wir erleben Gefahr somit nicht nur von außen; Lähmungen, Übelkeit, Anspannung, Schmerzen können auch von innen Angst auslösen. Angespannte, rennbereite Beine und eine harte Mimik können dem Hirn z. B. Fluchtbereitschaft signalisieren, wodurch wir dann denken, dass es auch eine externe Gefahr geben muss. Prinzipiell ist der Fakt, dass unser Körper schneller auf Bedrohung reagiert als unser Kopf, natürlich sinnvoll. Um Reize richtig wahrnehmen zu können und zu sortieren und an ihren richtigen Speicherplatz zu verwiesen, ist in akuter Gefahr einfach keine Zeit. Es ist also eigentlich ziemlich gut, dass wir völlig „hirnlos“ (bzw. nach Anweisungen des Hirnstamms) reagieren können. Und wie Anspannung Gefahr signalisieren kann, genauso können entspannte Muskeln und tiefe Bauchatmung Sicherheit oder gar Wohlbehagen ans Hirn melden. Leider funktioniert das selten sofort, weil bestimmte Anteile ja genau dafür ausgebildet sind und diese Automatismen nicht einfach verschwinden, nur weil irgendwer sagt, dass die Gefahr vorbei ist. Wir müssen das üben und trainieren und üben und trainieren und dann noch ein bisschen üben, weil unser Gehirn nun mal dazugelernt hat und uns nicht einfach glaubt, sondern Erfahrungen braucht, um sich um-vernetzen zu können. Tatsächlich bilden sich Nervenfortsätze und Verbindungen aus, wodurch Kurzschluss-Lösungen neuroanatomisch stärker vertreten sind. Erdung bedeutet dann auch keine Heilung, aber sie führt dazu, Schritte dahin zu ermöglichen. Da durch den chronischen Überschuss an Stresshormonen die Aktivität des Hippocampus gehemmt wird, bauen sich dort auf Dauer Neuronen ab. Allerdings kann er auch wieder wachsen, wenn der chronische Stress weniger geworden ist. Wir wissen inzwischen, dass auch im Gehirn Nervenzellen nachwachsen und der hippocampale Neuronenwachstum ist am breitesten nachgewiesen. Außerdem können bestimmte Synapsen im Hippocampus bereits durch das Erkunden von fremden Orten verstärkt werden. Das bedeutet, der Mut, Neues zu wagen oder/und zu reisen, ist, neben anderen Ebenen, auch für unsere neuronale Regeneration unterstützend.

1.3 Okay. – Und jetzt?

Wir sind uns selbst das fremdeste Wesen, welches ich mir nur vorstellen konnte/kann. Ganz einfach, weil ich mir über „das Selbst“ nicht im Geringsten bewusst sein konnte und das, was jetzt stückchenweise ins Bewusstsein tröpfelt, alles andere als einfach annehmbar, bekannt oder vertraut ist. Der Körper gehört(e) nicht zu uns. Aber alles ist fremd, wenn wir uns selbst nicht kennen, weil wir dann gar nicht wissen, was uns eigentlich bekannt ist. Manche Art der Musterbildung und Koppelungen ist von Persönlichkeitssystemen auf äußere Systeme übertragbar, so wie manche Netzwerkeigenschaften des Gehirns auf soziale Netzwerke übertragbar sind: Wenn wir unsere eigene Unsicherheit annehmen können, unsere (zumindest großen, stark beeinflussenden) Themen kennen, dann können wir dem Unwissen mit Zutrauen begegnen. Dann können wir uns dem, was möglich ist, zutrauen, weil wir wissen, dass Handlungsspielräume unmöglich vor ihrer Entfaltung und Entdeckung zu bemessen sind. Nur wenn wir uns selbst als subjektives, mit Würde geborenes Wesen anerkennen (das ist ein ganz sachlicher Fakt), dann können wir anderen auch so begegnen.

Wenn wir uns im Mitgefühl üben, dann geht uns alles Leid etwas an, dann gibt es kein Leben, welches weniger wert ist als ein anderes. Dann müssen wir nicht kategorisieren und uns gegenseitig Etiketten aufdrucken, weil wir einfach zusammenlebende Wesen sein können. Und wenn du dich als Mensch siehst (wir müssen das noch üben, aber die Intention ist da), dann werden Fremde auf einmal auch nur noch Menschen. Auch nur welche mit einem Hirnstamm und Krone außen herum. Auch nur welche, die Grundbedürfnisse haben und sich, als Rudeltiere, nach Gemeinschaft in irgendeiner Art und Weise sehnen. Wenn wir Integration zulassen und unterstützen, dann bemerken wir, dass die Todesgrenzen und nicht „die Fremden“ das Problem sind. Wenn wir respektvolle Toleranz und würdevolles Begegnen wirklich ernst nehmen, wird deutlich, dass die Abspaltung und der auf konditionierte oder vorgegebene Haltungen basierende Hass das Problem ist, nicht die Existenz von Unterschieden. Wenn es um Leben und Tod geht und weder Kampf noch Flucht möglich ist, sind wir alle nur primitive knochenlose Fische ohne irgendeinen schützenden Sonderstatus. Ja, mit ein bisschen limbischem System und Cortex außen herum, aber die sind in dem Moment zweitrangig.

Konkrete Zusammenhänge und Mechanismen bzw. die genauen molekularen Wege der Epigenetik und deren Einfluss auf psychische Krankheiten sind noch nicht ausreichend belegt, da die Krankheiten zu komplex und die Forschung in diesem Bereich zu jung ist, jedoch gibt es im Kleinen Fortschritte und Erkenntnisse, auch wenn noch viele Unsicherheiten, Fragezeichen und Streitpunkte, auch das Folgende betreffend, bestehen.

Frühe und heftige Umwelteinflüsse können zu epigenetischen Veränderungen führen, unsere Stressreaktionen werden geprägt. Grenzverletzungen in der Kindheit können ein Gen hemmen, seine Aktivität herabsetzen, das für die Produktion eines Faktors verantwortlich ist, welcher hilft, Cortisol zu neutralisieren. Umgekehrt bedeutet dies, dass genetische Dispositionen kein unumkehrbares Schicksal sind, weil die Gene für psychische Erkrankungen, mal sehr gewichtig, mal weniger, jedoch immer nur ein Faktor sind. So sind im Gegensatz zur Erbinformation selbst deren epigenetische Prozesse, dadurch Aktivierung bzw. Ablesbarkeit mit Dynamik verbunden, also beeinfluss- und veränderbar. Wohl ist eine Gravur der Epigenome nie wieder so gut/leicht zu setzten wie während der Schwangerschaft, in den ersten drei Lebensjahren und teilweise auch noch mal im Umbaualter der Pubertät, trotzdem ist unser Organismus nicht statisch, da ist immer Bewegung, Lernen, Regeneration, Evolution. Doch auch wenn vieles davon immer und ganz ohne unser Wissen stattfindet, ist große Bewegung, entfaltende Entwicklung, horizontweitendes Lernen und heilsame Flexibilität nichts, was einfach so von allein passiert. Das mag uns (emotional) sehr fern scheinen, doch ist es für uns – und hoffentlich für viele – auch hoffnungsvoll, denn es bedeutet, dass vieles möglich ist. Es bedeutet, dass wir, wohl nicht grenzenlos und einiges betreffend bestimmten, schwer einschränkenden Erfahrungen leider unterlegen, aber in vielen Bereichen mehr Möglichkeiten zur Entwicklung haben, als wir vielleicht glauben können. Manche Gegebenheiten, primär früh und oder heftig prägende Erfahrungen, setzten hier eben leider Grenzen, weil frühe, tiefe Spuren nicht zu löschen sind. Immer schwieriger wird es bei chronischen und gezielt gesetzten Prägungen, aber was innerhalb der Grenzen möglich ist, ist meist mehr, als wir es wagen würden, uns vorzustellen. Und wenn wir uns trauen (wollen/können), diese Grenzen kennenzulernen, dann können wir auch unseren Möglichkeitsraum entdecken und uns in darin ein Leben wachsen lassen. Wir brauchen Menschen, die uns ermutigen (nicht überreden!), neue Erfahrungen zu machen, und uns offen einladen, Begeisterung und Interesse zu entwickeln, denn dann können neuroplastische Botenstoffe für eine nachhaltigere Koppelung und dadurch Verinnerlichung des Neu-gelernten sorgen. Ich glaube, dass bei den meisten psychischen und oder auch neurologischen Krankheiten, ebenso wie bei Ausgrenzung, Diskriminierung und anderer Gewalt, das Wissen um Neurodiversität und -plastizität sehr hilfreich ist, um sich davon wegbewegen oder andere Lösungen finden zu können. Sich dessen gewahr zu sein, dass andere anders wahrnehmen und anders von der Umwelt beeinflusst werden, hilft manchmal, Unverständnis und impulsive Abwertung zu hinterfragen oder ganz ruhen zu lassen. Bei psychischen Krankheiten kommt es zu Störungen bestimmter Kommunikationssysteme und oft auch dadurch zu einer Hemmung der Neuroplastizität, bzw. ist es so, dass funktionelle Verbindungen weniger oder instabiler modulübergreifend vernetzt sind, natürlich in verschiedenen Bereichen bzw. verschiedene Kommunikationswege schwerer oder geringer betreffend. Das Wachstum neuer Nervenzellen, das im Gehirn ständig passiert, sowie das Entstehen neuer Synapsen und eine Veränderung der Myelin-Beschleunigungs-Isolierung sind neuronale Regeneration. Und damit auch psychobiologisch heilsam, weil z. B. neue Wege der Stressbewältigung erlernt/angewandt, schneller (auch langfristig adaptive) Lösungen gefunden und Zufriedenheit und Aufmerksamkeit gesteigert werden können. Ferner ist unser Neurotransmitter-Haushalt mehr im Gleichgewicht, wodurch wiederum die Hemmungen der Plastizität sinken. Wenn wir das wirklich wollen und es eben innerhalb unserer Möglichkeits-Grenzen liegt, können wir die Plastizität unseres Gehirns aktiv nutzen, um festgefahrenen Muster verändern (oder schädigend konditionierte zumindest hemmen) und – im Rahmen mancher Gegebenheiten – Krankheiten1 mildern oder heilen zu können. Alles, was neuronale Plastizität stimuliert, macht flexibel, ist heilsam.

1 Gemeint ist bspw. die akute PTBS-Symptomatik oder eine Komorbidität bzw. Erkrankungen im Allgemeinen, nicht Traumatisierungen und unsere dissoziative Identitätsstruktur als solche.

2Differentialdiagnosen

Eine Frau erzählte mir, sie habe etwas an ihrem Fahrrad kaputt gemacht. Beim Putzen. Seit dem klickere es. Im Tretlager. Da stimme etwas ganz und gar nicht. So könne sie damit nicht fahren. Es fühle sich unsicher an. Da sei irgendwie was lose. Ich sagte ihr, dass ich leider keine passende Nuss als Kurbelabzieher hätte und auch kein Tretlagerschlüssel.

Hoffnungslos.

Sie musste es wohl in eine Werkstatt bringen, die das richten würden.

Aber sie hatte Glück, denn ich erklärte mich bereit, es mir vorher nochmals anzuschauen. Vielleicht gab es ja eine andere Erklärung für das Problem. Ein solches Geräusch kann auch andere Ursachen haben. Vielleicht. Vielleicht wären dann nämlich andere Lösungswege möglich. Vielleicht.

Es war nicht das Tretlager. Und es war genau genommen auch kein Klickern, sondern ein Streifen. Es streifte unregelmäßig und darum schien es wie ein Klickern. Da war nichts lose. Da war was fest. Da war was fest, was nicht fest sein sollte. Es war Dreck zwischen ihrer Scheibenbremse und den Bremsbelägen, zudem lief die Scheibe nicht parallel durch. Ich baute das Vorderrad aus, nahm die Bremsbeläge raus, machte weg, was nicht da sein sollte, baute es wieder ein und stellte den Bremssattel richtig ein. Kein Klickern mehr.

War doch nicht hoffnungslos.

Uns ist etwas Ähnliches passiert. Uns wurde gesagt, dass etwas ziemlich kaputt sei. Da stimme was nicht. So könnten wir auf jeden Fall nicht rumlaufen. „’ne Schraube locker.“ Zu uns sagten sie: schizophren. Es sei sehr unsicher und kritisch. Sie sähen keine Möglichkeit, uns zu helfen.

Hoffnungslos.

Wir müssten wohl in eine andere Klinik, die das dann richten würden.

Aber wir hatten dort kein Glück. Niemand war bereit, sich das noch mal anzuschauen. Schade, denn die Symptome konnten auch für etwas anderes sprechen. Wir bekamen Medikamente zum Stilllegen einer akuten Psychose. Wir lagen auf einem Bett mit Fixiergurten. Natürlich nur zu unserer Sicherheit. Erniedrigung und Ausgeliefertsein, das kannten einige ja schon. Wir wurden für unzurechnungsfähig erklärt. Die wenigen Worte, die noch gesprochen werden konnten, lächelnd abgenickt. Zudem wirkte ich meist auch noch antriebslos und depressiv. Seltsam eigentlich bei solch hemmenden Medikamenten, wenn ich davon irgendwie „hier gehalten“ wurde. Vielleicht hätte es eine andere Erklärung gegeben. Vielleicht war das Problem gar nicht das Problem. Vielleicht war das Problem ein Zeichen von Prozess. Vielleicht wären andere Lösungswege möglich gewesen.

Vielleicht.

Es war keine Schizophrenie. Und genau genommen war es sogar auch keine Psychose. Es war Dissoziation und Trauma. Und das ist manchmal komplex und scheint wie eine Psychose. Aber da ist nichts Psychotisches. Da ist was Traumatisches. Es sind amnestische Barrieren zwischen einigen von uns. Und da läuft nicht alles ganz parallel in der Spur.

Und auch wenn es mir oft so erscheint, es ist nicht hoffnungslos.

3Ein Einstieg zu uns

Wenn ich Dinge lese, um ein Grundwissen zu erlangen, um mich und unser Nervensystem besser kennenzulernen zu können, denke ich manchmal, ich habe es verstanden. Ich lese und denke darüber nach und schreibe die Ergebnisse sogar auf und bilde mir also wirklich ein, es verstanden zu haben. Aber zur Wissensaufnahme fähig, also kognitiv nicht völlig hängengeblieben zu sein, hat überhaupt nichts mit (geistiger und oder kognitiver) Flexibilität, also Anpassungsfähigkeit, im Bezug auf das eigene Leben zu tun. Wissen aneignen bedeutet nicht, Dinge begreifen zu können. Und um mich nachhaltig anders zu ver-halten, muss ich be-geifen, was ich da halte.

Es ist wie mit unserer Biografie. Irgendwie sind wir so durch die Jahre gekommen und dann blicken wir irgendwann zurück und fragen uns, wie es möglich war, so viel abzuspalten, ohne es zu bemerken. Wie es möglich war, so viel nicht zu verstehen, Dinge nicht zu sehen, zwischen den Welten verloren zu gehen, um sich ja nicht im Tempo der Erde zu drehen, damit wir unserer Realität nicht gegenüberstehen.

Ich versuche hier, einen Teil dieser Theorien zu beschreiben, weil Wissen doch Halt geben kann, was ich so vielen von uns wünsche. Trotzdem ist es nun mal so, dass sich Menschen nicht völlig in einer Theorie beschreiben lassen und Diagnosen, die die Persönlichkeitsstruktur betiteln, nur begrenzt etwas über ein Individuum aussagen. Grundlegend sind die Theorien gut, um manches nachvollziehen zu können, aber in weniger fachlich theoretischen Text(abschnitt)en wird deutlich, dass sich an der Theorie nur festhalten kann, wer nichts mit der Praxis zu tun hat.

3.1 Wofür Anteile?

Was manche Menschen zu der Annahme verleitet, dass alle Menschen ein bisschen multipel seinen, ist der Fakt, dass jegliche Persönlichkeit eine Zusammensetzung von verschiedenen psychobiologischen Sub-Systemen ist. Ohne dissoziative Störungsbilder ergeben diese eine ganze, kongruente (Ambivalenzen und Vielschichtigkeit impliziert!) Persönlichkeit und funktionieren fließend zusammen. Verschiedene Anteile machen es auch erst möglich, in verschiedenen Kontexten effektiv und angepasst zu handeln. Diese Anteile haben dann aber keinen eigenen Sinn von „Ich“ und sind integriert, es liegen keine neuronalen, strukturellen und funktionellen Separationen vor, sodass es ein Gefühl von Zusammengehörigkeit als eine ganze Person gibt. So oder so ähnlich, ich kann das nicht genau sagen, vermute aber, dass Menschen selten umherlaufen und denken: „Ja, ich bin eine normativ integrierte Persönlichkeit und fühle mich sehr wohlig ganz“, eben weil es so ein als selbstverständlich angenommenes Einheitsgrundgefühl gibt und dadurch vermutlich gar nicht darüber nachgedacht werden muss. Hier denken/handeln/fühlen alle Anteile in einem Namen, obwohl jeder Mensch natürlich Ambivalenzen in sich trägt, also Aktionssysteme mit verschiedenen Motiven und Motivationen. Meist wird umgangssprachlich von „Seiten“ gesprochen. So kann eine mehr integrierte Persönlichkeit abwägen und Prioritäten setzen, was wir (lange Zeit zumindest) nicht können, weil wir von den Zielen der anderen im Innen gar nichts wissen. Als integrations-typischer Mensch sind Anteile im Groben bekannt, auch wenn nicht alle gleich annehmbar sind oder sich eben nicht ständig mit ihnen befasst wird, sie also auch nicht immer unbedingt präsent oder klar zu benennen sind. Aber es ist anscheinend so, dass wenn in sich gespürt wird, sich verschiedene Perspektiven/Motivationen etc. bewusst erkunden lassen, um diese dann als Anteile zu beschreiben. Und, was wir eben nicht können, ist, dass du entscheiden kannst, welcher Anteil gerade Vorfahrt hat – und trotzdem kannst du gleichzeitig auf das Wissen und die Fähigkeiten anderer zurückgreifen. Dein Ich kennt alle deine Erinnerungen, das ist bei uns nicht so.

Zunächst haben alle Menschen, auch als Kinder schon, verschiedene Rollen. Es gibt Rollen und Aufgabenfelder, die alle Personen haben. Einzelne Anteile können für eine Rolle zuständig sein, es können aber auch mehrere Anteile für eine Rolle benötigt werden sowie auch ein Anteil mehrere Rollen erfüllen kann. Das heißt, dass ein Anteil nicht das Gleiche wie eine Rolle ist. Die Rollen entsprechen den Aufgaben, Verhaltensregel, -mustern und Erwartungen, die an einen Mensch, der diese einnimmt, gestellt sind. Eine Rolle besteht also im Außen, auch ohne den jeweiligen Menschen. Anteile hingegen sind Subsysteme in uns, über die viele vielleicht nicht als Anteil wissen, weil sie eben Teil eines Ganzen sind und auch nur als solches wahrgenommen werden. Bei Kindern spielen diese noch nicht ganz so als integrierte, gefestigte Persönlichkeit zusammen. Dies macht es wahrscheinlicher, dass sich einzelne Elemente aus Anteilen separieren und traumatisch bedingt abspalten. Zudem sind wir als Kinder von Vornherein viel hilfloser und können allein nicht auf Bewältigungsstrategien zurückgreifen, die Integration möglich machen würden. Eine Amnesie bedeutet einen Erinnerungsverlust. Wenn diese Barrieren in der Kindheit entstanden und es so möglich war, das Leben weiterzuführen, bleibt das Unwissen übereinander meist viele Jahre bestehen. Wir verwickeln uns also mit voneinander getrennten physiopsychologischen Einheiten, neuronalen Teams oder eben dissoziierten Anteilen. Und weil unser Gehirn schlau ist und energieeffizient arbeitet, wird eine Taktik, die funktionierte, natürlich weiterverwendet und ggf. ausgebaut. So reagiert unser Gehirn auf weitere Traumata oder Erlebnisse, die unser Gehirn mit unseren Traumatisierungen verknüpft, mit derselben Strategie – der Dissoziation. Die Dissoziation ist ein biologisch garantiertes Phänomen, da unsere ganze Physiologie mit einbezogen ist. Bei späteren Traumata können schon bestehende Netzwerke neu belastet werden oder sich neue bilden. Pierre Janet schrieb, dass Dissoziation eine Teilung zwischen „Systemen mit Ideen und Funktionen, die die Persönlichkeit bilden“ (Janet 1907), einschließt.

Ich will ein Bild vorwegnehmen, damit all das Folgende vielleicht richtiger verstanden werden kann: Bisher noch mit Multipler Persönlichkeits(störung) benannt, aber eigentlich nur strukturell dissoziiert, sind wir keine „viele Menschen in einem Körper“. Wir sind nicht das Vielfache einer Persönlichkeit und wir haben auch keine schön, klar erkennbar abgepackten Traumapäckchen in anderen verstaut, was dann alles passend zusammen gerechnet uns als ganzen Menschen ergäbe. Beim Zerbröseln sind Lücken entstanden, es sind Dinge so fragmentiert, dass sie für den Verstand verloren gegangen sind, da haben sich Brüche in ihrer Beschaffenheit verändert und es lässt sich nicht einfach alles sauber zusammenkleben. Viele zu sein bedeutet nicht, multiple, in sich funktionierende, alle Lebensbereiche erfüllende, dynamische Persönlichkeiten in einem Körper zu haben. Es bedeutet multiple, voneinander dissoziierte Teilidentitäten zu sein. Natürliche (er)leben wir uns oft als separierte, eigenständige Leute, aber wir haben dieses eine-Persönlichkeits-Ding, so ein wohliges Zusammengehörigkeits-Lebens-Gefühl nicht mehrfach, sondern gar nicht. Ich schreibe nicht, dass wir völlig kaputte Opfer sind. Ich schreibe, dass wir Menschen sind, die eine dissoziative Identitätsstruktur haben. Wir sind durchaus funktionell und lebensfähig zerbröselt. Aber halt zerbröselt, nicht vervielfacht. Sowohl das Modell der Strukturellen Dissoziation, als auch die Neurowissenschaften bestätigen ja, dass es um Abspaltungen, Trennungen, Separationen, Entfremdungen, undurchsichtige Membranen, nicht um Vervielfachung, geht.

Der Grund, aus dem Persönlichkeitsanteile abgespalten werden, ist der Überlebenswille des Organismus, da wir evolutionsbedingt so angelegt sind, dass Reflexe/automatisierte Reaktionen das Überleben sichern, auch in Situationen, in denen der Verstand das nicht (mehr) kann.2 Sogenannte dissoziative

Störungen sind eigentlich eine Überlebensstrategie, um überwältigende Erfahrungen zu überstehen. Ab einer gewissen Komplexität lässt sich sagen, dass es eine Überlebensstrategie von Kindern ist, die wiederholter Traumatisierung ausgesetzt sind, da chronische und komplexe Dissoziation mit frühen und anhaltenden traumatischen Erlebnissen verbunden wird. Mit Anteilen beziehen wir uns auf etwas, das in der klinischen Literatur unterschiedliche Namen trägt und wir meinen hier damit dissoziierte Persönlichkeitsanteile oder Teilpersönlichkeiten oder neurophysiologische Sub-Systeme, allerdings schreibe ich meist, auch der Einfachheit wegen, von Anteilen. Der Begriff „Anteil“ ist wenigstens mathematisch nicht falsch. Definitiv für uns stimmiger als Ego-State (Ich-Zustand), was in mancher Literatur nicht differenziert wird, wobei wir darunter integrierte, die Grenzen willentlich beschriebene, wechselnde Zustände eines jeden Selbst verstehen, auch wenn wir tatsächlich ja auch nur ein Mensch sind (zur Erklärung dieser Unterscheidung s. unten und Kap. 13). Einige Viele werden vermutlich mit diesem Begriff für sich nicht klarkommen oder andere Bezeichnungen brauchen, was absolut in Ordnung ist. Wir haben für diese Texte meist Anteile gewählt, da es eine Bezeichnung aus dem Vokabular der Fachliteratur ist und somit wiedererkannt werden kann. Für uns im Alltag bzw. untereinander ist der Begriff zwar nicht nutzbar, da ich glaube, dass es dafür eine Wahrnehmung des Ganzen bräuchte. Denn damit etwas ein Anteil von etwas sein kann, braucht es das große Ganze, welches alle solche Anteile umfasst, und da uns diese Wahrnehmung fehlt, kann der Begriff gar nicht stimmig sein. Mathematisch ist es aber anzunehmen.

3.2 Anteile durch Traumatisierung

Wenn sich Anteile abspalten, hat es immer einen wichtigen Grund, aus dem sie da sind. Wir teilen uns (lange) kein Bewusstsein. Wenn sich Anteile „melden“ oder wir die Widersprüchlichkeit mancher Entscheidungen oder die Amnesien bemerken, ist es das, was von einigen Betroffenen als breakdown