Twisted Fate, Band 1: Wenn Magie erwacht (Epische Romantasy von SPIEGEL-Bestsellerautorin Bianca Iosivoni) - Bianca Iosivoni - E-Book

Twisted Fate, Band 1: Wenn Magie erwacht (Epische Romantasy von SPIEGEL-Bestsellerautorin Bianca Iosivoni) E-Book

Bianca Iosivoni

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Beschreibung

Ein Schicksal, das sie verbindet. Eine Liebe, die nicht sein darf. Ein Feind, der sie jagt. Als Faith ein Stipendium ergattert, hofft sie vor allem auf eins: ein ganz normales Studium. Doch als sie auf dem Campus auf ein Symbol mit gekreuzten Schwertern und Disteln stößt, ahnt sie, dass ihre Vergangenheit ihr gefolgt ist. Denn plötzlich steht Nate vor ihr, ein Freund aus Kindertagen mit dem gleichen Symbol als Tattoo auf der Haut. Aber auch Jax, der hemmungslos mit Faith flirtet, verbirgt etwas. Was Faith nicht ahnt: Ein längst vergessener Feind hat ihr gemeinsames Schicksal besiegelt. Weitere actiongeladene und herzzerreißende Romantasy von Bianca Iosivoni: Sturmtochter, Bd. 1-3 Soul Mates, Bd. 1 & 2 The Last Goddess, Bd. 1 & 2

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Seitenzahl: 565

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2023 Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg © 2023 Ravensburger Verlag GmbH Text © 2023 Bianca Iosivoni Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Langenbuch & Weiß, Hamburg. Lektorat: Kristina Langenbuch Gerez Covergestaltung: Carolin Liepins unter Verwendung von Fotos von © bouybin, Bokeh Blur Background. PushAnn, BERNATSKAIA OKSANA, Petr Salinger, Scisetti Alfio, ra3rn (alle: Shutterstock) Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-473-51167-9

ravensburger.com

Für Linda.Danke, dass du meine Schwester bist.

Playlist

MIIA – Dynasty

Major Lazer, Sia, Labrinth, Diplo – Titans

Iván Torrent, Celica Soldream – Facing Fears

Tommee Profitt, Wondra – I’m Not Afraid

Skillet – Feel Invincible

Panic! At The Disco – House of Memories

Michael Schulte – Falling Apart

Charlotte OC – Darkest Hour

Damned Anthem – Raising the Damned

Supergirl, RAIGN – Hero (I Will Survive)

Vo Williams, Klergy – NEVER BACK DOWN

The Score – Stronger

Sam Tinnesz, Yacht Money – Play with Fire

Elley Duhé – MIDDLE OF THE NIGHT

Phlotilla, Andrea Wasse, Topher Mohr – Going Down Fighting

Vitamin String Quartet – Someone Like You

Ruelle – War of Hearts (Acoustic Version)

Tommee Profitt, brooke – Can’t Help Falling In Love – DARK

Ruelle – Up In Flames

Hidden Citizens – I Think We’re Alone Now (Epic Trailer Version)

Klergy, BEGINNERS – Will You Fight

League of Legends, 2WEI, Edda Hayes – Warriors

C21fx – Fallen Heroes

Tommee Profitt, Sam Tinnesz – With You Til The End

Prolog

Callanish, Isle of Lewis, Schottland, im Jahre 1721

Schnelle Schritte. Keuchende Atemzüge. Gedämpfte Stimmen.

»Beeilt euch!«, rief Isabelle und raffte den Stoff ihres Rocks und Arisaids fester. Ihre Beine schmerzten vor Anstrengung, aber sie rannte unbeirrt weiter. Die Pferde waren der letzten Attacke des Dämons zum Opfer gefallen. »Wir sind fast da!«

Die Fackeln ihrer Begleiter warfen ein flackerndes Licht auf ihre Umgebung, erhellten das feuchte Gras und spiegelten sich in der stürmischen See der Bucht wider. Im Schein des Vollmonds ragten die ersten Steine von Callanish wie Mahnmale in der Nacht auf.

Bei ihrem Anblick glomm ein Hauch von Erleichterung in Isabelle auf. Sie hatten es beinahe geschafft. Sie mussten den Dämon in den Kreis der Monolithen locken, dann würde die Hexe ihr Ritual vollziehen und sie würden ihn besiegen. Diesmal endgültig.

Gellende Schreie ertönten hinter ihr. Isabelles Herz verkrampfte sich vor Furcht, doch sie drehte sich nicht um, hielt nicht an. Der Brollachan, eine der stärksten magischen Kreaturen, die je existiert hatten, jagte die Mitglieder des Ordens über die weiten Ebenen der Isle of Lewis, die so flach und verlassen waren, dass sie kaum Schutz boten. Dennoch waren die heiligen Steine von Callanish der richtige Ort, um dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Der einzige Ort. Diese Bestie hatte schon zu viele Menschen getötet.

Nur Rob MacKenzie hatten sie es zu verdanken, dass sie es trotz der blutigen Kämpfe in den Highlands bis hierher auf die Isle of Lewis geschafft hatten. Denn während die anderen Mitglieder seiner Familie in diesem Augenblick gegen verfeindete Clans kämpften, war er mit ihnen gekommen, um sich einer anderen, einer viel größeren Bedrohung zu stellen.

In diesen Zeiten war es nirgendwo sicher, ganz gleich, auf welcher Seite man stand. Die Menschen bekriegten sich gegenseitig und wussten nicht einmal, dass die wahre Gefahr woanders lauerte. Sie ahnten nichts von den Dämonen und den Kämpfen im Verborgenen, die der Orden der Goldenen Flamme führte.

Ein weiterer Schrei in der Nacht. Isabelle biss die Zähne zusammen. Sie durfte sich nicht umdrehen, durfte sich nicht um die anderen sorgen. Ihre Pflicht stand über allem anderen. Sie waren diese Mission als Gruppe von dreißig Männern und Frauen angetreten, doch gerade mal die Hälfte von ihnen hatte es bis auf die Insel geschafft. Wenn es ihnen heute Nacht nicht gelang, den Brollachan zu vernichten, würden sie alle sterben – und unzählige weitere Opfer folgen.

Kurz bevor sie die Steine erreichte, tauchte James an ihrer Seite auf und griff nach ihrem Arm. »Isabelle …«

Die Wärme seiner Hand durchdrang sowohl den Stoff ihres Arisaids, der sie vor Wind und Kälte schützte, als auch ihren Hemdsärmel. Seine Brust hob und senkte sich so schnell, dass die Brosche an seiner Schulter, die seinen Plaid mit dem vertrauten Tartanmuster zusammenhielt, das Licht der Fackeln reflektierte.

»Für den Orden«, raunte er heiser. Sein Atem strich über ihr Gesicht, als er seine Stirn gegen ihre lehnte. »Für unsere Familie.« Mit rauen Fingern streichelte er ihr über die Wange. »Was auch immer passiert, ich liebe dich, Isabelle. Denke immer daran.«

Trotz der Schrecken, die hinter ihnen lagen, und der unbekannten Zukunft, die sich vor ihnen ausbreitete, quoll ihr Herz vor Freude über. Sie waren zusammen. Sie würden immer zusammenbleiben. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und sie packte ihn an seinem Leinenhemd.

»Und ich liebe dich, James Beauvil«, erwiderte sie atemlos und sah ihm fest in die Augen. »Ganz gleich, was geschieht.«

Er nickte lächelnd. Ein letzter gestohlener Moment, dann mussten sie sich voneinander trennen. Die anderen Krieger und Kriegerinnen des Ordens hatten sie bereits eingeholt.

Sie erreichten die Felsformation, die sich abweisend in der Nacht erhob, und traten gemeinsam in den Kreis. Isabelle wollte sich gerade umdrehen, um ihre verbliebenen Mitstreiter anzusehen, als eine Bewegung in den Schatten sie aufschreien ließ. Der Brollachan trat hervor, eingehüllt in Finsternis und ein Gefühl von Macht, das sie alle mit jeder Faser wahrnahmen, obwohl keiner von ihnen über magische Fähigkeiten gebot. Ein ohrenbetäubendes Brüllen ließ alles um sie herum erzittern. Bevor einer von ihnen handeln konnte, traf ein heftiger Schlag aus dem Nichts Isabelle und die anderen Ordensmitglieder in die Brust und riss sie von den Füßen. Sie landete mehrere Meter weiter im Gras und erhob sich keuchend. Instinktiv suchte sie nach James und atmete auf, als sie ihn entdeckte. Er schien unverletzt zu sein und sprang in diesem Moment bereits wieder auf, doch nicht weit von ihm entfernt lag Margaret Shieldblade vor einem Felsen auf dem Boden und rührte sich nicht mehr. Das Licht der Fackeln enthüllte ihr bleiches Gesicht ebenso wie das Blut, das sich rund um ihre zierliche Gestalt ausgebreitet hatte.

Nein … Isabelle presste die Lippen zu einer harten Linie zusammen.

Ein verzweifelter Schrei zerriss die Nacht. Margarets Ehemann Thomas stürzte sich mit seinem Schwert auf den Dämon. Die Klinge traf den Brollachan und hinterließ einen tiefen Schnitt quer über seine Brust. Die Bestie wich einen Schritt zurück und sah an sich hinunter auf das schwarze Blut, das auf den Boden tropfte. Dann hob sie lächelnd den Kopf. Binnen eines Augenblicks schloss sich die Wunde, als wäre sie nie da gewesen. Thomas stolperte zurück, aber er war nicht schnell genug. Flammen leuchteten in der klauenartigen Hand des Dämons auf, schossen durch die Luft – und der nächste Ordensbruder fiel.

Klingen blitzten im Schein des Mondlichts auf. Silberketten rasselten. Pfeile wurden angelegt. Einer nach dem anderen zog seine Waffe und stürzte sich auf den Brollachan.

Isabelle blickte hektisch zur Seite und entdeckte die Hexe. Vom Rande der Felsen aus beobachtete sie die Schlacht. Heute Abend würde sich auch ihre Zukunft und die ihrer Familie entscheiden, doch wie sie es besprochen hatten, wartete sie auf den richtigen Moment. Den Moment, den sie, die Brüder und Schwestern des Ordens, herbeiführen mussten.

»MacKenzie!«, brüllte James unvermittelt. Für einen kurzen Moment zeichneten Schock und Angst sein Antlitz, doch dann stand sein bester Freund wieder auf.

»Alles in Ordnung.« Rob MacKenzie zeigte ein kurzes Lächeln, obwohl sein Gesicht vor Schmerz verzerrt war. »So schnell wirst du mich nicht los.« Er ergriff James’ dargebotene Hand und ließ sich von seinem Freund wieder auf die Beine helfen.

Doch das war erst der Anfang. Isabelle ließ ihre Silberkette durch die Luft wirbeln. Weitere Klingen rasten auf den Dämon zu. Die Wunden des Brollachan heilten, noch während sie sie ihm zufügten. Schweiß trat auf Isabelles Stirn. Erschöpfung verkrampfte ihre Arme. Aber sie gab nicht auf. Niemals.

Messer und brennende Pfeile regneten auf ihren Gegner nieder. Drängten die Kreatur zurück. Weiter, immer weiter, bis sie alle im Zentrum des steinernen Mahnmals angekommen waren.

»Macht euch bereit!« Der Ruf der Hexe übertönte den Kampflärm und das Rauschen des Meeres unter ihnen.

Sie hatten diesen Plan viele Male besprochen, doch als Isabelle sich nun umsah, musste sie mit Schrecken feststellen, dass nur noch dreizehn von ihnen übrig geblieben waren. Dreizehn Mitglieder des Ordens. Das war das Minimum, das die Familie der Hexe verlangt hatte, um das Ritual erfolgreich durchführen zu können. Wenn noch einer von ihnen fiel, wäre es zu spät. Dann wäre alles vergebens gewesen.

Der schrill pfeifende Wind kam aus dem Nichts, wirbelte um den Dämon herum, bis dieser den Arm ausstreckte, und …

»James!«

»Nicht!« Katherine Evander packte sie von hinten und hielt sie zurück. »Wir müssen die Position halten.«

Alles in Isabelle drängte darauf, zu ihrem Liebsten zu rennen, zu dem Mann, dem sie ihr Herz, ihre Seele und ihr Leben geschenkt hatte. Dem Vater ihrer Kinder. Aber sie hielt die Stellung, auch wenn es ihr das Herz zerriss, ihn verletzt zu sehen.

Mühsam hievte sich James wieder hoch. Blut bedeckte eine Seite seines Gesichts und ein dunkelroter Fleck begann sich auf Schulterhöhe auf seinem Leinenhemd auszubreiten, während sein Arm in einem unnatürlichen Winkel herabhing. Doch sein Blick war ungebrochen und entschlossen.

»Jetzt!«, rief er.

Es war ihre letzte Chance, dem Grauen ein Ende zu bereiten. Wenn sie den Brollachan hier und heute nicht besiegten, gab es keinen Weg mehr, die Menschen, die sie liebten, und diejenigen, die nichts hiervon wussten, zu beschützen. Die nächsten Generationen vor einem grausamen Schicksal zu bewahren.

Die Hexe trat vor und rief Worte in einer Sprache, die vertraut und gleichzeitig vollkommen fremd klang. Isabelle verstand ihre Bedeutung nicht, aber das war auch nicht nötig. Sie hatten den Brollachan eingekreist und er erstarrte mitten in der Bewegung, als die Hexe mit ihrer Beschwörung begann. Ein monströses Grollen drang aus seiner Kehle und ließ die ganze Ebene erneut erzittern. Sogar die gigantischen Steine von Callanish vibrierten davon. Doch mit jedem weiteren Wort, das die Hexe in die Nacht schleuderte, schien er schwächer zu werden. Der Boden direkt unter ihm leuchtete golden auf und ein Beben wanderte durch seinen schattenhaften Körper, der dem eines Menschen auf so bizarre Weise glich.

Isabelles und James’ Blicke trafen sich und hielten einander mit aller Macht fest.

Mit einem ohrenbetäubenden Brüllen sank der Dämon zwischen ihnen auf die Knie. Das Licht unter ihm erstrahlte immer heller. Auf einmal flossen goldene Fäden durch den Boden und geradewegs auf die Krieger und Kriegerinnen des Ordens zu, bis sie alle mit der Bestie verbunden waren. Dann breitete sich das goldene Licht zu einem Kreis aus, der sie alle miteinander verknüpfte.

Die Hexe schrie die letzten Worte ihrer Inkantation. Glühende Energie schoss aus dem Brollachan heraus, durch die goldenen Fäden hindurch und in die Ordensmitglieder hinein. Isabelle strauchelte, aber es gelang ihr, sich auf den Beinen zu halten.

Verwundert sah sie an sich hinunter. Innerhalb von Sekunden schlossen sich ihre Wunden und die Kratzer verblassten. Heilung, dachte sie verwundert. Sie heilte sich selbst, so wie es der Dämon zuvor getan hatte. Auch in den Gesichtern der anderen sah sie reinstes Erstaunen.

Sollte es ihnen wirklich gelungen sein? War ihr Plan aufgegangen? Der Dämon stieß den Arm nach vorne, doch die Attacke blieb aus. Kein Feuer. Kein Wind. Keine andere seiner vielfältigen Kräfte.

Vor Erleichterung stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie hatten das Unmögliche vollbracht: Sie hatten der Bestie ihre Magie geraubt und die Gefahr gebannt.

Isabelle wollte einen Schritt auf James zu machen – und konnte es nicht. Ein seltsam taubes Gefühl begann sich in ihren Gliedmaßen auszubreiten. Panisch blickte sie an sich hinunter. Ihre Beine wurden eins mit dem Boden unter ihren Füßen. Knochen und Muskeln verhärteten sich Stück für Stück. Ihre Haut nahm die graue Farbe von Stein an.

Und sie war nicht die Einzige. Jede einzelne der dreizehn Personen in ihrem Kreis kämpfte gegen die plötzliche Erstarrung an.

Wutentbrannt sah sie zur Hexe. »Was geschieht hier? Das war nicht Teil der Abmachung! Du hast uns hereingelegt!«

Das Gesicht der Hexe zeigte keine Regung. »Das ist der Preis der Magie.«

Verzweifelt versuchte Isabelle, sich zu bewegen und wieder die Macht über ihre Gliedmaßen zu erhalten. Vergeblich.

Panik schnürte ihr die Kehle zu, als sie den Blick ihres Geliebten fand. Er war bereits bis zum Hals erstarrt und konnte sich nicht länger rühren.

Ich liebe dich, dachte sie verzweifelt. Jetzt und für alle Zeiten.

»Für den Orden«, wisperte sie. Tränen liefen ihr über die Wangen, während erst ihre Arme und dann ihr gesamter Oberkörper versteinerte. »Für unsere Familie …«

Kapitel 1

Dundee, Schottland, Gegenwart

Fast mein ganzes Leben lang war ich auf der Flucht gewesen – doch das war nun vorbei. Auch wenn sich der Weg von meiner WG bis zum Campus an diesem Morgen ein wenig danach anfühlte. Kein Wunder, wenn einem der große Bruder im Nacken saß.

»Hast du alles, was du brauchst, Faith?«, fragte er zum wiederholten Mal. »Handy, Geld, deine Unterlagen?«

Ich bemühte mich, nicht die Augen zu verdrehen, während ich die Straße hinuntereilte. Ich bemühte mich wirklich sehr.

Die Möwen kreischten, die Sonne schien und es könnte ein rundum schöner Tag werden. Der erste Tag an der University of Dundee. Der erste Tag meines neuen Lebens. Falls Levi mich endlich mal für ein paar Sekunden aus den Augen lassen würde.

Zuerst war ich ein bisschen traurig darüber gewesen, dass wir nicht zusammenwohnen würden. Mittlerweile war ich heilfroh darüber, dass ich in einer WG mit Maisie untergekommen war und er eine kleine Wohnung auf der anderen Seite des Campus hatte.

»Ja, ich hab alles. Immer noch.« Ich warf ihm ein freches Grinsen über die Schulter zu. »Hast du denn, was du brauchst, Bruderherz?«

Seine Augen verengten sich, aber ich bemerkte auch das Zucken in seinen Mundwinkeln. Levi mochte der personifizierte Beschützerinstinkt sein, aber wenigstens hatte er Humor.

»Wenn etwas ist, rufst du mich an, verstanden?«

Diesmal konnte ich den Impuls nicht unterdrücken und rollte mit den Augen. Ich liebte meinen Bruder. Da der Altersunterschied zwischen uns nur knapp drei Jahre betrug, hatten wir früher fast alles zusammen gemacht. Aber manchmal wollte ich ihm trotzdem den Hals umdrehen.

»Ich komme zurecht«, beharrte ich, da wir dieses Gespräch nicht zum ersten Mal führten. »Schließlich habe ich auch die letzten zwei Jahre Highschool überlebt, ohne dass du mir permanent über die Schulter geschaut hast.«

Normalerweise würden wir nicht am selben Tag mit dem Studium anfangen, aber die Umstände waren ungewöhnlich. Ich hatte rund um die Uhr für meinen Abschluss gelernt und mir mein Stipendium hart erarbeitet. Levi hatte ein wenig mehr Zeit gebraucht, um sich für ein Studium begeistern zu können, aber dann hatte auch er aufgrund seiner sportlichen Qualifikationen ein Stipendium für sein Sportwissenschaftsstudium erhalten. Kein Wunder – immerhin hatte er zwei Jahre lang als Fitness- und Kampfsporttrainer gearbeitet und sein Chef hatte ihm eine glühende Empfehlung geschrieben. Deshalb fingen wir heute zusammen an der Uni an. Auch wenn Levi mir mit seinem Anthony-Bridgerton-Gehabe das Gefühl gab, nur ich wäre neu, während er bereits alles wusste, was es zu wissen gab.

»Hier trennen sich unsere Wege.« Ich blieb vor der naturwissenschaftlichen Fakultät stehen, die sich in einem stattlichen Neubau befand. »Wie schade.«

Levi schüttelte den Kopf über meinen Sarkasmus. »Ich hab Mum versprochen, auf dich aufzupassen. Du meldest dich bei mir, wenn irgendetwas ist. Egal was.«

Das war keine Frage, sondern eine Forderung. Ich hatte schon früh gelernt, solche Aussagen geflissentlich zu ignorieren.

»Das ist mein Ernst, Faith. Stell ja keinen Blödsinn an, hörst du?«

Seine Worte erinnerten mich viel zu sehr an den Abschied von Mum … und an den kleinen Vortrag, den sie mir gehalten hatte.

»Versprich mir nur eines, Faith: keine Tattoos, keine Mutproben, keine seltsamen Aufnahmerituale, keine Sauforgien – generell: überhaupt keine Orgien! Keine Intimpiercings, keine rituellen Opferungen, keine –«

»Mum!«, hatte ich sie lachend unterbrochen. »Dir ist schon klar, dass ich nur studieren gehe und keiner Sekte beitrete, oder?«

»Ja, schon, aber …« Sie hatte geseufzt und ein besorgter Ausdruck war in ihre Augen getreten. »Versprich mir wenigstens, dass du dich von Jungs mit Motorrädern fernhältst. Und von solchen mit Tätowierungen. Aber vor allem von tätowierten Jungs, die Motorrad fahren.«

Ob sie Levi auch vor all diesen Dingen gewarnt hatte? Oder war seine Liste wesentlich kürzer ausgefallen? Wenn er denn überhaupt eine hatte. Wahrscheinlich hätte Mum eher die ganze Uni warnen müssen, dass Levi ein Herzensbrecher sein konnte.

Ich schnitt eine Grimasse und entfernte mich rückwärts gehend von meinem Bruder. »Oh, ich werde definitiv Blödsinn anstellen. Und du kannst nichts dagegen tun.« Die letzten Worte glichen einem Singsang, wie früher schon, wenn ich mich heimlich auf eine Party geschlichen hatte, obwohl Levi es mir verboten hatte.

Ich konnte ihm förmlich ansehen, wie genervt er von mir war. Zwischen seinen Brauen, die denselben dunkelblonden Farbton hatten wie sein kurzes Haar, hatten sich zwei steile Falten gebildet. In seinen grauen Augen funkelte es warnend. »Faith …«

Ich grinste nur und winkte ihm zum Abschied. »Bye, Levi.«

Er wandte sich schnaubend ab. Na also. Ich hatte meine Pflicht als kleine Schwester erfüllt.

Zufrieden betrat ich das Gebäude und nahm wenige Minuten später am ersten offiziellen Vorlesungstag im Semester meinen Platz in der Mitte des Hörsaals ein.

Meine Finger kribbelten vor Aufregung und ich konnte kaum stillsitzen, aber da schien ich nicht die Einzige zu sein. Der ganze Raum war erfüllt von aufgeregtem Stimmengemurmel und nervösem Rascheln. Unruhig kramte ich in meiner Collegetasche und zog die Bücher heraus, um sie auf den kleinen Tisch vor mir zu legen. Offiziell mussten wir sie erst diese Woche besorgen, aber ich hatte mich bereits im Vorfeld so genau wie möglich über meinen Studiengang informiert und alles vorbereitet. Also griff ich jetzt auch nach meinem Notizblock und …

»Autsch!« Ich zuckte zusammen, als ich den heißen Schmerz in meinem Daumen spürte, und riss die Hand zurück.

Ein etwa ein Zentimeter großer Papierschnitt prangte auf meiner Daumenkuppe und der erste dicke Blutstropfen quoll hervor. Mein Herz begann zu hämmern. Schnell schaute ich mich um. Niemand beachtete mich. Niemand sah, wie sich der Schnitt innerhalb eines Sekundenbruchteils wieder schloss. Ich wischte das Blut an einem Taschentuch ab. Dort leuchtete der rote Tropfen wie eine grelle Warnung auf, aber meine Haut war unversehrt.

Mein Herz hämmerte noch immer viel zu schnell, als ich mich ein weiteres Mal umsah, ob irgendjemand etwas mitbekommen hatte. Denn das würde nur zu Fragen führen, zu Neugier und Misstrauen … und das wiederum führte immer dazu, dass wir früher oder später die Stadt verlassen mussten.

Doch diesmal schien ich Glück zu haben. Alle waren vollkommen mit sich selbst und ihrer Aufregung beschäftigt, keiner nahm von mir Notiz.

Ich warf einen schnellen Blick auf die Uhr, die über der Tür hing. Eigentlich sollte es schon losgehen, aber …

Die Gespräche verstummten nach und nach, bis es so still wurde, dass ich meinen eigenen Herzschlag hören konnte. Und das nervöse Räuspern von einigen anderen Studierenden.

Vorne stand eine Frau, die ich nicht hatte hereinkommen sehen. Sie trug eine elegante dunkelgraue Bügelfaltenhose mit Gürtel, Blazer in derselben Farbe und weißer Bluse. Dazu High Heels mit Absätzen, die so hoch waren, dass ich mir das Genick brechen würde, müsste ich darin laufen. Das kastanienbraune Haar, durch das sich einige graue Strähnen zogen, hatte sie streng nach hinten gekämmt und hochgesteckt. Dazu trug sie eine randlose Brille auf der Nase. Ein paar wenige Falten zierten ihre Stirn, ebenso wie die Augen- und Mundpartie, aber es fiel mir schwer, ihr Alter einzuschätzen.

Mittlerweile starrte jeder im Saal sie an, obwohl sie bisher keinen einzigen Ton von sich gegeben hatte. Ihre ruhige Präsenz genügte, um jeden zum Schweigen zu bringen. Erst als es so still war, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können, wanderten ihre Mundwinkel nach oben und sie ergriff das Wort. »Herzlich willkommen in Dundee. Sie haben eine gute Wahl getroffen – vor allem diejenigen von Ihnen, die eine Karriere in der Genetik, Molekularbiologie oder Biochemie anstreben, denn dafür ist diese Fakultät, wie Sie sicherlich alle bereits wissen, berühmt. Natürlich sind Sie auch in allen anderen Fachbereichen an dieser Universität richtig – allerdings nicht in diesem Raum. Wenn Sie sich also verirrt haben, ist das jetzt Ihre Chance, zu gehen.«

Die Ansprache brachte ihr ein paar Lacher ein. Und tatsächlich standen ein Mädchen und ein Junge in den hinteren Reihen auf und eilten mit hochroten Köpfen aus dem Hörsaal.

Die Dozentin nickte zufrieden, sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Nachdem das nun geklärt ist, möchte ich mich Ihnen kurz vorstellen. Mein Name ist Dr. Sylvia Kingsley. Wie Sie habe ich Genetik und Molekularbiologie in Dundee studiert, habe für verschiedene Universitäten und Unternehmen in Großbritannien und Europa gearbeitet und in London promoviert. Dort war ich zuletzt, bevor es mich zurück ins sonnige Dundee verschlagen hat.« Sie schaute über die Reihen und für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, als würde sie mich direkt ansehen, ehe ihr Blick weiterwanderte und sie mehr über ihren Werdegang, über das kommende Semester und die Prüfungsphase im Dezember erzählte. Und das war erst der Anfang.

Die Zeit an meinem ersten Tag verging wie im Flug. Ich lernte jede Menge Leute kennen, wanderte von einem Unigebäude ins andere und schaffte es, mich dabei nur ein einziges Mal zu verlaufen. Die wenige Zeit zwischen den Kursen füllte ich, indem ich mir Notizen in meinem Journal machte, und war froh, es heute Morgen eingesteckt zu haben. Den ganzen Tag über war ich so hibbelig, dass ich sogar vergaß, zu essen – was mich mein Magen laut knurrend wissen ließ, als ich am späten Nachmittag aus einem der Fakultätsgebäude kam. Ich legte mir die Hand auf den Bauch und blinzelte gegen die warmen Sonnenstrahlen an. Es war ein milder Nachmittag Ende September, auch wenn mir der kühle Wind vom Meer meine knapp schulterlangen Haare durcheinanderwirbelte.

Ich hatte bereits wieder vergessen, wie das Gebäude hieß, aus dem ich gerade spazierte, aber es umschloss zusammen mit zwei weiteren eine hübsche, gepflegte Grünfläche. Nach und nach würde ich noch lernen, mich hier zurechtzufinden. Aber auch wenn ich ziemlich erledigt und halb verhungert war, musste ich immerzu lächeln. Ich hatte es geschafft. Ich war hier. Ich hatte es wirklich geschafft.

Langsam setzte ich mich in Bewegung und folgte dem Weg zwischen den Universitätsgebäuden hindurch, ohne mir Gedanken darüber zu machen, wo er mich hinführte. Glücklicherweise war in Dundee alles in Laufnähe. In fünfzehn Minuten könnte ich schon zu Hause oder im Zentrum sein, um mir etwas zu essen zu holen – oder um weiterhin nach einem Nebenjob zu suchen. Ich unterdrückte ein Seufzen. Das wiederum war in dieser Stadt echt nicht einfach.

Nach einer Weile blieb ich stirnrunzelnd stehen. Ich war so in meine Gedanken vertieft gewesen, dass ich keine Ahnung hatte, vor welchem Gebäude ich gelandet war … und ob es überhaupt noch zur Universität gehörte. Dennoch zog mich etwas an dem mehrstöckigen Haus aus beigefarbenem Sandstein an.

Neugierig näherte ich mich dem Eingang. Wenige Meter von der Tür entfernt war etwas in die Mauer geritzt. Auf den ersten Blick nahm man es kaum wahr, erst bei genauerem Hinsehen erkannte ich die fast schon unscheinbaren sechs Linien, die in einem interessanten Muster angeordnet waren, beinahe wie ein Stern. In der Mitte prangte etwas, das mich an einen Wassertropfen oder eine Kerzenflamme erinnerte, und darunter waren zwei stachelige Blumen. Rosen? Disteln?

Wahrscheinlich gehörte das Symbol zu einer Studentenverbindung. Zumindest kam es mir bekannt vor. Bestimmt hatte ich es schon irgendwo auf dem Campus, in der Stadt oder auf einem Flyer gesehen, ohne mir dessen bewusst zu sein.

Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass ich die Hand danach ausgestreckt hatte, als mich eine Stimme zusammenzucken ließ.

»Hey, Faith!«

Ich entdeckte meine Mitbewohnerin Maisie, die gerade aus dem Gebäude kam und mich mit einem teils fragenden, teils amüsierten Ausdruck im Gesicht betrachtete.

Maisie war das, was man von einer klassischen schottischen Schönheit erwarten würde: feuerrotes, leicht gelocktes Haar, das sie zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden trug. Die vielen Sommersprossen auf Wangen und Nasenrücken sah ich selbst auf die Entfernung und sie wurden nur deutlicher, als ich ihr entgegenlief. Dazu hatte sie eine kurvige, attraktive Figur, um die ich sie beneidete. Im Gegensatz zu ihr war ich ziemlich dünn und mein seit Jahren platinblond gefärbtes Haar versteckte nur ein langweiliges Hellbraun, mit dem ich leider nie viel hatte anfangen können.

»Hast du dich verlaufen?«, fragte Maisie und deutete um sich.

Ich runzelte die Stirn. »Nein, warum?«

»Weil sich hier die Fakultäten für Geschichte, Sprachen und Philosophie befinden. Biologie und Naturwissenschaften sind am anderen Ende des Campus.«

Oh. Ups.

»Ich habe nicht aufgepasst, wo ich hinlaufe«, gestand ich und warf einen letzten Blick zurück auf das imposante Sandsteingebäude mit dem rätselhaften Symbol. »Hier finden deine Kurse statt? Nicht schlecht.«

Grinsend hakte sie sich bei mir unter. »Tja, die ganzen modernen Neubauten gehören euch Naturwissenschaftlern, aber das hier ist auch nicht übel. Du solltest mal die Bibliothek sehen!«

Maisie zog mich weiter, und auch wenn ich nicht wusste, was sie vorhatte, ging ich bereitwillig mit.

Ich war erleichtert, dass Maisie und ich uns sofort gut verstanden hatten, auch wenn das noch ungewohnt für mich war. Es war lange her, seit ich eine Freundin gehabt hatte. Meist waren wir nicht lange genug an einem Ort geblieben, um enge Beziehungen aufzubauen, und es gab viel zu viele Situationen, in denen es schwer war zu verheimlichen, dass jeder Kratzer und jeder blaue Fleck bei mir in Sekundenschnelle verheilte. Irgendwann hatte ich damit aufgehört, nach Freundschaften zu suchen, weil sie ja doch nur wieder zerbrechen würden – oder im schlimmsten Fall zu einer ganzen Reihe unangenehmer Fragen führten. Aber Maisie war nicht einfach irgendjemand, den ich in einer neuen Stadt kennengelernt hatte. Sie war meine Mitbewohnerin, und wenn alles gut lief, würden wir die nächsten drei Jahre zusammenwohnen. Und für mich stand bereits fest, dass ich alles dafür tun würde, dass es gut lief.

»Hast du schon die Plakate für den Winterball gesehen?«, fragte sie unvermittelt und deutete auf eines der Schwarzen Bretter, die an verschiedenen Stellen auf dem Campus aufgestellt waren. »Die haben sie heute aufgehängt.«

Ich folgte ihrem Fingerzeig zu der Pinnwand, an der lauter bunte Zettel hingen. Von Yoga- und Töpferkursen über Wohnungssuchen bis hin zu Infoblättern für die verschiedenen Societys an der Uni hing dort alles kreuz und quer, doch ein großes Plakat zog alle Aufmerksamkeit auf sich: Der traditionelle Winterball der Universität fand auch in diesem Jahr am 30. November, dem St. Andrew’s Day, statt.

»Wir müssen unbedingt hingehen!« Maisie drückte meinen Arm. »Keine Ausreden, hörst du?«

»Hey, ich hab keinen Ton gesagt!«

»Dann wäre das ja geklärt.« Sie grinste fröhlich. »Kommst du mit nach Hause?«

Ich schüttelte den Kopf und machte mich an der Straßenecke von ihr los. »Leider nicht. Ich muss endlich einen Job finden.«

»Viel Glück.« Maisie verzog mitfühlend das Gesicht, wobei sich die Sommersprossen auf ihrer Nase kräuselten. »Nach Semesterbeginn ist das echt schwierig, das sagen alle.«

»Ich muss es zumindest versuchen. Wir sehen uns heute Abend!« Ich winkte meiner Mitbewohnerin ein letztes Mal zu, dann machte ich auf dem Absatz kehrt und lief los Richtung Innenstadt.

Ich mochte vielleicht noch ohne Job und dafür voller Schuldgefühle sein, aber das hier war jetzt mein Leben. Mein wundervolles neues, normales Leben – und ich würde alles dafür tun, damit es auch so blieb.

Kapitel 2

Vier Tage später stand ich am frühen Abend mitten im Zentrum von Dundee und atmete tief die kühle Meeresluft ein, während ich den Blick über die Häuser wandern ließ. In der ganzen Stadt fügten sich moderne Gebäude nahtlos zwischen georgianische Altbauten im typisch beige-braunen Sandstein ein. Über mir kreischten ein paar Möwen um die Wette. Eine dicke Wolke schob sich vor die Sonne und tauchte meine Umgebung in ein dramatisches Spiel aus Licht und Schatten.

Bis auf die Tatsache, dass ich noch immer verzweifelt nach einem Job suchte, hatte ich mich inzwischen gut eingelebt. Die Stadt war eine erfrischende Mischung aus Alt und Neu und die Menschen, mit denen ich bisher zu tun gehabt hatte, unglaublich herzlich. Selbst wenn sie mir mit bedauerndem Blick erklärten, dass sie leider keine Arbeit für mich hatten.

Heute war Freitag, und da ich nur bis mittags Vorlesungen hatte, hatte ich die Zeit genutzt, um weiter alle möglichen Shops, Cafés, Restaurants und Pubs auf der Suche nach einem Job abzuklappern. Alle Schwarzen Bretter der Uni und die gängigen Online-Job-Portale hatte ich bereits vergeblich durchsucht. Mittlerweile war es früher Abend geworden, die Sonne stand tief und ich war nicht einen Schritt weitergekommen, obwohl ich schon seit Stunden unterwegs war. Meine Füße taten vom vielen Laufen weh und meine Hoffnung war zusammen mit meinem Selbstbewusstsein immer weiter geschrumpft. Irgendwo in dieser Stadt musste es doch noch Arbeit geben, die mir kein anderer Student und keine andere Studentin vor der Nase weggeschnappt hatte. So schwer konnte das doch nicht sein, oder? Sogar Levi hatte einen Job als Hafenarbeiter gefunden, Himmel noch mal.

Wieder mal verfluchte ich den Umstand, dass wir erst so spät in Dundee angekommen waren. Mein Stipendium mochte zwar alle Studienkosten decken und ließ mir sogar ein kleines Taschengeld, aber das reichte bei Weitem nicht für Miete und Benzinkosten, meine geliebten Journaling-Utensilien und dafür, ein ganz normales Leben als Studentin zu führen. Ich wollte ausgehen, etwas unternehmen und mir nicht ständig Gedanken darüber machen müssen, ob ich mir das Essen im Pub oder den nächsten Kaffee leisten konnte oder lieber günstig in der Kantine essen ging.

Also schleppte ich mich weiter durch die Straßen der Stadt, vorbei an schicken kleinen Restaurants, einem typisch schottischen Friedhof mit parkähnlicher Atmosphäre und Grabsteinen, die wie stumme Wächter in die Höhe ragten, und den imposanten McManus Galleries im Herzen der Stadt. Von außen sah das Museum aus wie ein Schloss mit seinen Türmchen, der eleganten Steintreppe und den zahlreichen Spitzbogenfenstern.

Während ich in die nächste kleine Gasse einbog, lenkte ich mich mit der ewigen Frage ab, wie es sein konnte, dass ich zwar Wunden heilen, aber nichts gegen schmerzende Füße oder eine sich ankündigende Kopfschmerzattacke tun konnte.

Ein plötzliches Prickeln im Nacken ließ mich langsamer werden. Es fühlte sich an, als würden Ameisen über meine Haut laufen, als würde jemand – oder etwas – mich intensiv beobachten. Eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus.

Ich blieb stehen und sah mich möglichst unauffällig um. Vereinzelt gingen Menschen an mir vorbei, warfen mir aber kaum einen zweiten Blick zu. Da war niemand, der mich verfolgte oder aus irgendeiner Ecke gruselig beobachtete. Ich runzelte die Stirn. Hatte ich mir das nur eingebildet? Nach den letzten Jahren sollte das keine Überraschung sein, und dennoch … Ich versuchte, das ungute Gefühl abzuschütteln, drehte mich um – und lief geradewegs in eine andere Person hinein. Eine junge Frau mit schwarzen Locken, so viel konnte ich gerade noch erkennen, bevor mich mein Schwung beim Zurückweichen gegen die nächste Wand prallen ließ. Ein Summen meldete sich in meiner Brust, und ich fing mich gerade noch ab.

»Oh, tut mir leid!«, rief ich reflexartig und wandte mich zu der Frau um, doch die Gasse war leer.

Seltsam. Würde der Schmerz des Aufpralls nicht noch kurz in meiner Schulter nachhallen, hätte ich gedacht, ich hätte sie mir nur eingebildet.

Ich schüttelte den Kopf und ging weiter, doch schon nach wenigen Schritten blieb ich neben einem Gebäude stehen. Der typische helle Sandstein war von Wind und Wetter gezeichnet, obwohl das Haus hier in der Seitenstraße geschützt dalag. Von außen sah es aus wie ein beliebiges Wohnhaus, doch ich vernahm deutlich die Musik und Stimmen, die gedämpft nach draußen drangen. Dann entdeckte ich auch das Schild über der Eingangstür, das das Lokal in geschwungener, verblasster Goldschrift als Jo’s bezeichnete. Als ich an einem der Gitterfenster einen handgeschriebenen Zettel entdeckte, auf dem Aushilfe gesucht stand, zögerte ich keine Sekunde, sondern riss die Tür auf.

Warme Luft und eine Vielzahl an Gerüchen strömten mir entgegen. Das Erste, was ich wahrnahm, war die für Pubs typische Einrichtung aus dunklem Holz: rustikale Tische und Stühle sowie Bodendielen, über die schon unzählige Gäste gelaufen waren. Nur die Wände waren in einem helleren, wärmeren Holzton gehalten. Gerahmte Fotos und alte Werbebanner für Bier, Whiskey und Gin schmückten die Wände ebenso wie kleine schwarze Tafeln, auf denen die aktuellen Angebote prangten. Eine einsame Palme stand an einem der Fenster und brachte etwas Grün in den Raum. Außerdem war da auch noch eine unscheinbare Plakette an der Wand. Ich musste die Augen zusammenkneifen, um die eingravierten Buchstaben besser erkennen zu können: Wiederaufgebaut nach dem Feuer von2018.

Ich blinzelte verdutzt. Hatte es hier einen Brand gegeben? Davon war heute eindeutig nichts mehr zu sehen.

Das Herzstück des Raumes bildete ein L-förmiger Tresen, der sich über die ganze linke Wandseite erstreckte. Am anderen Ende des Pubs führte ein Flur zu weiteren Räumen, vermutlich der Küche und den Toiletten.

Der Laden war gut besucht, aber wahrscheinlich war das an einem Freitagabend und zu Semesterbeginn kein Wunder. Ich bemerkte, dass es vor allem Leute in meinem Alter waren, die die meisten Tische besetzt hatten. Aber dazwischen saßen auch Familien, die für ein frühes Abendessen hergekommen waren, und Einheimische, die mit einem Feierabendbier direkt an der Bar hockten und das Fußballspiel mitverfolgten, das stumm auf dem Fernseher an der gegenüberliegenden Wand lief.

Auf den ersten Blick entdeckte ich niemanden, der so aussah, als hätte er oder sie hier das Sagen und würde neue Leute einstellen, also durchquerte ich den Raum und stellte mich zwischen zwei leeren Hockern an den Tresen. Der rotblonde Barkeeper mit den ergrauten Schläfen und dem getrimmten Bart, der so groß und breit gebaut war wie ein Schrank, kassierte gerade bei ein paar Leuten ab und bedeutete mir mit einem knappen Nicken, zu warten. Also zog ich mein Handy aus der Hosentasche und textete Maisie, die wie jeden Tag danach fragte, wie die Jobsuche gelaufen war. Ich schnitt eine Grimasse. Katastrophal. Sehr viel mehr hatte ich leider nicht zu berichten. Dann schrieb ich Mum, dass es mir gut ging und ich bisher weder an Mutproben noch an rituellen Opferungen teilgenommen hatte. Aber wer wusste schon, was der Abend bringen würde?

Als ich den Kopf das nächste Mal hob, war der bärtige Barkeeper mit einem anderen Gast beschäftigt und hatte mich anscheinend vergessen. Dafür war ein zweiter Mann hinter dem Tresen aufgetaucht. Er war deutlich jünger als der andere Kerl, schlank, groß und trug ein langärmliges dunkelgraues Shirt mit V-Ausschnitt. Im schummrigen Licht des Pubs wirkten seine Haare schwarz und hatten einen beinahe bläulichen Schimmer. Sie waren an den Seiten kurz, dafür war das Deckhaar länger, und er sah auf eine lässige Weise so aus, als würde er gerade aus dem Bett kommen. Von meinem Platz am Ende der Bar aus konnte ich sein Gesicht nicht richtig erkennen, dafür nahm ich umso deutlicher die langen Finger wahr, mit denen er der jungen Frau vor sich einen Drink mixte. Mein Blick wanderte höher, über seine Arme bis hin zu seinem Bizeps, der sich anspannte, während er mit Gläsern und Flaschen herumhantierte.

Okay. Er war eindeutig attraktiv – aber das musste man vielleicht auch sein, um hier zu arbeiten. Und es schadete dem Pub anscheinend nicht, wenn ich so die Frauen betrachtete, die sich hier aufhielten und um den Tresen scharten.

Mein Blick wanderte zurück zu dem Barkeeper. Er sprach mit ein paar anderen Gästen, reichte Bestellungen über den Tresen und kassierte ab. Alles gleichzeitig und ohne dabei im Geringsten gestresst zu wirken. Im Gegenteil. Er verströmte eine coole Lässigkeit, als würde er das hier schon seit Jahren machen, dabei war er sicher nicht viel älter als Levi oder ich.

Unvermittelt hob er den Kopf und sah mich direkt an.

Hitze loderte in meinem Bauch auf, schlängelte sich durch meine Adern und breitete sich in meinem ganzen Körper aus.

Jetzt konnte ich sein Gesicht deutlich erkennen. Leider nicht die genaue Augenfarbe, dafür aber die dunklen Wimpern, die sie umrahmten, und die tief liegenden ausdrucksstarken Brauen. Er hatte einen schön geformten Mund, die Unterlippe war ein klein wenig breiter als die Oberlippe, und unter den dunklen Bartstoppeln zeichnete sich eine starke Kieferpartie ab. Da war auch etwas an seinem Hals, das ich im dämmrigen Licht nicht sonderlich gut ausmachen konnte. Eine Narbe vielleicht? Oder nur ein Schatten? Zumindest wirkte es nicht wie ein Tattoo.

Wow, Mum würde ja so erleichtert sein.

Kurz flackerte ein anderes Bild in meinem Kopf auf, eine Erinnerung daran, wann das letzte Mal ein Kerl eine so starke Reaktion in mir ausgelöst hatte, aber ich schob sie sofort mit aller Macht von mir. Ich würde jetzt nicht an ihn denken.

Der heiße Barkeeper sagte noch etwas zu einer hübschen Rothaarigen, die leise auflachte, dann setzte er sich in Bewegung – in meine Richtung. Unwillkürlich spannte ich mich an und drückte den Rücken durch. Sein Blick ließ mich keine Sekunde lang los, während er näher kam. Aus irgendeinem Grund hämmerte mein Herz und ein heißes Kribbeln sammelte sich tief in meinem Bauch. Ich schluckte. Das hier war nicht so etwas wie Liebe auf den ersten Blick. Definitiv nicht. Aber es war … etwas. Etwas, das mir viel zu sehr unter die Haut ging. Anziehung auf den ersten Blick vielleicht? Zumindest lag ein Knistern zwischen uns in der Luft, das ich mir nicht anders erklären konnte. Dabei hatten wir noch kein einziges Wort miteinander gewechselt.

Als er vor mir stehen blieb, die Ellbogen lässig auf dem Tresen aufgestützt, bemerkte ich, dass das an seinem Hals tatsächlich eine großflächige Narbe war. Nicht von einem Schnitt oder einer Verletzung. Die Haut war gerötet, beinahe so, als wäre sie verbrannt worden. Rasch hob ich den Blick – und bemerkte noch, wie abschätzig er meine Haare und mein weißes Oberteil musterte, bevor er mir wieder in die Augen sah. Seine eigenen waren von einem überraschend intensiven Blau.

»Was darf’s sein, Schneeflöckchen?«

Ich blinzelte. Starrte ihn geradezu an. Schneeflöckchen? Hatte er mich gerade allen Ernstes so genannt? Und jetzt lächelte er auch noch so selbstsicher, als würde er damit rechnen, dass ich jeden Moment aufgrund seiner Worte, seiner tiefen Stimme oder seines ach so charmanten Auftritts dahinschmolz. Wie die Rothaarige, die er eben bedient hatte und die ihm noch immer verträumt hinterhersah.

Für seine nächsten Worte beugte er sich noch ein wenig näher zu mir. »Lass mich raten: Du hättest gerne eine heiße Schokolade – ohne Sahne, versteht sich – und dazu meine Telefonnummer.«

Dieser … arrogante Mistkerl.

Okay. Ich hatte mich geirrt. Das gerade eben war keine Anziehung gewesen. Wenn es ein Wort mit A gab, das beschrieb, was ich gerade für diesen Typen empfand, dann war es Abneigung. Und zwar ganz heftige. Der Kerl hatte sich von attraktiv und interessant geradewegs selbst in den Papierkorb katapultiert, als er den Mund aufgemacht hatte. Wirklich schade.

Obwohl es mir beinahe körperliche Schmerzen bereitete, ihm nicht in aller Deutlichkeit an den Kopf zu werfen, was ich von seiner ganzen Art und diesem lächerlichen Kosenamen hielt, entschied ich mich für eine andere Taktik. Ich lächelte. So honigsüß, dass er hoffentlich daran erstickte. »Ich hätte gern eine Cola, Herzchen.«

Seine Mundwinkel zuckten. Einen viel zu langen Moment lang hielt er meinen Blick fest, dann richtete er sich auf und kümmerte sich um meine Bestellung. Ich sah ihm nach und atmete zischend aus. Das war nicht die erwünschte Reaktion gewesen, aber egal. Nach heute musste ich diesen Kerl nie wieder sehen, weil ich bei meinem Glück in letzter Zeit auch diesen Job nicht bekommen würde.

Während er meine Cola eingoss, flirtete er mit einer Brünetten, die an den Tresen getreten war und ihn strahlend anlächelte. Wahrscheinlich bekam er an einem Abend wie diesem mehr Telefonnummern als Trinkgeld zugesteckt – und genoss das auch noch. Ich verdrehte die Augen. Ernsthaft: Wie hatte ich diesen Kerl auch nur eine Sekunde lang heiß finden können?

Als er kurz darauf ein Glas vor mich stellte, registrierte ich zum ersten Mal, dass auch seine Hände mit denselben Brandnarben bedeckt waren wie sein Hals. Allerdings eher an der Innenfläche und an den Fingern.

»Geht aufs Haus«, verkündete er und zwinkerte mir zu.

Ich hielt mit dem Geldschein in der Hand inne. »Nein, danke. Ich lasse mich nur von Leuten auf einen Drink einladen, die meinen Namen kennen – und ihn auch benutzen.« Mit diesen Worten warf ich den Schein auf den Tresen, schnappte mir meine Cola und wandte mich ab.

»Wie ist dein Name?«, rief er mir nach, als ich einen der freien Tische ansteuerte.

Wider Willen musste ich lächeln, drehte mich aber nicht zu ihm um. Sollte er sich doch darüber den Kopf zerbrechen. Ich würde ganz sicher keinen weiteren Gedanken an diesen Typen verschwenden.

Während ich mich mit meiner Cola an einen Platz in der Ecke zurückzog, überdachte ich mein Vorgehen. Es tat zwar gut, sich hinzusetzen und die schmerzenden Füße auszuruhen, aber ich war mit einer bestimmten Mission hier hereingekommen. Der ältere Barkeeper war noch immer beschäftigt und Mister Arrogant würde ich ganz sicher nicht fragen.

Unvermittelt tauchte eine Frau neben meinem Tisch auf, ein Tablett voller leerer Gläser in der linken Hand. »Brauchst du noch etwas?«

Ich starrte auf die dunkle Flüssigkeit in meinem Glas. »Ach, nur genug Geld, um meine Miete, Einkäufe und meine Unibücher zu bezahlen. Ein Job würde es auch tun«, murmelte ich, ohne nachzudenken.

Sie lachte leise und ich hob überrascht den Kopf. »Wie gut, dass ich gerade jemanden suche.« Die Fremde schien Anfang vierzig zu sein, hatte das lange dunkelbraune Haar zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und war ganz in Schwarz gekleidet. Sie verlagerte das Tablett und hielt mir die Hand hin. »Ich bin Josephine Kerrigan, aber du kannst Josie zu mir sagen. Mir gehört der Laden.«

»Faith«, erwiderte ich automatisch und schüttelte ihre Hand. »Faith McGregor. Freut mich.«

Sie stellte das Tablett auf den Tisch und setzte sich mir gegenüber. Aus der Nähe bemerkte ich die Falten auf ihrer Stirn und die Erschöpfung in ihren Augen. »Du hast einen interessanten Akzent, Faith. Du bist nicht von hier, oder?«

»Wir sind oft umgezogen«, wich ich aus. »Ich habe schon in Edinburgh, Glasgow und London gelebt und dort wahrscheinlich einige Ausdrücke aufgeschnappt.«

Das war noch untertrieben. Nachdem wir von der Isle of Lewis weggezogen waren, hatten wir in allen möglichen Kleinstädten und entlegenen Dörfern in Schottland gelebt. Nach Dads Verschwinden hatten wir dann in Edinburgh ein neues Zuhause gefunden. Leider nur für zwei Jahre. Danach waren wir erst in Glasgow, dann in London gewesen und schließlich in Aberdeen gelandet, wo Mum noch immer wohnte. Im Laufe der Zeit hatten Levi und ich eine Mischung aus allen möglichen Dialekten angesammelt, die sich auf unsere Aussprache auswirkten. Von weiteren landesüblichen Sprachen wie Scots und Gälisch ganz zu schweigen.

Josie lächelte warm. »Dann bist du ja viel herumgekommen. Was führt dich nach Dundee? Studierst du hier?«

»Ja, ich studiere seit diesem Semester Biologie.«

Ich ignorierte das kurze Aufflackern von Überraschung in ihrem Gesicht. Nicht zum ersten Mal begegnete ich dieser Reaktion, und ich wusste, dass viele Menschen von einer jungen Frau mit platinblonden Haaren nicht erwarteten, dass sie eine Naturwissenschaft studierte. Aber warum eigentlich nicht? Nur weil ich auf mein Aussehen achtete und mir alles, was mit Make-up zu tun hatte, wirklich Spaß machte, schrumpfte schließlich nicht mein Gehirn. Außerdem war Biologie die einzige mögliche Wahl gewesen, weil ich damit in die Genetik gehen konnte. Der einzige Weg, um mehr über meine Heilkraft herauszufinden. Der einzige Weg, eines Tages damit hoffentlich auch anderen Menschen helfen zu können. Meiner Mum helfen zu können. Falls es bis dahin nicht zu spät war.

»Und jetzt suchst du einen Job«, stellte Josie fest. »Du bist spät dran.« Sie lehnte sich zurück. Ihre entspannte Haltung geriet jedoch ins Wanken, als ein schrilles Klirren aus Richtung der Küche ertönte. Josie seufzte leise, stand aber nicht auf, um nachzusehen, was passiert war. »Hast du schon mal in einem Pub gearbeitet?«

Ich nickte. »Zwei Mal. Einmal bin ich als Aushilfe eingesprungen und einen Sommer lang habe ich in London in einem Pub gejobbt. Vor und hinter dem Tresen. Ich kenne die Abläufe, bin anpassungsfähig und habe kein Problem damit, mir die Hände schmutzig zu machen.«

Sekundenlang musterte Josie mich mit unbewegter Miene, dann breitete sich langsam ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Du bist eingestellt. Zunächst auf Probe, aber wenn es gut läuft, bist du dabei. Willkommen im Team.« Sie stand auf, nahm das Tablett mit den leeren Gläsern und bedeutete mir, ihr zur Bar zu folgen. »Das ist Freddie und der Typ da hinten am anderen Ende der Bar ist mein Neffe Jax.« Mit einem Kopfnicken deutete sie erst auf den älteren Barkeeper, dann auf den arroganten Mistkerl, der mich Schneeflöckchen genannt hatte und gerade damit beschäftigt zu sein schien, eine Blondine anzugraben.

Moment mal. Das war Josies Neffe? Und sie hatte mir soeben einen Job gegeben?

»Freddie, das ist Faith. Sie arbeitet ab heute hier.«

Mein neuer Kollege nickte mir freundlich zu, sagte jedoch nichts. Gut möglich, dass er eher der schweigsame Typ war. Jax hingegen schien zumindest mit halbem Ohr zugehört zu haben – und wenn ich seine entsetzt aufgerissenen Augen richtig deutete, war er alles andere als überzeugt von Josies Wahl. Aus irgendeinem Grund bereitete es mir unheimlich viel Freude, ihn so zu sehen.

»Sie ist gerade mal vor fünf Minuten hier reinspaziert und du hast sie eingestellt?«, rief er. »Einfach so?!«

»Einfach so«, bestätigte Josie. »Oder sagen wir, nach einer ausreichend langen Überlegungsphase meinerseits. Ich hab euch beide vorhin beobachtet. Dieses Mädchen ist nicht auf den Mund gefallen, kann es mit dir aufnehmen und lässt sich nicht von deinem Charme oder deinem Aussehen um den Finger wickeln.«

Ich hüstelte. »Welcher Charme?«

Josie lächelte zufrieden. »Genau das meine ich. Sie ist perfekt für die Stelle.« Sie schnappte sich eine Kiste von unter dem Tresen und marschierte damit Richtung Ausgang. »Ich muss noch ein paar Einkäufe erledigen. Jax, sieh zu, dass du deine neue Kollegin einarbeitest, dann kann sie gleich loslegen.«

Ich strahlte und war so erleichtert, dass mit einem Mal jede Erschöpfung und jeder Frust wie weggeweht waren. »Danke!«, rief ich ihr nach. »Du wirst es nicht bereuen.« Das hoffte ich zumindest.

Als ich mich wieder umdrehte, bemerkte ich den nachdenklichen Blick, mit dem Jax mich studierte.

»Was?«

Seine Lippen verzogen sich zu einem süffisanten Lächeln. »Du hast vorhin zwar meinen Charme angezweifelt, aber nichts zu meinem Aussehen gesagt, Schneeflöckchen.«

»Bilde dir bloß nichts darauf ein. Und hör auf, mich so zu nennen.«

»Aber es passt so gut zu dir.« Sein Blick wanderte erneut zu meinen Haaren und er hob die Hand, als wollte er eine Strähne zwischen die Finger nehmen, ließ sie jedoch sinken, bevor ich sie wegschlagen konnte.

»Und zu dir passt Mistkerl und Schwachkopf, aber ich nenne dich trotzdem nicht so.«

»Du kannst mich stattdessen gerne weiterhin Herzchen nennen.«

Ich rollte mit den Augen. Gleichzeitig machte sich eine unwillkommene Wärme in meinen Wangen breit. »Das hättest du wohl gerne.«

»Du hast ja keine Ahnung«, murmelte er und winkte mich zu sich. »Gerade ist nicht viel los, also kann ich dir das Wichtigste zeigen. Aber vorher …« Er hielt inne und musterte mich so eindringlich, dass ich wieder dieses unangebrachte, absolut nervige Kribbeln in der Magengrube verspürte. »Verrätst du mir jetzt endlich deinen Namen?«

Aus irgendeinem Grund musste ich lächeln, als er das fragte. Doch dann fiel mir ein, dass er meinen Namen wissen musste, wenn wir ab jetzt zusammen hier arbeiteten und ich nicht wollte, dass er mich quer durch die Bar Schneeflöckchen rief.

Mein Lächeln verblasste. »Faith. Ich heiße Faith.«

»Schön, dich kennenzulernen.« Er gab mir nicht die Hand, doch der Blick aus seinen blauen Augen war noch immer so durchdringend, als versuchte er, meine tiefsten Geheimnisse zu ergründen.

Ich hielt seinem Blick stand, auch wenn alles in mir darauf drängte, wegzusehen. Mein Puls raste, meine Muskeln spannten sich an, aber ich wandte mich nicht als Erste ab. Stattdessen beobachtete ich, wie Jax’ Mundwinkel langsam nach oben wanderten, bevor er schließlich den Blickkontakt abbrach – vorgeblich, weil ein Gast nach ihm rief. Als er sich wegdrehte, schloss ich für einen winzigen Moment die Augen und atmete tief durch. Ich musste mich einkriegen – und zwar schnell, denn Jax und ich waren ab heute Kollegen. Was bedeutete, dass wir es miteinander aushalten mussten, ohne uns ständig irgendwelche Sprüche an den Kopf zu werfen. Ich schnaubte. Na, wenn das mal kein Kinderspiel war.

Je später es wurde, desto mehr Leute drängten sich in den Pub und ich verstand, warum Josie mich so schnell eingestellt hatte. Sie konnten die Hilfe wirklich gut gebrauchen.

Ich lernte schnell, die Einheimischen von den wenigen Touristen und den Stammgästen zu unterscheiden, und überstand meinen ersten spontanen Arbeitseinsatz fast ohne Probleme. Barnes, ein pausbäckiger Mann mittleren Alters mit warmen Augen und einem dröhnenden Lachen, der eindeutig zur Stammkundschaft gehörte, half mir, als ich sein Glas verschüttete und sprach mir sogar Mut zu, als ich mich tausendmal dafür entschuldigte.

Doch selbst mit Jax und dem schweigsamen Freddie hinter der Bar und der Kellnerin Daisy, die für die Essensbestellungen zuständig war und zwischen Küche und Schankraum hin und her flitzte, schwirrte mir schon bald der Kopf. Die ganze Zeit über versuchte ich immer dort auszuhelfen, wo am meisten zu tun war, räumte Tische ab, nahm Bestellungen an der Bar entgegen und brachte Tabletts mit leeren Gläsern und Geschirr zurück, nur um sie mit neuen Speisen und Getränken zu beladen und zu den Tischen zu tragen.

Zu meiner Überraschung arbeiteten Jax und ich tatsächlich gut zusammen – zumindest, solange er nicht den Mund aufmachte. Denn dann wurde klar, dass es ihm einfach tierisch Spaß machte, mir auf die Nerven zu gehen. Wenn er noch ein einziges Mal Schneeflöckchen durch den ganzen Pub rief, würde ich ihm mit der nächsten Flasche, die ich in die Finger bekam, eins überziehen.

Gegen 23 Uhr leerte es sich nach und nach, weil wir um diese Uhrzeit zumachten. Nachdem auch die Letzten ihren Weg nach draußen gefunden hatten, hätte ich mich vor Erleichterung am liebsten auf den Boden gesetzt und die müden Beine ausgestreckt. Stattdessen räumte ich die letzten Tische ab, brachte alles zur Bar und nahm das Putzzeug entgegen, das Josie mir hinhielt, um die Tische abzuwischen. Als sie gleich darauf wieder in der Küche verschwand, waren Jax und ich zum ersten Mal völlig allein. Freddie und Daisy waren vor ein paar Minuten nach Hause gegangen – sie waren morgen Abend mit Aufräumen und Saubermachen dran.

»Du hast dich gut geschlagen«, gab Jax widerwillig zu und begann, am anderen Ende des Raumes die ersten Stühle umgedreht auf die Tische zu stellen. »Hätte ich nicht gedacht.«

»Und ich hätte nicht gedacht, etwas Nettes aus deinem Mund zu hören«, erwiderte ich trocken und folgte seinem Beispiel mit den Stühlen von der anderen Seite aus.

»Ach komm schon, ich kann nett sein. Wenn ich will«, fügte er hinzu, als ich nur die Augenbraue hochzog.

Irgendwie bezweifelte ich das. Jax konnte seinen Charme an- und ausknipsen, wie er wollte, aber wenn man mich fragte, meinte er nicht mal die Hälfte der Komplimente und Höflichkeiten, die er von sich gab, auch tatsächlich so. Wahrscheinlich machte ihn das zu einem sehr guten Barkeeper, aber … ugh.

»Das glaube ich, wenn ich es sehe.«

Jax warf mir einen Blick zu, den ich nicht ganz deuten konnte. »Wahrscheinlich fragst du dich schon die ganze Zeit, woher ich die Narben habe«, wechselte er abrupt das Thema.

Für einen winzigen Moment hielt ich mit der Hand an einer Lehne inne, machte dann jedoch nahtlos mit dem Aufstuhlen weiter. »Eigentlich nicht.«

»Alle fragen sich das.«

»Ich nicht.«

Uns beiden war klar, dass das eine Lüge war. Aber ganz ehrlich? Ich an seiner Stelle hätte keine Lust, ständig die Neugier anderer zu stillen, also stellte ich keine Fragen. Zumal ich nur zu genau wusste, wie gefährlich Fragen werden konnten, wenn man etwas lieber für sich behalten wollte.

Schweigend arbeiteten wir uns durch den Pub – er auf seiner Seite, ich auf meiner, was zur Folge hatte, dass wir uns Stück für Stück näher kamen.

»Das kommt davon, wenn man zu sehr mit dem Feuer spielt.« Seine Stimme klang auf einmal viel zu nahe. »Also pass lieber auf, dass du dich nicht verbrennst.«

Sein Ernst?!

Ich schnaubte und gab mir alle Mühe, diesen Kerl ebenso zu ignorieren wie die Hitze, die sich völlig unpassender Weise in meinem Bauch ausbreitete. Doch als ich den letzten Stuhl auf einen der größeren Tische gestellt hatte und mich umdrehte, prallte ich fast mit Jax zusammen.

»Vorsicht, Schneeflöckchen«, raunte er mit einem selbstgefälligen Lächeln, machte jedoch keine Anstalten, mich festzuhalten oder auch nur anzufassen. »Sonst könnte es so wirken, als würdest du absichtlich meine Nähe suchen.«

»Oh mein Gott, du hast mich durchschaut! Wo warst du nur mein ganzes Leben? Und könntest du bitte wieder dorthin verschwinden?« Ich ließ ihn ohne ein weiteres Wort stehen, aber sein leises Lachen folgte mir bis in den Pausenraum.

Mit meiner Tasche und Jacke kehrte ich in den Pub zurück und steuerte den Ausgang an, ohne Jax eines weiteren Blickes zu würdigen. Josie war nicht in der Küche gewesen, als ich mich von ihr hatte verabschieden wollen, aber sie hatte mich bereits im Laufe des Abends über den Arbeitsplan aufgeklärt und meine nächste Schicht stand am Sonntag an. Danach würde ich, sofern alles passte und ich den Job behalten konnte, an zwei Abenden die Woche – jeden Mittwoch und jeden Freitag – hier arbeiten und zusätzlich kurzfristig einspringen, falls jemand unerwartet ausfiel.

»Hey, Schneeflöckchen!«

Grrrr …

Widerwillig blieb ich an der Tür stehen und drehte ich mich zu Jax um. »Was?«

Seine Miene war unerwartet ernst. »Es ist spät. Brauchst du Begleitung?«

Ich blinzelte überrascht, dann schüttelte ich den Kopf. »Nicht von dir. Aber danke.« Und damit ging ich.

Die Nachtluft war noch warm, obwohl es schon fast Mitternacht war, dennoch kroch eine Gänsehaut über meine Arme. Die Straßen waren leer. Keine Menschen und auch keine Autos weit und breit. Ich hatte keine Ahnung, wo die nächste Haltestelle war oder wo ich ein Taxi finden konnte. Toll. Wirklich toll. Zumindest kannte ich die ungefähre Richtung, in der die WG liegen musste, also setzte ich mich in Bewegung.

Meine Schritte hallten dumpf von den Mauern der Häuser wider. Die kleinen Läden hatten längst geschlossen und hinter den Fenstern der Wohnungen darüber brannte nur vereinzelt Licht. War das dieses Studentenleben, von dem alle erzählten? Es war immerhin Freitagabend, doch die ganze Stadt schien bereits zu schlafen … Es sei denn, irgendwo anders fand heute eine große Party statt, von der ich nichts wusste und auf der sich alle herumtrieben. Irgendwie wäre ich jetzt lieber dort gewesen, statt mitten in der Nacht allein durch Dundee zu laufen. Vielleicht hätte ich Jax’ Angebot, mich nach Hause zu begleiten, doch annehmen sollen …

Mein Nacken begann zu kribbeln. Es war dieselbe Empfindung wie schon heute Nachmittag. Und auf einmal war da etwas. Ein Geräusch. Ich wirbelte herum. Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. Ein Schatten, der zwischen den Häusern verschwand. Sekundenlang herrschte völlige Stille, dann waren schwere Schritte zu hören. Mein Puls hämmerte los. Ich war nicht allein. Ich war definitiv nicht mehr allein. Und was auch immer da draußen war, war mit ziemlicher Sicherheit kein Mensch.

Lauf, Faith!

Mit der Stimme meines Vaters im Ohr packte ich den Riemen meiner Umhängetasche fester und rannte los. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Jeder Muskel in meinem Körper war angespannt, dennoch setzte ich einen Fuß vor den anderen, wieder und wieder, bis ich endlich die Sicherheit meiner WG erreichte.

Allerdings wusste ich eine Sache mit absoluter Bestimmtheit: Es waren nicht Menschen, vor denen ich mich fürchten musste. Denn da draußen lauerte Schlimmeres. Viel Schlimmeres.

Kapitel 3

Krankenhäuser waren schlimm. Wirklich schlimm. Als Kind war ich nur ein einziges Mal in einem gewesen – damals hatten meine panischen Eltern mich blutüberströmt in die Notaufnahme gebracht, nachdem ich auf die Straße gelaufen und von einem Auto angefahren worden war. Allerdings hatten die Ärzte nichts gefunden. Auf wundersame Weise hatte es keine offenen Wunden mehr gegeben, keine Brüche und auch sonst keine Verletzungen, die sie behandeln konnten. Alles war bereits verheilt. Ich erinnerte ich noch verschwommen daran, wie die Ärzte und das Pflegepersonal Mum und Dad Fragen gestellt und ihnen sogar Vorwürfe gemacht hatten, nicht richtig auf mich aufgepasst zu haben oder mich sogar zu vernachlässigen. Auch mich hatten sie mit Fragen gelöchert und es war sogar jemand vom Jugendamt dabei gewesen.

Immer wieder hatte ich ihnen von dem Autounfall erzählt, bis ich diese Geschichte beinahe selbst glaubte. Denn in Wirklichkeit war das bloß ein Teil der Wahrheit. Zuerst hatte ich nur Dad von dem Monster erzählt, das mich angegriffen hatte und vor dem ich panisch weggelaufen war – mitten auf die Straße vor das herannahende Auto. Dann hatte Mum es erfahren. Und schließlich Levi. Es war die erste Begegnung dieser Art gewesen – aber nicht die letzte. Kurz nach diesem Ereignis hatten wir unsere Sachen gepackt und die Isle of Lewis verlassen. Es war die erste Flucht, der erste Umzug von vielen gewesen.

Danach hatte ich mir fest vorgenommen, ein Krankenhaus nie wieder von innen sehen zu müssen – aber das Schicksal hatte andere Pläne.

Als ich an diesem Montagabend durch die Gänge der Aberdeen Royal Infirmary lief, hing der gleiche Geruch nach Desinfektionsmitteln, Putzzeug und billigem Kaffee aus dem Automaten in der Luft wie vor zehn Jahren im Krankenhaus auf der Isle of Lewis. Im Gegensatz zu damals kannte ich mich hier jedoch aus. Ich wusste viel zu genau, wo sich die Intensivstation befand, zu welchen Uhrzeiten das Wartezimmer besonders überfüllt war und auch wie widerlich der Kaffee hier schmeckte. Aber am besten kannte ich den Weg zu dem Krankenzimmer, in dem Mum seit über drei Wochen lag.

Ich klopfte an und öffnete nach einem kurzen Moment die Tür. Die Vorhänge waren schon für die Nacht zugezogen. Das Quietschen meiner Chucks auf dem beigefarbenen Linoleumboden war erschreckend laut in der Stille des Zimmers. Mum lag in einem der beiden Betten, die Augen geschlossen, wie immer an einen Tropf und mehrere Geräte angeschlossen, die ihre Vitalfunktionen aufzeichneten.

Leise trat ich ans Fußende des Bettes und hielt unwillkürlich den Atem an. Mum war blass und ihre Wangen wirkten eingefallen. Das gleichmäßige Piepen, das ihren Herzschlag anzeigte, war zwar kräftig, aber sie musste wieder eine Nasenkanüle tragen, durch die sie mit zusätzlichem Sauerstoff versorgt wurde.

Von draußen hörte ich eilige Schritte. Gedämpfte Stimmen. Husten. Ein Telefon, das irgendwo klingelte. Kurz sah ich zum zweiten Bett hinüber, das nur durch einen aufgezogenen blauen Vorhang von Mums Seite getrennt war, aber es war leer.

Ein Seufzen zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Mums Lider flatterten, dann schlug sie die Augen auf. Augen, die denen von Levi ähnelten. Sie waren so grau wie ein sturmumtoster Morgen.

»Hey, Mum.«

»Faith …« Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, das jedoch sofort besorgte Züge annahm. »Was machst du denn hier?«

Ich ignorierte den Stich in meiner Brust, weil sie sich wieder mal um mich sorgte, statt um sich selbst. Und weil sie glaubte, es müsste etwas passiert sein, damit ich sie besuchen kam. Stattdessen ging ich um das Bett herum und half ihr dabei, sich aufzusetzen. »Ich wollte dich einfach nur sehen.«

Meine Mutter hatte eine genetisch bedingte Immunschwäche. Früher hatte man ihr kaum etwas davon angemerkt – oder sie hatte es gut vor uns zu verbergen gewusst –, doch in den letzten Jahren war es immer schlimmer geworden. Das hier war schon die zweite Lungenentzündung innerhalb weniger Monate. Aufgrund ihres geschwächten Immunsystems hatte sie kaum Zeit gehabt, sich von der ersten zu erholen, als sie kurz vor Levis und meinem Umzug nach Dundee schon wieder im Krankenhaus gelandet war.