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Beschreibung

Die Termini "übersetzen" und "sprachmitteln" bezeichnen komplexe Phänomene, die in den Fremdsprachendidaktiken immer schon intensiv thematisiert wurden. Demgegenüber sind Ansätze, literarische Übersetzungen und Übersetzungsprozesse im muttersprachlichen Deutschunterricht fruchtbar zu machen, immer noch überschaubar. Das Heft "übergesetzt" nimmt deshalb verschiedene Phänomene der interlingualen, intralingualen und interkulturellen Translation in den Blick und präsentiert Konzepte und Unterrichtsmodelle aus literatur- und sprachdidaktischer Perspektive. Dadurch soll eine Reflexion über Sprache und die Sprachlichkeit des Menschen sowie über gelingende und misslingende Akte des Übersetzens angestoßen werden.

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Editorial

HAJNALKA NAGY,

Johannes Odendahl:

Editorial

Magazin

KommentarSTEFAN KRAMMER: Lehrplan neu: eine Chance für die Literatur?

ide empfiehltHAJNALKA NAGY:A. Bombitz, C. Leitgeb,L. M. Vosicky (Hg., 2022)Frachtbriefe

Neu im Regal

Übersetzen – zu einem wandernden und sich wandelnden Phänomen

SEBASTIAN DONAT: Literarische Übersetzung – kulturelle Übersetzung.Ein Versuch der Synthese (mit Blick auf Nachbildungen des Ghaselsin der deutschsprachigen Dichtung der Goethezeit)

THOMAS HAINSCHO: Voraussetzungen für Übersetzbarkeit.Sprachphilosophische Überlegungen zu der Verbindungzwischen Sprache, Fremdsprache und Welt

Transformationen und Metamorphosen

ESTHER KILCHMANN: Zwischen den Sprachen.Mehrsprachigkeit und Spiele mit Übersetzung in der Literatur

BRIGITTE RATH: Nicht-einsprachig unterrichten.Uljana Wolfs dust bunnies

JOHANNES ODENDAHL: Vereinfachen? Übersetzen!Zur verständnisfördernden Bearbeitung kanonisierter Schullektüren

LENA CATALDO-SCHWARZL: Was heißt das in deiner Sprache?Zur Bedeutungdes Übersetzens im Rahmen des Translanguaging-Ansatzes in der Schule

Brücken schlagen. Übersetzen und Vermitteln in der Praxis

DOMINIK SRIENC: Nur Bahnhof verstehen oder nicht verstehen?Ein Praxisbeispiel über die kollektive Übersetzungeines ungarischen Gedichts als produktive Übung imNicht-Verstehen

MARTINA LIEDKE: Aufgabe: Mediation.Zum Potential von Sprachmittlungsaufgaben im Deutschunterricht

ANNETTE KLIEWER: Zwischen allen Stühlen.Komparatistischer Literaturunterricht mit Regionalliteratur

LEA GRIMM: Übersetzte Bilderbücher aus Asienals Ausgangspunkt für kulturelles Lernen in der Primarstufe.Ein Vorschlag für die Unterrichtspraxis

Service

LAURA PUCK-OLIPP: Übersetzungen im Deutschunterricht.Bibliographische Notizen

 

 

 

»Übersetzen« in anderen ide-Heften

 

 

ide 2-2022

Österreich im Blick

ide 4-2021

Global Citizenship Education

ide 3-2021

Sprachbewusstsein

ide 4-2020

Spracherwerb und Sprachenlernen

ide 4-2019

Inklusion. Deutschunterricht der Vielfalt

ide 2-2017

Die Donau – Länder am Strome

ide 4-2015

Sprachliche Bildung im Kontext von Mehrsprachigkeit

ide 3-2014

Österreichisches Deutsch und Plurizentrik

ide 2-2008

Mehrsprachigkeit

ide 2-2005

Sprachbegegnungen

 

 

 

Das nächste ide-Heft

 

 

ide 2-2023

Textfeedback

 

erscheint im Juni 2023

 

 

 

Vorschau

 

 

ide 3-2023

Ökonomie und Deutschunterricht

ide 4-2023

Sprache(n) und Zugehörigkeiten

 

https://ide.aau.at

Besuchen Sie die ide-Webseite! Sie finden dort den Inhalt aller ide-Hefte seit 1988 sowie »Kostproben« aus den letzten Heften. Sie können die ide auch online bestellen.

www.aau.at/germanistik/fachdidaktik

Besuchen Sie auch die Webseite des Instituts für GermanistikAECC, Abteilung für Fachdidaktik an der AAU Klagenfurt: Informationen, Ansätze, Orientierungen.

Editorial

Ohne Übersetzung würden wir in Provinzen leben, die ans Schweigen grenzen.(George Steiner)

Übersetzt – und auch übergesetzt? Hinter der sprachlichen Handlung des Übersetzens (mit der Betonung auf dem zweiten Wortbestandteil) steckt nicht selten die Hoffnung, gleichzeitig damit könne ein Vorgang des Übersetzens (mit betontem Präfix) gelingen. Wie ein trennendes Gewässer soll also durch die Übersetzung ein zunächst unüberwindlich scheinendes Hindernis zwischen Mensch und Mensch überschritten werden. Übersetzung strebt Verbindung und Kommunikation an, sie zielt auf die Überwindung von Fremdheit, Unverständnis und Gleichgültigkeit ab, sie hilft (so jedenfalls verstehen wir das Motto von George Steiner), das lähmende Schweigen zu brechen.

Wo übersetzt wird, wird also auch übergesetzt? Ob dieser Optimismus begründet ist, ob und inwiefern also das Übersetzen und Sprachmitteln speziell auch in unterrichtlichen Kontexten dabei hilft, Brücken zu schlagen und sprachliche ebenso wie kulturelle Distanzen zu überschreiten: Mit Fragen wie diesen beschäftigt sich das vorliegende Themenheft. Die Termini literarische Klassiker in ein Gegenwartsdeutsch zu »übersetzen«. »übersetzen« und »sprachmitteln« bezeichnen dabei komplexe Sprachhandlungen und Phänomene, die in den Fremdsprachendidaktiken immer schon intensiv thematisiert wurden. Demgegenüber sind Ansätze, Übersetzungen und Translationsprozesse im muttersprachlichen Deutschunterricht fruchtbar zu machen, immer noch überschaubar, obwohl sie in allen Bereichen des Deutschunterrichts – also in der Sprach-, Literatur- und Mediendidaktik – relevant werden können. Bisherige didaktische Auseinandersetzungen mit Übersetzungen im Deutschund Fremdsprachenunterricht (etwa Bärnthaler 1993; Weinkauff/Josting 2012 und die thematischen Hefte der Zeitschriften Der Deutschunterricht 1990, Fremdsprache Deutsch 2000, Praxis Deutsch 2008) konzentrieren sich auf das Übersetzen als interlinguales Sprachhandeln und stellen die Arbeit mit literarischen Übersetzungen in den Fokus. Das vorliegende ide-Heft übergesetzt nimmt Übersetzung sowohl als inter- und intralinguales als auch als (inter-)kulturelles Phänomen in den Blick und präsentiert Konzepte und Unterrichtsideen, die im Bereich der sprachlichen, literarischen und kulturellen Bildung gleichermaßen relevant werden. Mit dem Heft möchten wir zudem eine Reflexion über Sprache und die Sprachlichkeit des Menschen und damit im Zusammenhang über gelingende und misslingende Akte des Übersetzens anstoßen. Nicht zuletzt sollen aber auch neue Herausforderungen des Deutschunterrichts sichtbar werden – etwa die Frage nach dem Wert von Mehrsprachigkeit in einem sich als einsprachig verstehenden Schulsystem oder auch die nach der Notwendigkeit,

Zum Übersetzen als sich wandelndes Phänomen

Mit »Übersetzung« sind zwei grundlegende, miteinander durchaus auch konkurrierende Konzepte verknüpft (vgl. auch Donat in diesem Heft). Zuallererst kann »Übersetzen« im engeren Sinn als »Ersetzen eines Textes in der Ausgangssprache durch einen semantisch, pragmatisch und textuell äquivalenten Text in der Zielsprache« (House 2000, S. 260) definiert werden. In diesen translationswissenschaftlichen Ansätzen ist die interkulturelle Dimension der Translation stets mitberücksichtigt, zumal »Übersetzungen immer zugleich Orte des Sprach- und Kulturkontakts und Medien des Transfers [sind]« (ebd., S. 262). »Vermittelt« werden also nicht nur sprachliche Strukturen und Äußerungen, sondern auch die Funktion des Textes und jene Bezugsrahmen, die dieser in einem bestimmten situativen und gesellschaftlichen/kulturellen Kontext aufweist. Auch wenn bereits die klassischen Konzepte mit der Unterscheidung zwischen »verfremdender«/»offener« und »eindeutschender«/»verdeckter« Übersetzung die Schwierigkeiten, wenn nicht sogar die Unmöglichkeit, einer vollkommenen Übertragung problematisieren (vgl. auch den Beitrag von Hainscho in diesem Heft), wird hier noch ein traditionelles Sprach- und Kulturverständnis dominant gesetzt, d. h. von der Binarität zweier voneinander gut trennbarer Sprachen und kulturell homogener Kommunikationsgemeinschaften ausgegangen. So überrascht es nicht, wenn Schlüsselbegriffe wie Original, Äquivalenz, Repräsentation oder eben Autorschaft den translatorischen Diskurs bestimmen.

VertreterInnen der Postcolonial und Cultural Studies wie Homi K. Bhabha, Stuart Hall und Doris Bachmann-Medick haben nun dieses enge Konzept des interlingualen Übersetzens auf kulturelle Phänomene ausgeweitet. Dabei gehen sie davon aus, dass aufgrund aktueller Migrations-, Globalisierungs-, Europäisierungs-, Medialisierungs- und Digitalisierungs prozesse nicht lediglich Texte im weiteren Sinne überall in der Welt kursieren und so einer vermittelnden Übersetzung bedürfen, sondern auch kulturelle Praktiken, Ideologien, Diskurse und Vorstellungen (vgl. Wagner 2012, S. 1; vgl. auch Donat in diesem Heft). Mit der Verabschiedung der Idee von sprachlich und kulturell homogenen Identitäten und der Akzentuierung einer zunehmenden Hybridisierung und Verflechtung von Kulturen werden auch essentialistische Konzepte klassischer Übersetzungstheorien – etwa der Mythos der Ursprünglichkeit, Reinheit und Authentizität – zugunsten von Übergängen, Zwischenräumen, Hybridisierungen sowie Verfremdungen zurückgedrängt. Bachmann-Medick definiert Translation als eine »differenzbewusste Grenzüberschreitung« neu und meint damit »Kulturtechniken des Umgangs mit komplexen Situationen, in denen Bedeutungen, Überzeugungen und Wahrnehmungen nicht etwa nur (einseitig) übertragen, sondern durchaus auch deplatziert und vor allem (wechselseitig) transformiert werden« (Bachmann-Medick/Buden 2008, o. S.). Kulturwissenschaftlich orientierte Theorien der Übersetzung fokussieren auch Hindernisse, Störungen und Verwerfungen im Transferprozess, bei gleichzeitiger Berücksichtigung globaler Hegemonieverhältnisse und Machtasymmetrien. Bachmann-Medicks Interesse richtet sich demnach auf die durchaus problematische Repräsentation des nicht-europäischen Fremden sowie weiße Aneignungsstrategien, aber auch auf die Möglichkeiten subalternen Widerstands im ironischen, parodistischen Umgang mit westeuropäischen kulturellen Praktiken im Akt des Übersetzens (vgl. Bachmann-Medick 1997). Sie stellt auch Vermittlungsinstanzen und die Rolle der ÜbersetzerInnen in den Mittelpunkt und übt Kritik an Tendenzen, die Unmittelbarkeit vortäuschen und Übersetzungsprozesse unsichtbar machen (vgl. Bachmann-Medick/Buden 2008, o. S.). Gerade die Vermitteltheit von Übersetzungen im engeren Sinne und die Problematik traditioneller Kultur- und Identitätskonzepte sollten auch im Deutschunterricht offensichtlich werden, wenn Übersetzung thematisiert oder als Unterrichtsmethode eingesetzt wird.

Zur deutschdidaktischen Begründung einer Übersetzungsdidaktik

Trotz intensiver Beschäftigung mit literarischen Übersetzungen in den bereits genannten deutschdidaktischen Publikationen und trotz der Öffnung schulischer Literaturkanons infolge interund transkultureller Theoriebildungen wird im Literaturunterricht der (gymnasialen) Oberstufe immer noch wenig internationale Literatur gelesen und noch weniger auf den Umstand hingewiesen, dass diese Texte Übersetzungen sind (vgl. auch Abraham/Kepser 2008, S. 7; Weinkauff 2012, S. 15). Ein Blick in gängige Literaturgeschichten zeigt zudem, dass weltliterarische Tendenzen, die auf die Entwicklung der deutschsprachigen Literaturen – gerade dank verschiedener Transferprozesse – einen besonderen Einfluss gehabt haben, kaum zu finden sind, obwohl bereits Goethe unter dem Schlagwort »Weltliteratur« eine wechselseitige Bezugnahme und ein gegenseitiges Kennenlernen der Nationalliteraturen anstrebte (zu neueren Ansätzen der Weltliteratur vgl. ide 1/2010). So steht der tatsächlichen Vielfalt translatorischer Literatur (vgl. die Bezeichnung bei Ivanović 2018) sowie der regen »Kom munikation« der Literaturen untereinander noch immer ein auf Einsprachigkeit und die deutschsprachige Literatur fokussierter Literaturunterricht gegenüber, der klassische Konzepte von Kultur, Nation und Literatur auch unbewusst weitertradiert.1

Währenddessen wurde in der Fremdsprachendidaktik die Rolle der Übersetzung zwar häufig kontrovers diskutiert, als Methode bzw. als Übungsform hatte jedoch das »Sprachmitteln« – so die neue, offenere Bezeichnung (vgl. den Beitrag von Liedke in diesem Heft) – immer schon einen fixen Platz. Abstand genommen wurde von der Übersetzung als Übungsform Königs zufolge vor allem deshalb, weil sie – im Vergleich zu den anderen vier Fertigkeiten Lesen, Hören, Sprechen, Schreiben – eine zu komplexe Kompetenz darstellt und weil durch das Zurückgreifen auf die jeweilige Muttersprache das »Denken« in der Fremdsprache verhindert wird (Königs 2001, S. 956 f.). Zunehmend kritisch betrachtet wird auch die Praxis, Übersetzungen für das Einüben bestimmter grammatikalischer Strukturen und Regeln zu instrumentalisieren. Plädiert wird für Übersetzungs- und Sprachmittlungsaktivitäten – auch im deutschdidaktischen Kontext – in erster Linie mit dem Argument, dass durch kontrastive Sprachbetrachtungen sprachliche Kompetenzen und Schreibkompetenzen erweitert (im Bereich der Grammatik, der Lexik, der Syntax und der Textmuster), Sprachbewusstheit und Sprachaufmerksamkeit gefördert und Reflexionen über Sprache vertieft werden können (vgl. im Detail Weinkauff 2012, S. 20). Zudem werden auch soziale und interkulturelle Kompetenzen geschult (vgl. Hallet 2008, S. 2), insbesondere dann, wenn Übersetzungen in authentischen Situationen eingebettet sind, d. h. als kommunikative Handlungen eingesetzt werden (vgl. House 2000, S. 265). Werden literarische Übersetzungen zum Thema des Literaturunterrichts gemacht, dann werden neben den oben genannten auch literarische Kompetenzen (genaue Wahrnehmung literarästhetischer Sprache und literarischer Verfahrensweisen) gefördert. Hervorzuheben ist, dass durch die Arbeit an und mit literarischen Übersetzungen gerade auch grundlegende Haltungen und Einstellungen entwickelt werden können wie beispielsweise Ambiguitätstoleranz, d. h. der sensible Umgang mit und das Aushalten von Irritationen und Nicht-Verstehen, aber auch das Sich-Einlassen auf das langsame und verzögerte Lesen. Differenzerfahrung (vgl. Abraham/Kepser 2008, S. 8) entsteht bei Übersetzungsvergleichen oder eigenen Übersetzungen daher nicht nur auf der textuellen und sprachlichen, sondern auch auf der persönlichen Ebene, indem SchülerInnen mit einem nicht-übersetzbaren und somit bleibenden Fremden konfrontiert werden oder aber auf ihre eigene Sprache als genuin Fremdes einen neuen (verfremdenden) Blick werfen (vgl. Rath in diesem Heft). Die Eigenart literarischer Sprache kann besonders dann offensichtlich werden, wenn Originalwerke mit ihren Übersetzungen in vereinfachte bzw. dem zeitgenössischen Sprachgebrauch angepasste Fassungen verglichen werden (vgl. Odendahl in diesem Heft). Übersetzungen von Klassikern der Weltliteratur wie Robinson Crusoe oder Huckleberry Finn, die mehrmals übersetzt worden sind, können aus einer rassismuskritischen Perspektive daraufhin befragt werden, wie Übersetzungen kolonialrassistische Denkmuster reproduzieren und konstruieren (vgl. O’Sullivan 2013). Somit wird nicht nur Language Awareness, sondern auch Critical Language Awareness gefördert, d. h. die kritische Betrachtung der Sprache als Instrument politischer Ideologien. Aber auch im Bereich (trans-)kulturellen Lernens ergeben sich Möglichkeiten, Kulturtransfer und Austauschprozesse zum Thema zu machen. So kann man im literaturgeschichtlichen Unterricht das Wandern bestimmter europäischer/weltliterarischer Gattungen (z.B. des Romans; vgl. Moretti 1999) oder spezieller Stoffe und Motive (z. B. Rotkäppchen, biblische Motive) nachzeichnen, die Rezeptionsgeschichte von weltliterarischen Klassikern oder umgekehrt den Weg deutscher »Exporte« untersuchen, durchaus auch mit einem kritischen Blick auf den Literaturmarkt. Impulse dafür kann Sandra Richters Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur (2017) liefern. Aber auch die Untersuchung dislozierter Literatur – so genannter »Literatur ohne festen Wohnsitz« (Ette 2005) – kann traditionelle national(philologisch)e Begrenzungen der Literaturgeschichte aufheben (vgl. auch Bachleitner 2020, S. 96) und das literarische Feld als dynamisches und sich stets wandelndes begreifbar machen. Mit den Beiträgen dieses Heftes möchten wir einige genannte Aspekte des Facettenreichtums literarischen, sprachlichen und kulturellen Übersetzens aufgreifen.

Zu den Beiträgen dieses Heftes

Im ersten Teil dieses Heftes bieten die Beiträge einige grundlegende Überlegungen zum vielgesichtigen Phänomen des Übersetzens aus einer kultur- und literaturwissenschaftlichen, einer sprachphilosophischen und einer translationswissenschaftlichen Perspektive. Sebastian Donat widmet sich in seinem Beitrag der Frage, inwieweit die Praxis der literarischen Übersetzung (als Übertragung eines Texts von der Ausgangs- in eine Zielsprache) mit dem postkolonial inspirierten Konzept einer kulturellen Übersetzung zusammengeht – wodurch er der Leitfrage unseres Themenhefts nach einem Übersetzen als Übersetzen und Vermitteln zwischen zunächst getrennt gedachten Geisteswelten nachspürt. Am Beispiel zweier »kultureller«, nämlich keineswegs buchstäblicher Übersetzungen der persisch-arabischen Gedichtform des Ghasels ins Deutsche zeigt er auf, wie im Bereich des Literarischen zwischen unterschiedlichen Zeiten und Kulturen »übergesetzt« werden kann. Thomas Hainscho problematisiert anhand einer vergleichenden Auseinandersetzung mit Walter Benjamins Übersetzungstheorie und der konstruktivistischen Übersetzungskonzepte von Charles K. Ogden und Ivor A. Richards die Frage der Übersetzbarkeit und beleuchtet damit den engen Zusammenhang zwischen Sprache, Welt und Denken ebenso wie deren kulturelle Bedingtheiten, was eine vollkommene Übersetzung unmöglich macht.

Der zweite Teil des Themenheftes widmet sich Einzelfragen und Detailstudien zu Phänomenen der Übersetzung und Sprachmittlung. So zeigt Esther Kilchmann am Beispiel mehrsprachiger literarischer Texte, wie das Spiel mit Übersetzungen und Sprachen etwa in den Texten von Yoko Tawada konventionelle Vorstellungen über Einsprachigkeit ebenso wie historisch gewachsene Sprachnormierungen zu hinterfragen, zu subvertieren und zu irritieren vermag. Anhand einer lustvoll-präzisen Lektüre eines Gedichts der Lyrikerin und Essayistin Uljana Wolf macht Brigitte Rath anschließend deutlich, wie das Changieren zwischen Sprachen, das spielerische Sich-Einrichten in der »Nicht-Einsprachigkeit« ausgesprochen produktiv für den Literatur- und Sprachunterricht werden kann. Johannes Odendahl fragt nach dem Wert und der Notwendigkeit des Übersetzens in Fällen, wo die sprachliche Kluft, die es zu überwinden gilt, speziell aus historischen Gründen immer breiter wird – nämlich bei kanonisierten literarischen Klassikern, die zunehmend der Erläuterung oder eben – so Odendahls Vorschlag – einer philologisch-didaktisch angeleiteten Übersetzung bedürfen, nicht nur für den Schulunterricht. In gewisser Weise mit einem didaktischen Gegenentwurf zur Praxis des Übersetzens (als Übertragung eines fremdsprachigen Textes in eine Zielsprache, mithin als Herstellung von Einsprachigkeit) befasst sich Lena Cataldo-Schwarzl. Sie fokussiert nämlich das Konzept des Translanguaging, dem gemäß gerade die Mehrsprachigkeit im Unterricht in ihrer Pluralität gewünscht und wertgeschätzt wird. In einer Relektüre ihrer Dissertationsstudie spürt sie Momenten aus der Schulpraxis nach, in denen Übersetzen und Sprachmitteln gleichwohl eine produktive Rolle spielen – aber auch solchen, wo Lehrende es noch an einer Würdigung gelebter Mehrsprachigkeit fehlen lassen.

Im dritten Teil des Heftes stellen die AutorInnen einige Ideen vor, Übersetzungen im engen wie im weiten Sinn des Wortes zum Thema und zum Gegenstand des Deutschunterrichts zu machen. Dabei spricht sich Dominik Srienc für die Notwendigkeit aus, auch im unterrichtlichen Kontext die Grenzen literarischen Übersetzens erfahrbar zu machen. Seine Idee, sich an Primärtexte zu wagen, die in einer für die SchülerInnen völlig unbekannten Sprache – wie etwa dem Ungarischen – verfasst sind, soll aber nicht nur Irritationen über das Nicht-Verstandene hervorrufen, sondern SchülerInnen zu einer genauen und aufmerksamen Leseweise motivieren. Martina Liedke stellt Ziele und Aufgabenformate im Bereich »Sprachmitteln« vor und macht anhand konkreter Beispiele deutlich, wie durch Sprachmittlungsaufgaben sowohl sprachliche als auch interkulturelle Kompetenzen gefördert werden können. Auch ihr Beitrag macht die kulturelle Bedingtheit sprachlicher Äußerungen offensichtlich, die die Kommunikation zwischen SprecherInnen verschiedener Sprachen erschweren können. Insbesondere geografische Grenzregionen zeichnen sich durch einen regen Sprachenkontakt und Sprachwechsel aus. Annette Kliewers Beitrag zeigt, wie die eigene Mehrsprachigkeit und sprachliche Zugehörigkeiten thematisiert sowie an Sprache gebundene, natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsstrukturen aufgebrochen werden können. Sie gibt anhand konkreter Textbeispiele Impulse für die Arbeit mit mehrsprachigen Texten im Literaturunterricht. Lea Grimm schließlich lenkt den Blick auf den Unterricht in der Primarstufe und legt konkrete methodische Anregungen vor, wie anhand übersetzter Bilderbücher schon in der Volksschule ein trans- bzw. metakulturelles Lernen angeregt werden kann – ganz im Sinne der Hoffnung, dass es durch das Übersetzen gelingen kann, zum jeweils anderen, entfernt Scheinenden überzusetzen.

Eine Auswahl insbesondere für den Deutschunterricht relevanter Publikationen rund um das Phänomen des Übersetzens hat Laura Puck-Olipp in den Bibliographischen Notizen zu diesem Heft zusammengestellt. Daran anschließend setzt sich Stefan Krammer in der Rubrik Kommentar kritisch mit den neuen Lehrplänen für die Sekundarstufe I und die Volksschule auseinander, wobei er insbesondere das literarische Lernen in den Blick nimmt. Sein Fazit zur Berücksichtigung der Literatur ist trotz einiger Kritikpunkte letztlich ein erfreulich positives. Kulturtransfer- und Übersetzungsprozesse sowohl auf institutioneller Ebene als auch im literarischen Feld stehen im Fokus der von Hajnalka Nagy empfohlenen Publikation Frachtbriefe. Die Kurzrezensionen für »Neu im Regal« wurden von Ursula Esterl verfasst.

Die Initiative zu diesem Heft geht auf unsere Kollegin Elisabeth Schabus-Kant zurück. Erste Ideen zur Konzeption durften wir noch gemeinsam mit ihr entwickeln. Nach ihrem für uns alle bestürzenden Tod infolge einer schweren Krankheit haben wir die Arbeit – durchaus auch in ihrem Sinne – weitergeführt. Das vorliegende Heft möchten wir deshalb unserer Kollegin Elisabeth widmen, die jahrzehntelang die Zeitschrift ide begleitete.

HAJNALKA NAGY JOHANNES ODENDAHL

Literatur

ABRAHAM, ULF; KESPER, MATTHIS (2008): Übersetzungen lesen und schreiben. In: Praxis Deutsch, H. 212, S. 6–13.

BACHLEITNER, NORBERT (2020): (K)ein Platz für Übersetzungen in der nationalen Literaturgeschichtsschreibung? Aus Anlass einiger Neuerscheinungen zu ihrer Geschichte und Gegenwart. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 45, H. 1, S. 84–102.

BACHMANN-MEDICK, DORIS (Hg., 1997): Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen. Berlin: Erich Schmidt.

BACHMANN-MEDICK, DORIS; BUDEN, BORIS (2008): Kulturwissenschaften – eine Übersetzungsperspektive (Doris Bachmann-Medick im Gespräch mit Boris Buden). Online: https://transversal.at/transversal/0908/bachmann-medick-buden/de [Zugriff: 27.2.2023].

BÄRNTHALER, GÜNTHER (1993): Übersetzen im Deutschunterricht. Ein lernbereichsintegrativer Weg zu Stilkompetenz. In: ide. informationen zur deutschdidaktik, Jg. 17, H. 3, S. 81–93.

Der Deutschunterricht (1990), H. 1: Übersetzungswissenschaften. Seelze: Friedrich.

ETTE, OTTMAR (2005): ZwischenWeltenSchreiben: Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kulturverlag Kadmos.

Fremdsprache Deutsch – Zeitschrift für die Praxis des Deutschunterrichts (2000), H. 23: Übersetzen im Deutschunterricht. Hg. von Frank G. Königs. Stuttgart: Klett International.

HALLET, WOLFGANG (2008): Zwischen Sprachen und Kulturen vermitteln. Interlinguale Kommunikation als Aufgabe. In: Der fremdsprachliche Unterricht. Englisch, Jg. 42, H. 93, S. 2–7.

HOUSE, JULIANE (2000): Übersetzen und Deutschunterricht. In: Helbig, Gerhard; Götze, Lutz; Henrici, Gert; Krumm, Hans-Jürgen (Hg.): Deutsch als Fremdsprache. 1. Halbband. Berin-New York: De Gruyter, S. 258–268.

ide. informationen zur deutschdidaktik (2010), Jg. 34, H. 1: Weltliteratur. Hg. von Nicola Mitterer und Werner Wintersteiner. Innsbruck: StudienVerlag.

IVANOVIĆ, CHRISTINE (2018): »We are translated men«: Translational Literature and Migration. In: Austrian Studies, H. 26 (= Austria in Transit: Displacement and the Nation-State), S. 106–123.

KÖNIGS, FRANK G. (2001): Übersetzen. In: Helbig, Gerhard; Götze, Lutz; Henrici, Gert; Krumm, Hans-Jürgen (Hg.): Deutsch als Fremdsprache. 2. Halbband. Berin-New York: De Gruyter, S. 955–962.

LÜTZERER, PAUL MICHAEL (2020): Zur Zukunft der Nationalphilologien: Europäische Kontexte und weltliterarische Aspekte. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 45, H. 1, S. 69–83.

MORETTI, FRANCO (1999): Atlas des europäischen Romans: wo die Literatur spielte. Köln: DuMont.

O’SULLIVAN, EMER (2013): Zuhause im fremden Text. Sprachliche Identität in Übersetzungen. In: 1000 und 1 Buch, H. 1, S. 4–13.

Praxis Deutsch (2008), Nr. 212: Übersetzungen lesen und schreiben. Seelze: Friedrich.

RICHTER, SANDRA (2017): Eine Weltgeschichte der deutschsprachigen Literatur. München: C. Bertelsmann.

WAGNER, BIRGIT (2012): Kulturelle Übersetzung. Erkundungen über ein wanderndes Konzept. Online: https://www.kakanien-revisited.at/beitr/postcol/BWagner2.pdf [Zugriff: 27.2.2023].

WEINKAUFF, GINA (2012): Übersetzungen im Deutschunterricht. Literarisches Übersetzen – eine contradictio in adiecto? In: Weinkauff, Gina; Josting, Petra (Hg.): Literatur aus zweiter Hand. Anregungen zum Umgang mit Übersetzungen im Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, S. 13–22.

WEINKAUFF, GINA; JOSTING, PETRA (Hg., 2012): Literatur aus zweiter Hand. Anregungen zum Umgang mit Übersetzungen im Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.

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1 Paul Michael Lützerer (2020, S. 79) weist darauf hin, dass die »Nationalphilologien« ebenfalls nicht mehr um die Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen den Literaturen im europäischen Raum und den jeweils eigenen Literaturen umhinkommen, und plädiert somit für die Einbeziehung weltliterarischer Aspekte und europäischer Kontexte. Gute und detailreiche Anregungen liefert dazu die Reihe Comparative History of Literatures in European Languages, herausgegeben von der International Comparative Literature Association.

HAJNALKA NAGY ist Assoziierte Professorin am Institut für GermanistikAECC der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart, Transkulturelle Literaturdidaktik, Weltliteratur im Unterricht, Literatur und Mehrsprachigkeit.E-Mail: [email protected]

JOHANNES ODENDAHL ist Universitätsprofessor für Deutschdidaktik an der Universität Innsbruck. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten gehören: Literarisches und ästhetisches Verstehen, literarisches Lernen in intermedialen Kontexten (Musik und Literatur, Film, Literaturverfilmung), populäre deutschsprachige Musik im Unterricht.E-Mail: [email protected]

Sebastian Donat

Literarische Übersetzung – kulturelle Übersetzung

Ein Versuch der Synthese (mit Blick auf Nachbildungen des Ghasels in der deutschsprachigen Dichtung der Goethezeit)1

Im nachfolgenden Beitrag unternehme ich den Versuch einer Zusammenschau von zwei sehr unterschiedlichen Austausch- und Transfer-Konzepten, die in der dichterischen Praxis wie in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskussion von großer Bedeutung sind: der literarischen und der kulturellen Übersetzung. – Im ersten, theoretischen Teil skizziere ich die mit den beiden Modellen jeweils verbundenen grundsätzlichen Konstellationen, Prozesse und Funktionen sowie ihre Relation zueinander. In einem anschließenden Schritt arbeite ich anhand von zwei Nachbildungen der persisch-arabischen Gedichtform des Ghasels in der deutschsprachigen Lyrik des 19. Jahrhunderts heraus, welches Potential in der gemeinsamen Verwendung beider Konzepte für die Betrachtung konkreter Werke liegt.

Das Phänomen der Übersetzung ist essenziell verknüpft mit dem der Vermittlung. Dabei stehen kulturelle Transferprozesse im Zentrum des Interesses.2 Dass damit unterschiedliche Formen der (durchaus nicht immer konfliktfreien) Aushandlung einhergehen, zeigt sich gerade in Zeiten, in denen – nicht zuletzt angesichts von Mobilitätsschüben unter den Vorzeichen von Migration oder Flucht – interkulturelle und internationale Beziehungen zunehmend unter machtpolitischer Perspektive wahrgenommen und kritisch hinterfragt werden. Genau dies ist der Entstehungskontext der Postcolonial Studies, und es ist daher alles andere als ein Zufall, dass sie es sind, die den zuvor auf interlinguale Translation fokussierten Begriff aufgegriffen und davon ausgehend ein viel weiter ausgreifendes Konzept der »kulturellen Übersetzung« entwickelt haben, das im akademischen Diskurs, aber auch weit darüber hinaus, rasch aufgegriffen wurde und sich in kurzer Zeit fest etabliert hat. – Die beiden Begriffsverwendungen könnten durchaus in Konkurrenz zueinander betrachtet werden. So wäre es, abhängig vom gewählten Standpunkt, möglich, die kulturelle Übersetzung als unzulässige Ausweitung und Verwässerung der »eigentlichen«, das heißt interlingualen literarischen Übersetzung anzusehen. Oder umgekehrt die literarische Übersetzung als eine veraltete und simplifizierende Verengung von Transferprozessen, die der Komplexität der Welt wie auch ihrer Betrachtung nicht mehr angemessen erscheint. – Im Folgenden wird stattdessen der Versuch einer komplementären Zusammenschau bzw. Synthese der Konzepte der literarischen und der kulturellen Übersetzung unternommen. Das Potential dieser Betrachtungsweise wird anhand von zwei Beispielen illustriert.

1. Literarische und kulturelle Übersetzung sowie ihr Verhältnis zueinander

Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei der Konzeptualisierung der literarischen Übersetzung einerseits und der postkolonialen Vorstellung einer kulturellen Übersetzung andererseits um zwei sehr unterschiedliche Ansätze handelt. Dies betrifft einerseits das Theoriedesign, andererseits die historische Verortung beider Konzepte. Basiert das Konzept der literarischen Übersetzung auf der Vorstellung von Binarität und hierarchischer Opposition in Bezug auf konkrete sprachliche Gebilde, so geht der Ansatz der kulturellen Übersetzung postkolonialer Provenienz von Hybridität und In-Between-Konstellationen mit Blick auf verschiedene Formen und Ebenen interkultureller Kommunikation aus. Während die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit literarischen Übersetzungsprozessen auf eine jahrhundertelange und vielfältige systematische Reflexion zurückgreifen kann,3 entstand die direkt mit den Postcolonial Studies der letzten Jahrzehnte verbundene Diskussion um kulturelle Übersetzung unter spezifischen politischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen. Dabei wird Kultur vor allem als heterogene, veränderbare und hybride Größe verstanden, und die Position der Menschen (und damit nicht zuletzt auch die der Übersetzer*innen) steht nicht (mehr) unter den Vorzeichen von Stabilität und Eindeutigkeit, sondern ist vielmehr gekennzeichnet durch Dynamik und Mehrfachzugehörigkeit.

Eine vergleichende Betrachtung der beiden Übersetzungsbegriffe erscheint mir dennoch möglich und sinnvoll. Dafür nehme ich den Ausgangspunkt bei der literarischen Übersetzung als Form der »translation proper« im Sinne einer Übertragung von Texten aus einer Sprache in eine andere.4 Hier skizziere ich zunächst das systematische Spannungsfeld, innerhalb dessen die Übersetzung verortet ist (vgl. Donat 2010, S. 163–165), um dann einen Blick auf die spezifische übersetzerische Kommunikationssituation zu werfen.

1.1 Orientierungsgrößen der literarischen Übersetzung

Die Übersetzung steht mehr als alle anderen literarischen Textsorten unter dem Vorzeichen der Fremdbestimmung. Als wichtigste Orientierungsgröße dient das jeweilige Original: Nähe oder Entfernung von der Vorlage sind unverzichtbar für die Charakterisierung einer Übersetzung. Diese primäre Ausrichtung auf ein konkretes fremdsprachiges Gegenüber schlägt sich in der übersetzungstheoretischen Grundkategorie der Originaltreue nieder. Sie steht im Zentrum des wichtigen Übersetzungsmodells von Friedrich Schleiermacher (vgl. Schleiermacher 2002). Das erklärte Ziel besteht dabei in der möglichst umfassenden Wiedergabe der ausgangssprachlichen Strukturen im Sinne einer – freilich nie zu erreichenden – Deckungsgleichheit von Original und Übersetzung. Aber auch dort, wo emphatisch deren Unterschiedlichkeit gefordert wird, wie in der ähnlich prominenten Position von Walter Benjamin (vgl. Benjamin 1972), stellt das Verhältnis zur Vorlage eine wesentliche Bezugsgröße der Übersetzung dar.

Im Rezeptionsprozess tritt die mehr oder minder spannungsvolle Beziehung zum jeweiligen Original trotz ihrer zentralen systematischen Relevanz zumeist zurück gegenüber dem Verhältnis der Übersetzung zu zwei zielsprachigen Orientierungsgrößen. Zum einen sind dies die in der Übersetzungskultur zum jeweiligen Zeitpunkt herrschenden literarischen Quasi-Normen für die verschiedensten sprachlichen Ebenen. Positive oder negative Einschätzung, Erfolg oder Misserfolg einer Übersetzung hängen zu großen Teilen davon ab, ob sie als Text der zielsprachlichen Literatur akzeptabel bzw. attraktiv ist. Das literarische System der Zielsprache kann nun primär auf Affirmation oder primär auf Differenz ausgerichtet sein. Dmitrij Tschižewskij hat dafür die Begriffe »primäre« und »sekundäre« Stilformation geprägt (vgl. Tschižewskij 1968). Im ersten Fall dominieren die zentripetalen Kräfte innerhalb der Kultur; Regelkonformität und Homogenität werden gefordert und goutiert – auch in Übersetzungen. Im Gegensatz dazu beruht die Poetik in sekundären Stilformationen auf dem Prinzip der Abweichung: Irritationen werden nicht nur geduldet, sondern geradezu erwartet. Unter diesem Vorzeichen wird auch eine Übersetzung umso attraktiver erscheinen, je mehr sie von dem abweicht, was in der zielsprachigen zeitgenössischen Literatur und Kultur bekannt und üblich ist.

Zum anderen kann noch ein weiteres Kriterium entscheidende Bedeutung für die Wahrnehmung und Bewertung einer Übersetzung erlangen, und zwar dann, wenn es mehr als eine konkrete Übertragung eines Textes gibt. In diesen Fällen existieren zusätzlich zum Original konkrete zielsprachliche Referenztexte, und die neue Übersetzung tritt zwangsläufig in eine Relation zu ihren Vorgängern, die abhängig von der Prominenz der früheren Nachdichtungen mehr oder weniger stark ausgeprägt ist. Anders als beim Bezug zur ausgangssprachlichen Vorlage steht jedoch die Differenzqualität des neuen Textes im Zentrum: Um sich zu legitimieren, muss sich eine neue Übersetzung von ihren Vorgängern unterscheiden.

Es liegt auf der Hand, dass die drei skizzierten Bezugsgrößen – das Verhältnis zum Original, die zielsprachliche Wohlgeformtheit und die übersetzungsgeschichtliche Differenzqualität – häufig zu sehr unterschiedlichen Anforderungen an den konkreten Text führen. Dementsprechend stellen Übertragungen Kompromisslösungen dar, in denen ausgewählte Orientierungspunkte dominant gesetzt werden.

1.2 Kommunikationsmodell der literarischen Übersetzung

Als Zweites werfe ich nun einen Blick auf die an der Übersetzung beteiligten Akteur*innen und ihre spezifische Kommunikationssituation. Ziel einer Übersetzung ist es, den Austausch zwischen Autor*in und Rezipient*in zu ermöglichen. Diese sind in ihren jeweiligen Kultur- und Sprachbereichen beheimatet, zwischen denen es unterschiedlich große Überschneidungen geben kann. Schriftsteller*innen bzw. ihre Werke, Leser*innen und Übersetzer*innen sind in unterschiedlicher Weise aktiv in den Prozess eingebunden. Die vielleicht wichtigste besondere Spielregel der literarischen Übersetzung besteht darin, dass die beiden Partner*innen – Schriftsteller*in bzw. Werk einerseits und Leser*in andererseits – den Bereich ihrer jeweiligen Muttersprache nicht verlassen können, um auf die jeweils andere Seite überzutreten. Hieraus resultiert nun die Aufgabe der Übersetzer*innen: die Vermittlung zwischen beiden Positionen. Sie erbringen also eine spezifische Transferleistung, indem sie das Werk aus der Ausgangskultur und -sprache hin zur Zielkultur und -sprache »transportieren«. Aber auch die Leser*innen müssen sich »bewegen«, und zwar im Sinne einer gewissen Annäherung an die ausgangssprachliche Kultur bis zu dem Punkt, an den das Werk durch die Übersetzung bereits in Richtung Zielkultur transportiert wurde. Diese Verständnisleistung kann stark variieren. Sie hängt ab vom Ausmaß der vorliegenden kulturellen und sprachlichen Unterschiede sowie von der Art der Übersetzung, die von einer ausgeprägt antiillusionistischen, verfremdend wirkenden Originaltreue bis hin zu einer illusionistischen, im Vertrauten verbleibenden Zielsprachenorientierung reichen kann.

1.3 Zusammenschau von literarischer und kultureller Übersetzung