Und wohin jetzt mit der Leiche? - Rahel Urech - E-Book

Und wohin jetzt mit der Leiche? E-Book

Rahel Urech

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Beschreibung

Eine durchgedrehte Katze gibt dem tristen Leben der jungen Buchhalterin Skara eine entscheidende Wendung. Zusammen mit Anton, einem entlassenen Eisverkäufer, und dem idealistischen Anwalt Jonas findet sie sich auf einem Rachetrip wieder. Sie reisen von Zürich aus quer durch die Ostschweiz und fackeln sämtliche Eiscafés ihres gemeinsamen Feindes ab. Mit im Gepäck haben sie neben einem Flammenwerfer auch eine Leiche. Bei dieser handelt es sich um Skaras verhasste Chefin, die sowohl lebendig wie versehentlich überfahren nichts als Schwierigkeiten verursacht.
Dem Trio auf den Fersen sind Kriminalpolizist Andy Lutz und sein übereifriger Partner Ruben Schmidt.

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Seitenzahl: 370

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Originalausgabe

© 2023NAGELUNDKIMCHE in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von Dominic Wilhelm

Coverabbildung von NikVector, Simple Line / Shutterstock

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783312012688

www.nagel-kimche.ch

Prolog

Edward Norton Lorenz erwachte von einem lauten Schnaufen. Zuerst dachte er an Einbrecher, doch das Geräusch stammte nicht aus dem Inneren seines Hauses, sondern drang durch das gekippte Fenster in sein Schlafzimmer.

Zwei Uhr, stellte er mit einem Blick auf den Wecker fest. Von Schlaf konnte keine Rede mehr sein, denn jetzt steigerte sich das Schnaufen zu einem Keuchen, Fauchen und Grunzen. Edward Norton Lorenz setzte sich auf und stieg in seine braun-orangen Hausschuhe, die vor dem Bett bereitlagen. Er wusste ganz genau, wer die Urheber dieses abartigen Lärms waren: seine neuen Nachbarn. Vor einer Woche waren sie eingezogen. Gammelige Batikgewänder, beseelter Gesichtsausdruck und jede Menge Kompost – Hippies, ohne Frage. Womöglich waren es sogar mehr als zwei, die gerade der freien Liebe ihren Lauf ließen. Kopfschüttelnd schlurfte er zum Fenster, öffnete es und wollte der Orgie im Nachbarhaus gerade mit einem gezielten Ruf ein Ende bereiten, als er in seinem Garten zwei Igel in eindeutiger Stellung erblickte. Sie ließen selbst dann nicht voneinander ab, als er erst den einen, dann den anderen seiner Hausschuhe nach ihnen warf.

Unfassbar, dass so kleine Tiere einen solchen Höllenlärm veranstalten, dachte er verblüfft und tappte in die Küche, um sich eine Tasse Milch mit Honig zu kochen. Das bewährte Hausmittel für einen gesunden Schlaf jedoch zeigte ausnahmsweise keine Wirkung, und er wälzte sich bis in die frühen Morgenstunden im Bett herum.

Kein Wunder also, dass Edward Norton Lorenz am nächsten Tag etwas angeschlagen an seinem Arbeitsplatz, dem Massachusetts Institute of Technology, eintraf. Erschöpft ließ er sich in seinen Bürostuhl fallen und startete den Computer, um sein neues Modell zur Wettervorhersage nochmals durchzuspielen. Damit er nicht zu lange auf die Resultate warten musste, tippte er gerundete Zwischenergebnisse in den Computer ein und erhob sich dann, um aus der Küche des Departments für Meteorologie einen starken Kaffee zu holen.

Vorsichtig am heißen Gebräu schlürfend, kehrte er an seinen Platz zurück und ließ vor Überraschung beinahe die Tasse fallen: Die Wettervorhersage, die er vor sich auf dem Bildschirm sah, hatte nichts mehr mit jener gemein, die der Computer gestern ausgespuckt hatte. Obwohl die Zahlen, die er vor seiner Kaffeepause eingetippt hatte, nur minimal von den gestrigen abwichen, hatten sie zu einem komplett unterschiedlichen Resultat geführt.

Es ist nicht vorhersehbar, wie sich kleine Änderungen der Anfangsbedingungen auf die Entwicklung eines Systems auswirken, folgerte der Meteorologe und Mathematiker verblüfft. Das Wetter verläuft chaotisch und wird deshalb nie langfristig voraussagbar sein. Und zum zweiten Mal an diesem bereits sehr langen Tag stellte er fest, dass eine kleine Ursache große Wirkung entfalten kann.

Dieses denkwürdige Ereignis geschah im Jahr 1961. Elf Jahre später kleidete Edward Norton Lorenz seine Erkenntnis für einen Vortrag vor der American Association for the Advancement of Science in die anschauliche Frage: »Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?« Der Schmetterlingseffekt war geboren.

So ermöglichten liebestolle Igel, wenig Schlaf und eine Kaffeepause zum richtigen Zeitpunkt eine der bahnbrechendsten Entdeckungen der Wissenschaft. Edward Norton Lorenz wird heute als Wegbereiter der Chaostheorie gefeiert. Was für das Wetter gilt, so entdeckten nachfolgende Generationen von Wissenschaftlern, trifft auch für Rosinen im Kuchenteig zu, bei denen nicht vorhersehbar ist, an welche Stelle im Teig sie wandern, für Verkehrsstaus, die wegen eines einzigen Brems- oder Überholmanövers scheinbar aus dem Nichts entstehen, und für viele wissenschaftliche Systeme mehr. Weder Edward Norton Lorenz noch irgendein anderer Mensch aber hat je den praktischen Beweis für die Theorie des Schmetterlingseffekts beobachten können. Er blieb eine anschauliche Metapher für ein kompliziertes Phänomen. Bis jetzt.

Vor Kurzem haben die Buchhalterin Skara Anderson, der Eisverkäufer Anton Seifert und Dobroslav Svoboda, der Schlächter, diesen Effekt am eigenen Leib erfahren. Der zarte Flügelschlag eines Schwalbenschwanzes fegte wie ein Wirbelwind durch ihre Existenzen und schaffte es, sie komplett aus der Bahn zu werfen.

Ohne diesen Schmetterling würde sich Skara noch heute an ihr kalkulierbares Dasein klammern – gefangen und zornig auf sich selbst, aber unfähig, ihren Minderwertigkeitsgefühlen und den täglichen Demütigungen ihrer Chefin zu entrinnen.

Anton wäre der Familie Winter so sklavisch ergeben wie seine Vorfahren und würde sich einbilden, mit der Eiskreation »Passionsfrucht und Bohne« die Geschmackswelt revolutionieren zu können. Dobroslav schließlich würde weiterhin das tun, was er am besten konnte, nämlich Tiere martern und Menschen terrorisieren – wäre da nicht der Schmetterling mit seinem Flügelschlag gewesen.

1

Der Schmetterling

FREITAG

Am Rand einer Wiese mit Obstbäumen stand ein alter Kirschbaum mit weitverzweigter Baumkrone. Jahrelange Pflege hatte seine Form vollendet. Tausende von weißen Blüten schmückten ihn und ließen eine reiche Ernte erahnen.

Auf dem untersten Ast dieses Baums saß ein Schmetterling. Seine Flügel leuchteten gelb in der Morgensonne, und an ihrem Ende prangten, wie glühende Augen, zwei orange-violette Punkte – ein Schwalbenschwanz. Er war prachtvoll anzusehen inmitten der weißen Blüten, die seine Buntheit und seine Anmut noch unterstrichen. Nicht ahnend, was er anrichten würde, streckte sich der Schmetterling aus und bewegte die Flügel.

Der Flügelschlag des Schwalbenschwanzes, so zart er auch war, erzeugte einen Lufthauch. Dieser gesellte sich zu einem bereits bestehenden, ostwärts ziehenden Lüftchen, das über Deutschland zu einer kalten Brise anschwoll. Die Brise, reiselustig und kontaktfreudig, traf auf feuchte Warmluft vom Mittelmeer, die Richtung Norden unterwegs war. Die aufsteigende Warmluft und die sinkende Kaltluft schichteten sich übereinander und vollführten einen verrückten Balztanz, der in Österreich zu heftigen Gewittern führte. In einer dieser Gewitterwolken wurden Kalt- und Warmluft uneins, tanzten unterschiedlich schnell und in verschiedene Richtungen. Sie blieben nicht länger in der Horizontalen, sondern stiegen, sich drehend, in die Vertikale auf. Der entstehende Unterdruck saugte erdnahe Luft an und verband sich an der Grenze zu Tschechien mit dem Boden. Ein Tornado entstand.

Frei und ungehindert brauste er über die Felder, Äcker und Wiesen, wirbelte Staub und Erde auf, zerpflückte austreibendes Getreide und keimende Kartoffelpflanzen, riss Sträucher aus und warf sorgsam aufgeschichtete Holzstöße um. Er zerstörte alles in seiner Bahn, machte es dem Erdboden gleich und näherte sich unaufhaltsam dem Dorf Piesling.

Dobroslav Svoboda hatte keine Ahnung von der Katastrophe, die sich anbahnte. Der sechsundvierzigjährige Tscheche war ein missmutiger Kerl, groß und plump, mit der Fantasie eines tropfenden Wasserhahns und den Moralvorstellungen einer Nacktschnecke. Als Handlanger half er mal da, mal dort aus, besaß keinen Funken Ehrgeiz, dafür ein massiv vorbelastetes Erbgut.

An diesem Freitagmorgen hatte ihn Bauer Brejcha aus dem Nachbardorf beauftragt, seine halb zerfallene Scheune abzureißen, die etwas außerhalb von Piesling inmitten eines großen Getreidefeldes stand.

»Du kennst ja meine Scheune draußen bei der alten Eiche«, sagte Bauer Brejcha, als er Dobroslav Svoboda um neun Uhr morgens, rauchend und Bier trinkend, vor der Kanec-Bar antraf, dem Treffpunkt des Dorfes. Dobroslavs Schweinsäuglein richteten sich träge auf das runzelige Gesicht des alten Bauern und verharrten dort. Eine Antwort gab er nicht, aber das hatte Bauer Brejcha auch nicht erwartet.

»Die Scheune ist baufällig, und ich fürchte, sie wird über dem Nächsten zusammenbrechen, der sie betritt«, fuhr Brejcha fort. »Wäre gut, wenn du sie abreißen könntest. Möglichst bald«, fügte er hinzu und zweifelte plötzlich, ob das Gesagte den Weg durch Dobroslav Svobodas Hirnwindungen überhaupt finden würde. Dass er ihm einen Auftrag gab, hatte weniger mit dem schadhaften Zustand der Scheune als mit seiner Gutmütigkeit zu tun. Bauer Brejcha konnte es vor sich selbst nicht verantworten, einen Einheimischen hungern zu lassen, selbst wenn die alten Giftspritzen des Dorfes, allen voran die Näherin Emilie Navratilova, dem stumpfsinnigen Mann nachsagten, er sei rücksichtslos, brutal und für die blauen Flecken an den Armen von Barfrau Jessica Malikova verantwortlich.

Dobroslav Svoboda zog an seiner Zigarette und dachte gut eine Minute lang über Bauer Brejchas Vorschlag nach. Dann nickte er. Etwas abzureißen klang gut – weniger anstrengend jedenfalls, als etwas aufzubauen.

Eine halbe Stunde später erhob er sich schwerfällig von seinem Stuhl, schulterte den Rucksack mit seinem Werkzeug und machte sich auf den Weg zur Scheune. Dort angelangt, betrachtete er mit trübem Blick das zersplitterte Scheunentor und trat probehalber gegen eine der morschen Holzlatten an der östlichen Wand, die sofort auseinanderbrach.

Nicht viel Arbeit, stellte Dobroslav Svoboda mit einem Grunzen fest, entledigte sich seines Rucksacks und packte das Werkzeug aus.

Genau in dem Augenblick, als der Handlanger seine Axt an die Scheunenwand lehnte, nahm zwei Kilometer von ihm entfernt der Tornado Kontakt mit dem Boden auf. Dobroslav Svoboda aber, dessen Blick sich wie sein Geist selten auf Dinge richtete, die nicht unmittelbar vor ihm lagen, merkte das nicht.

Erst einmal scheißen, bevor ich mich an die Arbeit mache, dachte er. Und ohne einen Gedanken an mögliche Zuschauer zu verschwenden, ließ er seine Hose herunter und ging in die Hocke. Das merkwürdige Rauschen hinter sich nahm Dobroslav Svoboda in seiner Konzentration auf das Geschäft zu spät wahr. Als er verwundert den Kopf drehte, war der Tornado bereits über ihm.

»Verflucht«, murmelte er, dann saugte der Tornado ihn ein. Dobroslav Svoboda wurde in die Höhe gewirbelt, herumgeschleudert und am höchsten Punkt ohne jede Vorwarnung fallen gelassen. Ungebremst sauste er in Richtung Erdboden. Die Luft pfiff in seinen Ohren, und hätte er schneller denken können, so wäre sein armseliges Leben an ihm vorbeigezogen. Bevor es jedoch so weit kommen konnte, fing der starke Ast der großen Eiche ihn auf. Und da hing er nun; mit heruntergelassener Hose, nacktem Hintern und verdutztem Gesichtsausdruck.

Donnerwetter, dachte Dobroslav Svoboda, was ein durchaus treffender Gedanke war. Eine halbe Sekunde später nämlich traf ihn ein Blitz und setzte ihn in Flammen.

Ja, es war kein guter Tag für Dobroslav Svoboda. Mitleid mit ihm zu haben jedoch wäre fehl am Platz. Hätte der Blitz ihn nicht getroffen, wäre er am Abend mit dem Lohn von Bauer Brejcha in die Kanec-Bar gegangen und hätte sich mit Pilsner Urquell die Kante gegeben. Angeregt durch den Alkohol, hätte sich sein massiv belastetes Erbgut Bahn gebrochen, und Dobroslav Svoboda hätte sich gezwungen gesehen, mit einer zerschlagenen Bierflasche auf die fünfzehn anwesenden Gäste loszugehen.

Dass dies nicht geschah, ist allein dem Schmetterling zu verdanken, der an diesem sonnigen Freitagmorgen mit dem Flügel schlug. Ihm ist es zuzuschreiben, dass fünfzehn Menschen immer noch leben und fröhlich Nachkommen zeugen.

So viel zur Sache mit dem Tornado und dem Tschechen namens Dobroslav Svoboda. Doch wie bereits erwähnt, löste der Flügelschlag des Schwalbenschwanzes weit mehr als nur diesen Tornado aus.

2

Skara und die Schauspielerin

FREITAG

Der Spiegel in der Garderobe war oval, und von seinem Rahmen lösten sich langsam, aber stetig feine Blättchen aus Gold. Ein stilles Objekt, das vieles gesehen und alles geschluckt hatte. Dennoch hegte Skara einen tiefen Widerwillen dagegen, in den alten Spiegel zu sehen, bevor sie morgens aus dem Haus ging. Seit sie denken konnte, erblickte sie darin nicht sich selbst, sondern ihre Mutter – Josie Anderson. Oder vielmehr einen müden Abklatsch von ihr. Unvollkommen. Blass. Als hätte ein untalentierter Maler Josies Persönlichkeit einzufangen versucht und wäre kläglich gescheitert. Sooft Skara es auch versuchte, es gelang ihr nicht, hinter dem Abbild im Spiegel sich selbst zu erkennen. Josie Anderson überstrahlte Skara, wie sie es ihr Leben lang getan hatte. Es war, als würde Skara nicht existieren.

Josie Anderson. Jeder in der Theaterwelt kannte ihren Namen. Sie war berühmt für ihre Hauptrollen in Komödien von Shakespeare, und die Presse war voll des Lobes über ihre temperamentvollen Interpretationen der Beatrice in »Viel Lärm um nichts« und der Rosalind in »Wie es euch gefällt«.

Josies Lächeln raubte den Menschen den Atem, und sie sah umwerfend aus: Weiche braune Locken umrahmten ihr schmales Gesicht, in dessen Mitte eine zierliche Nase saß. Die vollen Kussmundlippen und die schwarzen, etwas schräg sitzenden Augen verliehen ihr etwas Exotisches, das alle in ihrer Umgebung gewöhnlich aussehen ließ. Sie war gertenschlank und versprühte eine Lebendigkeit, für die jedermann sie liebte. Die Welt lag ihr zu Füßen.

Den größten Teil des Jahres befanden sich Josie und ihre Schauspieltruppe auf Tournee durch Europa, und Skara war immer mit dabei. Unterricht erhielt sie während dieser Reisen von Schauspielstudentinnen, die sich durch diese Tätigkeit, und die Nähe zur berühmten Josie Anderson, einen Kick für ihre eigene Karriere erhofften.

Skara hätte ihnen sagen können, dass diese Rechnung nicht aufging, denn ihre Mutter nahm die jungen Frauen kaum wahr – nicht einmal in ihrer Funktion als Skaras Bezugspersonen. Da sie keinerlei Nutzen aus ihrem Engagement ziehen konnten, wurden die Studentinnen ihren Job als Skaras Lehrerin, Erzieherin und Gefährtin bald leid und suchten das Weite, ohne sich um die Gefühle des kleinen Mädchens zu kümmern. Skara blieb zurück. Allein. Liebe und Zuneigung – so lernte sie bald – waren etwas, das wie vieles in der Theaterwelt nur vorgegaukelt war.

Das Leben auf Tournee war unstet und hektisch, was durch Josies Flatterhaftigkeit noch verstärkt wurde. Außerhalb der Vorstellungen und der öffentlichen Auftritte kehrten sich ihr Charme und ihr Lächeln ins Gegenteil. Sie versank in einen Zustand stundenlangen, dumpfen Brütens, war launisch und boshaft. »Lass mich in Ruhe, sonst stecke ich dich ins Kinderheim«, bemerkte sie gehässig, wann immer Skara es wagte, sie zu stören oder Zeichen eines freien Willens zu zeigen.

Skara merkte früh, dass ihre Mutter anders war als andere. In den Bilderbüchern, die sie sich anschaute, machten die Mütter Ausflüge mit ihren Kindern, lasen ihnen abends eine Gutenachtgeschichte vor und gaben ihnen einen Kuss auf die Wange. Sie selbst erhielt nie einen Kuss, und wenn sie um eine Geschichte bat, dann lachte Josie sie aus. Was war der Grund, weshalb sich ihre Mutter so verhielt?, fragte sich Skara traurig. Machte sie irgendetwas falsch?

Sie lebte in ständiger Furcht davor, dass ihre Mutter ihre Drohung wahr machen und sie in ein Kinderheim stecken würde – eine Einrichtung, über welche die verschiedenen Schauspielstudentinnen ihr nichts Gutes erzählten. Um Josie keinen Anlass dafür zu geben, zog sich Skara immer mehr in sich selbst zurück, passte sich an und versuchte, wie ein Chamäleon mit ihrer Umgebung zu verschmelzen. Sie wollte bei ihrer Mutter bleiben und tat alles, was in ihrer Macht stand, um Josie zu gefallen.

Mehr als einmal, wenn sie einen düsteren Blick von ihrer Mutter auffing, beschlich Skara das Gefühl, als hege Josie einen geheimen Groll gegen sie, und sie wunderte sich, was es wohl sein mochte, das ihre eigene Mutter so sehr gegen sie aufbrachte.

Wenn die Abendvorstellung des Theaters beendet war, ging Skara zu ihrer Mutter in die Garderobe, stellte die Blumensträuße ihrer Bewunderer ins Wasser, verstaute die Geschenke, notierte Josies Verabredungen im Terminkalender und sortierte die Einladungen zu den zahlreichen Partys. Ihre Mutter hatte eine Menge Verehrer, die wohlsituiert, gut aussehend und geduldig waren – in dieser Reihenfolge. Manche von ihnen waren regelrecht besessen von Josie und sahen sich jede einzelne ihrer Vorstellungen an. Wie Skara bald merkte, lohnte es sich jedoch nicht, die Geliebten ihrer Mutter näher kennenzulernen. Es gab keinen, der blieb.

Sie war knapp sieben Jahre alt, da erfuhr sie aus einer liegen gelassenen Zeitschrift, dass in den allermeisten Fällen ein Mann und eine Frau nötig waren, um ein Kind zu zeugen, und sie begann sich Gedanken über ihren unbekannten Vater zu machen. Wer war er? Lebte er noch, und wenn ja, wo wohnte er? Warum interessierte er sich nicht für sie? Wusste er überhaupt, dass sie existierte? Hatte er etwas zu tun damit, dass sie nach der schwedischen Stadt Skara benannt war? Es gab Zeiten, in denen Skara eine solche Sehnsucht nach ihrem unbekannten Erzeuger überkam, dass ihr Brustkorb sich zusammenzog und sich unter ihren Rippen wellenartig Schmerz ausbreitete. Eine Antwort darauf, wer ihr Vater war, erhielt sie jedoch nie. Josie tat alle Fragen in diese Richtung mit einem spöttischen Lachen ab, dem eine vage Handbewegung folgte. »Irgendwann erfährst du es, aber nicht heute«, sagte sie, und es war, als würde sie die Enttäuschung genießen, die sich im Gesicht ihrer Tochter abzeichnete.

Als sie älter wurde, wollte Skara gerne glauben, dass ihr Vater einer von Josies beständigeren Freunden war, Georg oder Henri beispielsweise, die ihre Mutter häufig besuchten, wenn die Truppe in der Schweiz pausierte. Im Gegensatz zu den Verehrern ihrer Mutter gaben die beiden nicht nur vor, Skara zu mögen – sie hatten sie wirklich gern, das spürte sie.

Eine ganze Weile lang beobachtete Skara Georg und Henri mit Adleraugen und versuchte, ein körperliches Merkmal, eine Geste oder einen Gesichtsausdruck zu entdecken, die sie mit einem von ihnen gemeinsam hatte. Doch sie fand nichts, was darauf hindeutete, dass einer der beiden ihr Vater war. Widerstrebend gestand sie sich ein, dass sie ihre Existenz vermutlich einer flüchtigen Bekanntschaft ihrer Mutter mit einem Zuschauer, einem Schauspielerkollegen, dem Platzanweiser oder dem Garderobier verdankte. Denn das Herz ihrer Mutter war groß; ihre Liebe schwappte wie bei einem übervollen Krug über den Rand und ergoss sich mal dahin, mal dorthin, nur nicht über Skara.

Die einzigen Gelegenheiten, bei denen Josie so etwas wie Nähe zuließ, war vor Auftritten und bei Medienkonferenzen. Die Presse liebte es, sie neben ihrer kleinen Tochter abzulichten, und Josie spielte mit, da ihr Agent es verlangte. Jedes Mal, bevor sie sich der Öffentlichkeit präsentierten, unterzog Josie Skara einer strengen Musterung, die kaum je zu ihrer Zufriedenheit ausfiel. »Was bist du nur für ein ungepflegtes Mädchen«, war ihr häufigster Kommentar. Dann schnappte sie sich eine Bürste und traktierte Skaras braunes Haar, bis es glänzte. Während der öffentlichen Auftritte, die auf die schmerzhafte Tortur folgten, war Josie Anderson wieder ganz Charme und Güte. »Dies ist mein kleines Mädchen, ist sie nicht hübsch?«, pflegte sie Skara vorzustellen. Worauf Freunde, Bekannte und Journalisten sich beeilten zu versichern: »Sie ist dein Ebenbild, Josie. Eine Schönheit.«

Das mit der Schönheit war eine dicke Lüge, fand Skara, denn sie hatte zwar den herzförmigen Haaransatz und die zierliche Nase ihrer Mutter, doch ihr Kinn war kantig und entschlossen, ihre Augen blickten mehr direkt als sanft, und nach Exotik suchte man in ihrem Gesicht vergebens. Sie sah einfach nur durchschnittlich aus.

Ihre Mutter quittierte die Komplimente mit dem entzückenden, perlenden Lachen, das man so an ihr liebte, und dankte den Schmeichlern, indem sie ihnen zuzwinkerte oder vertraulich die Hand auf den Arm legte. Skara kannte den Ablauf in- und auswendig. Abgesehen von diesen öffentlichen Auftritten gab es kaum Berührungspunkte zwischen Mutter und Tochter. Josie fragte nie, wie Skara sich fühlte, was sie beschäftigte oder wie sie sich ihre Zukunft vorstellte – sie sprachen überhaupt nur das Notwendigste miteinander. Dabei wünschte sich Skara nichts sehnlicher, als mit Josie über kleine, alltägliche Dinge zu reden und gemeinsam zu lachen. Doch der Wunsch ging nie in Erfüllung und irgendwann nach dem neunten Geburtstag verlor er sich vollends. Skara war klar geworden, dass Josie, hätte sie sich die Zeit genommen, ihr ohnehin nicht zugehört hätte.

Wenn Josie mich nicht will, fragte sich Skara immer wieder, weshalb hat sie mich dann in die Welt gesetzt? Ihrer Mutter diese Frage direkt zu stellen aber getraute sie sich nicht – zu sehr fürchtete sie die Antwort.

Das Leben auf Tournee war nicht leicht für sie; die Erwachsenen hatten weder Zeit noch Lust, sich mit einem Kind abzugeben, und Spielkameraden fand sie höchstens mal auf einem Spielplatz. Einsamkeit und nicht enden wollende Langeweile waren Skaras ständige Begleiter und führten dazu, dass sie einige merkwürdige Gewohnheiten entwickelte, wie zum Beispiel alles, was ihr begegnete, in Zahlen zu kleiden. Sie zählte, wie viele Schritte sie brauchte, um von der Bühne in die Garderobe ihrer Mutter zu gelangen, und wie viele Schauspielerinnen und Schauspieler hinter den Kulissen an ihr vorbeigingen. Sie zählte die Handküsschen, die sie sich zuwarfen, die Kostüme, die auf den Bügeln hingen, die Bühnenlichter, die Zahl der Knöpfe auf der Schalttafel und die Sitzreihen im Theater. Nach der Vorstellung teilte sie Josie mit, wie viele Zuschauer ihr zugesehen hatten und wie viele aufgestanden waren, um ihr zuzujubeln, als der Vorhang fiel. Zahlen waren ihre Freunde. Sie schufen Ordnung, auf sie war Verlass, denn wie man sie auch kombinierte – es gab immer nur eine richtige Lösung. Sie boten Halt, Sicherheit und weckten ihr Interesse, sodass Skara die mathematischen Fächer bald spielend beherrschte. Ihre Fähigkeit im Umgang mit Zahlen sprach sich unter den Künstlern schnell herum. Bald kümmerte sich Skara um die Finanzen der halben Truppe und verdiente sich damit ein kleines Taschengeld dazu. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, wahrgenommen zu werden, wenn auch – wie sie sehr wohl wusste – primär als billige Arbeitskraft.

So gering die neue Wertschätzung auch war, so verlieh sie ihr doch den Mut, mit ihrer Mutter über ein Anliegen zu sprechen, das ihr am Herzen lag: Skara wollte die Schauspieltruppe verlassen und ein Internat besuchen. Sie wünschte sich, mit Gleichaltrigen zusammen zu sein und Dinge auszuprobieren wie Reiten, Tanzen, Gitarrespielen oder was Mädchen mit fünfzehn Jahren sonst noch so taten. In einem Internat, so hatte sie gelesen, gab es Regeln und einen festgesetzten Tagesablauf. Keine Launenhaftigkeit, keine leeren Versprechungen – einen Ort, den sie ihr Zuhause nennen könnte.

Skara rechnete nicht mit Widerstand. Ihrer Mutter würde ohnehin kaum auffallen, dass sie weg war. Nach einer ungewöhnlich erfolgreichen Vorstellung – vier Vorhänge, zwei davon eigens für Josie – sah Skara den Augenblick für gekommen, ihren Wunsch vorzubringen. Als Josie sich in ihren Morgenmantel gehüllt auf die Liege der Hotelsuite sinken ließ und die Hand nach dem ersten von vielen Camparis ausstreckte, da fasste Skara sich ein Herz. Sie kam gleich zur Sache, denn die Aufmerksamkeitsspanne, die Josie ihr zu widmen bereit war, bewegte sich im Bereich von Sekunden.

»Josie, ich möchte gerne auf ein Internat gehen. Während des Urlaubs könnte ich in der Schule bleiben, sodass du dich nicht länger um mich kümmern musst.« Bange Sekunden vergingen, während derer Skara ihre Finger so fest verknotete, dass sie weiß wurden.

Josie starrte ihre Tochter mit unergründlicher Miene an. Dann lachte sie abgehackt und freudlos auf – ein verstörender Laut, den Skara noch nie zuvor von ihr gehört hatte. »Denkst du wirklich, dass ich mein hart erspartes Geld für ein Internat ausgeben will?«, spottete sie. »Statt mir auf der Tasche zu liegen, solltest du dich lieber bemühen, nach der Schule möglichst schnell auf eigenen Beinen zu stehen.«

Skara war fassungslos. Sie wusste genau, dass Josies Finanzen es problemlos zugelassen hätten, sie auf ein Internat zu schicken. Und ein erstes Mal, das allererste Mal in ihrem ganzen Leben als stilles, angepasstes Anhängsel, begehrte Skara gegen ihre Mutter auf. Die ganze Wut, die sich in den vergangenen Jahren angestaut hatte, brach aus ihr heraus. »Du willst mich doch gar nicht um dich haben!«, rief sie, die Fäuste ballend. »Ich bin dir lästig, war es schon immer. Warum gönnst du mir kein normales Leben, keine Freude? Was habe ich dir angetan, dass du mich so verabscheust?«

Skara hatte keine Vorstellung davon, was sie auf diese Vorwürfe hin erwartete – niemals aber hätte sie mit diesem Zorn, dieser grenzenlosen Verachtung gerechnet, die sich jetzt über ihr entluden. Die Augen zu Schlitzen verengt, trat Josie so dicht an sie heran, dass Skara den leichten Schweißfilm auf ihrer Oberlippe sehen konnte. »Du willst wissen, was du mir angetan hast?«, zischte sie. »Das kann ich dir sagen: Du hast mein Leben zerstört! Wenn du nicht zur Welt gekommen wärst, dann hätte ich den Mann heiraten können, den ich liebte. Doch Erik Winter hat mich verlassen. Deinetwegen!« Mit einem wütenden Schnauben schleuderte Josie ihren Campari an die Wand, rauschte ins Nebenzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Skara schaute wie gelähmt auf das zerborstene Glas und die rote Lache, die sich vor ihren Füßen ausbreitete. Nach so vielen Jahren des Rätselns war die Wahrheit schließlich ans Licht gekommen. Skaras Leben war in tausend Scherben zerbrochen, in denen sich die Beziehung zu ihrer Mutter in aller Klarheit widerspiegelte: Josies Spaß daran, ihre Wünsche zu ignorieren, sie zu schikanieren, und ihre Weigerung, sie als eigenständige Person wahrzunehmen, gründeten auf Abneigung. Ihre Mutter wünschte sich, sie nie geboren zu haben. Und der Grund dafür war dieser Mann, Erik Winter: Josie hatte vorgehabt, ihn zu heiraten, doch er hatte sie nicht haben wollen. Er hatte Josie verlassen – ihretwegen.

Erik Winter. Er nahm den Platz im Herzen ihrer Mutter ein, der ihr zugestanden hätte, dachte Skara, ohnmächtig vor Zorn und Enttäuschung. Der Name brannte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis ein. Das Wissen, wie unerwünscht sie war, raubte Skara den letzten Funken Selbstachtung. Sie fühlte sich mutlos und leer, und in ihrer Kehle bildete sich ein dicker Kloß, der die nächsten Jahre nicht weichen sollte. Sie brachte nicht die Kraft auf, Nachforschungen über Erik Winter anzustellen, doch sie vergaß nicht, dass ihr Unglück seinen Namen trug. Er war die Ursache für den Schmerz ihrer Mutter, für die Abneigung, die sie ihr entgegenbrachte, und dafür, dass ihr das Leben je länger, desto weniger lebenswert erschien.

Wenig motiviert schrieb Skara sich nach der obligatorischen Schulzeit für eine Schule mit dem Namen Domino ein, die Fernkurse in verschiedenen Fachgebieten anbot. So konnte sie weiter mit der Truppe unterwegs sein, wie ihre Mutter es forderte.

Skara entschied sich für einen Abschluss in Buchhaltung, was weniger einem Wunsch als dem Mangel an anderen Ideen entsprang. Ob der Buchhalterberuf wirklich zu ihr passte, diese Frage stellte sich weder sie selbst noch sonst jemand.

Da Skara nicht viel anderes zu tun hatte, schloss sie den mehrjährigen Fernkurs an der Domino-Schule in Rekordzeit ab – mit Bestnoten. Der Rektor war erfreut über die effiziente Schülerin – volle Kurskosten bei minimaler Beanspruchung der Kursleiter – und kündigte an, ihr auf der Abschlussfeier eine Auszeichnung überreichen zu wollen. Da Skara nie die Möglichkeit gehabt hatte, sich mit anderen zu messen, war die angekündigte Auszeichnung die erste Anerkennung überhaupt, die ihr zuteilwerden sollte.

Das Verhältnis zu ihrer Mutter hatte sich in den Jahren nach Josies Geständnis weder verbessert noch verschlechtert; sie lebten weiterhin aneinander vorbei. Tief in ihrem Inneren jedoch gab Skara die Hoffnung nie auf, dass sie ihrer Mutter irgendwann wenn auch nicht Zuneigung, so doch einen Funken Interesse entlocken könnte. Sie wünschte sich, dass Josie sie auf ihre Abschlussfeier begleitete, war gleichzeitig aber davon überzeugt, dass sie nie mitkommen würde. Doch sie hatte nicht mit Georg gerechnet.

»Es wäre schön für Skara, wenn wir morgen Nachmittag zur Domino-Schule mitgehen würden«, erklärte er Josie am Tag vor dem Ereignis. »Sie feiert ihren Schulabschluss, und zu alledem erhält sie eine Auszeichnung.«

Josie runzelte missbilligend die Stirn. Was soll ich da?, stand in ihrem Gesicht geschrieben.

Georg ließ sich nicht irritieren: »Wenn ich die Presse darauf aufmerksam mache, können wir deine Anwesenheit bei der Abschlussfeier für einen PR-Coup nutzen. Ich sehe die Schlagzeilen schon vor mir.« Er fuhr mit der Hand eine imaginäre Zeitungsüberschrift entlang. »›Josie zeigt bei Abschlussfeier der Tochter eine weitere liebenswerte Facette.‹ Glaub mir, alle werden kommen.«

Georg behielt insofern recht, als dass sich die Abschlussfeier der Domino-Schule tatsächlich als gefundenes Fressen für die Presse erwies. Allerdings aus ganz anderen Gründen, als er Josie in Aussicht gestellt hatte.

Kaum fuhren Josie, Georg und Skara vor dem Stadthaus vor, waren sie von Journalistinnen und Fotografen umringt. Siebzehn waren es, zählte Skara. Josie war höchst erfreut über die Aufmerksamkeit, lächelte unentwegt, beantwortete Fragen und unterschrieb Autogrammkarten. Skara stand ungeduldig daneben und betete, dass Josie sich rechtzeitig loseiste, damit sie die Abschlussfeier nicht verpassten.

Dann aber, aus heiterem Himmel, legte Josie ihre wohlmanikürte Hand ans Herz und schaute den Radiomoderator, der ihr gerade eine Frage gestellt hatte, merkwürdig an. Ohne ein weiteres Zeichen, dass etwas nicht war, wie es sein sollte, kippte sie nach hinten weg und schlug mit dem Kopf hart auf dem gepflasterten Boden auf. Sie war augenblicklich tot.

Noch lange nach Josies Ableben konnte Skara nicht fassen, wie undramatisch sich Josie von der Weltbühne verabschiedet hatte. Sterben, wie Skara es kannte, fand anders statt. Sie hatte wohl an die hundert Mal dabei zugesehen: Die Schauspielerin, ihren baldigen Tod ahnend, reißt voller Entsetzen die Augen auf, blickt mit Weh und Gram ins Publikum und schluchzt laut und herzzerreißend auf. Von Schmerz übermannt, fasst sie sich mit der Hand ans Herz und sinkt zu Boden, wo sie mit graziös ausgebreiteten Armen liegen bleibt und so schön, rein und bemitleidenswert aussieht wie nie zuvor.

Josie hingegen war wie ein gewöhnlicher Mensch von einem auf den nächsten Wimpernschlag tot gewesen. Mit zerquetschtem Hinterkopf, verzerrten Gesichtszügen und unattraktiv verrenkt lag sie in einer Blutlache, die sich langsam ausbreitete – über neun Pflastersteine hinweg, wie Skara registrierte. Der letzte Akt eines lebenslangen Theaterauftritts war vorbei, der rote Vorhang gefallen. Ohne huldvolles Lächeln, ohne Verbeugung, ohne Applaus. »Herzinfarkt«, lautete die Schlagzeile zum letzten Artikel über Josie – ein in jeder Hinsicht vernichtendes Urteil.

Die geplante Diplomfeier konnte aus Pietätsgründen natürlich nicht stattfinden, und Skaras buchhalterische Leistungen blieben ungewürdigt. Ein mit Schnörkelschrift beschriebenes Blatt Papier war alles, was ihr von diesem Tag blieb, welcher der wichtigste in ihrem bisherigen Leben hätte sein sollen.

Die erste Zeit nach Josies Tod fühlte sich Skara merkwürdig leer und emotionslos. Dann aber begannen höchst widerstreitende Gefühle in ihr zu toben: Verzweiflung und Trauer, weil sie plötzlich allein in der Welt stand und – so unerklärlich das auch war – doch irgendwie an ihrer Mutter gehangen hatte. Gleichzeitig war Skara erleichtert, weil sie endlich frei war, ihr Leben in die Hand zu nehmen, wenn sie auch keine Ahnung hatte, was sie mit ihrer neu gewonnenen Freiheit anstellen sollte. Zurück von dem Chaos an Emotionen blieb ein Gefühl der Bitterkeit, denn ohne es zu realisieren, hatte sie immer angenommen, dass sie und ihre Mutter sich irgendwann aussprechen würden. Dass sie erfahren würde, wer ihr Vater war und weshalb Josie Erik Winter nachtrauerte, obwohl dieser sie verlassen hatte. Vor allem aber, weshalb ihre Mutter unfähig war, sie zu lieben. Mit ihrem Tod hatte sich Josie diesen Antworten für immer entzogen. Manchmal kam es Skara vor, als würde sie ihr aus dem Grab heraus noch ein letztes Mal eine lange Nase drehen.

Georg und Henri halfen ihr über die erste schwierige Zeit hinweg, erledigten sämtliche Beerdigungsformalitäten, besorgten ihr in der Agglomeration von Zürich eine Zweizimmerwohnung und halfen ihr bei der Suche nach einem Job. Dank Skaras guter Abschlussnoten und gezielt ausgespielter Beziehungen gelang es Georg, Skara innert kurzer Zeit eine Stelle zu besorgen.

Zwei Wochen nach Josies Tod setzte sie sich zum ersten Mal auf ihren Bürostuhl in der Rechnungsabteilung der Schweizer Süße AG, eines Zürcher Unternehmens, das aus Zuckerrüben Zucker und Futtermittel herstellte. Der moderne, mehrstöckige und rundum verglaste Firmensitz befand sich nur wenige Bushaltestellen von Skaras neuer Wohnung entfernt.

Als die Bitterkeit zu schwinden begann, regte sich in Skara zum ersten Mal in ihrem Leben die Hoffnung, dass sich der Kloß in ihrer Kehle lösen könnte. Sie war neunzehn Jahre alt, hatte einen Job und ein Zuhause. Sie konnte neu anfangen. Das gute Gefühl jedoch hielt nicht lange vor. Keine Woche, nachdem sie in der Schweizer Süße angefangen hatte, stellte Skara fest, dass ihr früherer Albtraum einem neuen gewichen war. Ihre Mutter war abgelöst worden durch eine Frau, die zwar weniger selbstverliebte Züge zeigte, ihre Macht aber noch viel bewusster gegen sie ausspielte als Josie: Chantal Keller, Leiterin der Rechnungsabteilung in der Schweizer Süße und Skaras neue Chefin. Skaras Rolle blieb die eines Opfers – in dieser Beziehung hatte sich nichts geändert. Es waren beklemmende und einsame Arbeitstage, die sie in den folgenden drei Jahren durchlitt, und sie begannen jeden Tag mit dem gleichen, demütigenden Morgenritual.

Chantal Keller kam meist gegen zehn Uhr, wenn alle anderen bereits zwei Stunden an der Arbeit waren. Manchmal wurde es auch elf. In ihren Louboutins und den eng anliegenden Designerjeans stöckelte sie über den hochflorigen Teppich der Rechnungsabteilung zur Küchennische, drückte auf den Kippschalter der Kaffeemaschine und ließ sich einen Kaffee mahlen. Anschließend hörte sie sich von der stellvertretenden Abteilungsleiterin Hanna Wirz an, was an Terminen anstand. Verschwand Hanna Wirz in ihrer Büronische, ließ sich Chantal Keller einen zweiten Kaffee ein. Das war der Zeitpunkt, an dem Skaras Herz zu pochen begann und sie sich am liebsten unter ihrem Schreibtisch verkrochen hätte. Was jetzt kam, war so unausweichlich wie der Schmerz nach einem Fußtritt in den Magen.

Skaras Platz befand sich im hinteren Teil des Großraumbüros neben einem der großen Glasfenster, die im Winter kalt waren und im Sommer Hitze abstrahlten. Ein hüfthohes Regal mit einem Kaktus darauf trennte sie von Martin, dem einzigen ihrer sechs Arbeitskollegen, der ab und zu ein Wort mit ihr wechselte.

Mit der Kaffeetasse in der Hand und einem steifen, roboterhaften Gang, den selbst der weiche Teppich nicht abfedern konnte, stakste Chantal Keller durch das Büro auf sie zu, um die Post abzuholen. Ein herber Duft nach Rose, Amber, Weihrauch und Sandelholz stieg Skara in die Nase, als die Chefin sich vor ihrem Schreibtisch aufbaute. Goodnight Embrace. Die süße Schwere des teuren Parfums verursachte Skara Übelkeit.

Schwungvoll stellte Chantal Keller ihre volle Kaffeetasse auf Skaras Schreibtisch ab, sodass ein guter Teil der Flüssigkeit über den Rand schwappte. Skara zwang sich, nicht auf die braune Lache zu blicken, die sich langsam über ihren Tisch ausbreitete. Mit ausdrucksloser Miene reichte sie Chantal Keller die eingegangenen Briefe und fixierte dabei das paillettenbesetzte Emblem am Saum ihrer Bluse. Sie würde dieser Frau nicht die Genugtuung gönnen, sie aus der Fassung zu bringen.

Die Chefin grüßte weder, noch dankte sie, nahm nur die Briefe entgegen und setzte den Weg zu ihrem Büro fort. Ihre Kaffeetasse ließ sie stehen. Wollte Skara verhindern, dass die verschüttete Flüssigkeit ihr in den Schoß tropfte, so musste sie etwas unternehmen. Hastig erhob sie sich, um in der Küche einen Lappen zu holen. Als sie an ihren Arbeitskollegen vorbeiging, senkten diese peinlich berührt den Blick, und Skara kam es vor, als habe sich der Teppich in zähen Schlick verwandelt. Sie brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass Chantal Keller – das Gesicht zu einem hämischen Grinsen verzogen – von ihrem verglasten Büro aus jeden ihrer Schritte verfolgte. Skara fühlte sich so gedemütigt, wie sich ein Mensch nur fühlen konnte. Jeden Tag aufs Neue. Seit drei Jahren.

Es gab Tage – die guten –, da wurde Skara wütend. Sie malte sich aus, wie sie Chantal Keller die Kaffeetasse an den Kopf schleudern und zusehen würde, wie die braune Brühe über ihre teure Seidenbluse lief. Von der Umsetzung dieses Szenarios aber war sie so weit entfernt wie ein Pfarrer von einem Raubmord. Wann immer sie in ihrem Leben aufbegehrt hatte, war sie mit Hohn überschüttet und zurückgewiesen worden. Sich zu wehren kam daher ebenso wenig infrage wie zu kündigen und nie mehr wiederzukehren. Wohin hätte sie auch gehen sollen? Mit zweiundzwanzig Jahren, kaum Berufserfahrung und dem miserablen Arbeitszeugnis, das Chantal Keller ihr ausstellen würde, schätzte sie ihre Chancen als aussichtslos ein, einen neuen Job zu finden.

Skara zähmte die Wut, die in ihrem Inneren brodelte, steckte ein und ertrug – wie sie schon ihr ganzes Leben lang eingesteckt und ertragen hatte. Sie hielt sich an ihren Zahlen fest, ihrer Routine und dem Eindruck, dass dies genügen musste.

Bis sich an einem sonnigen Freitagmorgen im Mai ihr Leben auf einen Schlag änderte.

3

Skara klinkt sich ins Leben ein

FREITAG

Seufzend fuhr Skara mit der Hand über ihre weiße Bluse, um eine nicht vorhandene Falte zu glätten, und strich eine braune Locke zurück, die sich aus ihrem Haarband stehlen wollte. Mit dem unguten Gefühl, das sie jeden Morgen beim Gedanken an ihre Arbeit beschlich, griff sie nach ihrer Handtasche und verließ die Wohnung, nicht ohne nochmals zu überprüfen, ob sie auch wirklich abgeschlossen war.

Es war ungewöhnlich warm für die Jahreszeit, stellte sie fest, als sie aus der Tür des Mehrfamilienhauses ins Freie trat. Die niedrig stehende Frühlingssonne stach gleißend vom Himmel, und in den Obstbäumen auf der Wiese nebenan zirpten die Grillen. Geblendet blieb Skara stehen, fischte in ihrer Tasche nach der Sonnenbrille und schob sie sich auf die Nase. Als sie ihren Weg zur Bushaltestelle fortsetzte, spürte sie es wieder – dieses Ziehen auf Brusthöhe, dieses Brennen in ihrem Inneren, quälend und unerwünscht. Unwillkürlich fasste sie sich ans Herz. Es war vor einer Woche gewesen, an ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag, da hatte dieses merkwürdige Gefühl sie das erste Mal überfallen. Sie hatte sich einen alten Film ausgeliehen, eine Flasche Schaumwein geöffnet und festgestellt, dass sie das Getränk nicht mochte. Als sie es in die Spüle kippte, regte sich in ihrem Körper etwas Unbändiges, das schmerzhaft war und hoffnungsvoll zugleich. Sie sehnte sich, hungerte nach etwas, fand aber keine Worte für das Wonach. Seither tauchte dieses Ziehen, diese undefinierbare Sehnsucht immer wieder auf, lockte, zerrte und ließ Skara unbefriedigt und ratlos zurück.

Das laute Zwitschern der Vögel am Wegrand riss sie aus ihren Gedanken, und ihr Blick fiel auf einen der blühenden Kirschbäume. Etwas Gelbes, das sich vom Weiß der Blüten und dem Grün der ersten Blätter deutlich abhob, erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie hielt inne und rückte die Sonnenbrille zurecht. Ein Schmetterling war es, ein Schwalbenschwanz, der mit gefalteten Flügeln auf dem untersten Ast des Baums saß. Plötzlich, als ob er einen Atemzug nehmen wollte, senkte er die Flügel, und sie blitzten, das Sonnenlicht reflektierend, hell auf.

Skara war nicht die Einzige, die den Lichtreflex bemerkte. Eine schwarze Katze, die im warmen Gras gelegen hatte, erhob sich geschmeidig und schlich auf weichen Sohlen in Richtung Kirschbaum. Unter dem Ast verharrte sie kauernd, den Blick starr auf den Schmetterling gerichtet, jede Faser ihres Körpers bereit zum Angriff. Skara sah, wie die Katze ihren Kopf ins Gras duckte und die Muskeln anspannte. Ohne ein weiteres Zeichen, das ihre Absicht verriet, schnellte sie in die Höhe, die Pfoten weit ausgestreckt, um den lockend glänzenden Schmetterling zu fangen.

Weder die Katze noch Skara hatten die Elster wahrgenommen, die ohne zu blinzeln auf einem der oberen Äste des Baums saß und konzentriert hinunteräugte. Eine ganze Weile schon hatte sie den Schwalbenschwanz beobachtet und den richtigen Moment abgepasst, um zuzuschnappen. Als sie die Katze in die Höhe schnellen sah, ließ sie sich mit einem wütenden Krächzen in die Tiefe fallen. Doch der Schmetterling – leicht, zauberhaft und instinktiv empfindlich, was feindliche Anflüge betraf – erhob sich in die Lüfte und entschwebte.

Es dauerte einige Sekunden, bis die Katze und die Elster merkten, dass sich ihr Frühstück abgesetzt hatte. Verdutzt und enttäuscht sahen sie dem Schmetterling nach, wie er Richtung Osten davonflatterte. Als sie endlich entdeckten, dass sie den Ast mit ihrem natürlichen Feind teilten, stürzten sie sich aufeinander, und ein wilder Kampf entbrannte. Katze und Elster verkrallten sich ineinander, bissen, pickten, schlugen, zerrten und hackten. Federn flogen, ein schrilles Miauen zerriss die Luft, und die beiden Tiere stürzten vom Baum auf die Wiese hinunter, wo sie ihren hitzigen Kampf fortsetzten.

Skara, die starr vor Schreck abrupt stehen geblieben war, konnte nicht erkennen, wo die Katze begann und die Elster aufhörte.

Jesses!, dachte sie besorgt. Wenn sie nicht einschritt, würden sich die beiden Tiere ernsthaft verletzen. Und ohne auch nur einen Wimpernschlag zu zögern, wandte sie sich um und marschierte zum Kirschbaum.

Als Skara sich später an diesen Moment zurückerinnerte, konnte sie nicht mehr nachvollziehen, was sie zu den Tieren gelenkt und sie zum Handeln bewogen hatte. Aktiv-Werden und Eingreifen gehörten eigentlich nicht in ihr Repertoire.

Drei große Schritte brachten Skara in Reichweite der kämpfenden Tiere. Entschlossen streckte sie ihre Hand aus, griff ins Chaos aus Federn und Fell und packte zu. Ein hohes, durchdringendes Kreischen gellte ihr in den Ohren, als sie die Katze am Schwanz aus dem Knäuel hervorzog. Als hätte sie es tausend Mal geübt, fasste Skara mit der linken Hand nach dem Nackenfell der Katze, ließ ihren Schwanz los und setzte sie sich auf den Arm. Die Katze protestierte miauend gegen die respektlose Behandlung und wollte sich ihrem Griff entwinden, um die Kampfhandlungen fortzusetzen, doch Skara ließ sie nicht los.

In diesem Augenblick – die unbändige Energie und Wildheit der Katze unter ihren Händen spürend – merkte Skara, wie etwas mit ihr passierte. Es war, als sei in ihrem Inneren etwas geborsten. Plötzlich nahm sie wahr, dass der Erdboden unter ihren Füßen weich war und bei jedem ihrer Schritte federnd nachgab. Sie fühlte, wie Grashalme an ihren Knöcheln kitzelten, ihre Füße mit Tau nässten und die empfindlichen Haarwurzeln an ihren Beinen dazu brachten, sich aufzurichten. Sie roch den herben, trockenen Geruch der Erde und den frischen, leicht stechenden von jungem Gras, der sich auf Höhe ihrer Nase mit dem Blütenduft der Obstbäume vermischte. Sie hörte, wie die Grillen im Gras sangen, spürte Sonnenwärme auf ihrem Gesicht, den Atem der Katze, der ihr über den verkratzten Arm strich, merkte, dass diese blutete, und registrierte den schnellen Herzschlag. Alles klang, roch und war. So fühlt es sich also an zu leben, dachte Skara, und das neue, unbekannte Gefühl rauschte durch ihre Blutbahnen wie ein Strom heißer Lava – kraftvoll und unaufhaltsam.

Ein kläglicher Jammerton unterbrach ihre Gedanken. Die Katze begann sich unbehaglich zu winden und versuchte, ihre Wunden zu lecken. »Verrücktes Tier«, murmelte Skara und besah sich die Verletzungen. Der Kampf mit der Elster hatte Spuren hinterlassen. Die Katze war zerzaust, an Rücken und Bauch hingen abgerissene Fellstücke, auf dem Kopf klaffte ein langer Riss, und das linke Auge … nun ja, das linke Auge, das war hin. Ein blutiger Brei war alles, was davon übrig schien.

»Einen Schönheitswettbewerb wirst du nicht mehr gewinnen«, teilte Skara der Katze mit, hob sie hoch und setzte sie in ihre Handtasche. Zu ihrem Erstaunen kauerte sich die Katze flach auf den Boden und blieb selbst dann so liegen, als Skara den Reißverschluss halb über ihr zuzog.

Noch nie habe ich jemanden gesehen, der sich so heftig zur Wehr setzt, dachte Skara beeindruckt. Die Katze hatte sich ohne zu zögern in den Kampf gestürzt und damit genau das Gegenteil dessen getan, was Skara selbst in ihrem bisherigen Leben gemacht hatte. Mit Ausnahme des einen, heftigen Streits zwischen ihr und ihrer Mutter hatte sie jede Auseinandersetzung gemieden. Sie hatte eingesteckt und ertragen, weil sie sich wenig Chancen auf Erfolg ausrechnete, mit dem Resultat, dass jetzt nur wenig in ihrem Leben so war, wie sie es sich wünschte.

Die Tasche an die Brust gedrückt, die Kleider befleckt mit Blut, stieg sie in den Bus und fuhr mit der Katze zur Tierärztin.

4

Anton und die Elster

FREITAG

Im Gegensatz zur schwarzen Katze hatte die Elster den Kampf unter dem Kirschbaum fast unbeschadet überstanden. Sie hatte einige Pfotenhiebe kassiert und eine schwarze Schwungfeder sowie zwei von den weichen weißen verloren, doch das war auch alles. Jetzt schaute sie sich nach ihrem entflohenen Frühstück um. Der Schmetterling war noch nicht weit gekommen. Im Zickzack flatterte er Richtung Osten, und die Elster, gleichermaßen hungrig wie ungeduldig, machte sich an die Verfolgung. Zu ihrem Ärger war sie gezwungen, den Schmetterling quer über die ganze Wiese zu verfolgen, bis dort, wo die Arbeitersiedlung mit den Gemüsegärten begann. Im Anflug beobachtete sie, wie der Schmetterling sich auf einem blühenden Flieder niederließ und mit seinen glänzenden Flügeln winkte, fast, als wolle er seine letzte verbliebene Feindin verspotten.

Diese Provokation ließ die Elster nicht auf sich sitzen. Mit weit gespreizten Flügeln flach über den Boden gleitend, sauste sie auf den Schmetterling zu, riss ihren Schnabel auf und schnappte zu. Wider Erwarten aber war der Schmetterling kein leichtes Opfer. Mit allen seinen verbliebenen Kräften sperrte er sich dagegen, vom Schnabel in die Speiseröhre weiterzurutschen. Die Elster schluckte und würgte, schluckte und würgte – ein fürchterlicher Anblick. Erst nach langen Sekunden des Kampfes erschlaffte die Gegenwehr des Schmetterlings, und er verschwand im Schlund des Vogels, um zwischen Kropf und Drüsenmagen sein Ende zu finden.

Doch wie es mit einflussreichen Lebewesen so ist – und dieser Schmetterling gehört zweifellos dazu –, hält ihr Wirken über den Tod hinaus an. Im konkreten Fall des Schmetterlings und der Elster wirkte das tote Insekt in den Eingeweiden der Elster auf eine Art und Weise weiter, die ihr höllischen Durchfall bescherte.

»Gopfertelli!«, fluchte Anton, als er das Desaster erblickte, und fuhr sich nervös durch sein graues Haar. Die Frontscheibe seines alten Renaults war über und über bedeckt mit einem braunen, übel riechenden Etwas, das hinten aus der Elster gekommen war, die eben davonflog. Er hatte es genau gesehen. »Verdammtes Teufelsvieh«, knurrte er und machte kehrt, um Wasser und einen Putzlappen zu holen. Dass ihm das ausgerechnet heute passieren musste! Dieser Freitagmorgen war einer der wichtigsten Tage in seinem fünfzigjährigen Leben. Der Direktor der Eiscafékette Winter höchstpersönlich hatte sich bereit erklärt, an seinem Arbeitsplatz vorbeizuschauen, und er, Anton, würde ihm seine neue Eiskreation vorstellen dürfen. Er hatte kaum geschlafen, so nervös war er. Wenn nur alles gut ging.

Und jetzt diese Schweinerei! Konnte er sie nicht rechtzeitig beseitigen, kam er zu spät, und seine Chance wäre womöglich für immer vertan. In höchster Eile kippte Anton Wasser über die Frontscheibe und fing an, hektisch zu schrubben.

5

Ida, Lord Gaston und der Oberst

FREITAG