Unser Montessori-Modell - Theodor Hellbrügge - E-Book

Unser Montessori-Modell E-Book

Theodor Hellbrügge

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Beschreibung

Professor Dr. Theodor Hellbrügge, der mit Hilfe der »Aktion Sonnenschein« in München das Kinderzentrum aufgebaut hat, erprobte die Montessori-Pädagogik zunächst in Kindergärten. Aus den dort erzogenen Kindern stellte er erste Montessori-Schulklassen zusammen. Das Neue an seinem Montessori-Konzept war, daß im Kindergarten wie später in der Schule gesunde und behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet wurden. Über diese Erfahrungen berichtet er hier und belegt eindrücklich, daß die integrierte Erziehung vor allem bei der Entwicklung von sozialen Fähigkeiten den Sonderschulen weit überlegen ist. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Theodor Hellbrügge

Unser Montessori-Modell

Erfahrungen mit einem neuen Kindergarten und einer neuen Schule

FISCHER E-Books

Inhalt

Kapitel 1 Die Gemeinsamkeiten von Pädiatrie und Pädagogik sind leider geringDas Wissenschaftsverständnis bei Kinderheilkunde und Erziehungswissenschaft ist grundverschiedenDie Pädiatrie denkt nur an das Kind, die Pädagogik fast nur an die SchulklasseDie Einführung neuer Methoden erfolgt in der Pädagogik nicht so behutsam wie in der MedizinDer Pädagoge hat nicht die Freiheit des ArztesSchulbehörden wollen alles perfekt regelnDie Forderungen des Kinderarztes an die Schulen entspringen der Sorge um das KindKapitel 2 Unser Sonderschulwesen geht von Behinderungen, aber nicht von behinderten Kindern ausSonderschulgesetze kennen nur spezielle BehinderungenFür den Kinderarzt ist das mehrfach behinderte Kind das entscheidende ProblemAuch in der Sonder-Pädagogik dominiert die TheorieIn der Pädiatrie geht alles von der Praxis ausSoziale Behinderungen werden erst allmählich als Problem erkanntLeichte Störungen können zu schweren Behinderungen führenDie Behindertenhilfe muß sich auf das mehrfach behinderte Kind umstellenSonderschulen schaffen SonderschülerIntegrierte Erziehung mindert Probleme der SonderschuleKapitel 3 Behörden, Paragraphen und unser Montessori-ModellDas Münchner Montessori-Schul-Modell entstammt einem ärztlichen WissenschaftsverständnisDas Sonderschulgesetz und ein KinderarztEine Lernbehinderten-Schule benötigt die Entscheidung des MinistersDie Schule wird als Schulversuch genehmigtAuflagen an den SchulträgerDie pädagogischen Bedenken der Regierung bestanden weiterInteressante Argumente der »Regierungs-Pädagogik«Kapitel 4 Das ungewöhnliche Leben und Lebenswerk von Maria MontessoriEine unbequeme Tochter beschließt Medizin zu studierenIhr kämpferisches Interesse für den Benachteiligten erregt AufsehenEs begann mit der Erziehung von schwachsinnigen KindernDie Erfahrungen wurden auf gesunde Kinder übertragenDer Triumphzug ihrer PädagogikMontessori-Pädagogik in DeutschlandMaria Montessoris Lebenswerk vollendet sichKapitel 5 Die Montessori-Pädagogik baut auf ärztlichen Erfahrungen aufHilfe für behinderte Kinder suchte Maria Montessori in der Methode von Edouard SéguinMaria Montessori mußte die Methode neu entdeckenÄrztliche Pädagogik kann nur am Kind begriffen werdenDer Einfluß des Hals-Nasen-Ohrenarztes Jean Marc Gaspard ItardDie physiologische Erziehung der Schwachsinnigen von SéguinSéguins Sonderphysiologie ging in die Montessori-Pädagogik einDie Freiheit in der Montessori-Pädagogik ist nicht antiautoritärKapitel 6 Aus Erfahrungen bei gesunden Kindern entsteht eine neue Konzeption der Behindertenhilfe im Kinderzentrum MünchenFür einen Säugling ist es gefährlich, nicht in der Familie aufzuwachsenEine neue EntwicklungsdiagnostikSchwere Schäden bei körperlich gesunden HeimkindernSozialentwicklung und Soziosen als neue kinderärztliche AufgabeBindungEntwicklung der personalen SelbständigkeitSozialisationSozioseFür die Behindertenhilfe ergeben sich KonsequenzenMehrdimensionale Diagnostik und mehrdimensionale Therapie kennzeichnen die Arbeitsweise des KinderzentrumsFrühpädagogik ist in dieses Konzept eingegliedertKapitel 7 Unser Montessori-Kindergarten entstand aus sozialpädiatrischen GründenVorschulische Einrichtungen werden vom Kinderarzt anders beurteiltEin Montessori-Kinderhaus wird zu einem SchlüsselerlebnisFrau Aurin richtet unseren Montessori-Kindergarten für gesunde und behinderte Kinder einUnser Montessori-Kindergarten sieht wie alle Montessori-Kinderhäuser ausDie pädagogische Gemeinschaft gesunder und behinderter Kinder muß allmählich wachsenDie gemeinsame Erziehung gesunder und behinderter Kinder ist in der Montessori-Pädagogik kein ProblemWie ein Vormittag in unserem Montessori-Kindergarten abläuftKapitel 8 Unsere Montessori-Pädagogik im Erlebnis des KinderarztesSoziale Lernprozesse stehen im VordergrundFeiern, Musik- und Kunsterziehung werden groß geschriebenAuf Bewegung und Bewegungserziehung wird besonderer Wert gelegtIn der Montessori-Pädagogik lassen sich wichtige Elemente der modernen Lernforschung erkennenDie Erfolge unseres Kindergartens werden in Testatblättern und Beobachtungsbogen festgehaltenKapitel 9 Vom Montessori-Material geht eine unglaubliche Faszination ausIm Mittelpunkt der Montessori-Pädagogik steht aber nicht das Material, sondern das KindDie Tätigkeiten des praktischen Lebens werden systematisch geübtWichtige Lernvorgänge erfolgen über das SinnesmaterialDie Einsatzzylinder, der rosa Turm und die braune TreppeMontessori-Mathematik macht nicht traurigDie Spracherziehung genießt in der Montessori-Pädagogik VorrangKapitel 10 In unserer Montessori-Schule wurden die Kindergartenerfahrungen fortgeführtUnsere erste Montessori-Klasse entstand auf Wunsch der ElternAufbau der Modellschule und Probleme der EinschulungKinder in der ersten SchulklasseBeim weiteren Ausbau gab es ProblemeBesucher erleben die gemeinsame Erziehung der gesunden und behinderten KinderDer Unterricht mit Lehrern und AssistentenIn unserer Schule lernen die Kinder mehr als in der RegelschuleUnsere Kinder erfüllen selbstverständlich auch das vorgeschriebene LehrpensumEin Pensenbuch beurteilt gerechter als ZeugnisnotenKapitel 11 Die Erfolge der integrierten Erziehung behinderter Kinder werden von Lehrern geschildertKapitel 12 Unser Montessori-Modell setzt auch in der Montessori-Pädagogik MeilensteineDie Montessori-Pädagogik muß für das behinderte Kind entdeckt werdenIn der Montessori-Einzel- und Kleingruppentherapie wird behinderten Kindern geholfenPädagogische Probleme des behinderten Kindes lassen sich am besten gemeinsam mit den Eltern lösenAber Hausaufgaben und Elterntraining sind zweierleiUnsere Erfahrungen mit integrierter Erziehung behinderter Kinder lassen sich auf die ganze internationale Montessori-Pädagogik übertragenKinder mit SoziosenKapitel 13 In der Wissenschaftlichen Begleitung des Montessori-Modells wurden wichtige Erkenntnisse gesammeltDie kinderärztliche Diagnostik für schulschwierige Kinder muß verbessert werdenPsychologische Tests sollen nicht nur die Intelligenz, sondern auch das Sozialverhalten der Kinder messenWie sich unser Montessori-Modell in der Wissenschaftlichen Begleitung darstelltEinige Erkenntnisse unseres Schulversuchs lassen sich in Thesen zusammenfassenKapitel 14 Unser Montessori-System gibt Hinweise für Medizin, Psychologie und PädagogikMedizin und Kinderheilkunde müssen in der Behindertenhilfe umlernenAuch für die Psychologie sind unsere Erfahrungen von großer BedeutungEine kindgerechte Pädagogik und ein Lehrer, der das Kind kennt, sind wichtiger als alle SchulreformenUnser Montessori-Modell erlaubt Hinweise für die Organisation unseres SchulsystemsUnser Montessori-Modell erlaubt Rückschlüsse auf die Unterrichtsgestaltung und die Leistungsbeurteilung der KinderUnser Montessori-Modell soll verbessert werdenDank an alle Helfer[Bildteil]LiteraturübersichtSchriften von Maria MontessoriLiteratur zur Montessori-PädagogikLiteratur zum SchulversuchLiteratur aus dem SchulversuchVeröffentlichungen über den SchulversuchRegisterAbbildungsnachweis

Kapitel 1 Die Gemeinsamkeiten von Pädiatrie und Pädagogik sind leider gering

Päd-iatrie und Päd-agogik sind die einzigen Berufe, die in ihrer Berufsbezeichnung das Kind (griech. Pais) haben. Daraus läßt sich wohl ableiten, daß beide Berufe nicht nur in besonderer Weise dem Wohle des Kindes verpflichtet sind, sondern auch in ihrer Einstellung zum Kind weitgehend Ähnlichkeit haben, ja, in ihrer Hilfe für das Kind auf das Engste zusammenwirken.

Betrachtet man indessen das jeweilige Selbstverständnis der Pädiatrie und der Pädagogik, dann ergibt sich merkwürdigerweise ein völlig unterschiedliches, wenn nicht gar gegensätzliches Bild. Die Denkansätze sind schon von der Wissenschaft her so grundverschieden, daß Diskussionen zwischen Kinderärzten und Lehrern nicht selten schon deswegen im Sande verlaufen, weil nicht einmal das Aufgabenverständnis beider Berufe genügend bekannt ist.

Aus der Sicht der Pädagogik – und dies läßt sich in etwa auch aus den amtlichen Vorschriften bzw. den Gesetzen für den Schularzt ablesen – besteht die Aufgabe des Arztes in der Schule hauptsächlich etwa darin, für die Hygiene des Schulbaus zu sorgen und das Kind vor Infektionen, insbesondere vor Tuberkulose zu bewahren. Mit dem Rüstzeug des Kinderarztes, mit seinen diagnostischen und therapeutischen Methoden, auch mit der Einstellung des Arztes zum Kind als solcher, weiß der Erzieher kaum etwas anzufangen.

Umgekehrt sind Ärzte der Ansicht, daß Erzieher grundsätzlich die gleiche Einstellung zum Kind hätten wie sie selbst, d.h., sich ausschließlich als Helfer des Kindes verstehen würden, die in voller Freiheit einem Kind, das in Not ist, in jedem Falle zu Hilfe eilen. Der Kinderarzt hat deswegen oftmals kein Verständnis für die besondere Situation des Pädagogen in der Schule. Er weiß nichts über die Vorschriften, die die Beurteilung des Kindes bestimmen und nach denen der Unterricht abläuft.

Probleme der Schule, um nicht zu sagen Schulnot, sind inzwischen aber zu einem solchen epidemiologischen Problem geworden, daß Kinderärzte und Lehrer im Interesse des Kindes auf das Engste zusammenarbeiten müssen. Derzeitig bilden sich Arbeitsgemeinschaften, um die Schulmisere anzugehen und gemeinsam versuchen, das Kinderelend in der Schule – in der Bundesrepublik Deutschland haben wir pro Jahr allein über 400000 Sitzenbleiber! – zu beseitigen.

Damit ein Dialog zwischen diesen beiden für das Kind so wichtigen Berufe stattfinden kann, ist es unbedingt notwendig, die Unterschiede im Selbstverständnis von Kinderheilkunde und Pädagogik aufzuzeigen. Andernfalls ist es nicht möglich, eine erfolgreiche Zusammenarbeit zu erreichen. Erst wenn ich den Standpunkt des anderen auch im Hinblick auf das Kind kenne, wird eine geeignete Basis der Zusammenarbeit gegeben sein.

So seien in diesem Buch, das über eine ärztliche Pädagogik berichtet, einige Gedanken vorangestellt, in denen Hinweise auf das Selbstverständnis von Pädiatrie und Pädagogik gegeben werden.

Das Wissenschaftsverständnis bei Kinderheilkunde und Erziehungswissenschaft ist grundverschieden

Schon vom Wissenschaftsverständnis und der Organisation der Hochschule her bestehen grundlegende Unterschiede zwischen Pädiatrie und Pädagogik. Die Pädagogik ist der philosophischen Fakultät, die Pädiatrie der medizinischen Fakultät zugeordnet. Erziehungswissenschaft wird meist in pädagogischen Hochschulen gelehrt, die nicht einmal organisatorisch Beziehungen zu medizinischen Fakultäten und zur Kinderheilkunde in den Universitäten haben. Selbst in den Universitäten oder Hochschulen, in denen die Erziehungswissenschaft in eigenen erziehungswissenschaftlichen Fakultäten oder Fachbereichen etabliert ist, bestehen so gut wie keine Beziehungen zur Medizin oder Kinderheilkunde.

Dem Kinderarzt ergibt sich darüber hinaus das merkwürdige Phänomen, daß »Pädagogik« und »Erziehungswissenschaften« offenbar etwas verschiedenartiges sind, andernfalls ist es kaum zu erklären, warum z.B. an der Universität München die Pädagogik gemeinsam mit der Psychologie in einem anderen Fachbereich untergebracht ist als dem »Fachbereich Erziehungswissenschaften«, welch letzterem auch die Sonderpädagogik und die Schulpädagogik zugeordnet sind.

Auch vom Ansatz her verstehen sich Pädiatrie und Pädagogik durchaus unterschiedlich. Die Pädiatrie ist – wie die gesamte Medizin – in erster Linie eine empirische Wissenschaft. Erfahrungen werden am Patienten gewonnen und daraus werden Rückschlüsse gezogen auf das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei Patienten mit ähnlichen Symptomen. Krankheitsbezeichnungen stehen am Beginn der klinischen Beobachtung. Systematische Forschungen klären später auf, welche Ursache die Krankheitszeichen haben.

Auch in der Therapie entstammen die meisten Pharmaka ärztlicher Erfahrung, nicht selten sind es Zufallsentdeckungen. Das Penicillin z.B. wäre ohne jene zufällige Beobachtung durch Sir Alexander FLEMING in London, daß Schimmelpilze in Petri-Schalen das Wachstum von Streptokokken hemmen, nicht in die ärztliche Praxis gekommen.

Pädiatrische Empirie im Schulbereich geht von den Schulversagern aus. Unsere kinderärztliche Einstellung zu Schulreformen und neuen Schulmodellen wird deshalb primär geleitet von den Erfahrungen, die wir mit den Opfern dieser Reformbestrebungen in der Sprechstunde erleben. Wir versuchen, daraus Rückschlüsse auf pädagogische Methoden zu ziehen, ohne selbst in das pädagogische Geschehen als notwendige Prophylaxe eingreifen zu können.

Demgegenüber versteht sich die Pädagogik wohl in erster Linie als theoretische Geisteswissenschaft, die ihren Ursprung eigentlich in der Philosophie hat.

Das spiegelt sich auch in den wissenschaftlichen Ansätzen wider. Hier spielen die Curricula – theoretisch konzipierte Lernziele und Lerninhalte – eine übergeordnete Rolle. Diskussionen um das einzelne Kind und um die Fähigkeiten des Kindes in verschiedenen Altersstufen werden gelegentlich in der pädagogischen Praxis, kaum in der Wissenschaft angestellt.

Bei den Diskussionen im Bildungsrat erlebte ich, daß zum Beispiel primär nicht gefragt wurde: wie lange kann ein Kind in einer bestimmten Altersstufe etwa ohne Pausen still sitzen, welche Wortbegriffe und Wortarten sind seinem Alter gemäß, wie sind entsprechend bestimmte Lerninhalte am Kind zu entwickeln etc., sondern es wurden fast ausschließlich theoretische, nicht am Kind orientierte Curriculum-Überlegungen angestellt. Dabei standen – wenn auch nicht so deutlich ausgesprochen – Fragen im Mittelpunkt, was etwa unsere Kinder im Jahre 2000 alles können und wissen sollten bzw. was ihnen entsprechend durch die Schule vermittelt werden müßte.

Auf die Frage des Kinderarztes, ob es nicht zweckmäßiger sei, bei allen Diskussionen über Bildungsreformen zunächst an das Kind und seine Leistungsfähigkeit zu denken und entsprechende systematische Untersuchungen im Bereich der Unterrichtshygiene anzustellen, erhielt ich zur Antwort: »Sie sind ja reiner Empiriker«.

Bei diesen Diskussionen wurde überdies der meines Erachtens für das Kind und seine Entwicklung schwerwiegende Unterschied zwischen pädiatrischen und pädagogischen Lernvorstellungen offenbar: Die Pädagogik betreibt fast ausschließlich kognitive Lerninhalte. Sie denkt praktisch nur an die intellektuelle Förderung des Kindes und ihr Bestreben geht dahin, auch beim Kleinkind (Vorschulpädagogik!), neuerlich sogar beim Säugling (Frühpädagogik), »Intelligenz fördernde« Lernangebote zu schaffen.

Sie übersieht dabei grundlegende pädiatrische und kinderpsychologische Erkenntnisse, nach denen die emotionale und soziale Entwicklung des Kindes für die spätere Lebenstüchtigkeit eine weit größere Beachtung verdient, als kognitive und verbale Lernprozesse. Unsere Schulen kennen überhaupt keine Lerninhalte, welche die Sozialität, das gegenseitige Helfen der Kinder untereinander, üben. Die »Lehrstoffelephantiasis«, über welche der Jenaer Pädagoge Peter PETERSEN klagte, oder die »Stoffseuche«, von der der Münchener Pädagoge KERSCHENSTEINER sprach, hat infolge des Fachlehrersystems ein derartiges Ausmaß angenommen, daß für das lebensnotwendige soziale Training des Kindes etwa beim Spielen nicht einmal neben der Schule noch Zeit bleibt.

Es besteht die Gefahr, daß entsprechende pädagogische Theorien unter der Fahne der »Intelligenzförderung« auch auf das Kleinkind – ja sogar auf den Säugling – übertragen werden, wenn wir als Kinderärzte nicht noch mehr als bisher im Interesse des Kindes unser Veto einlegen. Wir werden dabei von allen mit dem Kind und dessen Not unmittelbar beschäftigten Berufen – zuvorderst den Pädagogen aus der Praxis – um Hilfe angegangen.

Die Pädiatrie denkt nur an das Kind, die Pädagogik fast nur an die Schulklasse

Einen wesentlichen Unterschied zwischen Pädiatern und Pädagogen betrifft die Zuwendung zum Kind.

Kinderärztliche Tätigkeit ist grundsätzlich Individualhilfe. Ich gestehe, daß es mir persönlich schon unangenehm ist, Zwillinge zu untersuchen, weil man das Gefühl hat, sich nicht auf das einzelne Kind während der Untersuchung genügend konzentrieren zu können. Massenuntersuchungen sind der kinderärztlichen Praxis weitgehend unbekannt. Dort, wo sie etwa als schulärztliche Untersuchungen praktiziert werden, ist ein individuelles Eingehen auf das Kind unmöglich. Massenuntersuchungen sind deswegen immer nur Screening, d.h. sie dienen weniger der Diagnostik als dem Finden von verdächtigen Kindern.

Pädagogische Tätigkeit dagegen wird wenigstens im Bereich der Schule immer nur als Gruppen-Pädagogik verstanden. Die Klasse, der Klassenverband, stehen im Mittelpunkt allen pädagogischen Denkens und Überlegens. Wenngleich im Rahmen der pädagogischen Diskussion die Hinwendung zum einzelnen Kind als sogenannte »Binnen-Differenzierung« auch diskutiert wird, so verstehen die meisten Pädagogen selbst darunter in der Regel eher das »Sondertraining einer kleinen Gruppe« innerhalb des Klassenverbandes, also nicht eigentlich individuelle Hilfe.

Das Ganze wird verstärkt, weil die Schulverwaltungen grundsätzlich nur in Klassenstärken denken und länderweise voll Stolz berichten, wenn Richtzahlen über das Verhältnis von Lehrern zu Schülern – etwa auf 30 Kinder pro Klasse und Lehrer – gesenkt werden.

Gruppenmedizinische Fragen spielen dagegen im Denken des Pädiaters nur eine untergeordnete Rolle, sie sind gewissermaßen nur ein statistischer Spiegel für den Erfolg oder Mißerfolg kinderärztlichen Handelns.

Wenn die Sterblichkeitsstatistik mitteilt, daß die Säuglingssterblichkeit von über 25 % innerhalb eines Jahrhunderts auf unter 2 % gesenkt werden konnte, blickt der Kinderarzt stolz auf seine Tätigkeit zurück. Wenn die Krankheitsstatistik ihn belehrt, daß durch Impfungen ganze Krankheiten ausgerottet werden konnten (Beispiel Kinderlähmung, Diphtherie, Pocken etc.), dann ergibt diese Überprüfung, daß die Rückschlüsse aus den praktischen Erfahrungen erfolgreich gewesen sind. Trotzdem ist die Pädiatrie niemals mit ihrem Erreichten zufrieden, solange Kinder in Not sind. Wo auch immer Kinder sich in Not befinden, fühlt der Pädiater sich zuständig.

Die Einführung neuer Methoden erfolgt in der Pädagogik nicht so behutsam wie in der Medizin

Die Einführung neuer Heilmethoden bedeutet für die Pädiatrie, wie überhaupt für die Medizin, ein Unternehmen, das nur mit größter Vorsicht und Geduld angegangen werden darf. Schließlich werden auch neue Arzneimittel in tausenden von tierexperimentellen Untersuchungen zunächst daraufhin überprüft, ob sie einen Fortschritt gegenüber altbewährten Medikamenten bedeuten und ob sie frei von Nebenwirkungen sind.

Wenn beides im Tierexperiment gesichert ist, kommt der klinische Versuch hinzu. Nur erfahrene Ärzte und Kliniken sind befugt, neue Pharmaka auf ihre Brauchbarkeit und ihre Unschädlichkeit zu überprüfen. Nach vorsichtigstem Einsatz – oftmals erst bei desolaten Patienten – werden neue Heilmittel in minimalster Dosierung erprobt und nach und nach entsteht im Lauf der Zeit ein Bild darüber, ob es gerechtfertigt ist, einen neuen therapeutischen Weg zu gehen.

Am doppelten Blindversuch wird dabei insbesondere auch der sogenannte Placebo-Effekt berücksichtigt, d.h., das zu erprobende Medikament wird mit einem gleichartig aussehenden Mittel ohne entsprechende Wirkung verglichen, bei welchem der das Heilmittel austeilende Arzt nicht einmal weiß, in welchen der verabreichten Tabletten z.B. die zu untersuchende Substanz ist. In jedem Falle wird also der langdauernde, unter Umständen langjährige Vergleich herangezogen, bis Wirkungen und Nebenwirkungen genügend gesichert sind.

Erst wenn die klinischen Versuche abgeschlossen sind und sicher herausgefunden wurde, daß ein neues Medikament mehr Nutzen bringt als ein bisher gebräuchliches, wenn abgeklärt ist, mit welchen Nebenwirkungen gerechnet werden muß, wird das neue Heilmittel der ärztlichen Praxis übergeben und kann generelle Anwendung finden. Jeder Arzt weiß aber trotz aller dieser Vorsichtsmaßnahmen, daß es gelegentlich noch unangenehme Überraschungen geben kann. Erinnert sei nur an das Contergan-Unglück, bei dem niemand wissen konnte, daß ein als völlig unschädlich erwiesenes Beruhigungsmittel so schwere Schädigungen in der Entwicklung des Kindes im Mutterleib hervorrufen würde.

Im Gegensatz hierzu erfolgt die Einführung neuer pädagogischer Methoden und Organisationsformen praktisch ohne eine entsprechende langjährige sorgfältige Vorbereitung und Kontrolle. Dabei ist es ganz gleich, ob es sich um Methoden des Lesenlernens, Schreibenlernens, ob es sich um die Einführung neuer Unterrichtsgegenstände, ob es sich um Unterrichtsorganisationsformen wie Blockstunden, Ganztagsunterricht oder um die Einführung neuer Schularten (Gesamtschule) handelt.

Neue pädagogische Methoden des Lesenlernens, z.B. als Ganzheitsmethode, oder des Rechnenlernens, z.B. mit der Mengenlehre, werden am Grünen Tisch konzipiert. Es bildet sich ein Kreis, der ein theoretisches Konzept entwickelt. Wenn dieses Konzept genügend begründet erscheint, wird die neue Methode auf dem Verordnungsweg allgemein eingeführt. Systematische, jahrelange Untersuchungen, ob und in welchem Falle neue Lehrmethoden sinnvoll sind und ob sie den Kindern womöglich nicht schaden, finden praktisch nicht statt.

Selbst sogenannte Versuchsschulen haben – soweit es sich übersehen läßt – praktisch keine wissenschaftliche Kontrolle durch Forschungsinstitute oder pädagogische Lehrstühle. Die Folgen werden auch dem Laien auffällig, wenn schon nach Jahresfrist Kultusministerien ihre Mengenlehreverordnungen zurücknehmen oder ändern müssen; wobei dies keineswegs etwa infolge pädagogischer Einsicht erfolgt, sondern weil die Eltern der betroffenen Kinder lauthals protestieren.

Das Gleiche gilt bei der Einführung neuer pädagogischer Unterrichts- und Schulformen. Blockstunden wurden eingeführt, ohne daß irgendwer überhaupt nur untersuchte, wie lange Kinder stille sitzen können. Bewährte Schulen auf dem Lande wurden als Zwergschulen diskriminiert, und es wurden Mittelpunktschulen eingerichtet, ohne daß irgendeine sorgfältige Untersuchung je bewies, ob der pädagogische Effekt, selbst die erreichten Lernziele bei den Kindern in den kleinen Schulen mit gemischtem Unterricht soviel schlechter oder überhaupt schlechter waren, als die durch den Unterricht im Klassenverband der Mittelpunktschulen.

Bewährte Schulformen werden aus politischen Gründen abgeschafft. Man konstruiert ein Unterrichtssystem mit einer solchen Vielfalt, daß es den Kinderarzt erschrecken läßt, wenn er dabei an das Kind denkt, das sich darin zurechtfinden muß.

Neue Organisationsprinzipien wie Orientierungsstufen oder Kollegstufen werden theoretisch entwickelt und dann – ohne über Jahre hindurch ihre Effektivität zu überprüfen – auch gegen den Willen der betroffenen Schulen und gegen den Willen der Eltern auf dem Verordnungswege für ein ganzes Land zur Pflicht gemacht.

Das Umsetzen pädagogischer Theorien – in manchen »Reformbestrebungen« auch pädagogischer Ideologien – in den Schulalltag ohne den Beweis, daß diese Reformen dem Kinde nutzen, hat nicht zuletzt auch dazu geführt, daß tausende zum großen Teil neu erbaute Schulen einfach leerstehen, daß Millionen Kinder mit einem Millionenaufwand per Schulbusse in der Gegend herumgefahren werden, nur um sie in Jahrgangsklassen unterrichten zu können, daß unsere Zeitungen ständig vom Schulstress berichten und daß gegen das Schülerelend sich Vereinigungen wie die »Humane Schule« bilden.

Das Ziel der Reformbestrebungen in der Schule bestand darin, daß 20 % der Kinder eines Jahrgangs eine abgeschlossene Schulbildung mit Abitur haben sollten. Das Ergebnis nach zehnjährigen pädagogischen Bemühungen sieht fast diametral umgekehrt aus. 25 % der Kinder sind auf dem Wege gescheitert und verlassen die Schule ohne Abschluß. Die Not, die hinter diesen Zahlen steht, kann nur derjenige ermessen, den das »Sitzenbleiberelend« mit allem Unglück für die Kinder und für die Eltern bis in die ärztliche Praxis hinein verfolgt.

Der Pädagoge hat nicht die Freiheit des Arztes

Einen entscheidenden Unterschied zwischen Pädiatrie und pädagogischem Wirken betrifft auch die Art der Berufsausübung. Ärztliche Tätigkeit erfolgt primär in Eigenverantwortung. Der Arzt beansprucht deshalb auch einen hohen Freiheitsgrad für sein Handeln und muß frühzeitig lernen, seine diagnostischen und therapeutischen Wege selbst zu verantworten. Keine wie auch immer geartete Verwaltung kann das ärztliche Handeln im konkreten Fall zwingend vorschreiben. Wenngleich – etwa im Bereich der kassenärztlichen Versorgung – aus Gründen der Wirtschaftlichkeit bestimmte Kontrollen sinnvoll und wohl auch notwendig sind, kann und muß jeder Arzt auch gegenüber den kontrollierenden ärztlichen Körperschaften sein therapeutisches Vorgehen jederzeit begründen.

Der Arzt ist deswegen in der Regel freipraktizierend tätig, und er hält dies auch im Sinne der freien Arztwahl für den Patienten für unumgänglich notwendig. Letztlich ist diese Freiheit der Ärzteschaft eine wichtige Voraussetzung für Dynamik und Erfolg ärztlichen Handelns.

Im Gegensatz hierzu sind die Pädagogen in unserem Lande nicht freiberuflich tätig. Ihr Ziel ist es schon während des Studiums, Beamte zu werden, d.h., in nicht selbständiger oder freier Tätigkeit zu handeln. Eine dem Arztberuf ähnliche Freiheit ist dem pädagogischen Beruf in der Schule nicht gegeben. Schulverwaltungen schreiben nicht nur zwingend die Zahl der Unterrichtsstunden vor, sondern geben auch genaue Anweisungen in Bezug auf Lehrpläne, Wochenpläne, zu haltende Haus- und Klassenarbeiten, weitgehend sind sogar die Gestaltung des Unterrichts und die Ziele des Unterrichts vorgeschrieben.

Der einzelne Lehrer hat nur wenig Freiheit, das unermeßlich angewachsene Stoffpaket zu verteilen oder weitere Bereiche des Lernstoffes einfach fortzulassen. Immer wird der Pädagoge dabei von entsprechenden Aufsichtsgremien, Schulräten, Kultusministerien beaufsichtigt. Er unterliegt sogar einer ständigen Beurteilung seiner Person und seiner persönlichen Fähigkeiten. Das geht im einzelnen so weit, daß pädagogische Freiheiten unter Umständen beim Lehrer zu negativen Folgen in seiner Beurteilung führen können.

Schulbehörden wollen alles perfekt regeln

Das Beamtenrecht gibt dem Pädagogen Sicherheit, läßt ihm aber auch weniger Eigenverantwortung. Beamtenrechtliches Denken spielt in der Schule eine weit größere Rolle, als dies von außen vermutet wird. Dem Kinderarzt fällt das bei Diskussionen auf, wenn er Vorschläge für die Gesundheit der Kinder macht, etwa Spielen während der Pause zu erlauben, Schulhöfe in Spielplätze umzuwandeln etc. Immer erhebt sich sofort die Frage: Wer trägt die Verantwortung? Wer nimmt dem Lehrer die Verantwortung ab?

Beamtenrechtliche Probleme bieten nicht selten erhebliche Hindernisse für Pädagogen beim Mitwirken in Forschungsaufträgen oder in Schul-Modell-Versuchen. Immer muß die Schulbehörde bis in Einzelheiten hinein Forschungsprojekte genehmigen. Mancher engagierte Pädagoge kann an Forschungsvorhaben nicht teilnehmen, weil das Beamtenrecht eine Versetzung nicht ermöglicht. Das Wechseln von einem Bundesland in ein anderes ist bei älteren, praxiserfahrenen Pädagogen fast ausgeschlossen, weil das andere Bundesland nicht bereit ist, Pensionsansprüche zu garantieren.

So hängen pädagogische Wissenschaft und Praxis in einer dem Kinderarzt unverständlichen Weise von Verwaltungsentscheidungen ab. Gute pädagogische Vorstellungen mit praktischen Hilfen für die Kinder finden nicht selten unüberwindliche Hindernisse in der Schulverwaltung.

Hier besteht ein System von Zwängen, das den ganzen Schulalltag durchzieht. Es betrifft Fragen der Einschulung des einzelnen Kindes ebenso wie Probleme der Umschulung, Versetzung oder Rückstellung und geht derartig ins Detail, daß nicht selten eine Note im Zeugnis mit einer in keiner Weise in Beziehung zu setzenden anderen Note auch verwaltungsrechtlich ausbalanciert wird.

Die wohl in den Prinzipien einer beamtenrechtlichen Verantwortlichkeit begründete Unfreiheit dieses Systems bringt es mit sich, daß Schulbehörden, gleich, ob Ministerien oder Bezirksregierungen, immer alles gleich in justitiable Bestimmungen festschreiben, auch das, was pädagogisch noch nicht ganz ausgegoren sein kann. Die Schulverwaltung läßt keine »freie Schulwahl« im Sinne der »freien Arztwahl« zu.

Unter diesen Umständen ist es verständlich, daß auch die Schulreformen der vergangenen Jahre unter strengen verwaltungsrechtlichen – besser schulverwaltungsrechtlichen – Kriterien entwickelt wurden. Der Außenstehende macht sich keinen Begriff davon, wie wenig, auch wissenschaftlich gesehen, Freiheit in den einzelnen Reformprojekten gegeben war und ist. Planung wird bei den Schulmodellen ganz groß geschrieben. Für einen Schulversuch muß alles Jahre zuvor geplant und festgelegt werden. In mindestens 35facher Ausfertigung werden Schulversuche in Bergen von Formularen dem Ministerium weitergegeben, der Bund-Länder-Kommission vorgelegt, um schließlich beim Bundesministerium für Bildung und Wissenschaften finanziert zu werden.

Da aber in einer lebendigen Wissenschaft unmöglich alles geplant werden kann, erlebt man, daß Schulversuche auch weiterhin »nach Plan« ablaufen müssen, obwohl sich herausstellt, daß die geplanten Wege keine Vorteile für das Kind bringen.

Man hat den Eindruck, daß alle Schulreformen der vergangenen Jahre von oben her geplant sind und gewissermaßen der Schulpraxis aufgeprägt wurden, statt Reformen vom Schulkind abzuleiten und aus der Schulpraxis heraus Verbesserungen einzuführen.

Die Forderungen des Kinderarztes an die Schule entspringen der Sorge um das Kind

Diese Diskrepanzen sollte man kennen und beachten, wenn man ärztliche Bemühungen im Rahmen der Pädagogik verstehen will. Die kinderärztliche Kritik an unserem Schulsystem entspringt der Sorge um das Kind und wird geprägt durch die Not des Schulkindes im Erleben der kinderärztlichen Praxis. Diese Not zu beheben – das ist der Wunsch des Kinderarztes, und er überträgt dabei selbstverständlich pädiatrische Gedankengänge auf die Schulpraxis.

So müssen wir darauf dringen, daß nur wirklich gesicherte neue Kenntnisse Eingang in die Schule finden. Neue Lernmethoden, neue Organisationsformen können und dürfen erst dann über Verwaltungsanordnungen praktiziert werden, wenn über Jahre hinaus bewiesen wurde, daß sie nicht nur Neues, sondern Besseres für unsere Kinder bringen.

Der Kinderarzt muß fordern, daß Pädagogik wieder in erster Linie vom Kind her gedacht und praktiziert wird. In welche merkwürdige Zwiespältigkeit sich die Pädagogik bereits begeben hat, läßt sich daran erkennen, daß zwischen »Bildungsforschung« und »Erziehungsforschung« ein notwendiger und sinnvoller Unterschied gesehen wird. Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin hat so gut wie keinen Bezug zur Schulpraxis und sieht dies sogar als einen großen Vorteil an.

Vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt her mag ein solches Denken sinnvoll sein. Für unsere Kinder war und ist es aber ein Unglück, wenn Ideen der Bildungsforschung ein Primat vor der Erziehungsforschung erhalten und wenn letztlich der Bildungsforscher die Praxis des Pädagogen dadurch bestimmt, daß seine Vorstellungen über Schulverwaltungsvorschriften allgemein Eingang in die Schulpraxis finden.

Ein besonderes kinderärztliches Anliegen betrifft die Angst in der Schule, denn Angst beeinträchtigt in jedem Fall Erziehung und Lernprozesse, ganz abgesehen von den somatischen Belastungen, welche angsterzeugende Situationen hervorrufen.

Der Kinderarzt muß deswegen um des Kindes willen eine Schule ohne Angst fordern. Es ist notwendig, alle angsterzeugenden Situationen aus der Schule zu nehmen. Dieses Buch wird zeigen, daß eine Schule ohne Noten, ohne Sitzenbleiberelend, ohne Zwang, täglich ein kaum erreichbares Hausaufgabenpensum zu erfüllen möglich ist, ohne daß dies auch nur im geringsten zu einer schulischen Leistungsverminderung führt, ja, daß die Leistungen der Kinder größer werden, wenn sie in Freiheit erbracht werden.

Der Kinderarzt muß eine Schule fordern, die den wörtlichen Sinn des Namens wieder erfüllt. Das deutsche Wort Schule entstammt bekanntlich dem lateinischen Wort Schola. Das wiederum hat seinen Ursprung in dem griechischen Wort ἡσχολή, was in deutscher Übersetzung aber nichts anderes als Muße, freie Zeit, Rast, ruhige Zeit und erst in zweiter Linie die dadurch möglichen gelehrten Gespräche bedeutet.

Eine kindgerechte Schule muß dem Lehrer ein Maximum an Freiheit geben und dem Kind ein Optimum an Lernmöglichkeiten. Nur wenn der Lehrer die Freiheit hat, auf das einzelne Kind und seine Bedürfnisse einzugehen, werden die Lernprozesse beim einzelnen Kind sich so entfalten können, wie dies im Interesse des Kindes sinnvoll und unabdingbar notwendig ist.

Das setzt aber voraus, daß das Lehrverständnis geändert wird. In späteren Kapiteln werden wir sehen, daß dies nicht nur möglich ist, sondern daß auch der Lehrer selbst zufriedener ist, wenn er Helfer der Kinder und nicht nur ihr Führer und Leiter ist. Das griechische Wort αγειν, von dem die Nachsilbe des Wortes Päd-agoge stammt, bedeutet in wörtlicher Übersetzung nichts anderes als führen, leiten, anführen. Der Paidagogos war bei den Griechen von den Eltern angestellt, er hatte das Kind zur Schule zu bringen und war erst in zweiter Linie für andere Erziehungsprozesse zuständig.

Im Begriff des Pädagogen liegt also in jedem Falle eine aktive Führung für das Kind, ein Verständnis, das auch in der Öffentlichkeit für den Lehrer weit verbreitet ist, wenn sie letztlich den Lehrer dafür verantwortlich macht, ob ein Kind etwas gelernt hat oder nicht.

Dieses Verständnis geht aber an den Notwendigkeiten für die Lernprozesse an den Kindern weitgehend vorbei. Im Rahmen der ärztlichen Pädagogik – und die Montessori-Pädagogik ist eine ärztliche Pädagogik – liegen die Lernprozesse primär beim Kind und die Aufgabe des Lehrers besteht eher darin, das Kind darin zu unterstützen.

Diese Unterstützung liegt, wie wir entdeckt haben, primär im Sozialbereich, d.h., im Rahmen der ärztlichen Pädagogik spielen Sozialentwicklung und Sozialisation eine maßgebliche Rolle. Lernprozesse im sogenannten kognitiven Bereich – dem Aneignen von Wissensstoffen – müssen maßgeblich über das soziale Lernen geprägt werden, d.h. über das selbständige Arbeiten und die Fähigkeit, mit anderen Kindern gemeinsam etwas zu erarbeiten.

Dieses Buch wird zeigen, daß für die Sozialentwicklung und die Sozialisation des Kindes eine gemeinsame Erziehung gesunder und behinderter Kinder von großem Vorteil ist. Dadurch, daß gesunde Kinder frühzeitig lernen, behinderten Kindern zu helfen, wächst ihre Selbständigkeit. Dadurch, daß behinderte Kinder frühzeitig lernen, sich helfen zu lassen, wächst ihr Verständnis für soziale Lernprozesse. Aber auch das behinderte Kind hat Gelegenheit, anderen, andersartig behinderten Kindern zu helfen, so daß es auch an aktiven Prozessen der sozialen Hilfe teilnimmt.

So wird dieses Buch von einem Feld der sozialen Hilfe in der Schule sprechen, einem Feld, in dem auch der Lehrer und sein Verhalten in der Schule entscheidend durch einen sozialen Ansatz geprägt werden.

»Hilf mir, es selbst zu tun«, ist ein Schlüsselansatz für die gesamte Montessori-Pädagogik. In dieser Aufforderung an den Pädagogen aus der Sicht des Kindes liegt einerseits begründet, daß das Kind durch diese pädagogischen Prozesse selbständig werden möchte, und andererseits, daß der Pädagoge in seiner sozialen Rolle in erster Linie als Helfer, weniger als Leiter und Führer verstanden wird.

Kapitel 2 Unser Sonderschulwesen geht von Behinderungen, aber nicht von behinderten Kindern aus

Das Sonderschulwesen in unserem Lande basiert letztlich auf der Überzeugung, daß es einfache und verschiedene Behinderungen gibt und daß in der Regel ein Kind entweder blind, taub, körperbehindert oder geistig behindert ist, während Mehrfachbehinderungen gewissermaßen eine Rarität darstellen. Diese Vorstellungen sind in Gesetzen niedergelegt, wie einige Beispiele aus dem Bayerischen Sonderschulgesetz erklären können, das für verschiedene Behinderungsarten unterschiedliche Schulen vorsieht.

Sonderschulgesetze kennen nur spezielle Behinderungen

Das gesamte Sonderschulwesen basiert letztlich auf der Überzeugung, daß »einfache Behinderungen« den Normalfall darstellen, während Mehrfachbehinderungen gewissermaßen nur gelegentlich vorkommen, d.h. entsprechend selten sind.

Als Beispiel ein Auszug aus dem Bayerischen Sonderschulgesetz, das für die folgenden Behinderungsarten entsprechende Schulen vorsieht:

§ 2

Blinde

(1) Schulen für Blinde sind bestimmt für Kinder,

1. die kein Sehvermögen besitzen, oder

2. deren Sehvermögen so gering ist, daß sie ihr Weltbild nicht mehr optisch aufzubauen vermögen, sondern ihre Vorstellungen vorwiegend mittels des Gehör- und Tastsinnes erwerben müssen, die üblichen blindentechnischen Hilfen benötigen und für Dauerleistungen im Lesen und Schreiben auf die Braill’sche Punktschrift angewiesen sind.

(2) Die in Absatz 1 Nr. 2 genannten Voraussetzungen sind in der Regel erfüllt, wenn das Sehvermögen weniger als 1/20 der Norm beträgt oder wenn bei einem besseren Sehvermögen Nebenbefunde wie Gesichtsfeldeinschränkungen, röhrenförmiges Sehen und Augenzittern in entsprechend schwerem Grade vorliegen und mit einer fortschreitenden Verschlechterung gerechnet werden muß.

§ 3

Gehörlose

Schulen für Gehörlose sind bestimmt für Kinder, die kein Gehör besitzen oder deren Restgehör so gering ist, daß sie die Sprache auf dem normalen Weg über das Ohr nicht erlernen können. Dies trifft in der Regel bei einem Hörverlust im Hauptsprachbereich von mindestens 70 Dezibel (db) zu.

§ 4

Körperbehinderte

Schulen für Körperbehinderte sind bestimmt für Kinder, die in ihrer Bewegungsfähigkeit durch eine Beeinträchtigung ihres Stütz- oder Bewegungssystems nicht nur vorübergehend wesentlich behindert sind, so daß ihnen die Volksschule nicht gerecht werden kann.

§ 5

Sehbehinderte

Schulen für Sehbehinderte sind bestimmt für Kinder, die zwar ihr Weltbild vorwiegend optisch aufbauen und sich der gewöhnlichen Schrift bedienen können, infolge ihres geschwächten oder zu schonenden Sehvermögens dem allgemeinen Bildungsweg der Volksschule aber nicht oder nicht mit genügendem Erfolg zu folgen vermögen. Das trifft in der Regel zu, wenn das Sehvermögen zwischen ¼ und 1/20 der Norm liegt.

§ 6

Schwerhörige

(1) Schulen für Schwerhörige sind bestimmt für Kinder, die von ihrer Hörfähigkeit nicht oder nur so unzureichend Gebrauch machen können, daß sie dem allgemeinen Bildungsweg der Volksschule nicht oder nicht mit genügendem Erfolg zu folgen vermögen.

(2) Die Voraussetzungen für die Aufnahme in eine Schule für Schwerhörige werden insbesondere von Kindern erfüllt, mit denen wegen ihrer geringen Hörfähigkeit eine sprachliche Verständigung über das Gehör nur mit Hörhilfen möglich ist und die trotz dieser Hörhilfen am Unterricht der Volksschule nicht mit Erfolg teilnehmen können. Dies trifft in der Regel bei einem Hörverlust im Hauptsprachbereich von 40 Dezibel (db) zu.

§ 7

Sprachbehinderte

(1) Schulen für Sprachbehinderte sind bestimmt für Kinder, die von ihrer Sprachfähigkeit nicht oder nur so unzureichend Gebrauch machen können, daß sie dem allgemeinen Bildungsweg der Volksschule nicht oder nicht mit genügendem Erfolg zu folgen vermögen. Dies trifft insbesondere für Kinder zu, die stark stammeln, stottern oder deren Sprache stark dysgrammatisch oder unartikuliert ist.

(2) In Schulen für Sprachbehinderte sollen auch hörstumme und seelentaube Kinder Aufnahme finden.

§ 8

Lernbehinderte

(1) Schulen für Lernbehinderte sind bestimmt für leistungsschwache Kinder, die zwar imstande sind, in Gemeinschaft mit Gleichaltrigen ein in sich geschlossenes Bildungsgut zu erwerben, aber dem allgemeinen Bildungsweg der Volksschule nicht oder nicht mit genügendem Erfolg zu folgen vermögen. Zu den lernbehinderten Kindern gehören Aufnahmeschwache, Aufmerksamkeits-, Konzentrations- und Gedächtnisschwache sowie Verarbeitungs- und Gestaltungsschwache.

(2) Als lernbehindert können insbesondere Kinder angesehen werden, die

die Volksschule während des ersten mit vierten Schuljahres ein zweitesmal wiederholen müßten,

oder wegen mangelnder Schulreife das zweitemal vom Schulbesuch der Volksschule zurückgestellt werden müssen,

oder wegen eines besonders auffallenden Mangels das Ziel des ersten Schuljahres der Volksschule nicht erreichen und nicht erwarten lassen, daß sie bei Wiederholung der Klasse dem normalen Unterricht folgen können.

§ 9

Geistig Behinderte

(1) Schulen für geistig Behinderte sind bestimmt für Kinder, die wegen ihrer geringen geistigen Anlagen weder dem Unterricht in der Volksschule noch dem in der Schule für Lernbehinderte zu folgen vermögen, aber noch bildungsfähig sind. Dies trifft insbesondere für Kinder zu, die

über die Sprache Kontakt aufnehmen können, also zwar Sprachverständnis, aber keine oder nur ganz geringe Sprachfähigkeit besitzen,

über das unbedingt notwendige Mindestmaß sozialer Anpassung verfügen, um erzieherischen und bildnerischen Einflüssen zugänglich zu sein,

Anlagen lebenspraktischer Art besitzen, die durch planvolle und sachkundige Übung zu echten Fähigkeiten entwickelt werden können.

§ 10

Erziehungsschwierige

Schulen für Erziehungsschwierige sind bestimmt für Kinder, deren schulische Einordnungs- oder Leistungsfähigkeit infolge einer seelisch-geistigen Fehlentwicklung bei durchschnittlicher Begabung so erheblich gestört ist, daß sie den in der Volksschule angewandten Erziehungsmitteln gegenüber nicht nur vorübergehend unzugänglich bleiben, und die eine starke Gefährdung ihrer eigenen weiteren Entwicklung und der ihrer Mitschüler befürchten lassen.

 

Für mehrfache Behinderungen finden sich im Sonderschulgesetz lediglich folgende Hinweise:

 

§ 11

Mehrfache Behinderung

Mehrfach behinderte Kinder sind in jene Sonderschule aufzunehmen, in der nach dem Schweregrad der Behinderung die beste Betreuung und Förderung erwartet werden kann, und ferner unter

§ 7 (2) »Sprachbehinderte«: In Schulen für Sprachbehinderte sollen auch hörstumme und seelentaube Kinder Aufnahme finden.

Für den Kinderarzt ist das mehrfach behinderte Kind das entscheidende Problem

Die Vorstellungen, daß spezielle Behinderungen die Regel sind, Mehrfachbehinderungen dagegen eher einen Ausnahmefall darstellen, müssen aus kinderärztlicher, insbesondere sozialpädiatrischer Sicht aber erheblich revidiert werden. Die systematische Beschäftigung mit behinderten und von Behinderung bedrohten Säuglingen und Kleinkindern in den vergangenen Jahren ergab nämlich bei allen Untersuchungen – diese Untersuchungen wurden im Rahmen eines Forschungsvorhabens des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit durchgeführt – ein genau umgekehrtes Bild: nicht die Mehrfachbehinderung ist eine Seltenheit, sondern die Einfachbehinderung stellt eine Rarität dar.

Schon verbesserte diagnostische Methoden der klinischen Therapie wie das Messen der elektrischen Erregbarkeit des Gehirns durch die Elektro-Enzephalographie, die Bestimmung der Hirnkammergröße mit Hilfe der Echo-Enzephalographie, das Messen der elektrischen Nervenleitgeschwindigkeit mit Hilfe der Myographie deckten auf, wie vielfältig die Ursachen von Schädigungen sind. Neue diagnostische Methoden der Neuropädiatrie, wie z.B. die neurokinesiologische Diagnostik nach VOJTA oder die motoskopische Diagnostik nach BOBATH, KÖNG, HOCHLEITNER machten die Vielfalt von motorischen Störungen deutlich und zeigten auf, daß die cerebralen Bewegungsstörungen sich nicht nur unter dem Blickwinkel einer spastischen Lähmung einordnen lassen.

Neuere Methoden der Phoniatrie, d.h. der Gehörprüfung in Kombination mit Methoden der Prüfung der elektrischen Hirnerregung und einem Computer als EEG-Computer-Audiometrie zeigten, daß eine geistige Behinderung vielfältig auch durch Hörstörungen erzeugt wird.

Insbesondere die Hereinnahme ethologischer Kriterien in die sozialpädiatrische Diagnostik, wie dies bei der »Münchener Funktionellen Entwicklungsdiagnostik« erfolgte, deckte auf, daß Störungen der frühkindlichen Sozialentwicklung in der Regel vergesellschaftet sind mit Sprachstörungen und ferner, daß schon beim Säugling Entwicklungsstörungen fast alle psychomotorischen Funktionen betreffen. Diese funktionelle Entwicklungsdiagnostik auf der Basis von ethologischen Kriterien gab die Anregung, bei behinderten Kindern grundsätzlich eine mehrdimensionale Diagnostik zu fordern, bei der morphologische, also körperliche, funktionelle und ethologische Kriterien, also Symptome des Verhaltens, insbesondere des Sprach- und Sozialverhaltens, mit einbezogen werden.

Diese mehrdimensionale Diagnostik, wie sie systematisch in den sozialpädiatrischen Zentren, z.B. im Kinderzentrum München, aber auch im Kinderneurologischen Zentrum Mainz oder im Werner-Otto-Institut in Hamburg, neuerlich im Haus der Behinderten in Bonn angewandt wird, machte ganz deutlich, daß die Vorstellungen, nach denen behinderte Kinder in der Regel einfach behindert sind, erheblich revidiert werden müssen.

Als Beispiel hierfür seien die Ergebnisse der mehrdimensionalen Diagnostik von blinden Kindern und die Ergebnisse der mehrdimensionalen Diagnostik bei Kindern mit cerebraler Bewegungsstörung – früher einheitlich unter dem Begriff der LITTLE’schen Erkrankung zusammengefaßt – aufgeführt, wie sie am Krankengut des Münchener Kinderzentrums gewonnen wurden.

So fanden wir bei 444 Kindern mit cerebraler Bewegungsstörung:

in 17,8 % ein zusätzliches Anfallsleiden

in 43,4 % eine zusätzliche Sehbehinderung

in 5,2 % eine zusätzliche Hörbehinderung

in 44,5 % zusätzliche Sprachstörungen

in 29 % schwere Verhaltensstörungen

in 65,7 % Entwicklungsverzögerungen und Intelligenzdefekte.

Nur 9,2 % der Kinder hatten ausschließlich eine cerebrale Bewegungsstörung. Verschiedene Kinder hatten bis zu sechsfache Behinderungen, so daß die Prozentzahlen mehr als 100 % ergeben.

Ähnliche Daten erbrachte die mehrdimensionale Diagnostik im Münchener Kinderzentrum auch bei blinden Kindern. Von 100 blinden Kindern wiesen nur 11 keine weitere Behinderung auf. Bei den 89 übrigen Kindern wurden zusätzliche leichte und schwere Behinderungen gefunden. So hatten 36 Kinder zwei, 23 drei, 10 vier und 2 fünf zusätzliche Behinderungen. Es fanden sich:

bei 72 ein geistiger Entwicklungsrückstand von leichter Entwicklungsverzögerung

bis zu schwerster geistiger Behinderung

bei 70 Körper- und Bewegungsbehinderungen

bei 33 psychische Fehlentwicklungen

bei 25 cerebrale Anfallsleiden

bei 22 organische Leiden

bei 10 zusätzliche Hörstörungen.

Aus der Sicht des Münchener Kinderzentrums stellt also das mehrfach behinderte Kind das eigentliche Behindertenproblem in Diagnostik und Therapie und demzufolge auch in der Pädagogik dar. Alle ärztlichen, psychologischen und pädagogischen Konzeptionen, die dies nicht beachten, gehen an der Realität vorbei.

Auch in der Sonder-Pädagogik dominiert die Theorie

Das unterschiedliche Selbstverständnis zwischen Pädiatrie und Pädagogik tritt besonders deutlich zutage, wenn man die wissenschaftlichen Grundlagen und die Praxis von Sonderpädagogik und Kinderheilkunde betrachtet.

Obwohl die Sonderpädagogik seit über 150 Jahren entscheidende Impulse aus der Medizin erhielt – worüber im folgenden noch berichtet wird –, und obwohl schon von der Aufgabe her, vom behinderten Kind, allerengste Beziehungen und eine enge Zusammenarbeit erforderlich wären, bestehen kaum Brücken, geschweige denn Programme der Zusammenarbeit zwischen Kinderheilkunde und Sonderpädagogik.

Das Auseinanderleben läßt sich auch an praktischen Beispielen demonstrieren. So liegt beispielsweise die Bayerische Landesschule für Körperbehinderte in München, Kurzstraße, auf dem gleichen Gelände wie die Orthopädische Klinik der Universität. Das Ganze war vor Jahrzehnten auch vom Raum her als ein geschlossenes System konzipiert, in dem Orthopäden und Sonderschullehrer im Interesse der körperbehinderten Kinder auf das Engste zusammenarbeiteten. Obwohl die Gebäulichkeiten innerhalb des gleichen Hofbereichs liegen, besteht heute zwischen der Landesschule für Körperbehinderte und der Orthopädischen Klinik kein organisatorischer Zusammenhang mehr. Die Orthopädie hat sich in Richtung einer chirurgischen Disziplin, die Sonderschule für Körperbehinderte in Richtung einer Körperbehinderten-Schule auseinander gelebt. Die notwendige Zusammenarbeit findet nicht statt.

Versucht man solche Phänomene zu erklären, dann stößt man zwangsläufig wieder auf das Problem, daß auch die Sonderpädagogik in ihrem Selbstverständnis in erster Linie von der Theorie ausgeht, während die Medizin eine ganz praxisbezogene Wissenschaft darstellt.

In besonderer Weise wird dies offenbar, wenn man die großen Werke der Sonderpädagogik, wie z.B. die »Pädagogik der Behinderten« von BLEIDICK betrachtet. Der Untertitel heißt »Grundzüge einer Theorie der Erziehung behinderter Kinder und Jugendlicher«.

Das Inhaltsverzeichnis dieses Werkes hat drei große Abschnitte »Begriffslehre«, »Gegenstandslehre« und »Wissenschaftslehre«.

In den Abschnitten der »Begriffslehre« spielen »Die Erziehungswirklichkeit und ihre begriffliche Fassung«, »Der Begriff der Heilpädagogik« und »Der Begriff der Sonderpädagogik« eine entscheidende Rolle.

In der »Gegenstandslehre« werden ausgewählte »Vorüberlegungen zur Methodologie der Gegenstandsbestimmung einer Behinderten-Pädagogik«, »Ausgewählte Theorien zum Gegenstand der Pädagogik der Behinderten« sowie »Neuere erziehungswissenschaftliche Bestimmungen des Gegenstandsbereichs der Pädagogik der Behinderten« mit »Gegenstandstheorien« wie der »erziehungsphilosophische Ansatz« oder der »kybernetische Ansatz« dargelegt, etc.

In der »Wissenschaftslehre« schließlich wird zur »Wissenschaftstheorie der Pädagogik der Behinderten« Stellung genommen und der »Entwurf einer Anthropologie des Behinderten und seiner Erziehung« beschrieben sowie »Aspekte zur Systematik einer Pädagogik der Behinderten« erläutert.

Der Verfasser selbst hebt auch in seinem Klappentext die Bedeutung des theoretischen Ansatzes hervor:

»In diesem exemplarischen Werk liegt die Theorie der Behinderten-Pädagogik vor. Sie ist den Aufgaben gewidmet, die Pädagogik der Behinderten als eine Spezialdisziplin der Erziehungswissenschaft zu bestimmen, was angesichts der medizinischen, theologischen und lebensphilosophischen Mißverständnisse der Heilpädagogik bisher nicht gelungen ist und dadurch verhindert hat, daß diese Disziplin sich überhaupt als ein wissenschaftliches Gebiet der Pädagogik ausweisen konnte. Ferner werden die isolationistisch auseinanderstrebenden Sparten des Sonderschulwesens, der Seh-, Hör-, Sprach- und Intelligenzgeschädigten, der Körperbehinderten- und Verhaltensgestörtenpädagogik zum ersten Male in einer einigenden erziehungswissenschaftlichen Theorie zusammengefaßt.

Der zweite Teil stellt in kritischem Überblick die ›klassischen‹ Theorien der Heilpädagogik in historisch-systematischer Sicht vor und erarbeitet eine neuere erziehungswissenschaftliche Gegenstandsbestimmung der Behindertenpädagogik als Gesamtgebiet und als differenzierte Theorie der einzelnen Behinderungsarten. Unter gesellschaftskritischem Aspekt wird hierbei die ›Relativität der Behinderung‹ mit bildungspolitischen Zielsetzungen der Gesamtschulbewegung zusammengebracht. – Der dritte Teil des Werkes stellt eine Wissenschaftstheorie dar, die eine ›Begründung‹ der Behindertenpädagogik als Erziehungswissenschaft vornimmt, die curricularen Ziele der Sondererziehung beschreibt und den Wissenschaftsaufbau ihres Systems entwickelt.

Den größten Abschnitt umfaßt eine philosophische und empirische Anthropologie des Behinderten, die als erziehungsphilosophischer Exkurs eingeordnet wird, womit die Arbeit Anschluß an die neuere Methodologie der Erziehungswissenschaft als objektiver Erfahrungswissenschaft gewinnt.«

In der Pädiatrie geht alles von der Praxis aus

Im Gegensatz hierzu geht die Pädiatrie, wie alle medizinischen Disziplinen, nicht von theoretischen Erwägungen oder von einer Theorie ihres Selbstverständnisses aus. Lehrbücher der Kinderheilkunde beschreiben konkrete Fakten von Wachstum und Entwicklung, von der Pflege des gesunden und kranken Kindes, von der Sterblichkeit in verschiedenen Altersstufen, beschreiben Krankheiten, ihre Symptome und ihre Behandlung. Immer steht das kranke Kind im Mittelpunkt aller wissenschaftlichen und praktischen Überlegungen und für Theorien – soweit es sich nicht nur um Hypothesen handelt – bleibt kaum Zeit.

Dieser grundsätzliche Unterschied im Wissenschaftsverständnis zeigt sich besonders deutlich im akademischen Unterricht. Für den Mediziner ist es selbstverständlich, daß der Unterricht für die Studenten patientennah stattfindet. Die medizinischen Hörsäle befinden sich deswegen in den Kliniken. Die Fortentwicklung der Studienordnung geht in der Medizin dahin, den Unterricht noch mehr an das Krankenbett zu verlagern.

Der Universitätslehrer in der Medizin ist immer auch als Arzt tätig. Es gibt keinen Professor für Kinderheilkunde, der nicht täglich auch unmittelbar mit dem Kind beschäftigt ist. Der chirurgische Professor, der mit der Berufung auf den Lehrstuhl für Chirurgie aufhören würde, täglich mehrere Stunden lang zu operieren, wäre schon nach wenigen Jahren in seiner Lehre unglaubwürdig. Er könnte wahrscheinlich auch gar nicht mehr die Belastung verstehen, welcher ein Chirurg tagtäglich bei den Operationen ausgesetzt ist und aus der heraus das Verständnis für dieses medizinische Fach überhaupt erst gewonnen wird.

Im Gegensatz hierzu findet der akademische Unterricht auch für Sonderpädagogik-Studenten nicht in Schulen statt, sondern weitab vom Schulbetrieb in Hörsälen, die nicht einmal einen räumlichen Bezug zur Schule haben. Universitätslehrer der Pädagogik oder Sonderpädagogik sind nicht als Klassenlehrer oder in der Schule tätig. Mit der Berufung auf einen Lehrstuhl hört in der Regel auch bei denjenigen die praktische Tätigkeit auf, die bis dahin in der Schule unterrichtet haben.

Man sieht das sogar vielfach als einen Vorteil an, weil gewissermaßen die praktische Tätigkeit den wissenschaftlichen Denkprozeß einengen könnte. Lehrer in erziehungswissenschaftlichen Fakultäten sind nicht gleichzeitig in Versuchs- oder Modell-Schulen als Lehrer tätig, aus denen sie unmittelbar kontinuierlich neue Erkenntnisse ziehen können, wie dies für die klinische Disziplin der Medizin selbstverständlich ist. Versuchs- und Modell-Schulen sind nicht einmal den erziehungswissenschaftlichen Fakultäten zugeordnet. Man glaubt, daß der Wissenschaftlichkeit der Pädagogik ein Bezug zur Praxis eher abträglich sei.

Der Hinweis, daß die praktische Ausbildung als Lehrer im Anschluß an das Studium für bestimmte Zeitabschnitte als »Lehramts-Kandidat« oder »Studienassessorat« erfolge und daß in dieser Zeit die ganze Schulpraxis nachgeholt würde, vermag diesem Unterschied zwischen Pädiatrie und Pädagogik nicht seine Bedeutung zu nehmen. Auch in der Medizin folgt der patientennahen Ausbildung an der Universität ein medizinisches Assistentenjahr oder ein »Internes Jahr« mit praktischer Ausbildung.

Das Problem liegt vielmehr darin, daß die Wissenschaft als solche in der Pädagogik nicht tagtäglich ihre Impulse aus der Schulpraxis vom Kind empfängt und daß der Universitätslehrer nicht tagtäglich gezwungen wird, sich mit den Problemen der Schulpraxis auseinanderzusetzen.

Am praktischen Beispiel: Während ich diese Zeilen niederschreibe, werde ich mehrfach unterbrochen durch einen schreienden Säugling, bei dem es mir großes Vergnügen macht, ihn zu untersuchen. Diese Unterbrechung bedeutet vielleicht eine Beeinträchtigung des Satzflusses, ist jedoch letztlich von größerem Vorteil für die Konzeption der kinderärztlichen Argumente.

So wird es verständlich, daß in der Kinderheilkunde das Kind im Mittelpunkt aller theoretischen und praktischen Überlegungen steht, während in der Schule, auch in der Sonderschule, pädagogische Konzepte, Lehrstoffinhalte und Unterrichtsprozesse etwa als Curricula im Zentrum der Vorstellungen liegen. Eine für die Schulpraxis geradezu tragische Schlußfolgerung ist es daher, daß die Kinderheilkunde nur das Kind, die Schule aber nur den »Schüler« kennt.

Die Kinderheilkunde weiß, daß das Kind mit jedem Entwicklungsschritt, mit jedem Lebensjahr auch in der Schulzeit von 6 bis 16 Jahren sich so ändert, daß die Zeiten der Beanspruchung und die Zeiten der Erholung, auch die Art der Erholung – gemessen am kindlichen Bewegungsdrang oder am Schlaf – so unterschiedlich sind, daß letztlich die Art der Beanspruchung durch die Schule etwa beim 6-jährigen, beim 10-jährigen Kind und beim 16-jährigen Jugendlichen so unterschiedlich sein muß, daß auch von der Organisation her Stundendauer, Wochenstundenzahlen, Ferienlängen etc., erst recht die Art des Unterrichts ganz verschieden sein sollten.

Demgegenüber bemüht sich die Schule seit Jahrzehnten, durch das Feststellen einer »Schulreife«, (an welchem Begriff auch Schulärzte nicht ganz unschuldig waren und sind), »den Schüler« festzustellen, an den einheitlich von der Schule her Anforderungen gestellt werden dürfen und können. So sind die Dauer der Unterrichtsstunden, die Pausenlängen, die Wochenstundenzahlen, die Ferienlängen etc. praktisch identisch, unabhängig davon, ob die Kinder 6 Jahre alt sind oder 12 Jahre.

Diese Schul-Konzeption ist besonders tragisch auch für das behinderte Kind, denn das »Sammeln von spezifischen Behinderungen« in Sonder-Institutionen macht das Eingehen auf die Bedürfnisse des einzelnen Kindes noch schwieriger; eine Problematik, die von engagierten Sonderschullehrern seit langem erkannt wird, wenn sie sich dagegen wehren, z.B. kleine Kinder in Internats-Kindergärten oder Internatsschulen für Blinde oder Gehörlose zu sammeln.

Soziale Behinderungen werden erst allmählich als Problem erkannt

Die Argumente der Kinderheilkunde lassen sich an keinem Beispiel besser erklären als am sozial behinderten Kind »jener Gruppe von Behinderungen, an die bis jetzt meist nie gedacht wird, wenn vom behinderten Kind gesprochen wird« (PECHSTEIN):

»Der Begriff sozial behindertes Kind soll darauf hinweisen, daß es eine Vielzahl von Kindern gibt, bei denen ausschließlich oder überwiegend soziale Faktoren für die Entstehung einer Behinderung verantwortlich sind – ebenso wie wir von prae- oder perinataler Behinderung sprechen, ohne dabei zunächst Art und Ausmaß einer körperlich-geistigen Schädigung zu qualifizieren.

Soziale Behinderungen in diesem Sinn umfassen diejenigen schwerwiegenden bleibenden Störungen des Sozialverhaltens und des geistig-seelischen Befindens, die infolge einer Schädigung der frühen Sozialentwicklung des Kindes zustandegekommen sind. Hierbei spielt die Vernachlässigung grundlegender altersspezifischer Bedürfnisse an sozialer, emotioneller und sprachlicher Anregung im Sinne einer ungenügenden personalen Zuwendung (HELLBRÜGGE) durch den Erwachsenen, speziell durch das Fehlen der Mutter (maternal deprivation, BOWLBY), eine dominierende Rolle.

Die Art und die Schwere der daraus resultierenden Behinderungen kann nur von demjenigen verstanden werden, der die Grundlagen der Sozialentwicklung des Kindes und ihre besondere Umweltabhängigkeit in der ersten Lebenszeit kennt und in ihrer Bedeutung einzuschätzen versteht.«

PECHSTEIN (1970) hat hierzu weiter ausgeführt:

»In der gesamten ersten Lebenszeit ist die enge Beziehung zu einer stabilen, d.h. immer verfügbaren mütterlichen Person – gar nicht unbedingt zur leiblichen Mutter – die unerläßliche Voraussetzung für das Erlernen zwischenmenschlicher Beziehungen. Störungen in diesem ersten sozialen Bezugssystem zwischen Mutter und Kind ziehen umso schwerere geistig-seelische Entwicklungsschäden und Abweichungen des sozialen Verhaltens nach sich, je jünger und je länger ein Kind davon betroffen wurde.

In der Dyade, wie diese einzigartige Situation der ersten sozialen Beziehung zwischen Mutter und Kind von dem Schweizer Arzt René SPITZ bezeichnet wurde, erlernt das Kind modellhaft alle für sein weiteres Leben grundlegenden Fähigkeiten des Umgangs mit Menschen, der sprachlichen Kommunikation und des Zurechtfindens in der Welt. Diese Entwicklung vollzieht sich in weitgehender gegenseitiger Abhängigkeit zwischen der inneren Reifung der Sinnesorgane und des Gehirns einerseits und zur Umweltanregung andererseits, die überwiegend aus der sozialen Situation entspringt.

Vielfältige wissenschaftliche Forschungsergebnisse der letzten Jahre zeigen uns aber zugleich, daß die Lernprozesse, die in dieser frühen Lebenszeit erfolgen, von prägender Bedeutung sind für alles spätere Verhalten und Lernen. Dies beruht offenbar auf der Tatsache, daß das Zentralnervensystem während dieser kurzen Zeitspanne der ersten drei Lebensjahre die höchste Entwicklungsgeschwindigkeit während des ganzen Lebens hat und Sinneseindrücken jeglicher Art in anderer Weise als später offensteht, gewissermaßen »empfindlicher«, plastischer ist.

Diese Erkenntnisse vermitteln uns heute eine völlig neue Einschätzung der Bedeutung der frühen Erziehung: die Erkenntnis nämlich, daß die Kinder – etwa im Säuglingsalter – sich nicht von allein entwickeln, daß eine Fülle von Anregungen in dieser Periode notwendig ist, die nur durch die Anwesenheit einer erwachsenen Person vermittelt werden kann, und die Einsicht, daß die lebensentscheidenden Erziehungsprozesse offenbar nicht in der Schulzeit, sondern in den ersten 3 Lebensjahren stattfinden; weil sie in dieser Zeit der raschesten Entwicklung anders als alles spätere Lernen gleichsam noch mit in die Konstruktion des Gehirns, des Geistes, der Seele eingehen.

Alle späteren Äußerungen der geistig-seelischen Entwicklung des Kindes: Leistungen und Erfolge im sozialen oder intellektuellen Bereich, die vergleichsweise sehr viel interessanter und vielfältiger erscheinen – Mitursache für die derzeitige Überschätzung der Schulzeit gegenüber der Frühzeit – gleichen dem hochkomplizierten, farbigen und individualisierten Ornament eines Teppichs, der gleichwohl ohne die simpel erscheinende Grundstruktur des Teppichbodens keinen Zusammenhalt findet.«

Wie wenig diese grundlegenden Erkenntnisse der kindlichen Sozialentwicklung und Sozialisation, auf die wir später gerade bei der Beschreibung unseres Montessori-Modells noch einmal zurückkommen, derzeitig von der Pädagogik erkannt werden, wurde in den vergangenen Jahren deutlich bei der Diskussion um das Projekt »Tagesmütter«. Sogenannte »Frühpädagogen zeigten sich als hervorragend belesen in Theorien und Vorstellungen über »multiple mothering«. Sie glaubten aus dem Erlesenen absolute Schlüsse für die Pflege und Betreuung eines Säuglings ziehen zu können und entwickelten ein neues Konzept der außerfamiliären Pflege.

Das Projekt »Tagesmütter« war deswegen primär nicht geplant zur Hilfe von Säuglingen und Kleinkindern in der Familie, sondern als pädagogisches Alternativ-Modell zur Familienerziehung. Die Autoren dieses Projekts aus dem Familienministerium HENKE, COSMALE und SPINDLER wollten »die durch nichts bewiesene« Fähigkeit der Familie Kinder zu erziehen von Staats wegen durch ein besseres Erziehungsmodell ersetzen.

Der Protest der Kinderärzte gegen ein solches Projekt basierte auf jahrzehntelangen Erfahrungen und der Kenntnis der »Gefahren jeder außerfamiliären Pflege des Säuglings und Kleinkindes« (HELLBRÜGGE1977) infolge der »Umweltabhängigkeit der frühkindlichen zentralnervösen Entwicklung« (PECHSTEIN1974).

Um den gegenseitigen Standpunkt verständlich zu machen, diskutierten sogenannte »Frühpädagogen« und Pädiater intensiv über Fremdbetreuung von Säuglingen und Kleinkindern. Dabei stellte sich heraus, daß die »Frühpädagogen« Vorstellungen entwickelten, nach denen Mehrfacheinwirkungen etwa in der sensorischen Sphäre durch mehrere Personen und Mütter unsere Säuglinge und Kleinkinder gescheiter machen sollten. Diesem pädagogischen Konzept lagen aber theoretische Vorstellungen von Wissenschaftlern zugrunde, die nicht die geringsten Kenntnisse in der Untersuchung oder Beurteilung von Säuglingen hatten. Sie wunderten sich, daß langjährige kinderärztliche Erfahrungen über schwere Entwicklungsschäden bei Säuglingen und Kleinkindern in institutionalisierter Pflege mit wechselndem Mutterbezug überzeugendere Schlußfolgerungen zum Problem der Früherziehung erlauben, als noch so intensives Lesen auch internationaler pädagogischer Literatur.

Die Probleme einer sozialen Behinderung durch institutionalisierte Erziehung werden von der Pädagogik noch kaum begriffen. Das wird ganz offenkundig bei der Diskussion um die Vorschule, praktisch dem Herauslösen der Kleinkinder aus dem Kindergarten und ihre Unterrichtung in Jahrgangsklassen.

Im Ausschuß »Vorschulische Erziehung« des Deutschen Bildungsrates haben wir als Kinderärzte gegen diesen Begriff protestiert. Wir wollten, daß dieser Ausschuß den Namen »Kindergarten-Ausschuß« trage, waren aber machtlos gegen pädagogische Vorstellungen, welche um der »Intelligenzförderung des Kleinkindes willen« den Kindergarten durch die Vorschule ersetzt haben wollten.

Leichte Störungen können zu schweren Behinderungen führen

Die soziale Behinderung spielt schließlich auch eine maßgebliche Rolle bei körper- und geistig behinderten Kindern, müßte also in der Sonderpädagogik geradezu eine zentrale Bedeutung haben. Es sei hier erinnert an die Einschränkung der kindlichen Sozialisation, wenn ein gehbehindertes Kind, dem »sonst nichts fehlt«, an vielen Spielen seiner Geschwister und Mitschüler nicht teilnehmen kann. Es sei erinnert an reaktive Verhaltensstörungen, die z.B. durch falsches Verhalten der Umwelt, auch der »Schulumwelt«, zustandekommen. Auf die Bedeutung dieser vielfältigen Probleme kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Im Rahmen dieses Schulversuchs wird aber über die Problematik noch mehr gesprochen.

Reaktive Störungen, wie sie durch falsches Verhalten der Umgebung – Eltern, Geschwister, Mitschüler –, aber auch durch eine falsche Einstellung der Schule zum Kind zustandekommen, führen derzeitig in einem bislang nicht gekannten Ausmaß auch bei hochintelligenten Kindern zu völligen Schulversagern. Es handelt sich um Kinder mit Teilleistungsstörungen oder minimaler cerebraler Dysfunktion. Solche Kinder wirken in ihrem Verhalten ungeschickt, linkisch. In der Familie fallen sie dadurch auf, daß sie viel länger beim An- und Ausziehen brauchen als ihre Geschwister, weil sie insbesondere beim Knöpfen oder Schuhebinden unbeholfen sind. Bei den Mahlzeiten sind sie diejenigen, die wegen ihrer mangelnden Koordinationsfähigkeit beim Essen die Tasse fallen lassen, denen der Löffel aus der Hand fällt, die das Messer verkehrt in die Hand nehmen usw. Sie werden deswegen ständig gescholten, gelten als schwierig und zu Unrecht wird ihnen ihr Verhalten als bösartig ausgelegt.

Ihre Schulsituation ist besonders ungünstig. Durch ihre Ungeschicklichkeit und ihre Unruhe fallen sie sofort auf. Vom Lehrer werden sie bestraft, von den Mitschülern ausgelacht. Sie sind es, die beim Spiel-Turnen als Kameraden unbeliebt sind, die immer als letzte in eine Mannschaft aufgenommen werden.

Aus der leichten körperlichen Ungeschicklichkeit entsteht so eine schwere Sekundär-Neurose, die nicht selten auch bei guter Intelligenz zu völligem Schulversagen führt.

Solche reaktiven Verhaltensstörungen sind aber nicht nur beim behinderten Kind selbst festzustellen. Unserer Erfahrungen nach leiden behinderte Kinder nicht selten unter »overprotection«, weil sie die ständige Fürsorge ihrer Eltern umgibt. Darunter leiden – als bislang noch wenig erkanntes Problem – die Geschwister, wie unsere Untersuchungen bei den Dysmelie-Kindern gezeigt haben. In Einzelfällen war diese Geschwisterreaktion sehr schwer, da das gesunde Geschwisterkind unter der Behinderung stärker litt als das behinderte Kind selbst.

Wir schätzen die reaktiven Verhaltensstörungen als Teil der Mehrfachbehinderung vor allem in der kindlichen Sozialentwicklung so stark ein, daß wir bei jedem wie auch immer behinderten Kind eine eingehende psychologische Untersuchung auch des Sozialverhaltens für notwendig erachten und fordern, daß letztlich alle Behindertenhilfe eine intensive Erziehungsberatung mit einschließen muß.

Die Behindertenhilfe muß sich auf das mehrfach behinderte Kind umstellen

Die aus der mehrdimensionalen Diagnostik des Münchener Kinderzentrums stammende Feststellung, daß das behinderte Kind grundsätzlich ein mehrfach behindertes Kind ist und daß das »einfach« behinderte Kind eher die Ausnahme darstellt, ist eine neuartige Erkenntnis, die für die gesamte Behindertenhilfe zu Schlußfolgerungen zwingt. Dies gilt zunächst für den ärztlichen Bereich.

Es ist zuerst darauf hinzuweisen, daß die fortschreitende Spezialisierung der Medizin diese für die Behindertenhilfe wichtige Erkenntnis weitgehend verhindert. Wenn der Augenarzt für die sehbehinderten, der Orthopäde für die Körperbehinderten, der Hals-Nasen-Ohren-Arzt für die hörgeschädigten, der Kinderpsychiater für die geistig behinderten, der Neurologe für die Anfallskinder zuständig ist, dann fehlt einfach die Schaltstelle, die die Primärdiagnostik für die gesamte kindliche Entwicklung und die Koordination der vielfältigen Behandlung übernimmt.

Hier muß die Kinderheilkunde lernen, die sozialpädiatrische Diagnostik durchzuführen und vor allem die Entwicklung bzw. die Entwicklungsstörung des Kindes zu beurteilen. Sie hat daraus die entsprechenden Konsequenzen für eine mehrfachdimensionale Diagnostik durch verschiedene Spezialisten und aufbauend für die mehrfachdimensionale Frühtherapie unter Einschluß der klinisch-psychologischen Behandlung und der frühpädagogischen Betreuung zu ziehen, eine Aufgabe, die für die kinderärztliche Klinik und die kinderärztliche Praxis neuartig ist.

Der Grund dafür, warum man so wenig über Mehrfachbehinderungen weiß, liegt ohne Zweifel auch in der Geschichte der Behindertenhilfe. Sie hat sich außerhalb der Medizin – wenngleich oft von Ärzten inauguriert – in Sonderinstitutionen wie Blindenschulen, Taubstummenanstalten oder Kinderanstalten für arme, verwahrloste Kinder entwickelt. Dies führte zu einem System, das auch heute noch auf Sonderschulen oder speziellen Tagesstätten für körperlich, geistig oder sinnesgeschädigte Kinder aufbaut, so daß das Verständnis für Mehrfachbehinderungen schwierig ist.

Es dürfte sich als Begründung aber auch anführen lassen, daß sich die Ursachen für angeborene oder früherworbene Schädigungen durch die Fortschritte der Kinderheilkunde wesentlich gewandelt haben. Die Hauptursache für die Taubheit im Kindesalter, der Scharlach (chronische Ohreiterung), ist durch die Antibiotikatherapie verschwunden. Die Hauptursache für die Blindheit im Kindesalter, die bei der Geburt erworbene eitrige Bindehautentzündung durch Gonokokken, ist durch die Credé’sche Prophylaxe beseitigt. Die Hauptursache für das Krüppelleiden im Kindesalter, die Englische Krankheit, ist durch die Entdeckung des Vitamins D ausgerottet worden, die Kinderlähmung durch die Einführung der Kinderlähmungsimpfung eingedämmt.

Angeborene oder früherworbene Behinderungen haben ihre Ursache vorwiegend in Schädigungen während der Schwangerschaft, in Geburtsschädigungen oder in Chromosomenanomalien. Diese Ursachen treffen das gesamte sich entwickelnde Kind, insbesondere das Großhirn und das Zentralnervensystem. Isolierte Augenschädigungen sind selbst da, wo sie spezifisch entstehen – etwa im Inkubator bei zu früh geborenen Kindern – nicht als isolierte Augenschädigungen anzusehen, weil eben das zu Frühgeborensein als solches bereits einen schwerwiegenden Risikofaktor für die gesamte Entwicklung des Kindes darstellt.