Unterm Teufelsberg - Dietmar Peitsch - E-Book

Unterm Teufelsberg E-Book

Dietmar Peitsch

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Beschreibung

Eine geheime Untergrundeinheit der CIA soll im Jahre 1989 versucht haben, von West-Berlin aus einen Aufstand in der DDR anzuzetteln. Dabei sollten Funktionäre der Regierung und der SED mit Milzbranderregern infiziert werden. Das erfährt der investigative Journalist Tobias Wellner von einer vertraulichen Quelle. Sein Gewährsmann glaubt, die Organisation würde heute noch existieren und ein Waffenlager in einem Bunker unter dem Teufelsberg unterhalten. Wellner erzählt seinem Freund Heiko Peikert, Mitarbeiter des Berliner Verfassungsschutz, von der Geschichte. Peikert beginnt zu ermitteln und findet heraus, dass der junge Polizist Torsten Boldt, nachdem er 1988 von Milzbranderkrankungen rund um den Teufelsberg erfahren hatte, spurlos verschwunden ist. Während Peikert Nachforschungen über das Schicksal Boldts anstellt, werden in Berlin Anschläge mit Milzbranderregern begangen, die große Unruhe in der schon durch die Coronapandemie verunsicherten Bevölkerung verursachen. Bestehen Zusammenhänge zwischen den damaligen Erkrankungen und den Anschlägen? Wird es Peikert gelingen, das Rätsel um die ominösen Krankheiten und den Tod des Polizisten zu lösen? - Dietmar Peitsch, Vita: Geboren 1953 in Berlin, Studium der Rechtswissenschaften, Geschichte und Musikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Nach dem 2. juristischen Staatsexamen und der Promotion bis zur Pensionierung im Jahre 2016 Mitarbeiter der Berliner Landesverwaltung, unter anderem als Stabsreferent für Rechtsangelegenheiten und Geheimschutz bei der Polizei sowie als Stabsleiter beim Landesamt für Verfassungsschutz. Diverse fachliche und belletristische Veröffentlichungen.

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Dietmar Peitsch

UNTERMTEUFELSBERG

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2023

Dietmar Peitsch

Vita.

Geboren 1953 in Berlin,

Studium der

Rechtswissenschaften,

Geschichte und

Musikwissenschaften an der

Freien Universität Berlin.

Nach dem 2. juristischen

Staatsexamen und der

Promotion bis zur

Pensionierung im Jahre 2016

Mitarbeiter der Berliner

Landesverwaltung, unter

anderem als Stabsreferent für

Rechtsangelegenheiten und

Geheimschutz bei der Polizei

sowie als Stabsleiter beim

Landesamt für

Verfassungsschutz.

Diverse fachliche und

belletristische

Veröffentlichungen.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Copyright (2023) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbild © P. Schkorianz [Adobe Stock]

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

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Coronakrise! Klimakrise! Energiekrise! Pflegenotstand! Gewalt! Hasstiraden im Netz!

Heiko Peikert saß in seinem Büro der Berliner Verfassungsschutzbehörde und runzelte die Stirn, als er die Online-News auf seinem Smartphone las. Eine Krise nach der anderen, eine schlimmer als die andere! Wo soll das nur hinführen? Er schüttelte seufzend den Kopf und legte sein Smartphone zur Seite, um sich der Akte zu widmen, die aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch lag. Seine Chefin, die Leiterin der Verfassungsschutzbehörde, Doktor Sabine Schwart-Hertel, hatte sie ihm gestern mit dem Auftrag in die Hand gedrückt zu prüfen, ob die dort zusammengestellten Äußerungen von Mitgliedern einer rechten Chatgruppe genügend Anhaltspunkte für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz böten. Als Justiziar des Verfassungsschutzes in Berlin war eine seiner Aufgaben, solche rechtlichen Prüfaufträge zu erfüllen. Er liebte sie überhaupt nicht, denn er befand sich dabei oft im Zwiespalt zwischen einer nüchternen juristischen Analyse und der Rücksichtnahme auf politische Wünsche. Er wusste, dass Innensenator Theodor Helmbach bei den kleinsten Hinweisen auf extremistische Bestrebungen rechter Organisationen deren nachrichtendienstliche Beobachtung verlangte. Jetzt sollte er prüfen, ob eine Gruppe, von der bisher niemand etwas gehört hatte und die sich Cherusker nannte, als extremistisch eingestuft werden sollte. Vor ihm lag der Ausdruck eines Statements in einem sozialen Netzwerk, dessen Inhalt ihm Kopfzerbrechen machte. Man müsste alle Politiker auf eine einsame Insel im Pazifik verfrachten und sie dort ihrem Schicksal überlassen, las er. War das nun eine extremistische Aussage oder nur eine überspitzte Meinungsäußerung? Er blätterte weiter, andere Beiträge im Chat waren auch nicht eindeutig als extremistisch zu bewerten. Nachdem Peikert wohl zehn Minuten unschlüssig in den Unterlagen hin- und her geblättert hatte, entschloss er sich, in seiner rechtlichen Bewertung keine Position zu beziehen. Sollten doch andere entscheiden. Er würde nur die verschiedenen juristischen Auslegungsmöglichkeiten der Aussagen aufzählen. Dabei war ihm sehr wohl bewusst, dass er seine Chefin mit seiner Stellungnahme in eine schwierige Situation bringen würde, aber er hatte keine Lust, die Verantwortung für die eher politische als juristische Entscheidung über eine Beobachtung zu übernehmen. Missmutig zuckte er die Schultern, tippte seinen Text in den Computer auf seinem Schreibtisch und druckte ihn aus. Auf jede Seite drückte er oben den Stempel VS Vertraulich – amtlich geheim gehalten auf und warf das Gutachten in den Ausgangskorb, damit seine Sekretärin Birgit Waldmann ihn später mit einer Tagebuchnummer registrieren und zu Schwart-Hertel bringen konnte.

Plötzlich wurde er abgelenkt, als es an die Tür klopfte. „Herein“, brummte er.

Ein Registrator, der die Akten der Verfassungsschutzbehörde verwaltete, trat ein. „Guten Tag, Herr Peikert.“

Der nickte zur Erwiderung des Grußes, während er den Bissen eines Müsliriegels, den er kurz zuvor aus seiner Schreibtischschublade hervorgekramt hatte, hinunterschluckte. Müsliriegel waren seine Nervennahrung, die er brauchte, wenn er angespannt war. Und angespannt war er bei dem nervigen Gutachten.

„Das habe ich beim Aufräumen gefunden.“ Der Registrator hielt Peikert einen eingestaubten blauen Aktendeckel entgegen.

„Ja, und?“, fragte der irritiert, da er nicht wusste, was er mit alten Akten zu schaffen hatte.

„Ich sondere gerade Altakten aus, die zur Vernichtung anstehen. Soll ich diese Akte in den Reißwolf werfen oder noch weiter aufbewahren?“

„Das weiß ich doch nicht.“ Peikert verspürte keine Neigung, sich mit derartigen Lappalien zu befassen.

„Ich meine doch nur…“ Sein Kollege war verunsichert. „Wegen dem Datenschutz. Akten müssen doch vernichtet werden, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Und ich weiß nicht, ob diese hier eventuell noch mal von Bedeutung sein kann. Können Sie mir nicht sagen, wie die Rechtslage ist?“

Peikert warf einen Blick auf den Einband. Sicherheitsüberprüfungsakte Torsten Boldt las er dort. Den Namen hatte er noch nie gehört. Er schlug den Aktendeckel auf. Das Vorblatt zeigte ihm, dass die Akte 1986 anlässlich einer Sicherheitsüberprüfung angelegt worden war.

„Torsten Boldt war Mitarbeiter der Polizei“, erklärte der Registrator. „Er war in den 1980er Jahren Verschlusssachenverwalter im Stab des Polizeipräsidenten. Dort verwahrte er die geheimsten der geheimen Akten der Polizei.“

„Das ist über dreißig Jahre her. Warum ist die Akte nicht schon längst vernichtet worden?“, wollte Peikert wissen.

„Torsten Boldt ist im Oktober 1989 spurlos verschwunden. Seine Schwester hatte damals eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Ein Teil des Vermisstenvorgangs der Polizei befindet sich in dieser Akte.“ Der Registrator tippte so heftig mit dem Finger auf den Aktendeckel in Peikerts Hand, dass er auf und ab wippte. „Und sehen Sie hier, die letzte Seite.“

Auf der angegebenen Seite las Peikert nichts weiter als einen kurzen handschriftlichen Vermerk: Das Vermisstenverfahren zum Nachteil des Kriminalkommissars Torsten Boldt wurde laut telefonsicher Auskunft von Dir VB c vom heutigen Tage auf Weisung von Major Gardener durch Staatsanwalt Schmidt eingestellt. Der Sicherheitsüberprüfungsvorgang ist auf Weisung Major Gardeners zu schließen. Darunter das Datum 10. Dezember 1989 und eine unleserliche Unterschrift.

Peikert sah auf. „Was verbirgt sich hinter dem Kürzel Dir VB c? Und wer war Major Gardener?“

„Dir VB c war damals der Staatsschutz, also die Dienststelle der Polizei, die in Strafverfahren wegen Spionage ermittelte. Und Gardener dürfte der amerikanische Sicherheitsoffizier gewesen sein. Der Verbindungsmann zwischen dem amerikanischen Stadtkommandanten und dem Polizeipräsidenten. Es ist doch merkwürdig, dass der amerikanische Sicherheitsoffizier die Einstellung des Verfahrens verlangt hat. Normalerweise haben sich die Alliierten nicht in Verfahren, die deutsche Staatsbürger betrafen, eingemischt. Und die Einstellung ist bereits kurze Zeit verfügt worden, nachdem die Polizei ihre Ermittlungen aufgenommen hatte.“

Peikert wusste, dass die West-Berliner Polizei vor der deutschen Einheit der Oberhoheit der Westalliierten unterlag, die unmittelbar Befehle an sie erlassen konnte.

„Hm. Lassen Sie die Akte hier. Ich werde sie mir nachher genauer ansehen und dann entscheiden, ob sie vernichtet werden kann.“ Peikert legte die Akte in seinen Stahlschrank zu den anderen Unterlagen und widmete sich erst einmal der Lektüre eines Berichts des Bundesamtes für Verfassungsschutz über die Querdenkerszene. Überwiegend seien die Querdenker keine Extremisten, hieß es dort, allerdings versuchten rechte Gruppen, Einfluss auf die Coronaleugner zu nehmen. Wenn das gelänge, sei mit einer Eskalation der Situation und einer Gewaltzunahme zu rechnen. Das hörte sich nicht gut an.

Peikert zögerte, als er am Abend vor seinem Haus im Berliner Villenviertel Frohnau stand. Es war ein schlichter Bau aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit schrägem Dach, die Giebelseite zur Straße gewandt. Am Zaun fristeten einige Strauchrosen ein eher kümmerliches Dasein, dahinter erstreckte sich ein mit Unkraut durchsetzter Rasen bis zum Haus. Zwei große Linden rechts und links der Rasenfläche verliehen dem Grundstück einen etwas düsteren Charakter. Bedrückende Stille empfing ihn, als er die Haustür öffnete. Kein Radio lief, keine Stimmen waren zu hören. Peikert litt unter der Stille, er litt darunter, dass ihm niemand zur Begrüßung entgegenkam, dass das Haus ihn wie einen Fremden behandelte. Er verspürte leere Einsamkeit, seit seine Frau Elke und seine Tochter Lena ihn verlassen hatten. Schon lange war sein Verhältnis zu seiner Frau angespannt gewesen. Seit Jahren hatte Elke die Schweigsamkeit ihres Ehemannes belastet. Nie hatte er ein Wort darüber verloren, was er den ganzen Tag über trieb. Alles, was seinen Dienst betraf, unterlag absoluter Geheimhaltung. Als dann Extremisten mehrere Anschläge gegen ihn und seine Familie verübt hatten, eine Fensterscheibe seines Hauses eingeschlagen und seinen Kater getötet hatten, war Elke mit den Nerven am Ende gewesen. Sie zog aus und seine Tochter Lena mit ihr.

Seufzend betrat Peikert das Wohnzimmer. Auf dem Sofa hatte früher seine Frau gesessen, hatte ferngesehen oder ein Buch gelesen. Mitunter hatte sich Lena dort hingefläzt und an ihrem Tablet herumgespielt. Jetzt grinste ihn nur ein Filmsternchen aus der aufgeschlagenen Fernsehzeitung an. In der Vase auf dem Fensterbrett verbreiteten früher üppige Zimmerpflanzen eine freundliche Atmosphäre, jetzt war die Fensterbank gähnend leer. Einen Hauch von Wohnlichkeit erzeugte immerhin ein Eichenholzschrank an einer der Wände mit mehreren offenen Fächern, in denen eine HiFi-Anlage, eine stattliche Anzahl CDs und einige Bücher Platz gefunden hatten.

Bedrückt lief er in die Küche und überlegte, was er essen sollte. Hunger hatte er eigentlich nicht. Als er den Kühlschrank öffnete, zählte er außer einer angebrochenen Flasche Mineralwasser und drei Flaschen Bier nur ein paar Scheiben Wurst, ein angeschnittenes Stück Tilsiter Käse und ein Glas Gurken. Wenig einladend für ein Abendbrot. Er nahm ein Stück Brot aus dem Brotkasten und wollte sich gerade eine Scheibe abschneiden, als er merkte, dass keine Butter mehr im Kühlschrank war. Auch das noch. Ärgerlich warf er den Kanten in den Brotkasten zurück. Dann hole ich mir eben einen Döner. Der ist zwar ungesund, aber immer noch besser als Brot ohne Butter.

2

Am nächsten Tag betrat Peikert gegen neun Uhr unausgeschlafen sein Büro. Der Döner hatte ihm die ganze Nacht auf den Magen gedrückt, sodass er sich unruhig von einer Seite auf die andere wälzen musste.

Seine Sekretärin Birgit Waldmann begrüßte ihn mit einem fröhlichen „guten Morgen“, worauf er nur mit einem Brummen reagierte.

„Möchten Sie einen Kaffee?“, fragte sie unbeeindruckt von seiner schlechten Laune.

„Kaffee wäre nicht schlecht.“ Wenigstens seine Sekretärin kümmerte sich um ihn.

Er warf seinen Rucksack, in dem nichts weiter als sein Regenschirm verstaut war, unachtsam unter den Schreibtisch, zog seinen Pullover aus, wobei sein kariertes Hemd aus der Hose rutschte. Dann öffnete er den Stahlschrank, in dem er über Nacht die als geheim eingestuften Akten verwahrte, und dachte daran, was ihn wohl heute an Arbeit erwarten würde. Er hatte vor, sich näher mit den Querdenkern zu befassen für den Fall, dass er gefragt würde, ob sie Anhaltspunkte für extremistische Bestrebungen böten. Einen Moment zuckte er, als er überlegte, ob er sich überhaupt mit diesen Menschen dienstlich befassen durfte, solange die Szene noch nicht als Beobachtungsobjekt eingestuft war. Zwar ermittelten die Verfassungsschutzbehörden gegen einzelne Angehörige der Querdenker, aber nicht gegen die Szene insgesamt. Wie soll man aber nun differenzieren zwischen Extremisten und anderen? Wieder mal ein typisches Problem der Arbeit des Verfassungsschutzes. Er verschob das Vorhaben, stattdessen schweifte sein Blick durch das geöffnete Fenster nach draußen. Auf der großen Linde vor seinem Fenster, deren Blätter sich herbstlich braun zu färben begannen, turnte ein Eichhörnchen herum. Das possierliche Tier konnte er dort oft beobachten. Es lenkte ihn etwas von seinen Gedanken ab.

Plötzlich fiel ihm die Altakte ein, die der Registrator gestern gebracht hatte. Er holte sie aus seinem Panzerschrank, schlug den Deckel auf und begann zu lesen. Im Jahre 1986 sollte der junge Kriminalkommissar Torsten Boldt als Verschlusssachenverwalter im Dezernat Präsidiale Angelegenheiten der Berliner Polizei, Gruppe 3, Geheimschutz, kurz Dez P 3, eingesetzt werden. Deshalb musste er zum Umgang mit Verschlusssachen bis zum Geheimhaltungsgrad streng geheim ermächtigt werden. Eine Sicherheitsüberprüfung wurde angeordnet und in der Akte dokumentiert. Routinemäßig befragte der Verfassungsschutz Personen, die Angaben über Boldts Charakter und Lebensumstände machen sollten. Die Auskünfte waren ausgesprochen positiv, Boldt wurde als strebsam, verantwortungsbewusst und zuverlässig beschrieben. Privat war der Kriminalbeamte fröhlich, offen und kameradschaftlich, bei Kollegen ausgesprochen beliebt. Eine Gruppe seines Studienjahrgangs der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege war untereinander eng befreundet und verbrachte gemeinsam ihre Freizeit. Boldts Frauenbekanntschaften wechselten. Er galt als Womanizer und wurde deshalb von Kollegen und Freunden beneidet. Seine Eltern waren beide bei der Polizei beschäftigt, der Vater als Polizeihauptmeister, die Mutter arbeitete in der Verwaltung. Zu seiner Schwester Monika, die an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege studierte, hatte er genauso wie zu seinen Eltern ein enges Verhältnis.

Plötzlich wurde Peikert durch das Läuten seines Smartphones aus dem Aktenstudium gerissen.

„Hallo, Heiko. Wie geht’s?“, tönte es ihm entgegen.

Peikert erkannte sofort die Stimme seines Freundes Tobias Wellner. „Wie soll’s mir schon gegen. Wie immer. Tagsüber wühle ich in Akten und abends langweile ich mich zuhause.“

„Du musst mal unter Leute gehen.“

„Keine Lust.“

„Ach was, du brauchst Abwechslung. Zuhause bläst du nur Trübsal und wirst depressiv.“

„Und wenn schon.“

„Du brauchst wieder eine Frau.“

„Quatsch“, brummte Peikert.

„Doch, sieh mal in ein Dating-Portal.“

Peikert hatte keine Lust, weiter mit Wellner über seine persönlichen Probleme zu reden. „Wie geht’s dir denn?“, fragte er deshalb.

„Mir geht’s prima.“

„Schön für dich“, meinte Peikert süffisant. „Du bist ja auch nicht im öffentlichen Dienst tätig. Als freier Journalist bist du dein eigener Herr. Und du hast eine Partnerin, die dich liebt.“

„Wir müssen uns unbedingt auf ein Bier treffen“, wechselte Wellner das Thema. „Ich bin da an einer interessanten Sache dran, von der ich dir erzählen will. Wann hast du Zeit?“

„Eigentlich habe ich immer Zeit nach Dienstschluss.“

„Wie wäre es nächsten Freitag?“

„Freitag ist gut. Wann und wo?“

„Ich schlage vor, wir treffen uns um zwanzig Uhr am Eingang zu den Hackeschen Höfen und gucken, wo es ein gutes Bier gibt.“

„Darf man überhaupt zurzeit in ein Lokal? Ich habe keine Ahnung, wie im Moment die Coronabeschränkungen sind.“

„Du bist doch geimpft?“

„Bin ich.“

„Dann steht einem Lokalbesuch nichts im Wege. Also bis Freitag.“

„Okay. Bis nächsten Freitag.“

Peikert lehnte sich auf seinem Bürostuhl zurück. Ein Abend mit Wellner versprach eine Abwechslung von seinem eintönigen Dasein. Peikerts Freund, der als investigativer Journalist unterwegs war, wusste stets Interessantes über seine aktuellen Recherchen zu erzählen. Offenbar war er wieder an einem brisanten Thema dran. Etwas besserer Laune vertiefte er sich wieder in die Lektüre von Boldts Sicherheitsüberprüfungsakte. Nachdem er einige Seiten durchgeblättert hatte, stieß er auf die Kopie des Vermisstenvorgangs der Polizei, den der Registrator gestern erwähnt hatte. Niemand hatte sich damals das plötzliche Verschwinden des jungen Polizisten erklären können. Die Eltern waren fassungslos gewesen, die Kollegen hatten sich nicht erklären können, warum er so plötzlich verschwunden war. Seine Freunde berichteten allerdings von auffälligen Veränderungen in Boldts Wesen. Sie führten dieses Verhalten darauf zurück, dass er sich sehr plötzlich von seiner Freundin Heike Spengler getrennt hatte. Warum dies geschah, wusste niemand. Die beiden galten als Traumpaar, verliebt und unzertrennlich. Boldt wurde von Freunden und Kollegen beneidet, weil er nach einem unsteten Liebesleben eine so harmonische Beziehung finden konnte. Heike Spengler machte nach Boldts Verschwinden gegenüber der Polizei keine Angaben. Wahrscheinlich war sie sehr gekränkt von seiner Entscheidung, sich von ihr zu trennen, dachte Peikert.

Auch der Verfassungsschutz wurde seinerzeit im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen um eine Stellungnahme gebeten, hatte aber keine Erkenntnisse über den Verbleib des jungen Polizisten. Merkwürdig fand Peikert, dass sich der amerikanische Sicherheitsoffizier in die Ermittlungen eingeschaltet hatte. War es damals üblich, dass die Alliierten, die die Oberhoheit über die West-Berliner Polizei hatten, in die Ermittlungen deutscher Behörden eingriffen? Der Registrator hatte das gestern verneint. Was war dann der Grund für die Intervention? Na ja, dachte Peikert. Das ist alles längst vergangen. Geschichte eben. Die Akte konnte vernichtet werden. Er legte sie mit dem Vorsatz in den Panzerschrank, sie in den nächsten Tagen dem Registrator zur Vernichtung zurückzugeben.

3

Am Freitagabend stand Peikert pünktlich um zwanzig Uhr am Eingang zu den Hackeschen Höfen und beobachtete die Menschen, die durch die Toreinfahrt ein- und ausgingen. Die meisten trugen keine FFP 2-Masken. Sie schienen sich nicht vor dem Virus zu fürchten, es wurde gelacht und gerufen. Junge Leute, bunt gekleidet, liefen laut schwatzend an ihm vorbei, ältere betraten die Höfe etwas verhaltener. Er blickte in den ersten Hof hinein. In klaren vertikalen Strukturen erhoben sich die Fassaden der Gebäude, blau-weiße Kacheln erinnerten ihn an Delfter Fliesen, die Fenster hatten Ähnlichkeit mit Kirchenportalen.

Plötzlich legte sich eine Hand von hinten auf seine Schulter und ließ ihn zusammenzucken. „Hallo, für einen Verfassungsschützer bist du ziemlich unaufmerksam.“ Wellner stand hinter ihm und grinste.

„Hallo“, grüßte Peikert zurück und ärgerte sich dabei etwas über die permanenten Neckereien seines Freundes. „In welche Kneipe wollen wir gehen?“

„Ich habe Hunger, lass uns in eines der Restaurants am Bahnhof Hackescher Markt gehen.“

Ohne Peikerts Reaktion abzuwarten, steuerte Wellner an einer haltenden Straßenbahn vorbei auf den Platz.

„Hier gibt es etliche Lokale. In welches wollen wir gehen?“, fragte Peikert.

„Probieren wir es hier.“ Peikerts Freund blieb vor einer Pizzeria stehen. Am Eingang wies ein großes Schild die Besucher darauf hin, sie mögen ihr Impfzertifikat bereithalten und warten, bis sie platziert würden. Also zückten die beiden ihre Smartphones und bauten sich neben dem Schild auf. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis ein junges Mädchen erschien, einen flüchtigen Blick auf ihre Impfzertifikate warf und sie zu einem Tisch geleitete.

Das Restaurant war gut besucht, die Tische standen dicht an dicht, ebenso dicht beieinander saßen die Gäste. Niemand trug eine Maske, nur die Kellner verbargen ihre untere Gesichtshälfte hinter der medizinischen Verhüllung.

„Na, wie geht’s dir heute?“, begann Wellner die Unterhaltung, nachdem er sich bequem auf dem Stuhl zurechtgerückt hatte.

„Wenn ich überlege, in welcher Situation wir sind, geht es mir nicht besonders gut. Eine Coronawelle nach der anderen überrollt uns. Die Inzidenzen steigen, die Gesundheitsämter sind überlastet, die Intensivstationen der Krankenhäuser überfüllt.“

„Ja, das ist wirklich besorgniserregend. Wie lange wird die Bevölkerung die Einschränkungen noch hinnehmen? Die Unruhe wächst. Fast jeden Tag gibt es mittlerweile Demonstrationen von Impfgegnern.“

„Die Frage stelle ich mir auch. Bisher ist es noch relativ ruhig, noch keine Gewalteskalation. Aber was passiert wohl, wenn rechtradikale Gruppen das Sagen in der Querdenker-Szene übernehmen?“

Wellner nickte: „Hoffentlich wird es nicht dazu kommen.“

„Lass uns das Thema wechseln“, unterbrach Peikert seinen Freund. „Erzähl mir, warum du mich treffen wolltest.“

Die beiden wurden durch ein junges Mädchen unterbrochen, das ihnen die Speisekarten in die Hände drückte. Peikert, der wusste, welche Gerichte ihn erwarteten, überlegte nicht lange. „Ich nehme eine Pizza Salami und ein großes Bier“, orderte er, als kurz darauf die Kellnerin nach ihren Wünschen fragte.

„Und ich Pasta Mista und auch ein großes Bier“, schloss sich Wellner der Bestellung an.

Wortlos entriss die Kellnerin ihnen die Speisekarten und reichte sie sogleich den Gästen an einem der Nachbartische.

Wellner machte ein konzentriertes Gesicht. „Ich habe eine Quelle aufgetan, die mir etwas Interessantes erzählt hat…“ Er machte eine Kunstpause. „Es soll in Berlin während des Kalten Krieges unter der Abhörstation auf dem Teufelsberg ein geheimes Waffenlager der Amerikaner gegeben haben. Dort lagerten nicht nur herkömmliche Kampfmittel, sondern auch biologische und chemische Waffen, unter anderem Milzbranderreger. Meine Quelle behauptet nun, dass 1987 Milzbranderreger bewusst freigesetzt wurden, um zu testen, welche Wirkung sie in der freien Luft entfalten und ob sich dadurch Menschen infizieren können.“

„Spinnst du? Niemand hier würde vorsätzlich andere Menschen mit Milzbrand infizieren.“

„Das ist gar nicht so weit hergeholt. Die Amis haben so etwas Ähnliches schon mal 1950 gemacht. Damals wurden vor der Pazifikküste bei San Francisco Serratia marcescens-Erreger ausgestreut, um ihre Wirkung auf die Küstenbewohner zu testen.“

„Donnerwetter!“

„Die Geschichte geht noch weiter. 1988 wollte die CIA einen Aufstand in der DDR anzetteln. Eine geheime US-Armeeeinheit sollte Waffen, die unter dem Teufelsberg lagerten an DDR-Bürger verteilen und sie zu einem Bürgerkrieg animieren. Gleichzeitig sollten Angehörige der Einheit Regierungsmitglieder und andere Funktionäre der DDR mit Milzbrand infizieren.“

„Kaum zu glauben!“

„Und nun kommt es: Mein Gewährsmann glaubt, dass die Waffen- und Milzbrandvorräte nach der deutschen Einheit und dem Abzug der Alliierten nicht beseitigt worden sind und immer noch unter dem Teufelsberg lagern.“

„Und was soll das für eine Armeeeinheit gewesen sein, die diese Anschläge begehen sollte?“

„Eine Stay-behind-Organisation, oder SBO, wie man abgekürzt sagt. Dass es solche Gruppen gab, ist belegt. Eine dieser Gruppen war in den 1950er Jahren die Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit. Ihr offizieller Auftrag war es, Menschen, die in der DDR in Gefängnissen oder Lagern verschwunden waren, aufzuspüren, tatsächlich begingen Angehörige dieser Gruppe Brandanschläge in der DDR, sprengten Eisenbahngleise und verteilten Giftgasampullen an Gewährsleute hinter dem Eisernen Vorhang. Allerdings wurden sie nicht eingesetzt, weil die Kampfgruppenangehörigen in der DDR verhaftet wurden. Die Organisation wurde damals von der CIA finanziert und gesteuert.“

„Wow!“

„Ich frage mich, was aus der Einheit der Amerikaner nach deren Abzug geworden ist? Ist sie tatsächlich aufgelöst worden?“

„Was sagt denn deine Quelle?“

„Sie behauptet, die Einheit sei nur formal aufgelöst worden und existiere tatsächlich bis heute weiter. Sie glaubt nicht, dass man ein gut funktionierendes geheimes Netzwerk einfach aufgibt.“

„Seit der deutschen Einheit sind viele Jahre vergangen. Sollten solche Gruppen noch existieren, wäre inzwischen das eine oder andere an die Öffentlichkeit gedrungen.“

„Es ist auch einiges öffentlich bekannt geworden. Man weiß, dass es nach dem Ende des Kalten Krieges in der Bundesrepublik immer wieder Ereignisse gegeben hat, die darauf hindeuten, dass auch heute noch aus dem Untergrund heraus operiert wird. Und das mit staatlicher Unterstützung. Denk an den NSU. Ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes war bei einem der Morde am Tatort. Bei einem anderen Mord waren mehrere Polizisten dabei. Bei den Schüssen auf die Polizistin Michèle Kiesewetter waren amerikanische Geheimdienstler in unmittelbarer Nähe. Und nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt wurden von den Ermittlern wichtige Spuren beseitigt.“

„Na ja, das kann Zufall gewesen sein.“

Wellner winkte ab. „Hör weiter zu. Meine Quelle nannte mir auch Namen. Die Gruppe soll unter der Leitung eines Major George Malone gestanden haben. Offiziell war der Mann der Verbindungsoffizier zwischen dem amerikanischen Stadtkommandanten und der Polizei. Er arbeitete aber auch für die CIA und plante in dieser Funktion den Aufstand in der DDR.“

Peikert spielte mit seinem Bierglas in der Hand.

„Und nun kommt es“, fuhr Wellner fort. „Malone ist 1988 ganz plötzlich verschwunden. Meine Quelle hat gehört, dass er in die DDR verschleppt worden sein soll. Nachdem Malone verschwunden war, hat ein anderer Offizier seine Funktion übernommen. David Gardener hieß der.“

„Was?“, rief Peikert und richtete sich in seinem Stuhl auf. Wellner zuckte überrascht zurück. Bevor er jedoch weitersprechen konnte, wurde das Essen serviert. Peikert, der erst einmal Wellners letzte Aussage verarbeiten musste, schob sich ein Stück Pizza in den Mund. „Ganz schön heiß“, meinte er mit vollem Mund.

Wellner hielt Messer und Gabel in der Luft, machte aber keine Anstalten, seine Nudeln aufzuspießen. „Was ist? Sagt dir der Name was?“

Peikert nickte und kaute dabei auf seiner Pizza.

„Nun sag schon! Was weißt du über Gardener?“

„Der Name ist mir kürzlich untergekommen“, antwortete Peikert, nachdem er den Bissen hinuntergeschluckt hatte.

„Spann mich nicht auf die Folter.“

Da berichtete Peikert, was er in der Sicherheitsüberprüfungsakte von Boldt gelesen hatte. „Ich habe die Akte zur Vernichtung vorgesehen, weil sie heute ohne Interesse ist.“

„Schmeiß die Akte nicht weg. Das ist hoch interessant. Wer weiß, was hinter Boldts Verschwinden steckt. Vielleicht ist auch er entführt worden.“

„Das wird sich heute nicht mehr klären lassen.“

„Sag das nicht. Lass mich das Ende der Geschichte erzählen: Malone ist nach der Wende wieder in den USA aufgetaucht und soll 1998 beim Angeln ums Leben gekommen sein. Er ist mit seinem Boot bei Cape Cod aufs Meer gefahren. Angeblich ist das Boot in einem Sturm gekentert. Man hat es eine Woche später kieloben treibend im Atlantik entdeckt. Die Leiche von Malone ist nie gefunden worden. Merkwürdig ist nur, dass es an dem Tag des Unglücks keinen Sturm gab.“

„Und was schließt du daraus?“

Wellner hob die Schultern. „Das will ich herausfinden. Ich will ermitteln, ob Gardener noch lebt und ihn dann befragen. Vielleicht kann er mir etwas über die Stay-behind-Einheit und Malone sagen.“

„Da suchst du aber die Nadel im Heuhaufen.“

„Das ist das Schicksal eines investigativen Journalisten.“ Wellner schob den Rest seiner Nudeln auf dem Teller zusammen und häufte sie auf die Gabel. „Hör dich doch mal unter Polizisten um“, fuhr er fort, während er die restlichen Nudeln zerkaute. „Vielleicht wissen altgediente Polizeibeamte, was aus Boldt damals geworden ist. Und vielleicht weiß der eine oder andere noch etwas über die amerikanischen Verbindungsoffiziere. Als Verfassungsschützer werden sie dir eher etwas sagen als mir.“

Peikert zögerte. Ohne Auftrag seiner Chefin bei der Polizei zu ermitteln, könnte ihm Ärger einbringen. Andererseits war er nach Wellners Bericht neugierig geworden, und ein paar Befragungen wären eine Abwechslung von seinem recht eintönigen Alltag als Justiziar. „Na gut“, nickte er. „Ich kann mich ja mal umhören.“

Es wurde noch ein langer Abend für die beiden Freunde, etliche Biere flossen durch ihre Kehlen, und je später es wurde, desto besser wurde Peikerts Stimmung.

4

Am nächsten Montag saß Peikert im Büro und arbeitete seine Akten durch, während er an einem Müsliriegel kaute. Das Zimmer war der typische Arbeitsplatz eines Beamten, nicht sehr groß, nicht sehr hell. Der Schreibtisch war so gestellt, dass das Licht vom Fenster her auf die Tischplatte fiel. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein kleiner Besprechungstisch, um den vier knallrote Plastikstühle gereiht waren, vermutlich die billigsten Exemplare, die die Serviceabteilung auftreiben konnte. Das einzige Besondere an seinem Zimmer war ein großer, grauer Stahlschrank mit Kombinationsschloss, der eine etwas düstere Atmosphäre verbreitete. Solche Schränke befanden sich in jedem Raum der Verfassungsschutzbehörde, denn jeder Sachbearbeiter verwahrte dort die Unterlagen, an denen er gerade arbeitete. Verließ jemand sein Zimmer, sollten alle Unterlagen weggeschlossen werden, was in der Praxis weder Peikert noch seine Kollegen taten. Man vertraute den anderen.

Als nach drei Stunden des Aktenstudiums seine Augen zu brennen begannen, hatte Peikert das Bedürfnis nach einer Pause. Das war immer der Zeitpunkt, zu dem er sich in den nahe gelegenen Coffeeshop aufmachte. So auch heute. Der Coffeeshop war sein Zufluchtsort, wenn er ein paar Minuten Abstand von seiner Arbeit brauchte.

Wenig später sog er in kleinen Schlucken an einem Strohhalm aus seinem Pappbecher den Iced americano, den er hier stets zu trinken pflegte. Nachdenklich sah er durch die Fensterscheiben auf die Straße. Dort herrschte lebhaftes Treiben. Autos schoben sich die Straße entlang, ein Lkw parkte in zweiter Spur und behinderte den Verkehr, während Paletten mit großen Kartons ausgeladen wurden. Ein Radfahrer umkurvte in Schlangenlinien die vielen Fußgänger, die den Gehsteig entlangliefen. Corona schien weit entfernt. Und doch war die Pandemie gegenwärtig, unsichtbar kroch das Virus von Mensch zu Mensch, unbeeindruckt von Impfungen und Masken. Würde er selbst von einer Infektion verschont bleiben? Er war zwar geimpft, aber es hieß immer wieder, auch Geimpfte könnten sich anstecken. War er im Büro sicher vor Ansteckungen? Er hatte seinen Dienstraum für sich allein, Kollegen verirrten sich nicht häufig dorthin. Andere Mitarbeiter, die zu zweit in einem Büro gesessen hatten, waren getrennt und in verschiedenen Räumen untergebracht worden. Weil nicht genug Büroräume zur Verfügung standen, saßen die Sachbereiter teilweise in Registratur- und in Lagerräumen. Eine Mitarbeiterin arbeitete seit Wochen in einer Teeküche. Natürlich murrten die Kollegen, einige wollten im Homeoffice arbeiten, was Schwart-Hertel aber aus Geheimschutzgründen kategorisch abgelehnt hatte. Mal sehen, wie es weiterging.

Peikert seufzte, trank den Rest seines Kaffees und machte sich auf den Weg zurück ins Büro.

„Frau Doktor Schwart-Hertel wünscht Sie zu sprechen“, empfing ihn dort Birgit Waldmann.

Peikert, der ahnte, dass es um sein Rechtsgutachten gehen würde, lief hinüber zum Chefzimmer.

„Guten Tag, Herr Peikert“, empfing ihn seine Chefin recht kühl. Schwart-Hertel war, wie stets, elegant gekleidet. Über einer weißen Bluse trug sie eine graue Kostümjacke. Den Rock konnte Peikert nicht erkennen, da Schwart-Hertel hinter ihrem großen Schreibtisch saß und keine Anstalten machte aufzustehen, um ihn zu begrüßen. Ihr kurzes grau meliertes Haar war akkurat gekämmt. Die in einen schmalen, dunklen Rahmen eingefasste Lesebrille hatte sie tief auf der Nase heruntergeschoben, über den Brillenrand hinweg warf sie Peikert einen nicht gerade freundlichen Blick zu. „Ich habe Ihr Gutachten gelesen. Es ist nicht sehr hilfreich, da Sie zu keinem eindeutigen Ergebnis bei Ihrer Rechtsprüfung kommen.“

Peikert sah seine Chefin erwartungsvoll an.

„Ich gebe zu“, fuhr Schwart-Hertel fort, „dass die Entscheidung, sich mit der Gruppe nachrichtendienstlich zu befassen, nicht einfach ist. Wir wissen bisher sehr wenig über sie. Ich brauche aber eine klare Einschätzung der Organisation. Wenn Sie sich noch nicht sicher sind, ob die Gruppe beobachtet werden soll, analysieren Sie zunächst weiterhin ihre Aussagen und erstatten mir in zwei Wochen erneut einen Bericht. Dann will ich aber Klarheit.“ Mit diesen Worten drückte Schwart-Hertel Peikert sein Gutachten in die Hand. „Bitte seien Sie gründlich und kommen Sie zu dem richtigen Ergebnis.“

Ich weiß schon, was das richtige Ergebnis ist, dachte Peikert. Die Cherusker sollen zum Prüffall werden. Er verabschiedete sich kurz und lief wenig zufrieden in sein Büro zurück, denn nun lag der Ball wieder bei ihm und er musste sich weiterhin mit dieser Gruppe befassen. Eigentlich hätte er sich das denken können.

Da sein Posteingangskorb leer war und er wenig Neigung verspürte, sich gleich wieder mit den Cheruskern zu befassen, beschloss er, dem Verschwinden Boldts und der Rolle Gardeners nachzugehen. Aber wer konnte ihm dabei helfen? Am ehesten Polizisten, die noch die Zeit vor der Wende miterlebt hatten. Er brauchte nicht lange nachzudenken. Sofort fiel ihm Norbert Sawatzky ein. Der Leitende Polizeidirektor war Chef des Lagezentrums der Polizei. Peikert schätzte ihn auf Ende fünfzig, er hatte also wahrscheinlich schon vor der Wende bei der Polizei gearbeitet. Er hatte Sawatzky bei früheren Ermittlungen kennengelernt und schätzte dessen zielorientierte und zupackende Art.

Also griff er zum Telefonhörer. „Guten Tag, Herr Sawatzky. Peikert hier. Wir haben lange nichts voneinander gehört.“

„Guten Tag, Herr Peikert. Wie geht’s?“

„Na ja, es muss. Und Ihnen?“

„Danke, das Übliche: Viel zu tun, zu wenig Personal. Corona macht uns zu schaffen. Was kann ich für Sie tun?“

„Ich habe einen uralten Vorgang auf dem Tisch, den ich abschließen will. Es geht um einen Kriminalkommissar Torsten Boldt, der Ende der 1980er Jahre Verschlusssachenverwalter im Dezernat Präsidiale Angelegenheiten war. Sagt Ihnen der Name etwas?“

Ein Moment herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann kam die knappe Antwort: „Nein.“

„Und Major Malone. Der war damals amerikanischer Sicherheitsoffizier.“

Ein Räuspern, dann: „Spontan sagt mir der Name nichts. Ich habe damals in einer in einer anderen Einheit gearbeitet und hatte mit den alliierten Sicherheitsoffizieren keinen Kontakt.“

„Und Gardener? Sagt Ihnen der Name etwas?

„Nein, auch nicht.“

„Schade. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir weiterhelfen.“

„Tut mir leid.“

Peikert hatte eigentlich nicht damit gerechnet, auf Anhieb brauchbare Informationen zu erhalten, sodass sich seine Enttäuschung in Grenzen hielt. Wenn er bei seinen Nachforschungen Erfolg haben wollte, musste er überlegt vorgehen. Er musste sich einen Überblick über diejenigen Polizeimitarbeiter verschaffen, die in den 1980er Jahren im Dezernat Präsidiale Angelegenheiten gearbeitet hatten, dort, wo Boldt eingesetzt war. Diese Mitarbeiter musste er befragen. Er rief bei der Personalstelle der Polizei an, stellte sich als Verfassungsschutzmitarbeiter vor und erklärte sein Anliegen. „Ich brauche in einem wichtigen nachrichtendienstlichen Vorgang eine Liste mit Namen von Polizeibeamten und Pensionären, die schon vor 1989 im Dienst waren und damals im Dezernat Präsidiale Angelegenheiten eingesetzt waren.“

„Na hören Sie mal“, hörte Peikert die pikierte Stimme einer Sachbearbeiterin. „Ich kann Ihnen doch nicht einfach Personaldaten am Telefon weitergeben. Das geht aus Datenschutzgründen nicht.“

Peikert seufzte. Schon wieder der Datenschutz. Aber er musste sich fügen, denn die Personalsachbearbeiterin saß am längeren Hebel.

„Also gut. Ich komme morgen vorbei und hole die Liste persönlich ab. Dabei kann ich mich legitimieren.“

Bevor die Frau weitere Einwendungen erheben konnte, legte er auf. Als Nächstes rief er einen Ermittler zu sich. „Klären Sie bitte einen Torsten Boldt ab. Der Mann ist 1989 spurlos verschwunden. Forschen Sie nach, ob er wieder aufgetaucht ist. Und dann bitte ich Sie, die Wohnanschriften von Monika Boldt und Heike Spengler herauszufinden.“

„Wird gemacht.“ Für den Ermittler gehörten solche Aufträge zur Routine.

5

Am nächsten Tag, als Peikert gerade von einem Gerichtstermin in sein Büro zurückgekehrt war, klopfte es an der Tür, und der Ermittler, den Peikert gestern um Nachforschungen gebeten hatte, trat ein. „Auftrag erledigt. Torsten Boldt ist 1998 von seiner Schwester für tot erklärt worden. Mehr konnte ich über den Mann nicht herausfinden. Bei den beiden Frauen war ich erfolgreicher. Hier sind ihre Kontaktdaten. Heike Spengler hat geheiratet, heißt jetzt Nöth und lebt in Saarbrücken. Monika Boldt wohnt in Berlin.“ Peikert griff nach dem Zettel, den ihm sein Kollege entgegenhielt. Monika Boldts Wohnanschrift war die Bernauer Straße im Wedding, Heike Nöth lebte im Trillerweg in Saarbrücken. Zu beiden Frauen waren Telefonnummern angegeben.

Kaum hatte der Ermittler das Büro wieder verlassen, wählte er die auf dem Zettel vermerkte Telefonnummer von Monika Boldt. Niemand meldete sich. Wahrscheinlich war die Frau zur Arbeit. Er beschloss, sie nach Dienstschluss in ihrer Wohnung aufzusuchen. Um die Zeit dürfte sie am ehesten zuhause sein. Mit Heike Nöth würde er später telefonieren, denn vermutlich war auch sie im Moment nicht zu erreichen. Jetzt würde er erst einmal die Liste mit den Namen der Polizisten, die möglicherweise Boldt kannten, bei der Polizeiverwaltung abholen.

„Ich bin mal für eine Stunde unterwegs und mache Außenermittlungen“, informierte er Birgit Waldmann im Vorbeigehen.

„Im Coffeeshop?“, grinste ihn seine Sekretärin schelmisch an.

„Nein. Ich ermittle wirklich.“

„Na dann viel Spaß. Was soll ich Frau Doktor Schwart-Hertel sagen, wenn sie nach Ihnen fragt?“

„Die wird schon nicht fragen.“

Keine halbe Stunde später lief Peikert die Keibelstraße im Bezirk Mitte entlang. Wie hingeklotzte große Steine säumten hohe, hässliche Hausfassaden die Straße auf beiden Seiten. Ein spärliches Grün vegetierte vor einem modernen, besonders unansehnlichen Wohnkomplex gegenüber der Polizeiverwaltung vor sich hin. Die hohen Gebäude ließen keinen Sonnenstrahl auf die Pflanzen fallen. Peikert setzte seine FFP 2-Maske auf, fragte den Pförtner am Eingang des Polizeidienstgebäudes nach der Sachbearbeiterin und ließ sich den Weg beschreiben. Er fand das Büro sofort, klopfte energisch an die Tür und trat ein, ohne auf ein „herein“ zu warten. Die Sachbearbeiterin sollte sofort merken, dass er das Sagen hatte.

„Guten Tag, mein Name ist Peikert. Wir hatten telefoniert.“ Er hielt der Frau, die ihn neugierig taxierte, seinen Dienstausweis vor die Nase.

„Guten Tag“, antwortete sie und begann, in den Papieren auf ihrem Schreibtisch zu wühlen. „Einen Moment… Wo ist denn nur mein Zettel? Ach, hier. Es gibt zwei Kollegen, die in den 1980er Jahren im Dezernat Präsidiale Angelegenheiten gearbeitet haben und noch heute im Dienst sind. Der eine ist Abschnittsleiter in Treptow, der andere arbeitet als Kommissariatsleiter im LKA. Hier sind ihre Namen und Kontaktdaten.“ Die Sachberaterin drückte Peikert das Blatt Papier in die Hand.

„Danke, nett von Ihnen, dass sie so schnell reagiert haben.“ Peikert war erleichtert, denn er hatte befürchtet, dass die Polizeimitarbeiterin, die sich gestern so zugeknöpft gezeigt hatte, auch heute wenig kooperativ sein würde.

Auf der Straße orientierte er sich auf Google Maps, wo die Dienststellen der beiden Polizeibeamten lagen. Der Abschnittsleiter, ein Polizeidirektor Sellmann, residierte am Segelfliegerdamm. Das war Peikert zu weit entfernt, um ihn vor Ort zu befragen. Er würde ihn nachher von seinem Büro aus anrufen. Der Kommissariatsleiter mit Namen Reimann hatte sein Büro am Tempelhofer Damm. Das lag näher. Peikert beschloss, gleich dort vorbeizufahren und meldete sich telefonisch an, während er zum U-Bahnhof lief.

„Wen soll ich kennen?“, fragte Reimann, als Peikert sein Anliegen durchgab.

„Torsten Boldt. Von 1986 bis 1989 Verschlusssachenverwalter im Dezernat Präsidiale Angelegenheiten.“

„Mein Gott, ist das lange her.“ Kurzes Schweigen. Dann: „Ja, ich erinnere mich. Da gab es einen jungen Mann mit diesem Namen, der die Geheimakten verwahrte. Der ist damals plötzlich verschwunden. Kommen Sie her. Dann können wir reden.“

Peikert, der froh war, dass sich der Polizist so bereitwillig auf eine Befragung eingelassen hatte, lief eilig die Treppe zum U-Bahnhof Alexanderplatz hinunter.

Wenig später saß er in einem unscheinbaren Büro des LKA dem Ersten Kriminalhauptkommissar Reimann gegenüber und erklärte sein Anliegen. „Ich versuche, einen alten, noch offenen Vorgang abzuschließen.“

„Ja, so etwas kenne ich. Wir haben ein eigenes Kommissariat, das Altfälle abarbeitet.“

„Sehen sie, so etwas Ähnliches mache ich auch.“ Peikert war erleichtert über die unkomplizierte Reaktion. „Torsten Boldt ist im Oktober 1989 plötzlich verschwunden.“

„Ich erinnere mich“, nickte Reimann. „Damals herrschte einige Aufregung bei uns. Wir konnten uns sein Verschwinden nicht erklären.

Einige meinten, er habe Selbstmord begangen.“ Reimann zuckte die Schultern. „Etwas merkwürdig war das schon mit dem Mann. Als er zu uns kam, war er fröhlich und aufgeschlossen, dann wurde er aber plötzlich sehr zugeknöpft. Er zog sich zurück, hatte nur noch wenig Kontakt zu uns anderen im Dezernat.“

Peikert horchte auf. „Haben Sie eine Erklärung für diese Wesensveränderung?“

Reimann schüttelte den Kopf. „Merkwürdig war auch, dass wenige Tage nach dem Verschwinden Boldts der amerikanische Sicherheitsoffizier bei uns auftauchte. Er behauptete, Boldt sei in die DDR übergelaufen. Da amerikanische Sicherheitsinteressen berührt seien, dürften wir in der Sache nicht ermitteln.“

„War das Major Gardener?“

„Genau der. Ich habe ihm die Geschichte nicht abgenommen. Warum sollte jemand 1989 in die DDR überlaufen, als dort schon alles drunter und drüber ging? Ich glaubte eher an Selbstmord.“

„Wissen Sie, ob der Fall nach der Wende noch einmal aufgegriffen worden ist?

„Keine Ahnung. Aber ich kann ja mal bei den Kollegen, die die Altfälle bearbeiten, nachfragen.“ Reimann wählte eine Telefonnummer und erklärte sein Anliegen. Es dauerte nicht lange, bis er einen Rückruf erhielt.

„Negativ“, sagte er wieder zu Peikert gewandt. „Es gibt und gab bei uns keinen Vermisstenvorgang Torsten Boldt.“

„Ich weiß aber aus unserer Akte, dass die Polizei damals ermittelt hat, bis die Nachforschungen von Gardener verboten worden waren.“

„Dann wird Gardener alle Akten einkassiert haben. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte.“

Viel war es nicht, was bei dem Gespräch mit Reimann herausgekommen ist, dachte Peikert, als er wieder in seinem Büro saß. Hoffentlich kann mir der Abschnittsleiter mehr sagen. Er griff nach dem Telefonhörer.

Sellmann war zu einer Besprechung bei der Direktionsleitung, erfuhr er. In zwei Stunden wäre er zurück.

Gelangweilt starrte Peikert aus dem Fenster. Er hoffte, das Eichhörnchen zu entdecken, das ihn öfter mit seinen possierlichen Sprüngen auf der Linde vor dem Fenster von seiner Arbeit ablenkte. Doch der kleine Nager war nicht zu sehen. Da er keine neuen rechtlichen Prüfaufträge von Schwart-Hertel erhalten hatte, blätterte er gelangweilt in juristischen Fachzeitschriften.

Genau zwei Stunden später rief er noch einmal den Abschnittsleiter an.

„Sellmann“, meldete sich der Polizist kurz und knapp.

Peikert erklärte ihm sein Anliegen.

„Boldt habe ich gekannt“, sagte Sellmann sofort. „Warum der Mann 1989 verschwunden ist, konnte sich damals niemand im Dezernat Präsidiale Angelegenheiten erklären. Einige von uns vermuteten Selbstmord, aber dann hätte man die Leiche finden müssen. Gardeners Erklärung, er sei in die DDR übergelaufen, wollte niemand so recht glauben.“ Sellmann schwieg einen Moment, als dächte er nach. „Da war noch eine merkwürdige Sache“, sagte er dann. „Das muss 1987 gewesen sein. Da tauchte plötzlich der Vorgänger von Gardener, Major Malone, auf und verlangte von Boldt die Herausgabe von Akten. Wenn ich mich recht erinnere, betrafen sie die Abhörstation auf dem Teufelsberg. Irgendetwas musste dort passiert sein, von dem die Alliierten nicht wollten, dass es bekannt wurde. Genaues weiß ich nicht.“

Peikert, der bei den letzten Worten Sellmanns hellhörig geworden war, bedankte sich für die Auskünfte.

Die Abhörstation auf dem Teufelsberg! Hatte Boldt etwas über diese Anlage gewusst, was er nicht wissen durfte? Ging es möglicherweise um die Milzbranderkrankungen, von denen Wellners Quelle erzählt hatte? Die Abhörstation war in Zeiten des Kalten Krieges ein geheimnisumwitterter Horchposten der amerikanischen und britischen Besatzungsmächte gewesen. Angeblich war von dort der Funkverkehr der Streitkräfte des Warschauer Paktes abgehört worden. Aber niemand in West-Berlin hatte etwas Genaues gewusst. Die Westalliierten hatten sich stets in absolutes Schweigen gehüllt. Auch heute wusste man nicht viel mehr. Nach der deutschen Einheit war die Anlage von den Alliierten aufgegeben worden, und die zurückgelassenen Gebäude verfielen allmählich. Es hatte einige Überlegungen gegeben, die Anlage zu nutzen, unter anderem als Wohnanlage oder Hochschule, doch nichts davon wurde realisiert. Heute arbeiteten dort Graffiti-Künstler, und hin und wieder fanden Führungen statt.

Nach Dienstschluss fuhr Peikert mit der U-Bahn bis zum Bahnhof Bernauer Straße und lief von dort an der Mauer-Gedenkstätte entlang. Das Haus, in dem Monika Boldt wohnte, war ein freundlicher Neubau mit großen Balkonen, auf denen sich eine wahre Pflanzenpracht ausbreitete. Peikert klingelte an der Haustür und wartete gespannt. Es dauerte nicht lange, bis der Summer ertönte. Gott sei Dank, die Frau war zuhause. Im zweiten Stock stand eine Tür offen und eine Frau mittleren Alters sah ihm erwartungsvoll entgegen. Sie machte einen gepflegten Eindruck, die Haare trug sie halblang, das Gesicht war dezent geschminkt.

„Guten Tag. Frau Boldt? Monika Boldt?“, fragte Peikert.

„Ja?“ Die Frau sah ihn forschend an.

„Mein Name ist Peikert. Ich komme vom Verfassungsschutz.“ Peikert hielt ihr seinen Dienstausweis entgegen. „Ich möchte mit Ihnen über Ihren Bruder Torsten sprechen.“

Monika Boldt sah Peikert erschrocken an. „Was ist mit ihm? Haben Sie ihn gefunden?“

„Nein, aber ich habe mir den alten Vorgang aus dem Jahre 1989 vorgenommen und suche nach neuen Anhaltspunkten für sein Verschwinden. Darf ich kurz hereinkommen?“

Monika Boldt trat zur Seite und forderte Peikert mit einer Handbewegung auf einzutreten. Der nickte dankend und betrat den schmalen Flur.

„Hier entlang“, sagte die Frau und ging voran durch eine Tür auf der linken Seite. Peikert betrat ein helles Zimmer. Ein großes Fenster gab den Blick frei auf die Mauer-Gedenkstätte und den dahinter liegenden Friedhof. Er ließ kurz seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Die geschmackvolle Einrichtung passte zu der Bewohnerin. Eine Seite wurde durch eine helle Schrankwand eingenommen, ihr gegenüber lud eine Veloursitzgruppe zum Niederlassen ein. Monika Boldt gab Peikert mit einer Handbewegung zu verstehen, sich zu setzen.

„Gibt es etwas Neues über meinen Bruder?“