Unterrichtsgestaltung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung - Michael Häußler - E-Book

Unterrichtsgestaltung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung E-Book

Michael Häußler

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Beschreibung

Die Gestaltung von Unterricht für Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung ist eine anspruchsvolle Aufgabe: Eine heterogene Schülerschaft mit vielfältigen Lernbedürfnissen, aber auch -erschwernissen erfordert ein differenziertes Unterrichtsangebot. Gleichzeitig bringt die Diskussion um eine verstärkte Fächerorientierung, um Kompetenzorientierung der Lehrpläne sowie die Beschulung in inklusiven Situationen neue Herausforderungen mit sich. Unter dem Leitgedanken der "Klaren Strukturierung von Unterricht" wird in diesem Buch ein Weg aufgezeigt, der zu einem lebendigen, anspruchsvollen und an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientierten Lernen führen kann. Dazu werden in Form von Stundenbildern sowie zahlreichen Praxisbeispielen Anregungen für die Gestaltung von Unterricht gegeben. Das Buch ist auf diese Weise als Hilfe für die tägliche Unterrichtspraxis konzipiert.

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Inhalt

Cover

Titelei

Abkürzungsverzeichnis

1 Vorbemerkungen

1.1 Zu diesem Buch

1.1.1 Einige persönliche Vorbemerkungen

1.1.2 Zum Aufbau des Buches

1.2 Ein Bild von Unterricht

1.3 Inklusive Lernsituationen

2 Wie lernen Schüler mit geistiger Behinderung?

3 Was sollen Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung lernen?

3.1 Bildung – Inhalte und Kompetenzen

3.2 Auswahl und Strukturierung der Inhalte

3.2.1 Lebensbedeutsamkeit

3.2.2 Exemplarisches Lernen

3.2.3 Elementarisierung

3.3 Elementare inhaltliche Strukturen herausarbeiten

3.4 Kompetenzorientierung des Unterrichts

4 Strukturierung des Unterrichts im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

4.1 Strukturen von Unterricht

4.2 Das Prinzip der Strukturierung als Scharnierstelle der Überlegungen zur Unterrichtsgestaltung

4.2.1 Strukturierung als Herstellung von Kohärenz

4.2.2 Ein Unterrichtsbeispiel: Ich kann telefonieren

4.2.3 Strukturierung und weitere wichtige Prinzipien des Unterrichts

4.2.4 Die Rolle des Tafelbilds in einem klar strukturierten Unterricht

4.3 Die Rolle der Lehrkraft in einem klar strukturierten Unterricht

5 Ein Modell der Unterrichtsgestaltung

6 Innere und äußere Aktivität des Lernens

6.1 Handeln und Probleme lösen

6.1.1 Handeln und Denken

6.1.2 Das methodische Modell der Handlungseinheit

6.1.3 Ein Beispiel – Wir pflanzen Ableger von Grünlilien ein

6.1.4 Handlungsbezogener Unterricht – Projektorientierter Unterricht

6.2 Begriffe bilden

6.2.1 Wege der Begriffsbildung

6.2.2 Das methodische Modell der Objekterkundung

6.2.3 Ein Beispiel: Warum geht die Taschenlampe nicht?

7 Artikulation und Dramaturgie des Unterrichts

7.1 Unterricht als Geschehen in der Zeit

7.2 Hinführung (und Schluss)

7.3 Erarbeitung

7.3.1 Begriff, Funktion und Gestaltung der Erarbeitungsphase

7.3.2 Erarbeitungsphasen mit dem Akzent auf entdeckendem bzw. problemlösendem Lernen

7.3.3 Erarbeitungsphasen mit dem Akzent auf Wissensvermittlung: »Wir kennen Laub- und Nadelbäume«

7.3.4 Zusammenfassung

7.4 Sicherung – Festigung – Übung

7.4.1 Funktionen der Sicherungsphase

7.4.2 Formen der Sicherung

7.4.3 Sinnvoll üben!

8 Sprache im Unterricht

8.1 Funktionen von Sprache im Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

8.2 Lehrersprache zwischen Vorbildfunktion und Hemmnis

8.3 Kennzeichen gelungener Lehrersprache

8.4 Förderung der Gesprächsfähigkeit von Schülern mit geistiger Behinderung durch die Lehrersprache

8.5 Gestaltung von Gesprächssituationen im Unterricht

8.5.1 Unterrichtsgespräch – Gesprächssituationen im Unterricht

8.5.2 Planung und Strukturierung einer Gesprächssituation

8.5.3 Gesprächsführung in der Gesprächssituation

8.5.4 Einbeziehung von nichtsprechenden Schülern

9 Sozialformen des Unterrichts

9.1 Grundlegende Aspekte des Einsatzes von Sozialformen

9.2 Klassen- bzw. Frontalunterricht

9.2.1 Frontalunterricht für Schüler mit geistiger Behinderung?

9.2.2 »Frontale Phasen« des Unterrichts

9.2.3 Ein Beispiel: Die Gestaltung des Lehrervortrags

9.3 Einzelarbeit

9.3.1 Grundlegende Überlegungen zu Phasen der Einzelarbeit

9.3.2 Beispiele für den Einsatz von Einzelarbeit

9.4 Partnerarbeit

9.5 Gruppenunterricht – Gruppenarbeit

9.5.1 Gruppenarbeit – Begriff und Funktion

9.5.2 Für und Wider von Gruppenarbeit

9.5.3 Strukturierung von Gruppenarbeit

9.5.4 Gestaltung von Gruppenarbeit

9.5.5 Unterrichtsbeispiel – Der Weg der Milch: Wie kommt die Milch in unseren Kühlschrank?

10 Artikulationsmodelle in Fächern und didaktischen Handlungs­‌feldern

10.1 Deutsch

10.1.1 Grundlegende kommunikative Fähigkeiten für den Schriftspracherwerb/Bilderlesen – »Familie Beck in der Küche«

10.1.2 Schriftspracherwerb – Der kleine Zauberer Momo (Einführung des Buchstaben »M«)

10.1.3 Umgang mit Texten – Situationsbild »Beim Einkaufen«

10.1.4 Sprechen und Zuhören – Der kleine Herr Jakob: Im Wartezimmer

10.2 Mathematik

10.2.1 Grundlagen der Unterrichtsgestaltung im Fach Mathematik

10.2.2 Muster und Strukturen: Herr Groß und Herr Klein (Klassifizieren)

10.2.3 Zahlbegriffsbildung: Zu Hause bei Tick, Trick und Track (Zahlbegriff 3)

10.2.4 Die Gewinnung des erweiterten Zahlenraums: Wir beladen einen Zug mit Kisten

10.3 Sachunterricht: Die historische Perspektive

10.3.1 Lerninhalte zum Thema »Zeit« im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

10.3.2 Zeitwissen: Unser Schultag – Vormittag/Mittag/Nachmittag

10.3.3 Historisches Lernen: So hat Uroma Anni Sahne geschlagen

10.4 Sachunterricht: Die sozialwissenschaftliche Perspektive

10.4.1 Die Kernaufgabe: Soziales Lernen

10.4.2 Das methodische Modell der Darstellungseinheit – »Wir helfen Lisa!«

10.5 Sachunterricht: Die naturwissenschaftliche Perspektive

10.5.1 Fachspezifische Arbeitsweisen in den naturwissenschaftlichen Fächern

10.5.2 Unterrichtsbeispiel »Betrachten«: Wir schauen an, was wir von unserem Unterrichtsgang in den Wald mitgebracht haben

10.5.3 Unterrichtsbeispiel »Experiment«: Warum halten die Stundenplankärtchen nicht?

10.6 Sachunterricht: Die geographische Perspektive

10.6.1 Geographieunterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

10.6.2 Formen der Veranschaulichung geographischer Sachverhalte

10.6.3 Unterrichtsbeispiel: Wir zeichnen einen Plan von unserem Klassenzimmer für unsere Eltern

10.7 Musik

10.7.1 Musikunterricht zwischen Instruktion und Konstruktion

10.7.2 Vokales Musizieren: Wir lernen das Lied »Wenn sich die Igel küssen«

10.7.3 Instrumentales Musizieren: Klanggeschichte – »Auf dem Bauernhof«

10.8 Kunst

10.8.1 »Die Schnecke« von Henri Matisse und einige Grundaufgaben des Kunstunterrichts

10.8.2 Unterrichtsverlauf

11 Offenheit und Struktur – kein Widerspruch: Materialgeleitetes Lernen unter dem Aspekt der Strukturierung

11.1 Strukturierung offener Lernsituationen

11.2 Dokumentation von Lernergebnissen

11.3 Ablauf einer Unterrichtseinheit

12 Abschließende Gedanken: Auf die Lehrer kommt es an!

Danksagung

Literatur

Der Autor

Dr. Michael Häußler ist Seminarrektor und seit 2003 Leiter des Studienseminars für das Lehramt für Sonderpädagogik (Förderschwerpunkt geistige Entwicklung) in Nürnberg. Zuvor war er Klassenlehrer und Konrektor an einer Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Dozenten- und Vortragstätigkeit, zahlreiche Veröffentlichungen zu didaktisch-methodischen Themen sowie zur sonderpädagogischen Professionalität.

Michael Häußler

Unterrichtsgestaltung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

2., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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2., überarbeitete Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-043467-7

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-043468-4epub: ISBN 978-3-17-043469-1

Abkürzungsverzeichnis

LLehrerin/Lehrer

SuSSchülerinnen und Schüler

PAPartnerarbeit

GAGruppenarbeit

ABArbeitsblatt

UGUnterrichtsgespräch

BKBildkarte

WKWortkarte

TATafel/Tafelbild/Tafelanschrift

TZTeilziel (synonym: Feinziel)

UKUnterstützte Kommunikation

1 Vorbemerkungen

1.1 Zu diesem Buch

1.1.1 Einige persönliche Vorbemerkungen

Kann man zwischen zwei Buchdeckeln vermitteln, wie vielfältig, herausfordernd, spannend, aber manchmal auch anstrengend Unterricht sein kann? Gerade auch Unterricht mit Schülern mit geistiger Behinderung? Dass dieser Unterricht immer auf dem Bezug zwischen Lehrer und Schülern basiert, ihrem Miteinander, welches sie gemeinsam gestalten? Dass es ohne diesen Bezug »nicht geht«, weil gerade Kinder und Jugendliche mit Behinderung (aber nicht nur sie) häufig auch ihrem Lehrer zuliebe lernen?

Ich hoffe, dass diese Haltung und Einsicht bei allen, die dieses Buch zur Hand nehmen, als Voraussetzung für die Arbeit mit Schülern mit geistiger Behinderung vorhanden ist. Dann kann zu dieser Grundhaltung die Auseinandersetzung mit dem nötigen Handwerkszeug für die tägliche Unterrichts- und Erziehungsarbeit kommen, verknüpft mit der Einsicht, dass die Anwendung dieser Werkzeuge nur in Verbindung mit einer entsprechenden pädagogischen Haltung sinnvoll ist, die den Schüler und seine Lern- und Bildungsbedürfnisse, seine Möglichkeiten aber auch seine Erschwernisse in den Mittelpunkt stellt.

Das vorliegende Buch ist in erster Linie als Hilfe für die tägliche Unterrichtspraxis konzipiert. Dabei bekennt es sich zu einer gewissen »Rezepthaftigkeit«, indem es aufzuzeigen versucht, wie Dinge funktionieren (können). »Woran erkennt man brauchbare Unterrichtsrezepte?«, fragt Grell (1998, 225) – und beantwortet diese Frage gleich selbst: »Daran, dass sie demonstriert, vorgemacht werden können« (ebd.). Eben das will dieses Buch: Es versucht zu zeigen, wie man als Lehrkraft mit Schülern mit geistiger Behinderung bestimmte Aufgaben und Herausforderungen angehen kann – eine Gruppenarbeit planen, auf seine Lehrersprache achten, eine Deutschstunde zum Thema »Buchstabeneinführung« konzipieren, ein Sachunterrichtsthema inhaltlich und methodisch aufbereiten. Angesichts der Vielfalt möglicher Inhalte sowie didaktischer und methodischer Fragestellungen, welche nicht oder nur knapp angesprochen werden, ist mit den vorgestellten Rezepten allerdings auch die Bitte verknüpft, diese als Anstoß zum Dialog und zur steten Weiterentwicklung von Unterricht zu verstehen.

Und schließlich: Die genannten Rezepte verlangen denjenigen, die sie anwenden, einiges an reflexivem Können ab (vgl. Häußler 2009). Nie können sie einfach so übernommen werden, sondern müssen immer in Bezug auf die jeweilige Klassensituation, in der sie angewandt werden sollen, modifiziert werden. Wenn aber die Schüler im Mittelpunkt stehen und nicht die Rezepte, sollte dies nicht so schwer sein.

1.1.2 Zum Aufbau des Buches

Die Frage nach der klaren Strukturierung von Unterricht ist der »rote Faden«, der sich durch die folgenden Überlegungen, Reflexionen und Vorschläge zur Gestaltung von Unterricht für Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zieht. Dabei werden sowohl die inhaltliche, »innere« Seite wie auch die unterrichtsmethodische »äußere« Seite von Strukturierung beleuchtet.

·

Zunächst wird gefragt, wie Schüler mit geistiger Behinderung lernen – welche Schwierigkeiten, aber auch welche Ansatzpunkte gibt es hier, und inwiefern machen diese eine Strukturierung von Unterricht erforderlich?

·

Lehrpläne für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung sind in der Regel Rahmenpläne. Lehrkräfte müssen daher passende Inhalte sowie die dazugehörigen Kompetenzen für ihre Klasse auswählen und strukturieren, indem sie Sachverhalte reduzieren bzw. elementarisieren und in einen Zusammenhang bringen. Nach welchen Gesichtspunkten kann dies geschehen?

·

Im Abschnitt zum Prinzip der klaren Strukturierung von Unterricht werden dessen innere und äußere Seite verknüpft: Welche inneren (inhaltlichen) und äußeren (methodischen) Strukturen weist Unterricht auf, und wie können diese in ihrem Zusammenhang herausgearbeitet werden?

·

Unterricht definiert sich durch unterschiedliche Strukturen: Kognitive, zeitliche, sprachliche und soziale. Dementsprechend werden der Zusammenhang von Denken und Handeln, die Begriffsbildung (kognitive Strukturen), die Phasen des Unterrichts (Zeit-Strukturen), die Unterrichtssprache von Lehrern und Schülern (sprachliche Strukturen) sowie Sozialformen des Unterrichts (soziale Strukturen) daraufhin untersucht, wie sie so gestaltet und sichtbar gemacht werden können, dass Schüler mit geistiger Behinderung erfolgreich lernen können.

·

Einen großen Teil des Buches nimmt die Darstellung fachspezifischer Artikulationsmodelle und im Zusammenhang damit die Auseinandersetzung mit Fragen der Fachdidaktik ein, soweit sie für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung besonders interessant und bedeutsam erscheinen. Die Vielfalt möglicher Inhalte macht hier eine Beschränkung auf einige zentrale Fragestellungen nötig, die exemplarisch auf ihre Bedeutung für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung hin untersucht werden.

·

Dass Offenheit und Strukturierung keine Gegensätze sein müssen, sondern sich in sinnvoller Weise ergänzen können, wird abschließend nochmals in einem Kapitel zum Materialgeleiteten Lernen gezeigt.

1.2 Ein Bild von Unterricht

Jeder Lehrer, jede Lehrerin entwickelt sicherlich im Laufe der Jahre eine persönliche Herangehensweise an Unterricht und damit einen individuellen Unterrichtsstil.

Nachdem ich einige Zeit Lehrer gewesen war, stellte ich fest, dass sich mein unterrichtliches Denken und Handeln auf einige charakteristische Merkmale hin verdichtete. Zum einen bemerkte ich, dass mein Unterricht einen ruhigeren Rhythmus und beständigeren Fluss bekam, als er ihn zu Anfang gehabt hatte. Ich führte dies darauf zurück, dass ich es immer besser lernte, das Wesentliche eines Sachverhalts zu erfassen und dies vor allem in einer für meine Schüler nachvollziehbaren Weise in seinen Grundzügen darzustellen, so dass die Stunde inhaltlich einen »roten Faden« bekam. Diesen Inhaltsfaden galt es so zu spinnen, dass er für die Schüler in Form verschiedener methodischer Maßnahmen sichtbar wurde, sie sich daran orientieren konnten und wir uns nicht im Labyrinth inhaltlicher Unklarheit verliefen. Gleichzeitig übte ich mich in der schwierigen Kunst des Weglassens oder verteilte Inhalte, die ich zuvor in eine Stunde gepackt hätte, auf zwei oder drei Einheiten. Die Folge war, dass ich mit meinen Schülern anschaulicher und intensiver an den Dingen arbeiten konnte und sie Zeit und Gelegenheit hatten, eigene Erfahrungen und Bedeutsamkeiten, aber auch ihre Fragen und ihre Neugier auf die Sache einzubringen. Ein weiterer Nebeneffekt dieser Herangehensweise war, dass es im Unterricht meistens lustiger und humorvoller zuging als zuvor. Der Arbeitsrhythmus war entspannter, so dass es auch Räume und Zeiten für kleine Exkurse, Späße und Geschichten zum Thema gab und die Beziehung, die gemeinsame Arbeit von Lehrer und Schülern am Unterrichtsgegenstand mindestens gleichwertig neben der inhaltlichen Arbeit stand.

An die Planung einer Stunde ging ich nicht selten so heran, dass ich zunächst das Tafelbild skizzierte (was stets eine starke Beschränkung auf das Wesentliche verlangt) und von hier aus die Stunde konzipierte.

Neben diesen inhaltlichen Dingen entwickelten sich auch einige individuelle methodische Standards. Stunden »liefen« meistens dann gut, wenn folgende Elemente enthalten waren: eine anschauliche und spannende Hinführung, in deren Verlauf die Schüler genau erfuhren, worum es in der Stunde gehen sollte, und hierzu erste Vorstellungen abrufen und Begriffe bilden oder aktualisieren konnten. Wenn sich hier bereits ein kurzes Unterrichtsgespräch entwickelte, in dessen Verlauf die Schüler eigene Erfahrungen mit dem Lerngegenstand einbrachten, konnte ich oft schon erfahren, ob ich mit ihrem Interesse rechnen konnte oder nicht und was sie aufgrund ihrer eigenen Lebenserfahrungen mit dem Thema assoziierten. Entscheidend war weiterhin ein Maß an Anschaulichkeit, was nicht selten bedeutete, dass Körbe oder Kisten ins Klassenzimmer transportiert werden mussten. Anschaulichkeit und Handlungsorientierung genügen an sich jedoch nicht, wenn den Schülern nicht klar ist, was sie mit den vielen mitgebrachten Dingen anfangen sollen: Die Beziehung der Dinge zueinander versuchte ich durch Versprachlichung und durch eine möglichst durchschaubare Unterrichtsorganisation zu verdeutlichen. Nach spätestens zehn bis fünfzehn Minuten war meist ein Wechsel des Lernorts oder der Sozialform nötig, um die Klasse bei der Stange zu halten und etwa in Einzel-‍, Partner- oder Gruppenarbeit eine aktive, möglichst selbstständige Auseinandersetzung mit dem Lerninhalt zu gewährleisten, etwas, das ich meinen Schülern immer zugetraut habe und ermöglichen wollte. Hierzu war es allerdings notwendig, mit den Schülern entsprechende Arbeitsformen einzuüben und die selbstständige Arbeit der Schüler materiell und organisatorisch gut zu planen und vorzubereiten und zu strukturieren. Strukturieren bedeutete in diesem Fall, dass die inhaltlichen Grundlinien des Themas auch in der selbsttätigen Auseinandersetzung der Schüler mit der Sache sichtbar und erfassbar blieben und sich etwa in den Arbeitsmaterialien und der Form der Auseinandersetzung damit widerspiegelten.

Das bereits angesprochene Tafelbild diente nicht nur zur inhaltlichen Zusammenfassung wichtiger Unterrichtsergebnisse, sondern auch als Stütze bei der Versprachlichung wesentlicher Sachverhalte. Ein Arbeitsblatt, welches sich hinsichtlich Text, Abbildungen und Struktur möglichst weitgehend an das Tafelbild anlehnte, sollte zusätzlich deren individuelle Durchdringung ermöglichen.

Als großes, nicht immer in befriedigender Weise zu lösendes Problem stellte sich dabei die Frage der inneren Differenzierung dar: Je nach Zusammensetzung der Klasse bzw. der Heterogenität der Leistungs- und Lernvoraussetzungen galt es Anknüpfungspunkte für alle Schüler zu finden, für leistungsstarke ebenso wie für diejenigen mit schwerer Behinderung, welche basale Förderangebote benötigten. Idealerweise endete die Stunde mit einem Rückgriff auf die Ausgangssituation, indem eine dort gestellte Frage beantwortet, ein Bild oder der eingangs gezeigte Gegenstand unter den erarbeiteten Gesichtspunkten nochmals betrachtet wurde. Meistens (nicht immer) hat diese Mischung aus inhaltlichen und methodischen Entscheidungen funktioniert.

Die Frage nach dem persönlichen Unterrichtsbild ist mir aus zwei Gründen wichtig. Einmal glaube ich, dass Routinen und Rezepte im Unterricht per se nichts Verwerfliches und Anrüchiges sind, sondern orientierend und entlastend wirken können. Dies gilt für Lehrer und Schüler gleichermaßen: Der Lehrer weiß, was »geht«, den Schülern können bekannte, immer wiederkehrende Elemente im Unterricht Sicherheit und Erfolgserlebnisse vermitteln, da sie etwa die damit zusammenhängenden Arbeitsformen beherrschen. Zum anderen können Routinen allerdings auch in Gleichförmigkeit und Langeweile umschlagen oder nicht mehr greifen, weil sich Rahmenbedingungen und Voraussetzungen gewandelt haben. Dann ist es wichtig, sich mit dem eigenen Bild von Unterricht auseinanderzusetzen, es sich in seinen Komponenten bewusst zu machen und zu reflektieren, an welchen Stellen es der Modifikation bedarf. Ein solcher Anlass war für mich persönlich gegeben, als die oben beschriebene Heterogenität der Lern- und Leistungsvoraussetzungen der Schüler meiner Klasse gerade in den Kulturtechniken so groß wurde, dass ich begann, mich mit offenen Unterrichtsformen auseinanderzusetzen und diese in mein pädagogisch-didaktisches Handlungsrepertoire zu integrieren.

Zusammenfassend lässt sich das hier beschriebene Bild von Unterricht so darstellen:

·

In erster Linie geht es um die Schüler und ihre Lernbedürfnisse und Lernmöglichkeiten – und dann um die Sache.

·

Unterricht lebt von der Beziehung zwischen Lehrer und Schülern – diese Beziehung braucht auch Freiräume, in denen sie atmen und wachsen kann.

·

Unterricht vermittelt Bildung: Kinder und Jugendliche entwickeln ihre Persönlichkeit in der Auseinandersetzung mit spannenden und für sie bedeutsamen Inhalten und Themen und damit mit der vielfältigen und bunten Welt – aber auch im Erwerb von Fähigkeiten und Kompetenzen, mit denen sie sich diese Inhalte möglichst selbstständig und bewusst erschließen können.

·

Unterricht braucht klare Strukturierung, damit Schüler mit geistiger Behinderung sinnvoll lernen können und wissen, was sie gerade tun.

·

Diese Strukturierung ist Aufgabe der Lehrkraft, der damit eine zentrale Stellung bei der Gestaltung von Lernprozessen zukommt.

Das Vertrauen in Rezepte sollte jedoch nicht dazu führen zu übersehen, dass sich Schule und Unterricht nicht im luftleeren Raum ereignen. Schule als Institution ist gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Vorgaben unterworfen, Pädagogik ist nicht immer immun gegen Moden und Trends. Schulische Inklusion, Kompetenzorientierung der Lehrpläne und konstruktivistische Auffassungen von Lernen sind Begriffe, die in die Unterrichtspraxis jedes Einzelnen hineinwirken und es erfordern, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und Stellung zu beziehen. Dies geschieht auch in diesem Buch an der einen oder anderen Stelle.

1.3 Inklusive Lernsituationen

Wird es in absehbarer Zeit überhaupt noch die Situation geben, über die hier reflektiert wird: Eine Gruppe von Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung wird für sich in einem entsprechenden nichtinklusiven Rahmen unterrichtet? Geht es in Zukunft nicht dahin, dass einzelne Schüler mit Förderbedarf in inklusiven Settings im Rahmen der Allgemeinen Schule lernen werden? Dies sind schwerwiegende Fragen, auf die in zweierlei Hinsicht geantwortet werden kann.

Einmal – ganz vordergründig – mit dem Hinweis, dass es eben noch nicht so weit ist, sondern dass vielmehr der Großteil der Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung nach wie vor an Förderschulen der entsprechenden Fachrichtung unterrichtet wird (vgl. KMK 2022c). Etwas subtiler ließe sich argumentieren, dass didaktische und methodische Maßnahmen, die im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung greifen, inklusiven Unterricht auch an anderen Schularten bereichern können, ja sogar müssen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es um Fragen der Motivierung, Handlungsorientierung und Anschaulichkeit, der klaren Strukturierung und den Umgang mit Heterogenität (Differenzierung) geht. Wenn Schüler mit Förderbedarf inklusiv beschult werden, muss dies in einem Unterricht geschehen, der sonderpädagogischen Standards genügt und auch auf ihre Lern- und Bildungsbedürfnisse hin ausgelegt ist. Oder pointierter formuliert: Die Lerninhalte müssen an die Schülerinnen und Schüler angepasst werden, nicht diese an die Lerninhalte! Die Überlegungen dieses Buches können daher unter dem Aspekt gesehen werden, wie sie im Rahmen eines inklusiven Unterrichts zu realisieren sind. Im Abschnitt zu den Didaktiken der Fächer werden Hinweise für diese Situation gegeben: Was ist im Hinblick auf Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zu beachten, wenn in einer Klasse im Sachunterricht ein Lerninhalt aus dem Fach Deutsch, Geschichte oder Musik auf dem Programm steht?

Dieses Buch kann hierfür nur bedingt Lösungen anbieten. Es ist m. E. eine extrem große Herausforderung, Schülern mit geistiger Behinderung in einem inklusiven Rahmen ein Lernangebot zu machen, bei dem sie in jedem Fach, zu jedem Thema und zu jeder Zeit nachhaltig und lernwirksam arbeiten und entsprechend profitieren. Hier ist noch ein weiter Weg zu gehen. Schulische Inklusion zu proklamieren ist verdienstvoll und sichert die Anerkennung durch die sonderpädagogische Gemeinde, es sollte jedoch die Frage der Umsetzung im Gemeinsamen Unterricht dabei noch wesentlich intensiver, aber auch sachlicher diskutiert werden.

Umgekehrt gilt: Nehmen wir als Sonderpädagogen die Debatte um schulische Inklusion ernst (egal, ob wir diese befürworten oder skeptisch sehen), so gilt es, vor diesem Horizont unser didaktisch-methodisches Repertoire so zu gestalten, dass es anschlussfähig bleibt an die Inhalte, Ziele und Methoden, die an Allgemeinen Schulen Gültigkeit haben und nicht zuletzt von den Didaktiken der Fächer formuliert werden. Vor diesem Hintergrund ist die Auseinandersetzung mit Ergebnissen der empirischen Unterrichtsforschung sowie mit Herausforderungen der Fachdidaktiken zu sehen.

2 Wie lernen Schüler mit geistiger Behinderung?

Was sind das für Schüler, denen der Förderschwerpunkt »geistige Entwicklung« zugesprochen wird? Offensichtlich war es noch nie leicht, diese Schülerschaft begrifflich zu fassen. In Anlehnung an Fischer (2008a; 2013) soll hier folgender Versuch einer Beschreibung unternommen werden:

·

Deutlich ist eine erhebliche Diskrepanz zwischen ihren individuellen Handlungsmöglichkeiten und den Anforderungen der Umwelt bzw. der Gesellschaft. Die Teilhabe an wesentlichen Lebensbereichen ist damit stark eingeschränkt.

·

Es besteht ein hohes Maß an sozialer Abhängigkeit.

·

Der Erwerb von Kompetenzen ist ihnen umfänglich und längerfristig erschwert.

·

Hieraus resultieren ein sehr hoher individueller Förderbedarf und besondere Erziehungs- und Bildungsbedürfnisse und das Angewiesen-Sein auf personale und wertschätzende Zuwendung sowie

·

die Notwendigkeit umfänglicher, meist lebenslanger Unterstützung, die insbesondere eine Teilhabe an wichtigen gesellschaftlichen Teilbereichen (Arbeit, Wohnen, Mobilität, Selbstversorgung und Lebensgestaltung) sowie den Aufbau einer persönlichen Lebensperspektive und individuelle Sinnfindung ermöglicht.(Darstellung nach Fischer 2013)

Diese individuellen Gegebenheiten können nicht losgelöst gesehen werden vom gesellschaftlichen Kontext. In einer Gesellschaft, deren höchste Wertmaßstäbe Leistung und Effizienz (vgl. Kurbjuweit 32004; Han 2010) zu sein scheinen und die von einer immer rasanteren Beschleunigung der Lebensvollzüge (vgl. Rosa 22013) geprägt ist, besteht die Gefahr, dass die Diskrepanz zwischen individuellen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Anforderungen und Erwartungen besonders groß und schwerwiegend ausfällt. Behinderung ist damit niemals nur eine individuelle, sondern immer auch eine gesellschaftliche Kategorie. Damit muss sich Schule auseinandersetzen, welche Kinder und Jugendliche einerseits in ihrer Persönlichkeitsentwicklung unterstützt, sie aber andererseits immer auch auf ein Leben in der Gesellschaft vorbereitet.

Die Frage, wie Schüler mit geistiger Behinderung lernen, ist aus mehreren Gründen schwierig zu beantworten. Ohne sich auf das dünne Eis definitorischer Kontroversen um den Begriff der geistigen Behinderung (vgl. Greving/Gröschke 2000) zu begeben, verbietet es zunächst die vielfältige, in sich heterogene Schülerschaft an Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, hier verallgemeinerbare Aussagen zu treffen (vgl. Baumann et al. 2021). Selbst etwa die Diagnose »Down-Syndrom« bietet keine hinreichende Basis für hieraus abzuleitende pädagogische Zielsetzungen oder didaktisch-methodische Entscheidungen.

Zum anderen birgt der Versuch der Beschreibung vermeintlich typischer Lernvoraussetzungen die Gefahr einer vordergründig defizitorientierten Betrachtungsweise. Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung würden dann wie folgt charakterisiert: Wegen ihrer signifikant unterdurchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten sind abstrahierendes und schlussfolgerndes Denken massiv erschwert, Sprach- und Sprechstörungen sowie motorische Defizite sind weit verbreitet, Wahrnehmungsleistungen sind beeinträchtigt, ihr Arbeitstempo ist langsam und ihre Motivation zu lernen oft gering.

Auch wenn viele der Schüler an Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Probleme und Einschränkungen in den genannten Bereichen haben und ihr Lernen somit in der Tat massiv erschwert ist, kann dies eigentlich nur als pädagogischer Auftrag verstanden werden. Erziehung, Unterricht und Förderung sind so zu gestalten, dass Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung ihren Beeinträchtigungen zum Trotz lernen können. Nicht sie müssen sich an Lernangebote anpassen, umgekehrt müssen Lernangebote so gestaltet sein, dass ihre Adressaten von ihnen profitieren können.

Ein Blick auf kognitions-‍, lern- und sozialpsychologische Erkenntnisse im Zusammenhang mit geistiger Behinderung ist dennoch lohnend, wenn es darum geht, didaktisch-methodische Entscheidungen zu begründen und Lernprozesse bewusst zu gestalten.

Aus Sicht der Kognitionspsychologie haben Menschen mit geistiger Behinderung in der Regel »Schwierigkeiten, Zusammenhänge und Ordnungen in der Umwelt und in sozialen Beziehungen zu verstehen und das eigene Verhalten dementsprechend zu planen« (Sarimski, zit. n. Schuppener 2008, 92 ff.). Folgende Aussagen lassen sich in diesem Zusammenhang treffen:

·

Menschen mit geistiger Behinderung verfügen über eine signifikant unterdurchschnittliche Allgemeinintelligenz.

·

Ihre Intelligenz ist charakterisiert durch einen verminderten Differenzierungsgrad.

·

Aufgrund zentraler Verarbeitungsstörungen und der Schädigung von Hirnstrukturen kommt es zu Störungen der Reiz- und Informationsverarbeitung.

·

Menschen mit geistiger Behinderung verfügen nur eingeschränkt über entsprechende Lern- und Speicherstrategien. Dies zeigt sich bei Aufgaben, die nicht nur Aufmerksamkeitsleistungen, sondern auch kognitive Verarbeitungsprozesse (Speicherung von Informationen, Abruf aus dem Gedächtnis durch Wiedererkennen und Zuordnen) erfordern.

·

Sie haben Probleme beim Einprägen von Informationen sowie bei der Organisation und Strukturierung von Informationen und Reizen.

·

Sprache wird seltener als Hilfe zur Handlungssteuerung eingesetzt, dies erschwert das Speichern und Kategorisieren von Information sowie zielgerichtete Handlungen und das Finden von Lösungsstrategien.

Aus lernpsychologischer Perspektive wird im Zusammenhang mit geistiger Behinderung häufig auf motivationale Probleme hingewiesen: »Menschen mit geistiger Behinderung haben ihre spezifischen Probleme beim Lernen, die sich u. a. im motivationalen Bereich, in der Konzentrations- und Aufnahmefähigkeit zeigen« (Kane/Kane, zit. n. Schuppener 2008, 102). Erleben Menschen mit geistiger Behinderung häufiger Misserfolge, die das Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten schmälern (vgl. die von Wendeler (1976, 39 ff.) referierte »Theorie der Misserfolgserwartung«)? Sollte dies tatsächlich der Fall sein, so muss hieraus aus pädagogischer Sicht der Schluss gezogen werden, dass Kindern und Jugendlichen in besonderem Maße Gelegenheiten zur aktiven, selbstständigen und selbstbestimmten Auseinandersetzung mit Lernangeboten eröffnet werden müssen, anstatt ihnen in einer Art »fürsorglicher Belagerung« Schwierigkeiten und Probleme aus dem Weg zu räumen, weil man ihnen deren selbstständige Bewältigung per se nicht zutraut (in diesem Zusammenhang ist auch die inflationäre Ausbreitung der sog. »Schulbegleiter« äußerst kritisch zu sehen, deren permanente Präsenz dem betreuten Kind bzw. Jugendlichen die Notwendigkeit eigenständigen Handelns u. U. beschneidet).

Nicht selten wird geistige Behinderung neben den kognitiven Beeinträchtigungen auch noch durch solche der sozialen Entwicklung geprägt. Entsprechend gehören Verhaltensstörungen bzw. störendes Verhalten aus sozialpsychologischer Perspektive zum Bild der geistigen Behinderung. Pädagogisch gesehen stellen sie nicht selten eine erhebliche Herausforderung dar (vgl. Ratz 2012b; Staatsinstitut 2014b). Nicht jedes störende oder herausfordernde Verhalten, nicht alle scheinbar bizarren Verhaltensmuster können im Rahmen von Unterricht mit dessen »Hausmitteln« beigelegt werden. Verhaltensstörungen sind jedoch auch Bewältigungsstrategie des Kindes und Jugendlichen, der versucht, mit einer ihm unverständlichen bzw. ihm mit Unverständnis begegnenden Umwelt zurechtzukommen.Für die Gestaltung von Unterricht haben diese Befunde folgende Konsequenzen:

·

Lernangebote müssen inhaltlich wie methodisch klar strukturiert und damit überschaubar und durchschaubar sein.

·

Die Anschaulichkeit von Lernangeboten ermöglicht den Schülern das »Be-greifen«, rein verbal-begriffliches Lernen genügt nicht.

·

Der Aspekt der Sprache im Unterricht ist dennoch von zentraler Bedeutung: Klare Unterrichtssprache von Lehrern und Schülern wirkt in hohem Maße strukturierend und trägt zur Begriffsbildung bei. Zum anderen unterstützt aktionsbegleitendes Sprechen (vgl. Speck 2005, 262 f.) Handlungssteuerung und den Aufbau geistiger Operationen.

·

Der Lebenswelt der Schüler entnommene Inhalte und problemorientierte, zur inneren Auseinandersetzung anregende Zugänge gewährleisten Lernmotivation und Aufmerksamkeit und regen zur selbsttätigen Auseinandersetzung an.

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Handlungs- und problemorientierter Unterricht generiert eine Haltung des Fragens und der Neugier und ermöglicht Erfolgserlebnisse, die zum Weiterlernen anspornen.

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Im Sinne bekannter Abläufe und transparenter Normen und Regeln klar strukturierter und rhythmisierter Unterricht hilft, Konzentration und Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten und Verhaltensproblemen vorzubeugen.

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Unterricht ist getragen von der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, die von grundlegender Akzeptanz auch in schwierigen Situationen geprägt ist.

3 Was sollen Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung lernen?

3.1 Bildung – Inhalte und Kompetenzen

Bildung als Prozess kann sich dann ereignen, wenn Kinder und Jugendliche sich von einem Sachverhalt ihrer Lebens- und Erfahrungswelt ausgehend neue oder neu strukturierte Lerninhalte erschließen und diese in Bezug zu sich selbst und ihrer Sichtweise von Welt setzen können. Dabei definiert sich Bildung nicht als das Sammeln unzusammenhängender Informationen oder bloßes Bescheid-Wissen, sondern vielmehr als »die Prägung und Formung der Persönlichkeit durch den Erwerb von Wissen, eine Prägung und Formung, die überdauert und abgelöst von speziellen Wissensbeständen zum individuellen geistigen Habitus eines Menschen gehört« (Maurer 1990, 147). In der Begegnung mit der kulturellen Umwelt wirkt erworbenes Wissen und Können zurück auf die Persönlichkeit, deren Einstellung zur Wirklichkeit sich im Bildungsprozess wandelt. Selbstbestimmung und Subjektivität sind wichtige Schlüsselbegriffe in diesem Zusammenhang. Insbesondere gehört zum Bildungsprozess auch die Vermittlung einer Haltung des Fragens, die wesentlich bedeutsamer ist als die bloße Vermittlung von Wissen. Neugier und Offenheit gegenüber der Welt als Bildungsziele müssen dabei besonders gepflegt und gefördert werden.

Im Unterricht geht es weder ausschließlich um die Aneignung von Bildungsinhalten (als – materiale – Objektseite des Bildungsprozesses) noch um die Übung von Kräften, Fertigkeiten und Funktionen auf Seiten des Kindes (als – formale – Subjektseite des Bildungsprozesses). Bildung ist vielmehr materiale und formale Bildung zugleich und damit kategoriale Bildung (Klafki 1963; zur Bedeutung Klafkis für die sonderpädagogische Didaktik vgl. Ratz 2011, 23). Dabei ist in diesem Zusammenhang vorrangig die Frage von Interesse, wie Inhalte für Schüler mit geistiger Behinderung strukturiert werden müssen und wie diese durch ebenfalls klar strukturierte Fertigkeiten, Methoden oder Kompetenzen zu immer mehr Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein gelangen können.

3.2 Auswahl und Strukturierung der Inhalte

3.2.1 Lebensbedeutsamkeit

Ein wichtiges Kriterium für inhaltliche Entscheidungen ist die aktuelle Lebenssituation des Schülers und damit seine daraus resultierenden Bedürfnisse, Interessen und Fragen. Diese individuellen Bedeutsamkeiten stehen dabei immer auch in einem Spannungsverhältnis zu dem, was Kultur und Gesellschaft als Bildungsgüter, Kulturtechniken und Anforderungen definieren. Hier hat der Lehrer bei seinen inhaltlichen Entscheidungen abzuwägen und Entscheidungen zu treffen.

Unterricht für Schüler mit geistiger Behinderung geht sicherlich zunächst von deren Lebenswirklichkeit aus. Dabei ist offensichtlich, dass diese Lebenswirklichkeit auch für diese Schülerschaft heute mehr denn je eine in ständigem Wandel begriffene Realität und Lebenswelt darstellt, die hoch komplex ist und auf die es sich immer wieder neu einzustellen gilt.

Wichtig ist dabei stets die Frage, welche Bedeutsamkeit ein potentieller Lerninhalt bereits im Leben und in der Erfahrungswelt des Schülers hat. Merrill (2002, zit. n. Kiel 2012, 25 f.) weist in seinen Ausführungen zu »moderner Unterrichtsstrukturierung« (Kiel 2012, 25) auf die Bedeutung sog. »real world problems« als Ausgangspunkt und Motivation für Lernprozesse hin, insbesondere im Rahmen eines problemorientierten Unterrichts. Darüber hinaus ist die Aktualisierung von sachbezogenem Vorwissen in methodischer Hinsicht wesentliches Element eines inhaltlich klar strukturierten und kognitiv aktivierenden Unterrichts (vgl. Meyer 2005, 59). Inhaltliche Klarheit des Unterrichts wird gefördert durch das »Aufgreifen, Kontrastieren und Weiterentwickeln der Vorerfahrungen und Alltagsvorstellungen der Schüler« (ebd.). Meyer rät, »die Alltagsvorstellungen der Schüler ernst zu nehmen und zum Ausgangspunkt der fachlichen Klärungen zu machen ...« (ebd., 63). Merrills »First Principles of Instruction« zielen in eine ähnliche Richtung: »Learning is promoted when existing knowledge is activated as a foundation for new knowledge« (zit. n. Kiel 2012, 25). Dem entsprechen auch Erkenntnisse der Kognitionspsychologie: »Die Aktivierung von vorhandenem Wissen und die Möglichkeit Wissensstrukturen miteinander zu verknüpfen, gilt ... als ein wesentlicher Garant erfolgreichen Unterrichtens ...« (ebd.).

Grundlegende Lebenssituationen sind sicherlich der entscheidende Anknüpfungspunkt, wenn Lernangebote für Schüler mit geistiger Behinderung ausgewählt werden. Um die Sachverhalte, mit denen sich der Schüler im Rahmen dieser Situationen auseinandersetzt, aber in einen weiteren Horizont zu stellen, gilt es, über den Tellerrand dieser Situationen auch immer wieder hinauszublicken. Nicht nur nach der Gegenwartsbedeutung des Inhalts, sondern auch nach dessen mutmaßlicher Relevanz für die Zukunft des Schülers ist zu fragen, nicht nur das Besondere des Inhalts im Rahmen der jeweiligen Lern- und Lebenssituation ist zu sehen, sondern auch dessen exemplarische Bedeutung darüber hinaus.

3.2.2 Exemplarisches Lernen

Ein weiteres Auswahlkriterium für Lerninhalte ist die Frage, ob sie geeignet sind, Schülern grundlegende Einsichten und Zusammenhänge zu erschließen, die auch auf andere Sachverhalte übertragbar sind.

Wer am Beispiel eines Besonderen einen allgemeinen Sachverhalt begriffen hat, hat Kategorien gewonnen, mit deren Hilfe er sein Weltbild erweitern und durchgliedern kann. Das Kind lernt demnach nicht nur einen konkreten Inhalt kennen, sondern es erkennt auch das darin enthaltene Allgemeine als eine Kategorie, mit deren Hilfe es sich künftig ähnlich strukturierte Inhalte selbst erschließen kann.

Wagenschein hat aus der Perspektive des Physikunterrichts das Prinzip des Exemplarischen als Leitfrage bei der Auswahl von Inhalten entwickelt (vgl. u. a. Wagenschein 1997; Berck 1996; Berck/Graf 2010, 87 ff.). Unter der Prämisse, dass das Verstehen grundlegender Zusammenhänge den Vorrang vor der Anhäufung von Wissen haben müsse, zielt das Exemplarische auf eine Reduzierung von Stofffülle zugunsten der Konzentration auf wenige Beispiele, an denen sich für einen Gesamtzusammenhang grundlegende Einsichten und Erkenntnisse gewinnen lassen.

Das Prinzip des Exemplarischen dient dabei einmal als inhaltliches Auswahlkriterium (vgl. Häußler 2019, 532 f.): An wenigen anschaulichen und konkreten Beispielen werden Grundzüge eines Allgemeinen verdeutlicht – das Einzelne »ist Spiegel des Ganzen« (Wagenschein 1956, 4). So kann im Sachunterricht die Wiese mit ihren Pflanzen und Tieren als Exemplum für ein Ökosystem erarbeitet werden oder der dort lebende Maulwurf mit seinem spezifischen Körperbau als Beispiel für die Anpassung von Tieren an ihren Lebensraum (vgl. Goschler/Heyne 2011, 192 ff.). Ein Exemplum im Sinne Wagenscheins muss dabei nicht nur beispielhaft für andere, ähnliche Sachverhalte stehen, es müssen an ihm auch grundlegende fachspezifische Arbeitsweisen des jeweiligen Faches angewandt werden können. Im Falle der Wiese können dies die Arbeitsweisen des Betrachtens, Beobachtens und Experimentierens sein. Wichtig erscheint es dabei, nicht vorschnell komplizierte Fachbegriffe und fachwissenschaftliche Abstraktionen zu verwenden, sondern von »Phänomenen« auszugehen, die den Schülern real in ihrer Lebenswelt begegnen und hinterfragt werden.

Exemplarisches Lernen steht aber auch für ein methodisches Verfahren: Die Schüler sollen Wissen nicht einfach nur übernehmen, sondern es sich aktiv aneignen, eigene Fragestellungen und Ideen dazu entwickeln und an Problemlösungen arbeiten. Dies fasst Wagenschein mit dem Begriff des »genetischen Lernens« (vgl. auch Köhnlein 2011, 14). Auf diesem Weg begreifen die Schüler nicht nur Zusammenhänge und erwerben Wissen, sie lernen es auch, Fragen zu stellen und Probleme aktiv anzugehen. So kann eine grundlegende Haltung des Fragens und der Neugier und damit der Offenheit der Welt gegenüber angebahnt werden, die gerade für Schüler mit geistiger Behinderung ein zentrales Bildungsziel darstellt.

3.2.3 Elementarisierung

Wenn die Rede von Inhalten ist, stellt sich prinzipiell auch die Frage nach der Möglichkeit und Notwendigkeit der Elementarisierung (vgl. Glötzl 2000b, 348 ff.; Terfloth/Bauersfeld 2012, 86 ff.; Stöppler/Wachsmuth 2010, 51 ff.). Inhalte müssen für Schüler mit geistiger Behinderung in ihren Grundzügen erfahrbar und begreifbar gemacht werden, ohne sie dabei inhaltlich in unzulässiger Weise zu verfälschen. Elementarisierung und inhaltliche Strukturierung gehen dabei Hand in Hand. Damit Schüler Wissen erwerben können,

»ist es ... ganz entscheidend, die Komplexität des Sachverhaltes auf ein Maß zu reduzieren, das es ... erlaubt, die gemachten Erfahrungen zu ordnen, neues Wissen zu vorhandenen Vorstellungen in Beziehung zu setzen und ggf. auch Vorstellungen zu revidieren oder zu verändern. Die Reduktion der Komplexität des Sachverhaltes dient schließlich auch dazu, das ... Arbeitsgedächtnis zu entlasten. Komplexitätsreduktion kann als das Kernanliegen inhaltlicher Strukturierung ... angesehen werden« (Kleickmann 2012, 9 f.).

Lerninhalte werden also im Verfahren der Reduktion, durch das Weglassen von Einzelaspekten, auf ihre wesentlichen und elementaren Strukturen hin zurückgeführt. »Elementarisierung meint damit Vereinfachung, Reduzierung, Transformation des Lehrstoffes um ihn für die Schüler ... leichter fassbar und zugänglich zu machen« (Glötzl 2000b, 348). Die Grundfrage ist dabei stets, was an dem jeweiligen Sachverhalt »elementar« im Sinne eines Kerngedankens oder einer inhaltlichen Grundstruktur ist, um die herum sich die übrigen Elemente anordnen.

Elementare Konzepte für den Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung könnten sich wie in Tabelle 1 (▸ Tab. 1) dargelegt darstellen.

Tab. 1:Elementare inhaltliche Konzepte

Vorerfahrungen – »real world problems«

Elementares Konzept

Allgemeiner Fall/‌Sinn- und Sachzusammenhang/‌Struktur des Inhalts (Beispiele)

Besonderer Fall – Sache

(Beispiel)

Kompetenzorientierte Lernaktivitäten

(entwicklungs­‌spezifisch/‌überfachlich/‌fachspezifisch)

Veranschaulichung

Darbietung

Erarbeitung

Erlebnis

Eigenschaften von Materialien und Gegenständen

Kastanien

Erleben, spüren

(Taktil) wahrnehmen – erkunden

Darbietung (spüren) – Spiel (verstecken, unter einem Tuch hervorholen)

Elementares Hantieren (greifen, loslassen, in eine Schale werfen)

Kommunikation

Kommunikative Situation: Ich, Du und ein gemeinsames Drittes

Um etwas bitten

Kommunikations­‌hilfen oder Satzmuster verwenden – Informationen aufnehmen und weitergeben

Spezifischen Wortschatz verwenden

Dialog

Rollenspiel (Darstellungs­‌einheit)

Sozialformen

Lebens­‌praktische Fertigkeit

Umgang mit Geräten

Sachgerechte Bedienung des Telefons

Handlungen nachahmen und sachgerecht ausführen

Vormachen – Nachahmung

Lehrgang

Handlung/‌Operation

Abfolge von Handlungs­‌schritten Abstraktions­‌leistungen

Wir topfen die Ableger der Grünlilie um

Probleme lösen

Handlungs­‌einheit

Begriff

Teile und Ganzes

Funktions­‌zusammenhang

Die Taschenlampe

Der Akkuschrauber

Betrachten – erkunden – benennen

Erkennen von Zusammenhängen

Objekterkundung

Sachzusammenhang bezogen auf die Perspektiven der Sachfächer: sozialwissenschaftliche (Selbst, Situation, Öffentlichkeit, Politik), naturwissenschaftliche (Leben, Energie, ...), geographische (Raum), historische (Zeit, Wandel), technische Perspektive (Gerät, Werkzeug, Medien)

Wandel – Geschichtsbewusstsein

Wie hat Uroma Anni Sahne geschlagen?

Sich orientieren, vergleichen, fragen, einordnen

Vergegenwärtigung/‌Besinnung

Soziale Situation – Solidarität

Wir helfen jemandem

Eigenständig/‌selbstständig handeln, reflektieren, argumentieren

Darstellungs­‌einheit

(Unbelebte) Natur

Magnetismus

Naturwissenschaftliche Denk-‍, Arbeits- und Handlungs­‌weisen (beobachten, experimentieren, erkennen, Informationen sammeln)

Experiment

Räumliche Gegebenheiten in verschiedenen Abstraktions­‌stufen

Mein Klassenzimmer

Sich orientieren/‌darstellen

(Kartenkompetenz)

Karten/‌Skizzen/‌Pläne erstellen

Mediennutzung

Wir machen (gute) Fotos mit unserem Smartphone

Erkunden, nutzen, gestalten, reflektieren

Grundkonzepte der Kulturtechniken (Deutsch: Laut, Silbe, Wort, Schrift; Mathe: Zahlen, Größen, ...)

Text

Ganzschrift »Ronja Räubertochter«

Texte erschließen

Texterschließungs­‌strategien

Stellenwertsystem

Wir beladen den Zug mit Kisten

Darstellungen verwenden ...

Zehnerzug nach Kutzer

Grundkonzepte der musischen Fächer (Musik, Kunst, Sport): Erfahrung, Praxis, Gestaltung, Ausdruck

Melodie, Text

Rhythmus

Lied: Wenn sich die Igel küssen

Wahrnehmen, erleben

Gestalten, präsentieren

Gestalten eines Liedes mit Instrumentalbegleitung

Bild

Collage »Die Schnecke«

Entwerfen, gestalten, wahrnehmen, präsentieren

Initiation, Exploration, Objektivation, Reflexion

Zukunftsbedeutung

Elementarisierung findet immer im Spannungs­‌feld des Anspruchs auf Sachgemäßheit und den Lernvoraussetzungen auf Seiten des Schülers statt. Dass dieses im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung besonders stark ausgeprägt ist, muss eigentlich nicht betont werden. Im Folgenden werden einige Möglichkeiten aufgezeigt, wie der Ausgleich zwischen den gegebenen Fakten und der Eigengesetzlichkeit der Sache auf der einen Seite sowie dem Anspruch auf Schülergemäßheit und individueller Passung auf der anderen gefunden werden kann.

3.3 Elementare inhaltliche Strukturen herausarbeiten

Inhalte sequenzieren

In den vorangehenden Beispielen wurde bereits deutlich, dass jeweils die zugrunde liegende elementare (Sach-)‌Struktur des Lerngegenstands Grundlage von Reduktions­‌entscheidungen sein kann. Diese elementare Struktur bildet dann gewissermaßen den thematischen Hauptaspekt. Hier ist zu entscheiden, ob noch weitere inhaltliche Aspekte Teil des Lernvorhabens sein sollen oder ob sie in einen anderen Lernschwerpunkt verschoben werden. Damit stellt die Sequenzierung von Lerninhalten – also das Anordnen von inhaltlichen Aspekten in eine Abfolge von Lernvorhaben – einen wesentlichen, wichtigen Teil des Elementarisierens dar. »Weniger ist mehr« könnte das Motto lauten, wenn etwa das Thema »Milchprodukte« in seine Teilaspekte zerlegt bzw. strukturiert wird, die dann jeweils einen eigenen Lernschwerpunkt darstellen und in einer Unterrichtssequenz mit verschiedenen aufeinander folgenden Unterrichtseinheiten zusammengefasst sind (▸ Abb. 1) – Kleickmann spricht in diesem Zusammenhang von der sinnvollen Gliederung eines Inhalts bzw. von »Sequenzierung« (2012, 10).

Abb. 1:Elementare Strukturen eines Lerngegenstands

Dabei hat die Fokussierung auf eine elementare Grundstruktur auch unmittelbar Auswirkungen auf methodische Entscheidungen (rechte Spalte): Besteht die Grundstruktur in einer Handlung, liegt die Wahl des methodischen Modells des Lehrgangs oder der Handlungs­‌einheit nahe (vgl. Abschnitt »Innere und äußere Aktivität des Lernens«), eine Erkenntnis erlangen Schüler im Rahmen eines problemlösenden Unterrichts, und die Erarbeitung von Sachwissen erfordert schüleraktivierende Formen der Vermittlung von Inhalten und Fakten.

Ins­‌gesamt wird deutlich, dass mit der Entscheidung für einen Inhalt bzw. spezifische Aspekte eines Inhalts die weitere Planung des Unterrichts schon in eine bestimmte Richtung gelenkt wurde. »In diesem Sinne ist Unterrichtsstrukturierung auch ein entscheidungsorientierter Selektions­‌prozess, der danach fragt, wie die Bearbeitung eines Unterrichtsgegenstandes ... strukturiert wird« (Kiel 2012, 21).

Handlungsfolgen auf ihre Grundbausteine zurückführen

Hier hilft die Unterscheidung von Handlungsfolge und Handlungsschema nach Aebli (vgl. Abschnitt »Innere und äußere Aktivität des Lernens«) weiter. Jede Handlungsfolge besteht aus verschiedenen Handlungsschemata, die beherrscht werden müssen, wenn die Handlung ins­‌gesamt erfolgreich sein soll. Dies sei veranschaulicht am Unterrichtsbeispiel »Wir stellen eine gesunde Milchschnitte her« (▸ Abb. 2).

Abb. 2:Elementarisierung von Handlungsfolgen am Beispiel: Wir stellen eine gesunde Milchschnitte her

In diesem Fall besteht der Lerninhalt im Nachbilden der im Handel erhältlichen »Milchschnitte« durch eine gesündere, weil vollwertigere Variante. Hiervon ausgehend kann jedes Teilelement der Handlung Gegenstand der Reduktion werden, indem die entsprechenden Handlungsschritte etwa vom Lehrer bereits ausgeführt und die Materialien für die Schüler vorbereitet wurden. Sollen die Schüler einen einfachen Handlungsablauf als Verknüpfung bekannter Handlungsschemata (vgl. den Abschnitt »Innere und äußere Aktivität des Lernens«) erlernen, kann sich dies folgendermaßen darstellen: Bei der Herstellung der Milchschnitte im Rahmen einer Handlungseinheit (s. u.) geht es letztlich um die Teilschritte »Zutaten vorbereiten«, »Zutaten vermengen«, »Bestreichen« und »Schneiden«. Ins­‌besondere der Teilschritt »Vorarbeiten« kann dabei noch erheblich vereinfacht werden, wenn Mengen bereits abgemessen sind. Weitere Möglichkeiten der Reduktion ergeben sich, wenn die Zitrone halbiert, der Saft schon ausgepresst und ebenso die Petersilie gehackt ist. »Elementar« im Sinne eines Grundbausteins bzw. des Wesentlichen und damit unverzichtbar scheint jedoch der Handlungsschritt des Bestreichens zu sein, durch den aus den Komponenten »Brot« und »Belag« das angestrebte Endergebnis entsteht. Geht es allerdings primär um das Erlernen lebens­‌praktischer Fertigkeiten wie Schneiden, Schälen oder Auspressen, so wird sich der Fokus eher auf einen der (motorischen) Aspekte des Themas richten: Die Schüler erarbeiten und lernen dann z. B. unter der Zielsetzung »Wir pressen eine Zitrone aus«, wie eine Zitronenpresse richtig zu handhaben ist. Hier kommt der Handlungsfolge nur die Rolle eines inhaltlichen Rahmens zu.

Begriffe reduzieren

Ein wichtiger Prüfstein für eine gelingende Elementarisierung sind die Begriffe, welche die Lehrkraft im Zusammenhang mit der Sache für eine Unterrichtsstunde auswählt. Sollen die Schüler im Rahmen einer Objekterkundung die Teile eines Gegenstands benennen lernen, so stellt sich einmal in rein quantitativer Hinsicht die Frage, wie viele Begriffe sie aufnehmen und speichern können, zum anderen gilt es zu klären, ob etwa Fachbegriffe in Alltagssprache »übersetzt« werden sollen. Für eine Übersetzung spricht, dass diese ein erstes Verständnis möglicherweise erleichtert. Andererseits sollen die Schüler auch allgemein gebräuchliche Begriffe kennenlernen und an eine elementare Fachsprache herangeführt werden. Auch dies ist ein schwieriger Abwägungsprozess, den die Lehrkraft im Spannungsfeld der Lernvoraussetzungen ihrer Schüler und dem Anspruch der Sache zu leisten hat.

Anhand zweier technischer Geräte, die auch für Schüler mit geistiger Behinderung von lebenspraktischer Bedeutung sind, kann gezeigt werden, wie auf der begrifflichen Ebene reduziert werden kann, indem nur wesentliche, für das aktuelle Lernvorhaben bedeutsame Begriffe und damit auch Sachaspekte in den Blick genommen werden.

Die Digitalkamera (▸ Tab. 2) ist ein hochkompliziertes Gerät mit unendlich vielen Einzelfunktionen und entsprechenden Teilen und Bedienungselementen. Nimmt man als grundlegenden, elementaren Sachverhalt jedoch das schlichte Aufnehmen eines Fotos in den Blick, so sind hierfür relativ wenige Bedienungsschritte nötig, für die auch nur einige wenige Teile benötigt werden: anschalten (Schalter), Motiv wählen (Monitor/Display und evtl. Objektiv), zoomen (Zoom-Schalter) und auslösen (Auslöser). Das Objektiv, welches beim Einschalten des Gerätes automatisch ausgefahren wird, könnte der Reduktion auch noch zum Opfer fallen, da es vom Fotografierenden nicht direkt bedient wird. Andererseits ist es ein derart zentraler und offensichtlicher Bestandteil der Kamera, dass es durchaus als deren elementarer Teilaspekt gesehen werden kann. Auch der Zoom-Schalter muss nicht zwingend als elementar betrachtet werden, da er schon auf ein weiteres Themenfeld verweist, nämlich die formale Gestaltung von Fotos. Die Entscheidung zur Reduktion wird hier auch im Zusammenhang mit den Lern- und Leistungsvoraussetzungen der Klasse stehen.

Inhaltlich weniger vielschichtig, hinsichtlich der notwendigen Reduktionsentscheidungen aber durchaus komplex zeigt sich der Lerngegenstand »Die Kaffeemaschine« (▸ Tab. 3).

Im Grunde sind alle sichtbaren Teile von Bedeutung und spielen bei der Zubereitung von Kaffee (dies ist auch der elementare Sachverhalt) eine spezifische Rolle.

Eine erste Reduktionsentscheidung könnte daher darin bestehen, lediglich die Bedienung und nicht die Funktionsweise des Gerätes zu thematisieren und damit auf Begriffe und Sachverhalte wie »Durchlauferhitzer« oder »Dampfrohr« zu verzichten – diese Teile sind im Inneren verborgen und dem Bediener der Maschine nicht zugänglich. Eine Rolle würden sie erst dann spielen, wenn – etwa im Zusammenhang mit der Behandlung verschiedener Aggregatzustände des Wassers – die Frage nach dem Funktionsprinzip einer Kaffeemaschine im Mittelpunkt des Unterrichts stünde. Ist der Grundgedanke der Elementarisierung aber der, die zur Ausführung der Handlung nötigen Teile zu kennen und zu benennen, könnten allenfalls die Teile »Wasserstand (bzw. Anzeige)« und »Kontrollleuchte« reduziert werden. Ersteres, weil das Wasser meist auch zuvor schon mit der Skala auf der Kaffeekanne abgemessen werden kann, zudem ist die Kontrollleuchte häufig in den Schalter integriert, anderenfalls ist sie nicht zwingend Bestandteil eines Handlungsschrittes. Möglichkeiten der Elementarisierung bestehen daher hauptsächlich in der Wahl der Begriffe (s. o.), welche z. T. vereinfacht werden können.

Tab. 2:Reduktion – Teile der Digitalkamera

Darstellung

Abbildung

Begriffe

Teile

Vorderseite

Auslöser

Fernbedienungs­‌empfänger

Selbstauslöserlampe

Hauptschalter

Blitz

Lautsprecher

Mikrofon

Objektiv

Schutzkappe

PC/AV-Anschluss

DC-Eingang

Teile

Rückseite

Blitzstatuslampe

Fokusstatuslampe

Betriebsarten-Einstellrad

Entriegelungs­‌hebel

Kartenfachabdeckung

Batteriefachdeckel

LCD-Monitor

Stativgewinde

Bedienungs­‌elemente:

Displaytaste

Löschtaste

Zoom

Wiedergabetaste

OK-Taste

Vierwegregler

Menütaste

Fn-Taste

Reduktion

Schalter

Auslöser

Objektiv (?)

Zoom-Taste (?)

Monitor/‌Display

Tab. 3:Reduktion – Funktions­‌weise und Teile der Kaffeemaschine

Darstellung

Abbildung

Begriffe

Querschnitt/‌Funktions­‌weise

Wassertank

Durchlauferhitzer

Dampfrohr

Filter

Teile/‌Außenansicht

Deckel

Wasserbehälter

Wasserstand

Kontrollleuchte

Ein- und Ausschalter

Warmhalteplatte

Kanne

Filterhalter

Netzstecker

Reduktion

Kanne

Deckel

Schalter

Wasserbehälter

Stecker

(Anzeige?)

Filter

Wärmeplatte

3.4 Kompetenzorientierung des Unterrichts

Im Zusammenhang mit der Forderung nach verstärkter Kompetenzorientierung seit dem sog. »PISA-Schock« erfährt der formale Aspekt von Bildung gegenüber dem materialen eine erhebliche Aufwertung. Formale Bildung im Sinne funktionaler Bildung zielt auf die Entfaltung der inneren Kräfte als Schwerpunkt pädagogischer Tätigkeit. Wer das Lernen des Lernens gelernt hat und instrumentelle Fähigkeiten besitzt, ist nach dieser Auffassung gebildet.

Dieses Mega-Thema der Bildungs­‌diskussion kann hier nicht annähernd erschöpfend diskutiert werden. Denkt man aber über die Gestaltung von Unterricht für Schüler mit geistiger Behinderung nach, so stellen sich in diesem Zusammenhang doch einige Fragen.

Problematisch im Zusammenhang mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung ist sicherlich der normierende und verbindliche Charakter der sog. »Bildungs­‌standards«, die festlegen, überprüfen und vergleichen, welche Kompetenzen in einem Fach Schüler zu einem bestimmten Zeitpunkt erworben haben (vgl. Musenberg et al. 2008; Häußler 2020).

Andererseits: Wer sonderpädagogisch akzentuierten Unterricht plant und gestaltet, mag sich dabei bisweilen fragen, ob mit der Forderung nach verstärkter Kompetenzorientierung nicht häufig »Eulen nach Athen« getragen werden, wie eine entsprechende Handreichung für Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung selbstkritisch anmerkt (Landesinstitut 2013, 15)? Die Betonung formaler Kompetenzen, individuelle Förderung, der Anwendungs­‌bezug von Wissen in Handlungs­‌situationen (»Performanzsituationen«) statt bloßer Reproduktion sowie fächerübergreifendes Arbeiten – um nur einige wenige Merkmale kompetenzorientierten Unterrichts herauszugreifen – scheinen seit jeher integrale Bausteine eines Unterrichtskonzepts zu sein, welches Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf sinnvolles und erfolgreiches Lernen ermöglicht. Und ist es nicht folgerichtig, das, was Schüler im Unterricht tatsächlich tun (also etwa handeln, erkunden, darstellen, reflektieren, sich orientieren, vergleichen, benennen, anwenden ...) und was damit der Beobachtung zugänglich ist, (wieder) genauer ins Auge zu fassen und Lernzuwachs auch daran zu messen, in welchem Umfang die erwartete oder erwünschte Lernaktivität sichtbar wird? Dementsprechend werden auch die Lernziele zu den Stundenbeispielen in diesem Buch so formuliert, dass sie diese sicht- und beobachtbaren Lernaktivitäten widerspiegeln.

Prinzipiell bedeutet das, dass an Inhalten immer auch grundlegende Fertigkeiten und Fähigkeiten im Sinne von Kompetenzen gelernt werden – umgekehrt es aber immer auch Inhalte und »Phänomene« braucht, die Kinder und Jugendliche herausfordern und an denen sie entsprechende Kompetenzen erlernen und erproben.

Außerdem ist zu fragen: Welche Kompetenzen können Schüler mit geistiger Behinderung begleitend zu den materialen Bildungsinhalten der Fächer erwerben, wie wären diese zu definieren und im Unterricht umzusetzen?

Zu nennen wären hier in Anlehnung an ein gängiges Modell von Handlungskompetenz (vgl. u. a. Bönsch et al. 2010, 48 ff.) zunächst Sach- bzw. Fachkompetenz, prozessbezogene oder Methodenkompetenzen, Selbstkompetenz und Sozialkompetenz.

Die Sach- bzw. Fachkompetenz bzw. die inhaltsbezogenen Kompetenzen beziehen sich auf die zentralen Inhalte des jeweiligen Faches. Sachkompetenz beinhaltet das Wissen und Reflektieren über Fakten, Zusammenhänge und Grundbegriffe, das Verständnis von Erklärungen, den sachgemäßen Gebrauch von Fachsprache und spezifischen Darstellungen. Dabei steht die Nutzung dieser Sachkompetenz im Rahmen lebensweltlicher oder fachlicher Problemsituationen im Mittelpunkt.

Prozessbezogene Kompetenzen sind Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für das Denken und Handeln im Kontext eines spezifischen Faches zentral sind. Für den Sachunterricht etwa sind dies das Umsetzen und Handeln, das Erkennen und Verstehen, das Evaluieren und Reflektieren, das selbstständige Arbeiten ebenso wie die Zusammenarbeit und das Kommunizieren mit anderen (vgl. GDSU 2013; Häußler 2023), für das Fach Mathematik prozessbezogene mathematische Kompetenzen wie Argumentieren, Probleme lösen oder mathematisch kommunizieren (vgl. KMK 2022b, 9 ff.; Schäfer 2020, 70 ff.). Prozessbezogene Kompetenzen sind sowohl fachspezifisch als auch fachübergreifend und werden in dieser umfassenden Bedeutung auch als Methodenkompetenz im Sinne des Aufbaus von Grundfertigkeiten und Verfahrensweisen bezeichnet. Die Einschulung von Arbeitstechniken im Sinne eines elementaren »Methodenlernens« (vgl. Klippert 2004; Klippert/Müller 2003) ist gerade für den Unterricht mit Schülern mit geistiger Behinderung von besonderer Bedeutung, wenn auch wahrlich nichts Neues – diese brauchen elementare Lernkompetenzen, wenn sie sich erfolgreich und möglichst selbstständig mit Lerninhalten auseinandersetzen sollen. Diese Kompetenzen müssen mit ihnen systematisch erarbeitet werden und betreffen die unterschiedlichsten Ebenen im Lernprozess. Hierzu zählen etwa folgende Fertigkeiten:

·

Arbeitsplatz herrichten, Arbeitsmaterialien nach Vorgabe holen, ihre Vollständigkeit mit Hilfe einer »Checkliste« prüfen

·

Umgang mit Schere, Papier, Kleber

·

Umgang mit Arbeitsblättern: Antworten ankreuzen, Lückentexte ausfüllen, Wort- bzw. Satz-Bild-Zuordnung

·

Arbeiten nach bildlichen/ggf. schriftlichen Vorgaben

·

Kenntnis von Regeln und Symbolen, die den Arbeitsprozess steuern

·

Anwendung von Lernkontrollen

·

Versprachlichen von Inhalten

·

Zuordnen von Text und Bild

·

Ergänzen einfacher Lückentexte

·

Unterstreichen von Schlüsselwörtern

·

Arbeit mit einem Partner/in der Gruppe, Kenntnis entsprechender Aufgaben, Regeln und Vereinbarungen.

Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung fußt ganz wesentlich auf derartigen Kompetenzen, die bei den Schülern allerdings nur selten vorausgesetzt werden können, sondern der sorgfältigen Einführung und intensiven Übung bedürfen. Was zunächst nach kleinschrittigem Methodendrill aussehen mag, ist letztlich die Voraussetzung für mehr Freiheit und Unabhängigkeit der Schüler von der Lehrkraft, da sie durch den Erwerb dieses Handwerkszeugs in die Lage versetzt werden, selbstständiger zu arbeiten. In diesem Zusammenhang kann man auch mit Recht behaupten, dass Unterricht für Schüler mit geistiger Behinderung in noch höherem Maße als an anderen Schularten von langfristiger Planung und dem kontinuierlichen Aufbau derartiger Lernkompetenzen lebt.

Komplexere und anspruchsvollere Methoden, die helfen, Informationen zu erfassen, zu strukturieren und zu behalten, gehören ebenso wie Planungsmethoden, Problemlösestrategien und Präsentationsmethoden sowie die jeweiligen fachspezifischen Arbeitsweisen in diesen Kontext.

Bezogen auf die Selbstkompetenz geht es um Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie Haltungen, welche das selbstständige Lernen unterstützen. Um den eigenen Lernprozess zu planen, zu strukturieren und zu reflektieren, werden metakognitive Fähigkeiten benötigt. Wochenpläne (▸ Kap. 11) sowie Selbstkontrollen für die reflektierte Einschätzung der eigenen Leistung sind für deren Aufbau hilfreich. Zur Selbstkompetenz gehört weiterhin, die eigene Motivation aufrechtzuerhalten und angesichts von Hemmnissen und Misserfolgen nicht zu resignieren. Schülerinnen und Schüler beim Aufbau selbstregulierten Lernens zu unterstützen, ist die zentrale Herausforderung des kompetenzorientierten Unterrichts gerade im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung.

Sozialkompetenz beinhaltet Fähigkeiten, welche aus einem sonderpädagogisch akzentuierten Unterricht seit jeher eigentlich nicht wegzudenken sind: Hierzu gehören etwa die Bereitschaft und Fähigkeit, auf andere einzugehen, konstruktiv im Team zu arbeiten, mit Konflikten umgehen zu können, Verantwortung zu übernehmen und einander zuzuhören. Diese Kompetenzen können im Unterricht beispielsweise durch kooperative Lernformen (▸ Kap. 9) angebahnt und gefördert werden.

In diesem Buch finden sich derartige (und weitere) Kompetenzen an verschiedenen Stellen:

Überfachliche Kompetenzen

Beispiele der Realisierung

Fach- bzw. Sachkompetenz

·

Bildungsgehalte, elementare Konzepte und Grundbegriffe

·

Fachsprache und Fachbegriffe

Prozessbezogene Kompetenzen/‌Methodenkompetenz

·

Konzept des planvollen Handelns (»Kognitive Strukturen«)

·

Aktiver Wissens­‌erwerb durch Methodenschulung (»Erarbeitungs­‌phase«)

·

Fachspezifische kompetenzorientierte Lernaktivitäten (z. B. Deutsch: Lesekompetenz; Mathematik: Darstellungen verwenden; Sachfächer: fachspezifische Arbeitsweisen)

·

Arbeitstechniken wie Schneiden, Kleben ...

Selbstkompetenz

·

Reflexions­‌phasen in verschiedenen Unterrichtsmodellen

·

Nutzung von Planungs­‌instrumenten (z. B. im offenen Unterricht)

Sozialkompetenz

·

Sozialformen des Unterrichts (»Soziale Strukturen«)

·

Rollenspiel (Darstellungs­‌einheit) – Bewertung von Handlungs­‌alternativen

Eine wichtige Aufgabe der Didaktik für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung könnte es sein, die für die Fächer formulierten und in die Lehrpläne eingearbeiteten fachbezogenen und überfachlichen Kompetenzen zu beleuchten und in ihrer Bedeutung und Wirksamkeit für die eigene Disziplin auszuwerten. Dies wird im Abschnitt zu den fachspezifischen Artikulationsmodellen versucht.

Auch hier haben wir es demnach wieder mit der Aufgabe der Strukturierung zu tun: Die Lernprozesse als formale Seite des Bildungs­‌prozesses (vgl. die Spalte »Kompetenzorientierte Lernaktivitäten« in ▸ Tab. 1) müssen so strukturiert werden, dass Schüler mit geistiger Behinderung sie sich aneignen und im Umgang mit ihnen allmählich zu größtmöglicher Selbstständigkeit und Handlungs­‌kompetenz gelangen können, indem ihnen hierfür entsprechende (wiederum reduzierte und strukturierte) Methoden an die Hand gegeben werden. Methodisch gehandelt wird dabei sowohl auf der Seite des Lehrenden, der einen Lerngegenstand strukturiert aufbereitet, als auch auf Seiten des Lernenden, der sich mit Hilfe entsprechender Strategien bzw. fachspezifischer oder fachtypischer Arbeitsweisen (die ihm zuvor vermittelt werden müssen) im Unterricht Inhalte erschließt. Die Anbahnung derartiger formaler Kompetenzen bedarf gerade bei Schülern mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung großer Sorgfalt und Ausdauer.

Deren Vermittlung kann demnach wirkungsvoll dazu beitragen, im Unterricht übergeordnete Zielsetzungen zu realisieren – für die Geistigbehindertenpädagogik wären dies z. B. möglichst weitgehende Selbstständigkeit, Lebens­‌orientierung, Sozialkompetenz und Persönlichkeitsbildung (vgl. Speck 2005, 179 ff.). Wie aber kann ein solches Unterrichtsverständnis konkret aussehen?

Kompetenzorientierter Unterricht geht von einer Kompetenzerwartung an einzelne Schüler bzw. eine Lerngruppe in einer konkreten Situation aus. Dabei sollen die Aufgabenstellung des Unterrichts und die angebotenen Lernmaterialien die Lernenden in einen handelnden Umgang mit Wissen bringen. Damit steht nicht der Erwerb von Wissen um seiner selbst willen im Mittelpunkt, sondern dessen Anwendung in einer lebens­‌weltlichen oder fachlichen (Problem-)‌Situation. Hierzu könnte man viele Fragen stellen – z. B. die, ob Wissen nur unter Anwendungsgesichtspunkten bedeutsam ist oder ob Unterricht immer problemorientiert sein muss? Andererseits: Ging es im Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung nicht schon seit jeher um Handlungs- bzw. Problemorientierung? Zur Debatte steht also nicht ein völlig anderer Unterricht als bisher, sondern eine Neu-Gewichtung der Bildungsaspekte von Unterricht.