Vardari - Silberkehle (Bd. 2) - Siri Pettersen - E-Book

Vardari - Silberkehle (Bd. 2) E-Book

Siri Pettersen

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Beschreibung

Die lang ersehnte Fortsetzung von "Vardari" von "Rabenringe"-Autorin Siri Pettersen! Juva ist für ihr Leben gezeichnet – von Gríf, dem Teufel selbst. Nach seiner Flucht aus Náklav sollten die Vardari sterben und die Stadt endlich von der Wolfskrankheit befreit sein, doch Juvas Plan ist gescheitert: Die Seuche breitet sich immer weiter aus. Gefangen zwischen einem untätigen Stadtrat und dem verzweifelten Kampf der Ewigwährenden um die letzten Tropfen Blut muss Juva sich mit einem fanatischen Priester verbünden, um Náklav vor einem Krieg zu bewahren. Doch bald ahnt sie, dass sie den falschen Personen vertraut hat – und dass die von Gríf hinterlassene Narbe tiefer ist, als sie jemals geglaubt hätte …

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Seitenzahl: 589

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Siri Pettersen

Vardari – Teil 2

Silberkehle

Aus dem Norwegischen von Dagmar Lendt und Dagmar Mißfeldt

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Sølvstrupen im Gyldendal Norsk Forlag, Oslo.

 

Die Übersetzung wurde gefördert von NORLA, Norwegian Literature Abroad.

 

© Atrium Verlag AG, Imprint Arctis, Zürich 2024

Alle Rechte vorbehalten

© Siri Pettersen 2024 by Agreement with Grand Agency

Übersetzung: Dagmar Mißfeldt und Dagmar Lendt

Lektorat: Maike Frie, Münster

Covergestaltung: Siri Pettersen

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03880-150-4

 

www.arctis-verlag.com

Folgt uns auf Instagram unter www.instagram.com/arctis_verlag

 

 

 

Für Großmutter,

die es vielleicht noch schafft, dies zu lesen,

obwohl sie ihre letzte Nacht kommen sieht, jede Nacht, seit drei Jahren.

 

 

 

Und für dich. Für euch, die ihr wütend seid. Für euch mit dem Knoten im Herzen, unlösbar stramm vor lauter Zorn, weil euch Unrecht geschehen ist, das Worte nicht wiedergutmachen können.

 

Für euch, die ihr all eure Kraft dafür opfern müsst, die giftige Wut zu besiegen, an jedem neuen Tag, den ihr erwacht. Dies ist euer Buch.

Im Keller

Juva zog am Hebel und hörte, wie die Armbrust mit beruhigendem Klicken aufklappte. Sie drückte den Kolben an die Brust, bereit zu reagieren. Lauschte.

Das Totenhorn ließ seine düstere Warnung über Náklav erschallen, und direkt hinter ihr kamen die Männer wieder zu Atem, aber ansonsten war es beunruhigend still auf der Straße. Kein Weinen, keine entsetzten Schaulustigen, keine Rufe aus den Fenstern. Nicht einmal Betrunkene auf dem Heimweg durch die dunkle Sommernacht.

Die prächtigen Steinhäuser drängten sich dicht an dicht um die Spitze der Königskuppe, so hoch hinauf, wie es möglich war, ohne die Náklaborg zu stören. Nichts deutete darauf hin, dass diese wohlhabende Gegend jemals von Wolfskranken belästigt worden war.

Sie fühlte, wie Skarr mit seinem gelben, furchtlosen Wolfsblick zu ihr aufsah, aber sie spürte keine Bedrohung, nur die Gewissheit, dass etwas kommen würde. Die Herzschläge pochten ihre ewige Warnung: Warte nur … warte nur … warte nur …

Juva beugte sich zu Nolan. »Sind wir hier richtig?«

Nolan kramte den allzu einfachen Stadtplan hervor. »Obere Königskuppe 9. Der Läufer kam direkt vom Wachhäuschen, bei der ersten Warnung. Sie machen sich selten vor der dritten auf den Weg.«

Sie betrachtete das Haus, das sich vor ihnen erstreckte. Ein altes Prachtgebäude, geschützt hinter einer Mauer mit Torbogen. Dort gab es sogar einen Innenhof. Sie schnappte sich die Karte von Nolan und drehte sie in der Hand. Name und Ort waren im Wachhaus eilig hingekritzelt worden.

»Girding?«

Nolan sah sie an, als hätte sie ihren eigenen Namen vergessen. »Gisting. Hjarn Gisting. Reichsratsherr, Juva.«

»Auch das noch«, murmelte Lok.

Juva spähte durch das Tor hinein. Wenn der Reichsratsherr die Wolfsseuche im Haus hatte, ging das ungewöhnlich leise vor sich.

»Falscher Alarm?«, fragte sie, hielt es jedoch für unwahrscheinlich. Fehlalarme waren selten.

Hanuk stieß sein heiseres Lachen aus, bei dem sie immer an eine Elster denken musste. »Vielleicht haben sie den Kranken bestochen, damit er woanders hingeht?«

Lok stimmte prustend ein. »Oder sie haben ihm einen Sitz im Reichsrat gegeben. Den Unterschied würde sowieso keiner merken.«

Juva warf ihm einen schnellen Blick zu. Lok war immer bereit, Tritte gegen die Obrigkeit auszuteilen, gegen Geld und Macht, aber nichts davon konnte die Wolfsseuche aufhalten. Sie spürte eine wachsende Unruhe.

»Oder sie sind alle tot«, sagte sie.

Die Stimmung wurde wieder ernst, wie bei einer Stürzung. Nolan blickte zurück. »Wo zur Gaula bleiben die?«

Lok rieb sich mit den Fingerknöcheln die Augen. »Ich verstehe nicht, wieso Motte nicht bei uns oder Broddmar einzieht, das würde alles einfacher machen.«

»Das liegt an seiner Schwester«, antwortete Nolan. »Sie hält uns für Teufelsanbeter.«

»Uns?« Juva sah ihn an. »War sie nicht mit diesem Trottel zusammen, der im Mittwinter mit uns in Svartland war? Der Blutschmuggler, der sich eine Flasche ums Bein gebunden hatte?«

Nolan grinste höhnisch und zeichnete sich einen Jólsring auf die Brust. »Sie ist wiedergeboren, habe ich gehört. Hat erneut das Wasser genommen und ist sündenfrei geworden.«

Juva verdrehte die Augen und sah, wie jemand aus einem Fenster direkt über ihr schaute. Eine Tür wurde abgeschlossen. Jemand klopfte nervös bei einem Nachbarn. Das war das Geräusch von gestörter Nachtruhe. Das Gerücht über die Jäger würde sich in der Straße verbreiten, zusammen mit der erschütternden Erkenntnis: Diesmal sind wir dran.

Sie hörte Laufschritte und ergriff mit beiden Händen die Armbrust, aber es waren nur Broddmar und Motte, die auf sie zugerannt kamen. Motte wischte sich den Schweiß von der Glatze und rang nach Luft. »Das ist … ganz oben, Mann …«

»Zu viele Treppen?«, fragte Nolan mit vorgetäuschter Unschuld.

Broddmar warf ihm einen schrägen Blick zu. »Ich bin schon alle Treppen in Náklav hochgelaufen, da warst du noch nicht mal geboren, Jungchen.«

Juva schlüpfte durchs Tor und sah sich im Hof um. Sie ließ die Finger über den Schaft gleiten und vergewisserte sich, dass der Bolzen richtig im Lauf lag.

Broddmar kam zu ihr. »Hast du etwas wahrgenommen?«

»Dann hätte ich nicht gezögert.« Sie ging zur Tür und klopfte mit dem Türklopfer an.

Ein Mann in doppelreihiger Weste öffnete, sichtlich erleichtert. Sie kannte diesen Blick gut, die falsche Sicherheit, an die er sich klammerte, als hätte allein schon ihr Anzug die Macht, ihn vor der Wolfsseuche zu retten. Eine dünne, abgenutzte Lederschicht gegen puren Wahnsinn.

Er trat einen Schritt zur Seite und ließ die Besucher ein. »Willkommen! Der Herr wird euch baldigst empfangen.«

Baldigst?

»Tote oder Verletzte?«, fragte Juva und betrat die Halle.

»Nein, bewahre, so schlimm ist es nicht!« Sein Blick wanderte über ihren roten Anzug. »Zumindest noch nicht.«

Juva schlug ihre Kapuze zurück und sah sich um. Eine Treppe schwang sich vom oberen Stockwerk herab, und mehrere Bogengänge machten deutlich, dass es mehr als genug Stellen gab, von denen aus man angreifen konnte. Der Raum war kostbar dekoriert, allerdings mit nichts, was groß genug war, um sich dahinter zu verstecken. Vor einer Wand stand ein Zeugnis des Wohlstands, ein Kabinettschrank aus Holz mit einer Uhr. Sie hatte ein eingebautes Stundenglas, als ob der Besitzer dem Uhrwerk allein nicht traute.

Hanuk hob die Hand, um die Uhr zu berühren. Juva räusperte sich, und er ließ es sein. Sie gab den Männern ein Zeichen, und sie verteilten sich, um sicherzugehen, dass sich im Schatten der Bogengänge keine Kranken verbargen.

Ein Mann im weißen Hemd betrat den Raum. Sein Haar war von grauen Strähnen durchzogen, und er umklammerte einen Feuerhaken. »Gepriesen sei Jól, ihr seid es!«

Er streckte die Hand nach einer Frau und einem Mädchen aus, die in der Türöffnung zögerten. Sie waren gut gekleidet und offensichtlich bereit, das Haus im Nu zu verlassen. »Ich bin Hjarn Gisting, das sind meine wunderbare Gattin Auga und meine Enkeltochter Brina. Und ihr seid die berühmten Jäger? Náklavs Ausbluter, oder seid nur ihr zwei Rotgekleideten diejenigen, welche …?«

Er blickte abwechselnd zu ihr und Broddmar, als erwartete er eine förmliche Vorstellung. Juva merkte, wie ihre Geduld sich dem Ende näherte. »Bist du wolfskrank, Hjarn?«, fragte sie in der Hoffnung, seinen Tatendrang zu wecken.

»Nein! Nein, natürlich nicht«, antwortete er entrüstet und zeigte mit dem Feuerhaken auf eine Tür unter der Treppe. »Sie ist im Weinkeller eingesperrt. Sie kann keinen Schaden anrichten.«

»An Menschen«, kam es von seiner Frau. »Die Weine sind ein Vermögen wert.«

Juva ging zur Holztür und legte ihr Ohr daran. Sie hörte nichts, wusste jedoch, dass die Stille trog. Etwas schmiegte sich wie Eisnebel um ihr Herz. Die Männer scharten sich um sie, und sie nickte ihnen diskret zu, um das Gefühl zu bestätigen.

»Wer ist sie?«, fragte Broddmar.

Auga hielt dem kleinen Mädchen die Ohren zu, bevor sie antwortete. »Niemand hat jemals Blutperlen in diesem Haus genommen! Wir hätten sie nicht eingestellt, wenn wir geahnt hätten … Mildre ist Köchin, sie hat den besten Ruf und macht die herrlichste Schlosstorte …«

»Ist sie allein?«, fiel Juva ihr ins Wort. Sie wollte keine Details hören. Je mehr sie wusste, desto schlimmer. Jetzt musste sie nicht irgendeine Wolfskranke töten, sondern Mildre, die Meisterin der Schlosstorte.

Hjarn stellte den Feuerhaken an der Wand ab. »Dort unten ist weiter niemand. Ich habe bis spät gearbeitet, es sind … schwere Zeiten. Die Ringgarde presst den Leuten Geld und Blut ab, und der Stadtrat hat kürzlich ein Mitglied an die Wolfsseuche verloren, es gibt fast keine Grenzen mehr.« Juva las eine stumme Anklage in seinem Blick, ehe er fortfuhr. »Ich hörte Lärm und ging aus dem Arbeitszimmer, und … Ja, da habe ich sofort gesehen, dass etwas nicht stimmte. Sie schwitzte und …«

Er schluckte. »Die Zähne, nicht wahr? Sie rüttelte an der Tür wie eine Besessene, also schob ich ihr den Schlüssel zu, flach über den Boden. Anscheinend war das alles, was sie wollte, sie wollte dort hinunter, das ist das Merkwürdigste … Ja, und sobald sie unten war, habe ich abgeschlossen, natürlich.«

»Wie sieht es dort unten aus?«

»Oh, weißt du, der Keller liegt in der eigentlichen Königskuppe-Mauer, er ist also alt, tatsächlich aus dem zehnten Jahrhundert, mit recht schön gewölbten Decken, die …«

Juva war kurz davor, aufzugeben. »Räume! Wie viele Räume? Gibt es Fenster, durch die man fliehen kann? Möglichkeiten, sich zu verstecken? Dinge, die als Waffe benutzt werden können?«

»Ah, ich verstehe … Am Ende der Treppe ist ein Gang, mit einem Vorratsraum an der einen Seite und dem Weinkeller an der anderen. Der Weinkeller hat etwa die Größe dieser Halle, ist aber in Verschläge unterteilt, ich sortiere die Weine gerne danach, aus welcher Region sie …« Er fing ihren Blick auf und fügte eilig hinzu: »Aber keine Waffen, natürlich.«

Abgesehen von den Flaschen.

Skarr schwänzelte an dem Diener vorbei, der mit einem Aufjapsen zurückwich. »Ich hole die Laternen«, piepste er. Das war das Vernünftigste, was bisher gesagt worden war.

Das Mädchen ging ein paar Schritte auf Juva zu. »Wirst du Mildre töten?«

»Nein, natürlich nicht!«, erwiderte Auga und legte ihr den Arm um den Oberkörper. Sie sah Juva mit mahnendem Blick an. »Nicht wahr?«

Juva schaute auf Brina hinunter. Die Lüge wäre den meisten leichtgefallen, das wusste sie. Aber die waren auch nicht bei Blutleserinnen aufgewachsen und ihr Leben lang angelogen worden.

»Deine Großmutter hat recht«, sagte Juva. »Mildre gibt es nicht mehr. Was wir töten werden, ist etwas ganz anderes.«

Das Mädchen starrte zur Großmutter hoch, als wartete sie darauf, dass jemand die unverhohlene Wahrheit korrigierte, aber das geschah nicht.

Der Diener kam zurück, machte einen großen Bogen um Skarr und reichte Nolan und Lok je eine Laterne.

Juva drehte den Schlüssel um und öffnete die Tür. Skarr starrte hinunter ins Dunkel und begann zu knurren. Sie brauchte ihn nicht, um Wolfskranke zu finden, das schaffte sie selbst inzwischen besser, aber er war ein Beweis, den die Leute verstanden. Und ein loyaler Freund, der ihr seit dem Yra-Rennen kaum von der Seite gewichen war. Seit ihm.

Sie befestigte die Leine an seinem Geschirr und reichte dem Diener die Handschlaufe. »Halte ihn fest, während wir unten sind. Und er ist stark …«

Der Mann wurde blass, als hätte sie ihn aufgefordert, von der Götterbrücke zu springen, aber er nahm die Leine entgegen und hielt sie am ausgestreckten Arm.

Juva ging ein paar Stufen hinunter. Die Treppe verlief in einem engen Bogen, der das Licht der Laternen verschluckte. Sie hob die Armbrust vor den Oberkörper. Die Bewegung verursachte ein Ziehen in ihrem Brustkorb, in der Narbe der Wunde, die er ihr mit seinen Klauen geschlagen hatte, bevor er für immer verschwand.

Sie biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf die Angst. Die war willkommen, auf die konnte sie sich verlassen. Ein pulsierendes Lebenszeichen in dem Abgrund, in dem sie ansonsten lebte. Juva ging weiter hinunter, lautlos und lauschend. Die Ungewissheit war immer das, was am meisten an ihr nagte. Nie zu wissen, was sie erwartete. Es konnten Alte, Junge, Verwirrte oder Bestien sein …

»Rechnet mit dem Schlimmsten«, flüsterte sie. Nolan war so dicht hinter ihr, dass sie fühlen konnte, wie er sich wappnete. Eine warme und sichere Wand von Männern in ihrem Rücken. Die besten.

Mit jeder Stufe wurde es kühler, bis sie den Fuß der Treppe erreicht hatte. Sie schritt über eine zerbrochene Weinflasche und wandte sich in Richtung des einzigen Geräuschs, das sie hörte. Ein leises Schmatzen. Als würde jemand durch Schlamm waten. Aber in dem Labyrinth aus Regalen war niemand zu sehen. Wand um Wand aus Flaschen glänzte um sie herum, und ein intensiver Geruch nach vergorenen Beeren erfüllte den Keller. Auf ihr Zeichen hin verteilten sich die Männer nach beiden Seiten.

Der Raum schien sich vor ihr zu verengen, als wollten die Wände sich um die Armbrust schmiegen. Die Waffe war alles, was existierte. Der Finger am Abzug. Die Bolzenspitze. Das Herz, das in ihrer Brust zitterte, als wäre es nackt der Kälte ausgesetzt. Das Gefühl war bei Weitem nicht so stark, wie wenn Ewigwährende in der Nähe waren, aber es war beunruhigender.

Das Geräusch wurde lauter. Sie war in der Nähe.

Juva blieb vor einem umgestürzten Regal stehen. Es lag mitten im Weg, auf einem Haufen Flaschen. Viele waren zerbrochen. Ein paar kleine Fässer waren geborsten wie Schädel. Sie konnte gerade noch verhindern, über eines davon zu stolpern. Ein dumpfes Geräusch direkt neben ihr verriet, dass Motte weniger aufmerksam gewesen war.

Das Schmatzen verstummte abrupt. Eine einsame leere Flasche rollte über den Boden.

Juva bedeutete Broddmar mit einer Kopfbewegung, ihr zu folgen, und schickte die anderen in die entgegengesetzte Richtung. Sie umrundeten das Regal von zwei Seiten und wären fast in sie hineingelaufen.

Mildre …

Die Frau saß in einer Lache aus Wein auf dem Fußboden und fraß an einem Knochen. Ihr wilder, wachsamer Blick wanderte von einem zum anderen, aber sie rührte sich nicht. Das Essen war wichtiger. Allem Anschein nach hatte sie versucht, den halben Keller leer zu trinken, ohne dass es ihren Hunger gestillt hatte.

Sie mochte Mitte fünfzig sein und trug eine Schürze, die von Wein durchtränkt war. Urplötzlich erkannte Juva, dass das, woran die Frau nagte, ihre eigene Hand war.

Broddmar griff nach Juva, als wollte er sie stützen, oder vielleicht auch sich selbst. »Was zur Dränke …«, flüsterte Motte. Lok wich zurück und erbrach sich. Mildre nagte weiterhin am Knochen, schmatzend wie ein Säugling an der Mutterbrust, offenbar empfand sie keinen Schmerz.

Juva riss sich zusammen und zielte mit der Armbrust auf Mildre. Der Bolzen zitterte im Visier, als sie abdrückte. Das Blut rauschte in ihren Ohren, und sie hörte ihren eigenen Schuss nicht. Mildre flog nach hinten und blieb mit gebrochenem Rückgrat auf einem Fass liegen. Das Blut von der Hand tropfte in den Wein auf dem Fußboden, sodass es aussah, als hätte sie unfassbar stark geblutet.

Juva holte Luft. Ihre Lunge brannte. Sie hatte für eine Weile vergessen, sie zu benutzen. Ihr Herz schüttelte den letzten Rest Frost durch die Kranke ab. Sie klappte die Armbrust zusammen, hängte sie an ihren Platz am Gurt und löste die Blutflaschen, die sie auf dem Rücken trug.

»Sie lebt!«, rief Motte.

Juva hob den Blick und sah, wie die blutige Hand sich in Broddmars Bein krallte. Sie ließ die Blutflaschen fallen und warf sich auf Mildre, die sich unter ihr wand. Broddmar versuchte fieberhaft, sein Bein zu befreien. Von der Treppe her kam ein Mordslärm. Etwas zerbrach. Jemand schrie. Juva tastete nach dem Messer in ihrem Gürtel, ohne das Gewicht von Mildre nehmen zu können, die unter ihr kämpfte. Einen Moment lang dachte sie, dass Mildre knurrte, aber es war Skarr. Ein Berg aus Fell und Muskeln kam angesprungen und stieß sie um. Juva kam auf die Beine und starrte den Wolf an. Er hatte sich in Mildres Kehle verbissen und hielt fest. Die Lefzen kräuselten sich, während er darauf wartete, dass die Gegenwehr erlahmte. Er hörte auf zu knurren. Ließ los und setzte sich, als wäre nichts geschehen. Seine Zunge leckte über die Zähne.

Juva sammelte die Blutflaschen auf, schnell, um dem Zittern zuvorzukommen, und Nolan half ihr dabei. Broddmar tat, als sei er damit beschäftigt, sein Bein zu überprüfen. Als hätten nicht alle längst begriffen, dass er keinen Mumm mehr für diese Arbeit hatte. Er war nicht mehr derselbe, seit er erkannt hatte, dass die Wolfskranken mit dem Blut dieses verdammten Teufels, den Juva aus der Gefangenschaft befreit hatte, eine Chance hätten haben können.

Nolan fesselte Mildres Füße und hievte sie sich über die Schulter. Er hielt sie so senkrecht, wie er nur konnte. Juva setzte die messerscharfe Tülle an Mildres Hals und stach sie hinein. Die lederne Blutflasche zwischen ihren Fingern wölbte sich langsam.

Lok stand da, die Hände auf die Schenkel gestützt, als sei er sich nicht sicher, ob er sich weiter übergeben müsse. Er hatte noch nie den Mumm für das hier gehabt. Wolf war Wolf, Mensch war Mensch, und damit, dass eins ins andere übergehen konnte, war er noch nie klargekommen.

Motte begann im Kreis zu gehen wie ein ruheloser Bär. Er fuhr sich mit der Faust über den blanken Schädel. Ihm reichte es. Ihnen allen reichte es. Juva konnte es kommen fühlen.

»Ist das hier unsere Schuld?«, fragte er schließlich. »Wie lange können sie noch weitermachen? Die Ewigwährenden sollten doch eigentlich alle tot sein!«

»Motte …« Nolans Stimme war eine Warnung, die Motte anscheinend nur noch verzweifelter werden ließ.

»Man wird doch wohl fragen dürfen! War das nicht der ganze Sinn und Zweck, warum die Kreatur nach Hause geschickt wurde? Sein Blut loszuwerden, damit die Ewigwährenden aussterben? Keine Ewigwährenden – keine Blutperlen, keine Blutperlen – keine Wolfskranken, aber so viele wie jetzt waren ja noch nie da!«

»Das braucht Zeit, Motte. Verstehst du?« Nolan stöhnte und verlagerte Mildres Beine an eine bessere Stelle. »Die sterben nicht über Nacht aus, und solange es ewigwährendes Blut gibt, werden sie es für Blutperlen benutzen. Der Mist ist viel zu gewinnbringend. Und selbst nachdem die Vardari krepiert sind, wird es seine Zeit dauern, bis der Schwarzmarkt trockengelegt ist.«

Lok richtete sich auf. »Trotzdem … Er hat ja nicht unrecht. Wie lange ist es her, seit …«

»Ich gehe hoch und sage Bescheid, dass die Gefahr vorbei ist«, warf Hanuk ein.

Juva spürte einen bitteren Geschmack auf der Zunge angesichts seines offensichtlichen Versuchs, das Thema abzuwürgen. Sie scheuten seinen Namen wie die Wolfsseuche, als würde er nicht ständig durch ihre Gedanken geistern.

Seit Gríf. Seit die Quelle des ewigen Lebens Náklav verlassen hat.

Sie zog die volle Blutflasche aus dem Hals der Leiche und trieb die nächste Flasche hinein. Sie war besser geworden. Konnte rasch wechseln, ohne viel zu kleckern.

»Hundertundzwei Tage«, sagte sie.

Niemand antwortete, es gab nichts zu sagen. Motte hatte recht. Lok hatte recht. Mutter war am achtzehnten Tag des Laichmonds gestorben, und seitdem hatten die Vardari keinen Tropfen seines Blutes mehr bekommen. Bestenfalls hatten sie noch ein halbes Jahr zu leben, und sterbende Ewigwährende hatten vermutlich ganz andere Dinge im Kopf als den Verkauf von Blutperlen.

»Also warum werden es bloß immer mehr?«, fragte Motte.

Juva verkorkte die Blutflaschen und schnallte sie sich auf den Rücken. Die Stadt war so voller Wolfskranker, dass man keine Wölfe brauchte, um den Náklaring zu betreiben. Die Portale funktionierten allein mit krankem Blut, das war die bittere Wahrheit, jetzt, da Wolfsblut genügen würde. Das hatte Nafraím selbst zugegeben.

Der einzige Trost war, dass dadurch die Wölfe verschont wurden, denn Juva hatte mit der Wolfsjagd abgeschlossen. Die Krankheit hatte nie etwas mit den Tieren zu tun gehabt. Aber sie war weiterhin in einer Jagdgruppe, nur jagten sie keine Wölfe mehr, sondern Menschen. Es gab genug Leute, die sich mit Blutperlen berauschten, obwohl sie wussten, dass sie davon wolfskrank werden konnten.

Aber nicht genug für das hier …

Sie begegnete Mottes bittendem Blick und wünschte, sie hätte eine Antwort für ihn. Dass sie sagen könnte, dies hier würde noch vor dem Herbst vorbei sein, aber sie hatte schon zu viel versprochen. Der ganzen Stadt.

»Es ist jedenfalls nicht unsere Schuld, Motte«, sagte Nolan und löste den Gurt um die Füße der Leiche. »Wir müssen damit rechnen, dass es sich verschlimmert, bevor es besser wird.«

Juva dankte ihm mit einem Blick, und er belohnte sie mit einem empfindsamen Lächeln, bei dem sie sich daran erinnerte, dass die Männer ihn gerne damit aufzogen, eitel zu sein. Was in ihrer Welt bedeutete, dass er gut roch und sich die Haare nicht selbst schnitt. Aber er war alles andere als eitel und hatte nie harte Arbeit gescheut. Mochte Jól wissen, warum er diese makabre Aufgabe übernahm, denn das Geld brauchte er nicht. Sie selbst brauchte es inzwischen auch nicht mehr, also hatten sie wohl denselben Grund. Es musste getan werden, und jetzt machte er es besser als Broddmar.

Juva hockte sich neben die Leiche und löste die Zange vom Gürtel. Lok stöhnte und drehte ihr den Rücken zu. Sie blickte zu Broddmar hoch, forderte ihn wortlos auf, zu protestieren, aber es war schon viele Tote her, dass er damit aufgehört hatte, sie zu schonen. Das hier war jetzt ihr Job.

Als sie den toten Kiefer öffnete, schlug ihr ein übler Geruch von rohem Fleisch und saurem Wein entgegen. Die Zunge schwamm in Blut. Nolan hielt den kraftlosen Kopf fest, während Juva die Reißzähne herausbrach. Der eine erforderte Kraft, er war noch nicht ganz ausgewachsen. Hatte sich nur unter dem Eckzahn hervorgezwängt, der an einem dünnen Hautfetzen hing.

Juva wickelte die Zähne in ein Taschentuch und steckte es in die Tasche.

Hanuk kam wieder herunter und kickte eine Weinflasche aus dem Weg. »Die Ringgarde ist hier«, sagte er, als wäre das Trampeln auf der Treppe zu überhören. Es war ein ganzer Trupp, der den Keller im Handumdrehen einnahm.

Broddmar tätschelte ihr den Nacken. »Ab hier übernehmen wir, geh nach Hause und leg dich schlafen.«

Sie antwortete nicht. Es fühlte sich nach zu wenig an, und es kam viel zu spät. Er belog sich selbst darüber, immer noch ein Fels zu sein.

Juva schluckte ihre Enttäuschung hinunter. Sie überließ die Aufräumarbeiten den Gardisten und ging nach oben, dicht gefolgt von Skarr. Mitten auf der Treppe lagen ein zerbrochenes Stundenglas und einige Zahnräder. Sie begriff, dass der Diener Skarr an der Uhr festgemacht hatte, um ihn nicht halten zu müssen. Juva seufzte und schaute hinunter auf den Wolf, der zurückschaute, und sie hätte schwören können, dass er die Schultern gezuckt hätte, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre.

Oben in der Halle fand sich die Bestätigung, ein Pfad aus Kleinholz von dem zertrümmerten Schrank zog sich über den Fußboden. Auga und das kleine Mädchen waren nirgends zu sehen, aber eine Handvoll Gardisten kümmerte sich um Hjarn. Falls es der Garde an Leuten mangelte, dann nicht auf der Königskuppe, so viel war sicher. Der Reichsratsherr starrte sie ratlos an. »Ich wusste nicht mal, dass sie trank …«

Juva ging hinaus auf den Hof. Dort warteten weniger Leute, als sie befürchtet hatte, im diesigen Licht des Wärmemonds, des einzigen Monats, der Sommer genannt werden konnte und der in Náklav jedes Zeitgefühl auslöschte.

Sie standen in Grüppchen um den schwarzen Leichenwagen herum und unterhielten sich leise. Müde. Ängstlich. Das Gemurmel verstummte, als sie Juva sahen. Sie wichen zurück und ließen sie zum Tor gehen. Starrten sie an. Starrten den Wolf an.

Juva zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht, fühlte sich aber dennoch nackt. Die Blutflaschen hingen wie warme Flügel auf ihrem Rücken. Eine Frau im Nachthemd hatte die Arme um ihren Oberkörper geschlungen, als müsse sie sich wärmen. »Du hast versprochen, dass das aufhört!«, rief sie.

Ihr Vorstoß ließ die anderen mutiger werden. »Die Vardari bestrafen uns!«, rief ein älterer Mann.

Juva kämpfte gegen die Übelkeit. Die Worte raubten ihr die Kraft, und erst da wurde ihr klar, wie wenig Reserven sie gehabt hatte. Ihre Füße wurden schwer, sie musste die letzten Kräfte aufbieten, um durchs Tor und hinaus auf die menschenleere Straße zu gelangen.

Die Vardari … Oh ja, sie würden die Leute bestrafen, daran bestand kein Zweifel. Vor allen Dingen sie.

Hundertundzwei Tage, seit sie Eydala oben am Náklaring getäuscht hatte. Als sie log und sagte, der Brief für Nafraím zeige den Weg zum Teufel, der Quelle ewigen Lebens. Was mit den beiden Ewigwährenden danach geschehen war, mochte Gaula wissen. Juva hatte von keinem der beiden je wieder etwas vernommen.

Gnädige Jól, lass sie tot sein.

»Juva!« Nolan kam durchs Tor gelaufen und blieb überrascht stehen, als er sah, dass sie nicht weit entfernt war. Er strich sich mit der Hand über den kurzen, frisch gestutzten Bart. »Bist du sicher, dass du für morgen keinen Begleiter brauchst?«

Juva wischte sich Blut von der Hand. »Skarr passt auf mich auf. Und wenn sie gewusst hätte, was ich getan habe, wäre ich jetzt tot. Es besteht keine Gefahr mehr.«

Er runzelte die Stirn, und ihr ging auf, dass er von etwas ganz anderem als von Eydala gesprochen hatte. »Ich meinte, beim Stadtrat. Sie stehen unter großem Druck, schwer zu sagen, was sie sich einfallen lassen.«

»Oh …« Sie lächelte, so gut es ihr möglich war. »Nun, sie sollten sich eher Sorgen darüber machen, was ich mir einfallen lasse. Gute Nacht, Nolan.«

Sie machte den Wolf los und ließ ihn vorauslaufen, die Straße entlang und die ewigen Treppen hinunter, bis sie nicht mehr über der Stadt war, sondern darin gefangen. Das Meer verschwand außer Sicht, und der Himmel wurde zu einem Streifen über den Gassen, hin und wieder unterbrochen von einer Gangbrücke. Mehrere davon waren so baufällig, dass sie jeden Tag einstürzen konnten. Aber so sahen sie schon lange aus.

Als sie sich der Laternenkoppel näherten, lief Skarr schneller. Der Wolf, der Broddmar gehört hatte, war jetzt ihrer. Er hatte mehrere Male versucht, das Tier zu sich nach Hause mitzunehmen, aber Skarr war immer wieder ausgerissen und bei ihr auf der Treppe aufgetaucht.

Juva kramte in ihrer Jackentasche nach dem Schlüssel. Die Tür wurde abrupt aufgerissen, und Kefla stand vor ihr und zog einen Schmollmund. »Du kommst spät«, sagte das Mädchen und stemmte die Hände in die Seiten. Juva drängte sich an ihr vorbei ins Haus. »Was machst du denn, Kefla? Du kannst nicht jedem einfach öffnen. Denkst du nicht nach?«

Kefla schlug die schmiedeeiserne Tür zu, dass das Singen des Metalls die düstere Diele erfüllte. »Na, hör mal! Ich habe Skarr gespürt, ich wusste, dass du es bist!«

»Das kannst du nie wissen, wie oft soll ich dir das noch sagen? Muss ich dich erst rauswerfen?«

Sie bereute ihre Worte noch im selben Moment. Kefla zog eine Flunsch, aber ihre Augen verrieten die Angst. Juva schnallte die Gurte ab und fing die Armbrust und die Blutflaschen auf, bevor sie zu Boden fallen konnten. Sie schälte sich aus dem roten Anzug und warf ihn über das schwarze geschnitzte Treppengeländer. »Es ist nicht sicher hier, das weißt du.«

Kefla schniefte. »Du hast eine Tür aus Eisen! Du hast alle Fenster vernagelt, bis auf die zum Meer, und du hast einen Wolf! Wo sollte es wohl sicherer sein?«

»Du musst vorsichtiger sein, Kefla. Das ist es, was ich gemeint habe.«

Kefla warf die Haare zurück und schmollte. »So vorsichtig wie du? Nachts durch die Stadt streifen, Wolfskranke töten, immer allein sein … Die Art von Vorsicht?«

Juva suchte nach einer guten Antwort. Kefla hatte einen schärferen Verstand als bei einer Zwölfjährigen üblich, geschult durch die Jahre auf der Straße.

»Ich bin nicht allein, ich habe Skarr und die Jagdgruppe. Und ich habe gelernt, Ewigwährende zu erkennen. Das hast du noch nicht.«

»Hab ich wohl! Genauso gut wie du!«

Juva seufzte. »Aber du kennst den Unterschied nicht. Du weißt nicht, wer …« Sie unterbrach sich.

Wer das Ungeheuer Eydala ist.

Warum hatte das makabre Weibsbild sie noch nicht verfolgt? Nafraím musste doch alles erzählt haben, über den Brief und über Gríf, den er mit eigenen Augen hatte die Welt verlassen sehen. Hatte der Blutmangel sowohl Nafraím als auch Eydala schon dahingerafft? Oder hatten sie sich gegenseitig umgebracht, bevor Eydala die Wahrheit erfahren konnte? Juva klammerte sich an den Gedanken, aber sie wusste, wenn sie das glauben würde, sähe ihr Leben ganz anders aus. Und sie würde nachts schlafen.

Sie ging in die Bibliothek, goss sich ein Glas Roggenschnaps ein und ließ sich aufs Sofa fallen. Skarr machte es sich zu ihren Füßen bequem. Sein Fell glühte in der Mitternachtssonne, die Flecken von Licht durch die Sprossenfenster warf. Draußen schlugen die Wellen an die Klippen und verstärkten das Gefühl, das sie schon immer in diesem Raum gehabt hatte: an Bord eines Schiffes zu sein.

Das Leichenholz glomm im Kamin, und gleich daneben stand der Tisch, an dem die Toten gesessen hatten wie Puppen. Solde, Ogny und die anderen Blutleserinnen. Nafraíms Untat. Und an der Schornsteinwand stand der Schrank mit dem lächerlichen ausgestopften Raben, der aus Runen weissagte. Der Schrank, der den Schacht hinunter zur jahrhundertealten Sünde der Familie verborgen hatte.

Gríf.

Ein Denkmal des Betrugs. Und ihrer eigenen Dummheit.

Juva leerte das Glas mit Roggenschnaps und stellte es auf dem Tisch ab. Seit seinem Verschwinden war sie nicht mehr unten gewesen. Kein einziges Mal. Was sollte sie auch dort? Wie ein Dummkopf in Erinnerungen an all das schwelgen, worüber sie gesprochen hatten? Den Verrat erkennen? Seinem Geruch nachspüren?

Eine Bewegung ließ sie zusammenzucken, und sie begriff, dass sie eingenickt war. Instinktiv langte sie nach der Armbrust, aber es war nur Kefla, die zu ihr aufs Sofa kroch. Juva legte den Arm um den schmächtigen Körper des Mädchens und murmelte: »Wir können morgen rausgehen und uns mit den anderen treffen.«

»Sicher? Versprichst du das?«

»Nach der Sitzung. Ich verspreche es«, antwortete Juva, obwohl sie sich geschworen hatte, nie mehr etwas zu versprechen.

Opferlamm

Die Stimme des Stadtratsvorsitzenden war gewichtig. Sjur Skattanger war es gewohnt, dass man ihm zuhörte, selbst wenn alles, was er sagte, überflüssig war.

Juva betrachtete sein ausdrucksloses Gesicht, während er die Liste der Getöteten herunterleierte, als würde es ihn langweilen. Name für Name. Wolfskranke, die sie getötet und ausgeblutet hatte. Opfer, die sie nicht hatte retten können. Für ihn waren das nur Fälle, für sie waren es Erinnerungen. Sie brauchte keine Aufzählung als Gedächtnisstütze.

Langsam bereute sie, dass sie beschlossen hatte zu stehen, am Fußende des lächerlich langen Tisches, aber sie hatte gedacht, es würde schnell gehen. Ihre Forderungen waren einfach: ein anständiger Lohn für die Männer und eine Säuberung der anrüchigsten Orte, an denen immer noch Blutperlen verkauft wurden. Das war alles. Aber wie es aussah, war sie aus anderen Gründen hier, als sie gedacht hatte.

Es war das erste Mal, dass man sie in diesem Raum empfing, und das war kaum Zufall. Der Saal war so hoch, dass sich hier jeder klein und unbedeutend vorgekommen wäre. Die Säulen waren mit Mustern verziert, die es schwer machten, sich zu orientieren. Der Fußboden bestand aus strahlend weißem Aderstein, glänzend und makellos, und jedes Wort hallte von den Wänden wider. Das hier war auch nicht das übliche Gremium, sondern fast der halbe Stadtrat, über zwanzig Frauen und Männer mit grimmigen Gesichtern.

Dies war keine harmlose Berichterstattung. Man wollte etwas von ihr, und die Ungewissheit kribbelte ihr im Nacken.

Sie faltete die Hände im Rücken, um nicht mit den Fingern zu trommeln. Die anderen Stadträte saßen da, als würden sie über ihren Spiegelbildern in der blank polierten Tischplatte dösen. Sogar Drogg vermied es, sie anzusehen. Der massige Mann hätte ihr durchaus einen Wink geben können, was ihr bevorstand, aber sie setzte in niemanden mehr hohe Erwartungen.

Trotzdem … Sie hatte ihm aus der Lüge herausgeholfen, mit der ihre Mutter ihn gelähmt hatte – dem Glauben, dass jeder Herzschlag, den er vergeudete, sein Leben verkürzte, weshalb er kaum gewagt hatte, sich zu bewegen. All das, um einen konstanten Geldfluss von einem Mann zu sichern, der das ständige Bedürfnis verspürte, sich zu vergewissern, wie lange er noch zu leben hatte. Wie herzlos, selbst für Lagalune.

Blutleserin. Schwindlerin. Mutter.

Der Stadtratsvorsitzende legte das oberste Blatt zur Seite und fuhr mit dem nächsten fort. »Vigda Renne, siebenundzwanzig, Pissvei. Genickbruch. Kol Herstein Skjegge, zweiundvierzig, Zungenspalt. Schuss mit Armbrust …«, er unterbrach sich und blickte sie über seine Brille hinweg an, »… in die Kehle.«

Er versuchte, sie in die Defensive zu drängen, das hätte sie selbst dann begriffen, wenn sie nicht bei Blutleserinnen aufgewachsen wäre. Juva rief sich in Erinnerung, dass er tatsächlich ihre Zustimmung brauchte, um Erfolg zu haben. Sie reckte das Kinn und fügte hinzu: »Und mit einem Messer im Rücken, wenn ich mich recht erinnere. Seinem eigenen.«

Der Vorsitzende legte die Papiere weg und stieß ein gekonntes Seufzen aus. »Juva Sannseyr, ich will hoffen und glauben, dass wir nicht betonen müssen, dass man auf der Straße keine Leute …«

»Wolfskranke.«

»… mit der Armbrust erschießen kann. Der Zungenspalt ist keine Gegend, in der man bereit ist, sich an dergleichen zu gewöhnen.«

»Wo ist man denn bereit, sich an dergleichen zu gewöhnen?«

Das Gesicht des Vorsitzenden zog sich noch eine Idee mehr zusammen. So tief, wie seine Mundwinkel hingen, konnte man sich nur schwer vorstellen, dass er jemals gelächelt hatte. »Junge Frú Sannseyr, du hast im Náklaring auf dem Balkon gestanden – vor der halben Stadt – und versprochen, dass mit der Wolfsseuche Schluss sein wird. Das ist über drei Monate her, und jetzt ist es schlimmer denn je! Findest du es verwunderlich, dass die Leute das Vertrauen in die Jäger verloren haben? In die Seidagilde?«

Und in euch.

Juva verkniff sich die Bemerkung. Er hatte recht, trotz allem. Die Stadt kochte, und alles, was sie tun konnte, war warten. Und aushalten. Ohne jemals darüber sprechen zu können, warum sie wusste, dass es enden würde.

Weil die Wolfsseuche durch Blutperlen verursacht wird, die von den Vardari stammen, die wiederum vom Blut eines unsterblichen Mistkerls mit Reißzähnen lebten, den wir nach Hause geschickt haben, wo zur Dränke das auch immer sein mag.

Dass die Wolfsseuche diejenigen traf, die Blutperlen nahmen, bezweifelte niemand. Aber den Rest … Man würde sie für verrückt halten, und das war eine Realität, mit der sie und die Männer leben mussten. Sie hatten den Vardari ein Ende bereitet, und niemand würde ihnen jemals dafür danken.

Juva stemmte die Hände auf den Tisch und beugte sich vor. »Es ist schlimmer denn je, weil die Leute glauben, an allem sei die Wolfsseuche schuld. Jeder Einbruch, jede Schlägerei, jeder betrunkene Trottel oder arme Irre auf den Straßen, alles ist die Seuche! Und ihr glaubt, es ginge nur darum, die Toten zu zählen, aber viele der Reißzähne, die wir gesammelt haben, stammen von Ewigwährenden. Vardari, getötet von anderen Vardari. Sie wissen, dass Náklav kein sicherer Hafen mehr für sie ist, deshalb bekämpfen sie einander, und ja, es wird schlimmer, bevor es besser wird! Bis es so weit ist, haben wir Jäger, die …«

»Vardari?!« Der Ausruf kam von einer Frau an der Längsseite des Tisches. Sie verdrehte die Augen zum Himmel, als suchte sie Unterstützung von oben. »Dann reden wir also wieder von diesen Allmächtigen und Unsterblichen?«

Schlecht verhohlenes Gekicher lief um den Tisch, aber der Stadtratsvorsitzende hielt sich im Zaum, das musste man ihm lassen.

Er schob die Papiere beiseite. »Juva Sannseyr, deine famose Rede beim Yra-Rennen war eine Katastrophe, daran besteht kein Zweifel. Nicht nur stiftest du Verwirrung in Náklav darüber, was die Seidagilde ist und sein soll, du versprichst auch das Ende der Wolfsseuche und kommst mit einer schwülstigen Kriegserklärung an ein Fantasiegebilde. Eine Verschwörung von ewigen Gesetzlosen, die weder nachgewiesen noch anerkannt sind. Aber die Konsequenzen sind es! Deine Wahnvorstellungen haben den Leuten einen Hang zum Fanatischen gegeben! Jetzt glauben etliche von ihnen, dass es die Vardari gibt und dass …« Sjur drehte sich zum Protokollführer um. »Nicht mitschreiben, Mann!«

Der Protokollführer ließ den Stift fallen, als hätte er sich verbrannt. Der Vorsitzende seufzte und sah wieder Juva an. »Sie glauben, dass es die Vardari gibt und dass der Rat der Stadt nichts unternimmt, um das Problem zu lösen.«

»Was ihr ja auch nicht tut.«

Juva konnte hören, wie er Luft holte, obwohl das Ende des Tisches ein gutes Stück entfernt war und obwohl ihre Worte weit zahmer ausfielen, als die Ratsmitglieder verdienten. Sie hätte ihnen brennend gerne aufgezählt, was sie alles versäumt hatten zu unternehmen, aber das hätte wahrscheinlich alles nur schlimmer gemacht. Selbstkritik war innerhalb dieser Wände selten.

»Du bist jung«, sagte er. »Es ist verständlich, dass du das große Ganze nicht siehst, aber du ziehst guten Nutzen aus deiner Position. Du hast extrem große Freiheit erhalten, um diese Arbeit zu tun.«

»Die kein anderer machen will.«

»Die kein anderer machen wollte. Aber der Stadtrat muss seine knapp bemessene Zeit für wirkliche Probleme verwenden, nicht für deine Albträume, Juva Sannseyr. Und ich muss hinzufügen, dass die wirklichen Probleme die sind, die du erzeugt hast.«

»Moralische Panik!«, sagte die Frau, die sich vorhin schon eingemischt hatte. Die übrigen Stadträte am Tisch wurden munter und nickten beifällig, und Juva beschlich das ungute Gefühl, dass sie im Begriff waren, ein Thema anzugehen.

Der Vorsitzende zeigte auf die Frau. »Moralische Panik, das ist richtig, Ingra. Lästige Endzeitredner, Rufe nach Bestrafung und unerträgliche Priester. Einer von ihnen hat sich hervorgetan, indem er behauptet …«, Sjur griff wieder nach den Papieren und las mit hochgezogenen Augenbrauen, »… dass nur Sünder krank werden, dass die Wolfsseuche eine Strafe Gottes ist, des einen Gottes, und dass Náklav eine sündenfreie Stadt werden muss.«

Er schob die Papiere wieder von sich. »Sie nennen sich ›Die Unantastbaren‹, und es ist mir ein Rätsel, wie man in dieser Stadt eine Anhängerschar bekommen kann, indem man zur Mäßigung mahnt, aber möglicherweise können sie uns etwas lehren.«

Mäßigung …

Juva fühlte sich plötzlich schwach. Seine Worte zogen sie hinein in die Erinnerung an einen verfallenen Spiegelsaal mit Tausenden von Lichtern. Entführt von Eydala, die ihr gegenübersaß und über die Gläubigen aus Undst sprach, mit träger, kalter Stimme.

»Ein unergründliches Volk, findest du nicht? Sie sind hierhergekommen mit ihrem einen Gott und ihren zahnlosen Androhungen von ewigen Qualen für die Maßlosen. Kannst du dir vorstellen, welch tiefe Überzeugung nötig sein muss, um hierher nach Náklav zu kommen und Mäßigung zu predigen?«

Juva konnte beinahe die würgende Schlinge spüren, die sie um den Hals gehabt hatte, und sie konnte nicht einmal sagen, dass sie gegen ihren Willen verschleppt worden war. Sie hatte sich fangen lassen, ohne zu ahnen, was sie erwartete. Um die Vardari gegeneinander aufzubringen, um sie glauben zu lassen, dass Nafraím im Besitz des Teufels war, nicht sie. Alles für ihn. Für Gríf.

Juva blickte hinunter auf ihre Hände, presste sie auf die Tischplatte, damit sie nicht zitterten. Sie hatte immer noch Blut unter den Fingernägeln nach der nächtlichen Jagd. Hatte zu wenig geschlafen.

Lass sie nie eine schwache Blutleserin sehen.

»Frú Sannseyr, verstehst du, was uns belastet?«

Sie blickte auf. »Ich verstehe, dass nicht ich es bin, die hier stehen sollte, falls Priester das Problem sind.«

»Dieser Priester, dieser Silberkehle, benutzt deine Worte. Er zitiert deine Rede und hat dich in höchst unbescheidener Wortwahl gelobt für deine Abrechnung mit den sogenannten Vardari. Und da er es geschafft hat, sich mit Fanatikern zu umgeben, sehen wir uns gezwungen, ihn weitermachen zu lassen. Tragischerweise gibt er den Leuten eine Sicherheit, die sie von der Seidagilde nicht länger bekommen.«

Juva griff sich an die Stirn. »Ihr wollt also eine Lüge durch eine andere ersetzen?«

»Liebes Kind, jeden Morgen gehe ich vorbei an einer Gilde für Votn, einem Tempel für Muune und einem Stand, der Virriveg-Runen für Reisende verkauft, und die sind alle in ein und derselben Straße! Das ist Náklav! Die Summe der Welt! Wir beherbergen Gottlose und Gläubige in schöner – und vor allem lohnenswerter – Eintracht, und es könnte mir wirklich nicht gleichgültiger sein, zu welcher Lüge die Leute sich bekennen, solange es ihnen nicht zu Kopf steigt!«

»Und die Vardari steigen ihnen zu Kopf?«

»Alles steigt ihnen zu Kopf, solange das Totenhorn jede Woche erschallt und rote Jäger Wolfskranke in den Straßen erschießen. Das verbreitet unnötig Unruhe, und das muss aufhören!«

Sie spürte ein Zucken im Mundwinkel. Ein intensives Bedürfnis, ihm gegenüber die Zähne zu fletschen. »Ich hätte gedacht, dass alles, was du gerade aufgezählt hast, zeigt, dass wir unser Bestes tun.«

Sjur Skattanger verzog die Lippen zu einer selbstzufriedenen Miene, die vielleicht als Lächeln gedacht war. »Ja«, erwiderte er. »Das ist es, was wir befürchten.«

Juva beschlich das unangenehme Gefühl, in eine Falle getappt zu sein. Sjurs Worte waren alles andere als spontan. Das hier war ein abgekartetes Spiel.

»Und euer Bestes gestern«, fuhr er fort, »bestand in einem verwüsteten Weinkeller und einer zu Kleinholz zertrümmerten unersetzlichen Uhr!«

Bevor Juva antworten konnte, ergriff Ratsherr Horski das Wort und platzte lautstark heraus, als hätte er seine Stimme bisher mit großer Mühe zurückgehalten. »Entlastung muss doch die Antwort sein! Wie wäre es, wenn wir Freiwillige von einer dieser … Sekten nehmen? Mehr rote Jäger ist das Beste, was wir tun können.«

Juva starrte den Mann an. Er hatte hektisch gerötete Apfelbäckchen, die ihm einen plumpen Gesichtsausdruck verliehen. Wie ein schreiender Säugling. Aber das Schlimmste war, dass er es anscheinend ernst meinte.

»Freiwillige?«, fragte sie. »Du meinst, wir sollen Leute anheuern, die gierig aufs Töten sind, von einer Bande, die ihr eben als Fanatiker beschrieben habt, damit es so aussieht, als würdet ihr etwas gegen die Wolfsseuche unternehmen? Ihr könnt …«

»So aussieht?!« Horski zog den Kopf zurück, so beleidigt, dass er ein Doppelkinn bekam. »Wir haben die Wolfsjagd beträchtlich eingeschränkt, um die Straßen frei von Blutperlen zu halten, was könnte wichtiger sein?«

Juva biss sich auf die Lippe. Obwohl sie hätte erklären können, wie sehr er sich irrte, hatte sie keine Ahnung, wo sie beginnen sollte. Die Perlen enthielten Blut von Ewigwährenden, nicht von Wölfen. Die Wolfsseuche hatte nie etwas mit Wölfen zu tun gehabt. Sie hatten die Jagd eingeschränkt, weil die Steine im Náklaring mittlerweile gut mit dem Blut von Kranken funktionierten. So einfach und so zwecklos war das.

Sie wusste, dass sie den Stadträten auf die Nerven ging, es stand ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie tauschten Blicke untereinander, stumme Aufforderungen, den nächsten Zug zu machen.

Juva erkannte, dass sie die meisten anderen längst rausgeworfen hätten, aber die Furcht vor Blutleserinnen saß tief. Sie war jung und gehörte überhaupt nicht in diesen Saal, aber sie war immer noch Juva Sannseyr, und auch wenn Anasolt die Leitung innehatte, war sie, Juva, das offizielle Oberhaupt der Seidagilde. Tausend Jahre alter Aberglaube verschaffte ihr die Freiheit, das zu sagen, was sie sagen wollte. Sie klammerte sich an die Hoffnung und fuhr fort, wo Horski sie unterbrochen hatte.

»Glaubt mir, das Letzte, was wir jetzt brauchen, sind irgendwelche Dummköpfe auf der Jagd nach einee Entschuldigung, um den Nachbarn zu töten, den sie nicht leiden können. Ich habe eine gute Jagdgruppe, Leute, auf die man sich verlassen kann. Die Bemannung ist nicht das Problem. Das Problem ist, diejenigen aufzuhalten, die Blutperlen verkaufen, und die Kranken zu finden, bevor sie Schaden anrichten.«

»Sagtest du nicht, das Problem seien die Vardari?«, erwiderte der Vorsitzende kühl. »Wäre es dann nicht hilfreich, wenn ihnen mehr Leute nach dem Leben trachteten?«

Juva hätte gelacht, wenn sie die Kraft dazu gehabt hätte. »Ihr wollt also Freiwillige ausnutzen, um etwas zu jagen, das ihr nicht anerkennen wollt? Bei allem Respekt, Stadtrat: Früher oder später müsst ihr euch entscheiden, ob sie existieren oder nicht.«

Eine blonde Frau ergriff abrupt das Wort, als wollte sie eine Prügelei verhindern. »Frú Sannseyr hat recht, das größte Problem sind nicht die Wolfskranken, sie haben sich ja ihr Schicksal selbst zugefügt durch ihre Blutsucht.«

Juva überlief ein kalter Schauer. Niemand hatte jemals darum gebeten, wolfskrank zu werden, und so etwas hatte sie nicht im Entferntesten gesagt, aber sie ließ die Frau weiterreden.

»Das Problem ist doch die Panik und der Schaden, den sie anderen zufügen. Was, wenn wir eine Belohnung für die Hinterbliebenen aussetzen würden, dafür, dass die Kranken sich melden, bevor sie zu Bestien werden?«

Juva unterdrückte ein resigniertes Stöhnen. »Eine Belohnung? Tausende von Gesunden würden sich melden, gleich morgen, wenn sie dadurch den Rest ihrer Familie ernähren könnten.«

Die Stadträte starrten sie mit leeren Blicken an, als hätte sie in einer anderen Sprache geredet. Sie breitete die Arme aus. »Habt ihr nie Geld gebraucht? Habt ihr euch nie Gedanken über diejenigen gemacht, die es brauchen? Habt ihr nie Hunger gehabt?«

Sjur schob die Papiere zusammen, als wäre das letzte Wort gesagt, aber das war offenbar nicht der Fall. »Juva, dein Engagement ist … rührend. Aber mir scheint, dass du hier die bist, die nichts unternehmen will. Du bist nicht einmal zwanzig, richtig? So junge Jäger und Gilde-Oberhäupter sind geradezu unverantwortlich, und wir haben offenbar zu viel von dir verlangt. Du hast die Stürzung von verstorbenen Angehörigen und Freunden miterlebt. Von deiner Mutter und deiner Schwester. Und du hast für jemanden gearbeitet, der wolfskrank wurde, war es nicht so?« Er blickte wieder auf die Papiere. »Ester Spinne. Aber hier steht, dass sie eine ganz gewöhnliche Stürzung bekommen hat? Ich dachte, Wolfskranke würden an die Steine verfüttert …«

Juva starrte ihn ungläubig an. War das eine Drohung? Ester … Wunderbare alte Ester, die zu töten man sie gezwungen hatte. Und jetzt wurde sie in einem politischen Spiel benutzt.

Mit einem Kopfnicken deutete Juva auf den leeren Stuhl, von dem sie annahm, dass es Olm Fennars gewesen war und noch immer sein würde, wenn er nicht wolfskrank geworden wäre und versucht hätte, sein eigenes Haus in Brand zu setzen. »Das dachte ich auch«, erwiderte sie. »Aber ich kenne Leute in der Seidagilde, die bei Olms Stürzung anwesend waren.«

Der Ratsherr tat, als hätte er sie nicht gehört. »Und noch dazu sind uns Gerüchte zu Ohren gekommen, dass du ein Kind bei dir aufgenommen hast?«

»Mehrere, habe ich gehört«, murmelte Ingra.

»Ich habe keine Kinder und auch nicht vor, welche zu bekommen«, antwortete Juva.

Der Stadtratsvorsitzende musterte sie. »Nein, das wäre nicht gerade mit deiner Arbeit vereinbar, möchte ich meinen.«

Da war es …

Juva spürte, wie mit der Erkenntnis ihre Verzweiflung wuchs. Sie wollten sie als Oberhaupt der Gilde absetzen, eine Position, die man sie angefleht hatte zu übernehmen, weil niemand anderes den Mut dazu gehabt hatte. Eine Position, die sie nie hatte haben wollen. Und Ausbluterin war sie geworden, um Broddmar zu helfen und um Ewigwährende zu jagen. Aber die Vardari lebten auf geborgte Zeit. Bald würde sie hier stehen und sich Lobeshymnen anhören, weil die Stadt wieder sicher war. Weil die Wolfsseuche ausgerottet war. In einem halben Jahr, höchstens. Bis dahin durfte sie nichts und niemanden verlieren. Am allerwenigsten die Möglichkeit, Kefla und die anderen zu beschützen.

Diese Sitzung war reine Vorarbeit. Eine Warnung. Der Rat der Stadt hatte die einfachste Möglichkeit gefunden, es so aussehen zu lassen, als würde er Maßnahmen ergreifen – und das war, sie zu ersetzen, natürlich. Aber wann?

»Gut«, sagte der Ratsvorsitzende und knallte den Papierstapel auf den Tisch, als hätten sie eine Einigung erzielt. »Ihr habt einen Monat Zeit. Wenn die Zustände sich dann nicht gebessert haben, müssen wir andere Saiten aufziehen.«

Juva warf einen Blick zu Drogg, aber er beachtete sie nicht. Er sah zum Vorsitzenden, mit einem Blick, in dem sie aufrichtige Verwirrung las. War es, weil er nichts davon wusste, oder verstellte er sich auch?

»Was für andere Saiten aufziehen?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort fürchtete.

Sjur tat erneut, als hätte er ihre Frage nicht gehört, und scheuchte sie mit einem Handwedeln hinaus, ohne sie anzusehen. Juva kehrte allen den Rücken zu und ging. Erst jetzt sah sie, dass ihre Schuhe beim Hereinkommen schmutzige Spuren hinterlassen hatten. Mit gesenktem Blick ging sie die breite Treppe hinunter. Sie fühlte sich am ganzen Leib aufgewühlt und zittrig, als hätte sie einen Kater.

Reiß dich zusammen! Kefla wartet!

Sie trat hinaus auf die Straße und ging geradewegs hinunter zum Náklaring, während sie vergeblich gegen ihre Wut ankämpfte. Kefla stand an die große Ringmauer gelehnt, direkt neben dem Nordtor, und ihr Gesicht leuchtete auf, als sie sie erblickte. Das Mädchen rannte auf sie zu, als wäre sie sechs Jahre alt und nicht zwölf.

Juva biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf.

Hier ist es nicht sicher.

Kefla wurde langsamer, und ihr Lächeln erlosch. Sie blieb mitten auf der Straße stehen, während junge Zugmänner Wagen mit Reisenden vorbeizogen. Die wurden vom Kopfsteinpflaster durchgerüttelt, lächelten aber trotzdem. Hingerissen davon, hier zu sein. In Náklav, der Stadt aller Städte.

Juva drehte sich um und ging in eine andere Richtung. Keflas Blick brannte sich durch ihren Rücken und endete als Knoten in ihrem Bauch. Juva hörte Bruchstücke eines Streits, der noch gar nicht stattgefunden hatte. Über das Versprechen, das sie gegeben hatte und nicht halten konnte.

Ich bin Lagalune geworden.

Der Gedanke war qualvoll. War sie dazu verurteilt, wie ihre Mutter zu werden? Genauso verachtet?

Nein! Das hier würde in einem halben Jahr vorbei sein. Keine Wolfskranken mehr, keine Vardari und keine Gefahr für junge Blutleserinnen wie Kefla. Sie musste nur durchhalten und die Zeit für sich arbeiten lassen.

Das Warten war das Schlimmste, aber sie hatte Broddmar versprochen, nichts zu unternehmen. Er war selbst ein Ewigwährender gewesen, deshalb konnte sie ihm keinen Vorwurf machen. Sie hatte einen von denen erschossen, bei Haane, und auch wenn er ein Vardari gewesen war, hatte sie Blut an den Händen.

Fünf Monate, vielleicht sechs. Dann konnte sie Kefla alles erklären und ein normales Leben führen.

Aber sie wusste, dass sie sich selbst belog. Sie hatte Gríf getroffen. Sie hatte ein Ungeheuer befreit, und nichts würde jemals wieder normal sein.

Sündenfall

Der Unterarm war zerfetzt. Offen vom Daumen bis halb hoch zum Ellbogen. Nafraím versuchte, die Finger zu bewegen, aber sie hätten genauso gut einem anderen gehören können, er hatte keine Macht über sie. Fühlte keinen Schmerz. Selbst dann nicht, als Seire einen bereits durchnässten Lappen auf die offene Wunde drückte, um das Blut aufzusaugen.

Sie umklammerte sein Handgelenk, hielt ihn zusammen, während sie mit den Zähnen den Korken aus einer Flasche zog. Dies hier war nichts, sie hatte Schlimmeres gesehen und getan, aber er spürte trotzdem, wie ihre Hand auf der Wunde zitterte, und er hatte das überwältigende Gefühl, jemandem etwas zu bedeuten. Zum ersten Mal.

Sie zögerte mit der Flasche in der Hand. Er begegnete ihrem Blick und lächelte. »Du kannst mich auch einfach verbluten lassen …«

Seire verdrehte die Augen und spuckte den Korken in den Neuschnee. »Lieber soll mich Sekla verschlingen, als dass ich mir anhören muss, wie sie dein Andenken lobpreisen. Lebend bist du schlimm genug, als Toter wärst du unerträglich.«

Sie leerte die Flasche über seiner Wunde aus. Das Blut des Ungeheuers mischte sich mit seinem Blut, erfüllte seinen Körper mit einem intensiven Kribbeln, als würde er aus Eiseskälte erwachen. Brennen. Wärme. Kraft. Die Haut fühlte sich lebendig an, fordernd. Die Wundränder bewegten sich aufeinander zu, und er konnte es sehen. Konnte mit eigenen Augen sehen, dass die Verletzung nicht mehr unheilbar war. Er hatte Leben in den Adern, mehr als je ein Mensch vor ihm, und sie waren Zeugen dessen, alle drei.

»Das hier wird nichts verändern«, sagte Faun. In seinen blauen Augen lag nichts als Unschuld.

»Falsch.« Seires Lächeln war strahlend und schön wie ein Schmuckstück. »Das hier wird alles verändern.«

Nafraím starrte auf seine Haut, die über Fleisch und Knochen kroch. Die zu einer unebenen, blutigen Landschaft verschmolz. Er streckte sich nach Wasser. Durst.

Durst …

Nafraím zuckte zusammen, unsicher, ob er eingeschlafen war oder das Bewusstsein verloren hatte. Sein Rücken fühlte sich taub an auf dem kalten Kellerfußboden. Seine Zunge war rau und wand sich, als wollte sie von ganz allein aus dem Rachen kriechen. War das der erste Krampf? Wie viel Zeit hatte er, bevor seine Organe versagten?

Er unterdrückte ein Husten, das alles verschlimmert hätte, und zwang sich, die Augen zu öffnen. Tageslicht fiel schräg durch die Öffnung des Stockwerks darüber, wie eine umgestürzte Säule, und brachte das Motiv auf dem Fußboden zum Glühen. Feuerzungen, gefügt aus fingernagelgroßen Fliesen, die ihm bis ins kleinste Detail vertraut geworden waren. Ein brennender Ring in Rot und Gelb, und das einzig Farbige in der gesamten Krypta.

Das Geräusch von Schritten über ihm verriet, was ihn geweckt hatte. Nafraím kam auf die Knie und lehnte den Rücken an die Wand. Die Schmerzen ließen keinen Zweifel daran, dass dies das Höchste an Würde war, was er heute erreichen konnte.

Für gewöhnlich hatte ihn die Kälte gelähmt, aber jetzt war Hochsommer, sofern er sich bei den Strichen, die er in die Wand geritzt hatte, nicht vertan hatte. Dennoch, in Náklav wurde es nie direkt warm, also kam diese Hitze von innen. Ein schwelendes Anzeichen, dass sein Körper im Begriff war, den Kampf gegen den Durst zu verlieren.

Er war dem dunkelsten aller möglichen Gedanken nahe gewesen: sich die Qual zu ersparen. Eine Ader zu öffnen, sich zwischen zwei der massiven Steinsärge in diesem gottverlassenen Gewölbe zu legen und zu verbluten. Zu verschwinden. Nach vielen Hundert Jahren Über-Lebenszeit.

Geborgter Zeit. Gestohlener Zeit.

Es würde ihn nicht die geringste Überwindung kosten, er war schon seit einem Mannesalter bereit für den Tod. Hatte ihn geplant, für sich selbst und für jeden einzelnen Vardari, schon seit der Zeuge im Náklaring zum Leben erwacht war mit seinen kupfergrünen Zahnrädern und die Wölfe auf der anderen Seite angekündigt hatte. Das Einzige, was ihn am Leben erhalten hatte, war der Drang, zuerst sie sterben zu sehen.

Er hob den Blick. Eydala erschien oben am Rand des Lochs, das in der Decke über ihm klaffte, und stellte sich neben die Überreste einer verschwundenen Wendeltreppe. Nur die Befestigungen waren noch übrig, sie ragten hinab wie gebrochene Beinknochen. Sie betrachtete ihn eine Weile. Dann warf sie ihm eine lederne Wasserflasche in den Schoß.

Das Gewicht war höchst vielversprechend, aber er hatte gelernt, seine Erwartungen zu zügeln. Es war unmöglich vorherzusehen, was sie tun würde, was sie ausprobieren würde, und ihre Launenhaftigkeit war immer schlimmer geworden, nachdem ihr klargeworden war, dass er ihr nicht helfen würde.

Sie setzte sich auf den Fußboden über ihm, neben die Treppenpfosten, wie eine trotzige Jugendliche, und zog die Blutlesekarte aus der Tasche. Betastete sie mit ihren verfärbten Fingerspitzen, als könnte der Teufel ihr erzählen, wo er war, wenn sie nur gut genug nachfühlte.

Nafraím nutzte die Gelegenheit und zog den Korken aus der Wasserflasche. Schnupperte daran. Nichts.

Der immer noch denkende Teil seines Gehirns bettelte darum, den Inhalt zuerst zu probieren, aber seine Instinkte ließen sich nicht länger beherrschen. Er tröstete sich mit der Gewissheit, dass Eydala ihn lebend brauchte, trotz allem, und trank das Wasser in gierigen Zügen. Reines, wunderbares Wasser, so viel er wagte, um Krämpfe zu vermeiden. Die wenigen Schlucke erschöpften ihn. Er lehnte den Kopf an die Wand und blickte zu Eydala hinauf. Der Frau, die sein zweitgrößter Fehler in einem unbegreiflich langen Leben war.

Eydala betrachtete ihn mit trägem Blick. »Wo ist der Brief?«

Er hatte die Worte so oft gehört, dass sie ihren Sinn verloren hatten. Er spürte, dass sie auch keine Antwort erwartete. Es war keine Frage mehr, es war der leise Beginn eines Wutausbruchs.

Sie drehte und wendete die Karte in der Hand. »Ich habe alles getan, Nafraím. Alles, was möglich ist, und trotzdem hast du nichts zu sagen?«

Er spürte ein Zucken im Mundwinkel. Alles. Das kleine Wort beinhaltete ein Meer von Schmerzen. Sie hatte ihn hungern lassen, ihn am Schlafen gehindert, ihn betäubt und mit gebrochenen Knochen aufwachen lassen. Alles, was sie tun konnte, ohne selbst Hand anlegen zu müssen. Und ohne ihn bluten zu lassen. Es war verlockend, zu glauben, dass es sich um einen kümmerlichen Rest von Respekt handelte, aber höchstwahrscheinlich hatte es praktische Gründe. Sie wusste nicht, ob er ein Bluter war. Manche Ewigwährenden konnten an einem harmlosen Kratzer verbluten, sofern er nicht behandelt wurde, und sie war keine, die Heilkräuter wie Ringelklette zur Hand gehabt hätte.

Nafraím trank noch einen Schluck Wasser, genoss die kühle Linderung, während er darauf wartete, dass sie weitersprach.

»Warum sagst du mir nicht einfach, wo er ist? Ich verstehe dich nicht, es ist, als ob du sterben willst! Was kann wichtiger sein als dein eigenes Leben?« Ihr Blick wechselte zwischen ihm und dem Teufel auf der Karte, als würde sie nach Ähnlichkeiten suchen. Ihre Wangenknochen zogen sich scharf bis hinunter zu den Mundwinkeln. Sie war dünner geworden. »Verstehst du nicht, dass ich ihn finden werde? Wir werden deine Bruchbude auseinandernehmen, Stein für Stein, und wenn ich den Brief finde … Wenn ich ihn finde …«

Sie ließ den Satz in der Luft hängen, auf ihre theatralische Art. »Du glaubst, du kannst länger durchhalten als ich? Dass du nichts anderes zu tun brauchst als warten? Nein … Nein, Nafraím. Ich werde ihn finden, und wenn ich das Blut habe, kann ich bis in alle Ewigkeit zusehen, wie du leidest. Begreifst du das nicht?«

Nafraím konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Das verdorbene Weibsbild hatte keine Ahnung, dass der Teufel verloren war. Gríf hatte diese Welt verlassen und damit jeden einzelnen Ewigwährenden zum Tode verurteilt. Falls dieser Gedanke sie überhaupt je gestreift hatte, war er von einer morbiden Triebkraft erstickt worden, bei der es um viel mehr als um Durst ging.

Sie legte sich die Hand an die Brust und sah ihn mit falschem Mitleid an. »Du musst erschöpft sein. Durchgefroren und durstig. Du musst deine Tage nicht hier beenden, Nafraím. Auf diese unwürdige Weise. Du könntest noch heute von hier fortgehen, wenn du wolltest. Nach Hause gehen. Du musst es schrecklich satthaben …«

Nafraím drückte die Wasserflasche an seinen Oberkörper, sammelte Kraft zum Sprechen. »Alles …«, begann er und schluckte, um seine Stimme zu ölen. »Alles, was wir sind und haben, gründet sich auf eine fast siebenhundert Jahre lange Gefangenschaft. Es erscheint mir nicht gerechtfertigt, mich nach hundert Tagen zu beklagen.«

Eydala warf den Kopf in den Nacken und lachte lautlos. Das war eine unheimliche Angewohnheit, als hätte sie lachen gelernt, indem sie andere lachen sah, ohne sie zu hören. »Du glaubst, dass dich jemand rettet«, sagte sie trocken. »Aber das wird nicht passieren. Niemand interessiert sich mehr für dich, Nafraím. Niemand weiß, wo du bist, nicht einmal du.«

»Nicht einmal ich?« Er begann zu lachen. Ein heiseres Lachen, das Kraft kostete, aber der Lohn war die Unsicherheit, die ihr Gesicht streifte. »Du bist eine thervianische Tragödie, Eydala. Eine engstirnige Närrin, außerstande, deine Beschränkungen zu erkennen, und das sind viele, den Göttern sei’s geklagt. Noch keine zweihundert Jahre auf der Welt, und dennoch weißt du alles, was es zu wissen gibt? Du bist ein Kind. Ein geschichtsloses Kind. Ich weiß mehr darüber, wo ich bin, als du es tust.«

Eydala starrte ihn an. Die Karte mit dem Teufel zitterte in ihrer Hand. Nafraím fuhr fort, solange er es noch konnte. »Ich kann dir sagen, woher der Aderstein in diesen Särgen stammt. Ich kann dir erzählen, warum der Fußboden ein brennendes Rad ist. Ich bin in einer Krypta. Ich teile meine Tage mit Knochen in Steinsärgen, obwohl Náklav seine Toten stürzt. Wir übergeben sie dem Meer, und Gaula. Nicht der Erde und Steinen. Die in die Deckel gehauenen Namen sind in Heyno geschrieben, aber es wäre wohl zu viel erwartet, dass du andere Sprachen als deine eigene beherrschst. Diese Krypta gehörte einer Familie aus Undst, die ihr Vermögen mit Spiegelkunst gemacht hat. Ich kannte diese Menschen, bevor du geboren wurdest.«

»Du?!« Eydala erhob sich abrupt und fauchte ihn an. »Du nennst mich ein engstirniges Kind? Du, ein Mann, der das Haus voller Spielzeug hat! Modelle, Maschinen, Zeichnungen … Es wird nicht erwachsener, nur weil du dich damit abgibst! Du glaubst immer, du bist so verdammt viel besser als alle anderen. So klug. So edel …« Sie spuckte das Wort aus. »Du redest von Geschichte, Bildung und Wissenschaft, als wären es Götter, aber die größte Erfindung ist meine!« Sie richtete den Zeigefinger auf ihre Brust. »Nicht du bist hier das Genie, sondern ich!«

»Du meinst deinen Vater?«

Seine Worte schienen ihr den letzten Willen zu nehmen, die Fassade zu wahren. »Ich hätte die Welt verändern können!«, schrie sie. »Ich! Aber du hast es verhindert! Du hast sie mir gestohlen, meine eigene Chance auf …«

Unsterblichkeit.

Das Wort blieb unausgesprochen, was es umso lauter dröhnen ließ. Unsterblichkeit gab es in mehreren Formen, er hatte ihr eine genommen und eine andere gegeben. Weil es notwendig war. So unendlich viel war notwendig gewesen in seinem Leben.

Ihr Zorn war berechtigt, und sie wusste es. »Du wagst es, dich Wissenschaftler zu nennen?«, tobte sie. »Du, der du mir den Fortschritt genommen hast, mir und der Menschheit, der zu dienen du behauptest?«

Nafraím sah sie an. »Einer meiner vielen Fehler.«

»Spar dir deine Gefühlsduselei, du verfluchter Schwächling! Ich will sie nicht, ich will den Teufel