Vernichtung - David Lagercrantz - E-Book
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David Lagercrantz

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Beschreibung

Ich werde die Jägerin sein und nicht die Gejagte

Ein Obdachloser wird tot auf dem Stockholmer Mariatorget gefunden. In seiner Jackentasche findet sich die Telefonnummer von Mikael Blomkvist. Als eine DNA-Analyse ergibt, dass der Obdachlose ein sogenanntes Super-Gen besaß, das nur in einer bestimmten Ethnie in Nepal vorkommt, wird Blomkvist hellhörig und nimmt die Recherche auf. Lisbeth Salander hält sich unterdessen in Moskau auf, wo sie einen Anschlag auf ihre verhasste Schwester Camilla plant. Blomkvist bittet Salander um Unterstützung, und sie findet heraus, dass der Obdachlose ein Sherpa war, der an einer dramatischen Mount-Everest-Expedition mit tödlichem Ausgang teilgenommen hatte. Blomkvist kontaktiert einen der Überlebenden der Expedition und verschwindet plötzlich spurlos. Salander macht sich sofort auf die Suche nach ihm. Sie spürt, dass Blomkvist in großer Gefahr schwebt.

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Seitenzahl: 488

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Zum Buch

In Stockholm stirbt ein Obdachloser, in seiner Jackentasche steckt die Telefonnummer von Mikael Blomkvist. Zuletzt hatte der verwirrte Mann von einer Verschwörung gesprochen, in die der schwedische Verteidigungsminister verstrickt sei. Blomkvist bittet Lisbeth Salander, ihm bei seinen Recherchen zu helfen. Salander, die unterdessen in Moskau einen Anschlag auf ihre verhasste Schwester plant, findet heraus, dass der Obdachlose ein Sherpa und Mitglied einer tödlichen Mount-Everest-Expedition war. Als Blomkvist einen der Überlebenden kontaktiert, verschwindet er plötzlich spurlos. Salander setzt alles daran, ihn zu finden. Denn sie weiß, Blomkvist ist in größter Gefahr.

Zum Autor

David Lagercrantz, 1962 geboren, debütierte als Autor mit dem internationalen Bestseller »Allein auf dem Everest«. Seitdem hat er zahlreiche Romane und Sachbücher veröffentlicht. 2013 wurde er vom schwedischen Originalverlag und Stieg Larssons Familie ausgewählt, die Folgeromane der Millennium-Reihe zu schreiben. David Lagercrantz ist verheiratet und lebt in Stockholm.

DAVID LAGERCRANTZ

VERNICHTUNG

Roman

Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann

Die Originalausgabe HON SOM MÅSTE DÖ erschien erstmals 2019 bei Norstedts, StockholmDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2019 by David Lagercrantz & Moggliden AB

Copyright © 2019 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Leena FleglerHerstellung: Helga SchörnigSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenCovergestaltung: Eisele Grafik-Design München, unter Verwendung eines Motivs von Bigstock/angelpISBN 978-3-641-20027-5V003www.heyne.de

  

PROLOG

In jenem Sommer tauchte ein neuer Bettler im Viertel auf. Niemand wusste, wie er hieß, und es scherte sich auch keiner darum, auch wenn ein junges Paar, das jeden Morgen an ihm vorbeiging, ihn den »verrückten Zwerg« nannte, was zumindest zur Hälfte ungerecht war. Im medizinischen Sinne war er nicht kleinwüchsig. Er war einen Meter fünfzig groß und normal proportioniert. Allerdings war er wirklich verrückt, und manchmal fuhr er überraschend hoch, griff nach Passanten und redete wirres Zeug.

Ansonsten hockte er meist auf einem Stück Pappe auf dem Mariatorget direkt vor dem Springbrunnen mit der Thor-Statue, und da wiederum kam es vor, dass er Würde ausstrahlte. Mit seinem hocherhobenen Haupt und dem geraden Rücken konnte er aussehen wie ein leicht heruntergekommener Häuptling, aber das war auch schon sein letztes soziales Kapital und der einzige Grund, warum ihm die Leute noch Münzen oder Scheine zusteckten. Sie meinten, eine lange verlorene Größe in ihm zu erkennen, und da täuschten sie sich nicht. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sich die Menschen vor ihm verneigt hatten.

Doch diese Zeit war vorbei, und der schwarze Fleck auf seiner Wange machte es auch nicht besser. Der Fleck sah aus wie ein Stigma des leibhaftigen Todes. Das Einzige, was nicht zu seiner Erscheinung zu passen schien, war die Jacke. Sie war blau und teuer, ein Marmot Parka. Aber auch sie verlieh ihm keinen Anschein von Normalität, und das nicht nur, weil sie mit Dreck und Essensresten verklebt war. Sie sah regelrecht arktisch aus – und in Stockholm war Sommer. Eine drückende Hitze lag über der Stadt, und während dem Mann der Schweiß über das Gesicht lief, betrachteten die Leute bekümmert die Jacke, bei deren bloßem Anblick sie selbst nur umso mehr unter der Hitze litten. Trotzdem legte der Mann sie nie ab.

Er war der Welt abhandengekommen und wirkte nicht, als könnte er für jemanden eine Bedrohung darstellen. Anfang August war jedoch zu beobachten, wie sein Blick fokussierter wurde, und am Nachmittag des Elften kritzelte er eine verschlungene Geschichte auf ein liniertes DIN-A4-Papier, das er am selben Abend noch als eine Art Wandzeitung an das Bushäuschen am Pendlerbahnhof Södra klebte.

Die Geschichte war die halluzinatorische Schilderung eines schrecklichen Sturms. Dennoch gelang es der jungen Assistenzärztin Else Sandberg, die auf die Linie 4 wartete, Teile der Einleitung zu dechiffrieren. Darin war ein Mitglied der schwedischen Regierung genannt. Im Übrigen konzentrierte sie sich hauptsächlich darauf, eine Diagnose zu stellen. Sie tippte auf paranoide Schizophrenie.

Als sie zehn Minuten später den Bus bestieg, blieb lediglich ein Gefühl von Unbehagen. Es war eine Art Kassandra-Fluch: Niemand glaubte dem Mann, weil die Wahrheit, die er formulierte, dermaßen in Wahnsinn verpackt war, dass man sie kaum mehr erkennen konnte. Trotzdem musste die Botschaft jemanden erreicht haben, denn schon am nächsten Morgen stieg ein Typ in einem weißen Hemd aus einem blauen Audi und riss die Wandzeitung herunter.

In der Nacht auf Samstag, den fünfzehnten August, hatte der Obdachlose sich auf den Weg zum Norra Bantorget gemacht, um sich Schwarzgebrannten zu besorgen. Er begegnete einem anderen Säufer, dem alten Fabrikarbeiter Heikki Järvinen aus Österbotten.

»Hallo, Bruder. Na, drückt die Not?«, fragte Järvinen.

Er bekam keine Antwort, zumindest nicht gleich. Leicht zeitversetzt sprudelte dann doch eine lange Tirade los, die Heikki als reinsten Unfug ansah. »Blödsinn!«, zischte er und fügte hinzu – unnötigerweise, gestand er sich ein – , sein Gegenüber sehe mal wieder aus wie ein »Tschingtschang Chinamann«.

»Me Kangbachen, I hate China«, brüllte der andere zurück.

Dann brach die Hölle los. Mit seiner fingerlosen Hand drosch er auf Heikki ein, und auch wenn es nicht gerade geschult oder trainiert aussah, war sein Angriff von unerwarteter Kraft. Heikki blutete aus dem Mund und fluchte wie ein finnischer Bierkutscher, als er davonwackelte und den U-Bahn-Eingang am Hauptbahnhof ansteuerte.

Als der Bettler das nächste Mal gesichtet wurde, war er zurück in seinem alten Stadtviertel, schwer betrunken und von Übelkeit geplagt. Ihm lief Speichel aus dem Mund, er hielt sich den Hals und murmelte: »Very tired. Must find dharamsala, and a lhawa, very good lhawa. Do you know?«

Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern überquerte wie ein Schlafwandler den Ringvägen. Kurz darauf warf er eine Halbliterflasche ohne Etikett zu Boden und verschwand zwischen den Bäumen und Büschen im Tantolunden. Niemand hätte sagen können, was anschließend geschah, nur dass am folgenden Morgen leichter Regen fiel und der Wind aus Norden blies. Gegen acht Uhr schlief der Wind ein, es klarte auf, und der Mann lehnte an einer Birke.

Unten an der Straße wurde der Mitternachtslauf vorbereitet. Im ganzen Viertel herrschte Volksfeststimmung. Der Bettler war tot, die Luft um ihn herum sirrte von Fröhlichkeit, und niemanden kümmerte es, dass er ein Leben voll ungeheuerlicher Strapazen und Heldentaten gelebt hatte, und noch weniger, dass er in seinem Leben nur eine einzige Frau geliebt hatte und dass auch sie in schrecklicher Einsamkeit gestorben war.

Teil 1

Die Unbekannten

Viele Tote bekommen nie einen Namen und manche nicht einmal ein Grab.

Andere bekommen ein weißes Kreuz unter Tausenden anderen, wie auf den amerikanischen Soldatenfriedhöfen in der Normandie.

Einigen wird ein ganzes Monument gewidmet, wie das Grabmal des Unbekannten Soldaten am Triumphbogen in Paris oder im Moskauer Alexanderpark.

KAPITEL 1

15. August

Die Schriftstellerin Ingela Dufva wagte sich zuerst an den Baum heran. Sie war es auch, die erkannte, dass der Mann tot war. Da war es halb zwölf am Vormittag. Es roch widerwärtig und surrte von Fliegen und Mücken, und Ingela Dufva war nicht ganz ehrlich, als sie später behauptete, die Gestalt habe etwas Ergreifendes an sich gehabt.

Der Mann hatte erbrochen und schweren Durchfall gehabt, und Ingela Dufva war weniger von Ehrfurcht erfüllt gewesen denn von Unbehagen und der Angst vor dem eigenen Tod. Auch für die Polizisten, Sandra Lindevall und Samir Eman, die fünfzehn Minuten später eintrafen, kam der Einsatz nichts weiter als einer Strafarbeit gleich.

Sie fotografierten den Mann und suchten die Umgebung ab, allerdings nicht bis zum Abhang unterhalb des Zinkens väg, wo die Halbliterflasche lag, auf deren Flaschenboden eine dünne, kiesähnliche Schicht klebte, und obwohl keiner von beiden fand, dass es »unbedingt nach einem Verbrechen roch«, untersuchten sie trotzdem sorgfältig Kopf und Brustkorb. Es gab keine Spuren von Gewalt und auch keine anderen Hinweise auf mögliche Todesursachen, abgesehen von dem dicken Sabber, der aus seinem Mund geronnen war, und nachdem sie die Frage mit ihrem Vorgesetzten geklärt hatten, beschlossen sie, den Ort nicht abzusperren.

Während sie darauf warteten, dass die Ambulanz käme und die Leiche wegbrächte, gingen sie die Taschen der unförmigen Daunenjacke durch. Sie fanden Unmengen durchsichtigen Wachspapiers von Würstchenbuden, ein paar Münzen und einen Zwanzigkronenschein, dazu eine Quittung aus einem Geschäft für Bürobedarf an der Hornsgatan, allerdings keinen Pass oder sonstige Papiere.

Trotzdem waren sie sich sicher, der Mann dürfte leicht zu identifizieren sein. Schließlich mangelte es nicht an auffälligen Kennzeichen. Nur war dies – wie so vieles andere – eine Fehleinschätzung: Im Rechtsmedizinischen Institut in Solna, wo die Leiche obduziert wurde, nahm man Röntgenbilder von den Zähnen; weder diese noch die Fingerabdrücke erzielten Treffer in der Datenbank, und nachdem man eine Reihe Proben ans NFZ, das Nationale Forensische Zentrum, geschickt hatte, überprüfte die Rechtsmedizinerin Fredrika Nyman – obwohl es mitnichten zu ihren Aufgaben gehörte – ein paar Telefonnummern, die auf einem zusammengeknüllten Zettel aus der Hosentasche des Mannes standen.

Eine der Nummern war die von Mikael Blomkvist von der Zeitschrift Millennium, und zunächst dachte sie stundenlang nicht mehr darüber nach. Am Abend jedoch, nachdem sie wieder einmal einen entnervenden Streit mit einer ihrer Teenagertöchter gehabt hatte, fiel ihr wieder ein, dass sie allein im letzten Jahr drei Leichen obduziert hatte, die namenlos hatten begraben werden müssen, was ihr einen Fluch darüber und über das Leben im Allgemeinen entlockte.

Sie war neunundvierzig Jahre alt und alleinstehend mit zwei Kindern, litt an Rückenschmerzen und Schlaflosigkeit und einem Gefühl allgemeiner Sinnlosigkeit, und ohne richtig zu wissen, warum, rief sie Mikael Blomkvist an.

Das Telefon brummte. Eine unbekannte Nummer. Mikael ignorierte es. Er hatte soeben seine Wohnung verlassen und war auf der Hornsgatan in Richtung Slussen und Gamla stan unterwegs, ohne recht zu wissen, wohin er gehen wollte. Er trug eine graue Leinenhose und ein ungebügeltes Jeanshemd und wanderte eine Weile kreuz und quer durch die Gassen, bis er sich schließlich in der Altstadt in einem Straßenlokal an der Österlånggatan niederließ und sich ein Guinness bestellte.

Es war halb sieben Uhr abends, trotzdem war es noch warm, und von Skeppsholmen wehten Lachen und Applaus herauf. Mikael sah zum blauen Himmel empor, genoss die sanfte Brise und versuchte sich einzureden, dass das Leben vielleicht doch nicht ganz so beknackt war. Es gelang ihm nicht sonderlich gut, da halfen weder ein Bier noch zwei, und am Ende murmelte er irgendwas in sich hinein, bezahlte und wollte schon wieder nach Hause gehen, um weiterzuarbeiten oder sich einfach einer Fernsehserie oder einem Krimi zu widmen.

Dann überlegte er es sich anders und spazierte einem spontanen Impuls folgend in Richtung Mosebacken. Dort, in der Fiskargatan 9, wohnte Lisbeth Salander. Insgeheim machte er sich keine großen Hoffnungen, sie könnte zu Hause sein. Nach der Beerdigung ihres einstigen Vormunds Holger Palmgren war sie kreuz und quer durch Europa gereist und hatte Mikaels E-Mails und SMS nur sporadisch beantwortet. Trotzdem beschloss er, auf gut Glück bei ihr zu klingeln, und lief die vom Platz hinaufführende Treppe hoch. Als er das Haus vor sich sah, blieb er verblüfft stehen. Die komplette Fassade war von einem neuen, riesigen Graffito bedeckt. Dann ging er weiter, obwohl es sich um ein Gemälde handelte, in das man schier eintauchen wollte. Es war voller surrealistischer Details. Unter anderem war da ein kleines, lustiges Männlein in Karohose, das barfuß auf einem grünen U-Bahn-Waggon stand.

Er gab den Haustürcode ein. Drinnen betrat er den Fahrstuhl und starrte in den Spiegel. Dass der Sommer heiß und sonnig gewesen war, war ihm kaum anzusehen. Er war bleich und hohläugig und musste wieder an den Börsencrash denken, an dem er den ganzen Juli über gesessen hatte: zweifellos eine wichtige Story – ein Kollaps, nicht nur von himmelhohen Bewertungen und übersteigerten Erwartungen verursacht, sondern überdies durch Hackerattacken und Desinformationskampagnen befeuert. Doch inzwischen war jeder x-beliebige Investigativjournalist an dem Thema dran, und auch wenn er eine Menge herausgefunden hatte – unter anderem, welche russische Trollfabrik die schlimmsten Lügen verbreitet hatte – , fühlte es sich an, als würde die Welt es auch ohne sein Zutun schaffen. Vermutlich sollte er sich einfach freinehmen und endlich anfangen, Sport zu treiben, und sich vielleicht auch wieder mehr um Erika kümmern, die mitten in der Scheidung von Greger steckte.

Der Fahrstuhl hielt, er schob die Gittertür auf und betrat den Treppenflur. Inzwischen war er sich umso sicherer, dass sein Besuch sinnlos war. Bestimmt war Lisbeth verreist, und er war ihr egal. Doch als er zur Wohnungstür sah, zuckte er zusammen. Die Tür stand sperrangelweit offen, und mit einem Mal dämmerte ihm, wie sehr ihn den ganzen Sommer über die Vorstellung geplagt hatte, Lisbeths Feinde könnten sie erwischt haben.

Er stürzte regelrecht über die Schwelle. Der Geruch von Binderfarbe und Putzmittel schlug ihm entgegen.

»Hallo? Hallo?«

Weiter kam er nicht. Er hörte Schritte. Auf der Treppe hinter ihm keuchte jemand wie ein schnaubender Stier. Sein Blick blieb an zwei grobschlächtigen Kerlen im Blaumann hängen, die irgendein Trumm anschleppten. Er war so perplex, dass er sich nicht mal imstande sah, die Szene als alltäglich oder normal einzuordnen.

»Was machen Sie denn da?«, fragte er.

»Wonach sieht es denn aus?«

Es sah nach zwei Möbelpackern aus, die ein blaues Sofa in die Wohnung bugsierten, ein brandneues, schickes Designerteil. Aber wenn jemand nichts für Designkram und Einrichtung übrighatte, dann Lisbeth. Er wollte eben etwas erwidern, als er aus der Wohnung eine Stimme hörte. Für einen Moment glaubte er, es wäre Lisbeth, und seine Miene hellte sich auf. Doch es war Wunschdenken. Die Stimme glich der von Lisbeth nicht einmal annähernd.

»Das ist ja mal hoher Besuch! Was verschafft mir denn die Ehre?«

Er drehte sich erneut um. Auf der Schwelle stand eine hochgewachsene schwarze Frau Mitte vierzig, die ihn neugierig musterte. Sie trug Jeans und eine elegante graue Bluse, hatte sich das Haar zu Zöpfen geflochten und hatte schräg stehende, funkelnde Augen, und er war sofort umso verwirrter. Kannte er sie nicht irgendwoher?

»Nein, nein«, murmelte er. »Ich hab nur …«

»Sie haben nur …?«

»Mich im Stockwerk geirrt.«

»Oder wussten Sie nicht, dass die junge Dame ihre Wohnung verkauft hat?«

Er hatte es tatsächlich nicht gewusst und fühlte sich schlagartig mies, vor allem weil die Frau ihn unverwandt anlächelte. Er war fast erleichtert, als sie sich schließlich den Möbelpackern zuwandte – nicht dass die das Sofa gegen den Türstock donnerten! – und dann wieder in der Wohnung verschwand. Am liebsten wäre er sofort abgehauen, um die Begegnung sacken zu lassen; am liebsten hätte er noch mehr Guinness getrunken. Trotzdem blieb er wie angewurzelt vor der Tür stehen und schielte zum Briefschlitz. Dort stand nicht mehr »V. Kulla«, sondern Linder. Wer zum Teufel war Linder? Er tippte den Namen in sein Handy ein, und Bilder der Frau erschienen auf seinem Display.

Es handelte sich um Kadi Linder, Psychologin und Unternehmensberaterin, und ein bisschen was wollte ihm zu der Frau sogar einfallen, hauptsächlich aber dachte er wieder an Lisbeth und schaffte es gerade so, sich halbwegs zusammenzureißen, als Kadi Linder erneut in der Tür auftauchte, jetzt nicht mehr nur neugierig, sondern auch verwundert. Ihr Blick flackerte, und sie duftete schwach nach Parfüm. Sie war von zarter Statur, mit schlanken Handgelenken und markanten Schlüsselbeinen.

»Jetzt erzählen Sie schon: Haben Sie sich wirklich im Stockwerk geirrt?«

»Kein Kommentar«, erwiderte er und wusste im selben Moment, dass dies keine gute Antwort gewesen war.

Er konnte ihr ansehen, dass sie seine Finte durchschaut hatte, und wollte jetzt nur noch unbeschadet davonkommen. Nichts würde ihn dazu bringen zu offenbaren, dass Lisbeth hier unter falschem Namen gewohnt hatte, ganz gleich was Kadi Linder nun wusste oder nicht.

»Das macht mich nicht gerade weniger neugierig«, sagte sie.

Er lachte – als wäre dies alles bloß eine lächerliche Privatsache, eine Lappalie.

»Sie sind also nicht hier, um mich zu überprüfen?«, hakte sie nach. »Die Wohnung war nicht gerade billig.«

»Solange Sie keinen abgeschlagenen Pferdekopf in das Bett eines anderen gelegt haben, lasse ich Sie in Ruhe.«

»Ich erinnere mich nicht mehr ganz genau an sämtliche Details aus den Verkaufsverhandlungen, aber ich glaube nicht, dass so was dabei war.«

»Gut. Dann mal viel Glück«, erwiderte er mit gespielter Leichtigkeit und hätte sich gern den Möbelpackern angeschlossen, die gerade aus der Wohnung kamen. Doch Kadi Linder wollte anscheinend weiterreden. Sie fingerte nervös an ihrer Bluse und an ihren Zöpfen, und ihm dämmerte, dass ihre augenscheinliche irritierende Selbstsicherheit in Wahrheit bloß Fassade für etwas anderes gewesen war.

»Kannten Sie sie?«, fragte sie.

»Wen?«

»Die hier gewohnt hat?«

Er gab die Frage zurück.

»Sie?«

»Nein. Ich weiß nicht mal, wie sie heißt. Trotzdem mag ich sie.«

»Wie kommt’s?«

»Obwohl an der Börse Chaos geherrscht hat, ist die Auktion um diese Wohnung ziemlich aus dem Ruder gelaufen, und irgendwann hab ich keine Chance mehr gesehen, da mitzugehen. Ich hab aufgegeben. Trotzdem hab ich die Wohnung bekommen, weil die ›junge Dame‹, wie der Anwalt sie nannte, gewollt hat, dass ich sie kriege.«

»Wie nett.«

»Nicht wahr?«

»Vielleicht haben Sie etwas getan, was der jungen Dame gefallen hat.«

»In den Medien bin ich hauptsächlich dafür bekannt, mit alten Männern in Aufsichtsräten zu streiten.«

»Gut möglich, dass sie so was mag.«

»Ja, vielleicht. Darf ich Sie auf ein Einzugsbier einladen? Dann können Sie vielleicht ein bisschen mehr erzählen. Ich muss sagen …« Sie zögerte wieder. »… dass ich Ihre Reportage über die Zwillinge sehr mochte. Sie war wahnsinnig ergreifend.«

»Danke«, sagte er. »Sehr nett von Ihnen. Aber ich muss weiter.«

Sie nickte, und er krächzte ein »Tschüss«. Ansonsten erinnerte er sich später kaum noch daran, wie er dort rausgekommen, nur dass er irgendwann in den Sommerabend hinausgetreten war. Er bemerkte auch nicht, dass über dem Hauseingang zwei neue Überwachungskameras hingen – oder gar dass über ihm am Himmel ein Luftballon schwebte. Er überquerte den Mosebacke torg, ging die Urvädersgränd entlang, und erst an der Götgatan wurde er langsamer und spürte, wie ihm komplett die Luft ausgegangen war. Dabei war nichts weiter passiert, als dass Lisbeth umgezogen war, und das hätte er eigentlich begrüßen müssen; bestimmt wäre sie jetzt umso sicherer. Doch anstatt sich darüber zu freuen, fühlte es sich an wie eine Ohrfeige, und das war natürlich idiotisch.

Sie war Lisbeth Salander. Sie war, wie sie war. Trotzdem war er verletzt. Sie hätte zumindest etwas andeuten können. Erneut fingerte er an seinem Handy, um eine SMS, eine Frage zu schicken, obwohl – nein, war doch egal. Er ging weiter die Hornsgatan entlang. Die Allerjüngsten hatten inzwischen angefangen, ihre Mitternachtslaufrunde zu drehen, und verwundert, als wäre ihre Freude für ihn unbegreiflich, starrte er all die Eltern an, die an der Bordsteinkante standen, brüllten und ihre Kinder anfeuerten, während er alle Mühe hatte, eine Lücke zwischen den Läufern abzupassen und die Straße zu überqueren. Oben an der Bellmansgatan irrten seine Gedanken weiter, und er rief sich das letzte Mal in Erinnerung, als er Lisbeth gesehen hatte.

Es war im »Kvarnen« gewesen, am Abend nach Holgers Begräbnis, und keinem von ihnen war es leichtgefallen, die richtigen Worte zu finden, was nicht weiter verwunderlich gewesen war. Von dem Treffen war eigentlich nur eine Frage geblieben: »Und was machst du jetzt?«

»Ich werde die Katze sein und nicht die Ratte.«

Die Katze und nicht die Ratte.

Er hatte versucht, sie dazu zu bringen, es ihm zu erklären – vergebens. Er wusste noch, wie sie später über den Medborgarplatsen verschwunden war, in einem maßgeschneiderten schwarzen Anzug, in dem sie aussah wie ein zorniger Junge, der sich widerwillig für einen Feiertag aufgebrezelt hatte. Das war noch gar nicht lange her, Anfang Juli war das gewesen, trotzdem fühlte es sich an, als läge es Jahre zurück. Daran und noch an andere Dinge dachte er, als er wieder nach Hause lief.

Als er zurück in seiner Wohnung war und es sich mit einem Pilsner Urquell auf dem Sofa bequem gemacht hatte, klingelte das Telefon erneut.

Es war eine Rechtsmedizinerin namens Fredrika Nyman.

KAPITEL 2

15. August

Lisbeth Salander saß in ihrem Hotelzimmer am Moskauer Manege-Platz vor ihrem Laptop und sah, wie Mikael aus der Tür an der Fiskargatan kam. Er hatte nicht die gleiche Haltung wie sonst, schien verwirrt zu sein, und das versetzte ihr einen Stich, ohne dass sie den Grund dafür hätte benennen können. Trotzdem nahm sie sich jetzt nicht die Zeit, es zu ergründen. Sie wandte sich von ihrem Rechner ab und sah zu der bunt schimmernden Glaskuppel vor ihrem Fenster.

Diese Stadt, die ihr vor Kurzem noch so völlig gleichgültig gewesen war, zog sie magisch an. Kurz überlegte sie, ob sie nicht alles sein lassen, ausgehen und sich volllaufen lassen sollte. Was aber natürlich Blödsinn wäre. Sie musste diszipliniert bleiben. Sie war im Großen und Ganzen an den Computer gefesselt und hatte nächtelang kaum geschlafen. Trotzdem sah sie paradoxerweise so aufgeräumt aus wie lange nicht mehr. Sie hatte sich die Haare kurz schneiden lassen, die Piercings herausgenommen und trug eine weiße Bluse und den schwarzen Hosenanzug, den sie auch bei der Beerdigung getragen hatte – nicht Holger zu Ehren, sondern weil es ihr zur Gewohnheit geworden war und sie so weniger auffiel.

Sie hatte beschlossen, zuerst zuzuschlagen und nicht wie ein Beutetier in der Ecke zu kauern, und genau deshalb befand sie sich in Moskau, und nur deshalb hatte sie auch dafür gesorgt, dass an der Fiskargatan in Stockholm Kameras installiert worden waren. Allerdings hatte sich der Preis als höher erwiesen, als sie sich vorgestellt hatte. Nicht nur weil ihre Vergangenheit wieder auferstanden war und sie nachts wach hielt. Der Feind verbarrikadierte sich hinter Verschleierungstaktiken und sinnlosen Verschlüsselungen, sodass sie stundenlang dasaß und dann ihre Spuren verwischte. Sie lebte wie ein entflohener Sträfling; ihr Vorhaben hatte sich als verdammt knifflig entpuppt, und erst jetzt, nach mehr als einem Monat Arbeit, hatte sie ihr Ziel endlich vor Augen – auch wenn es alles andere als sicher zu sein schien, und manchmal fragte sie sich, ob der Feind nicht vielleicht doch um eine Nasenlänge vorn liegen könnte.

Als sie heute erneut sämtliche Schritte durchgegangen war, um die bevorstehende Operation vorzubereiten, hatte sie sich wieder überwacht gefühlt. Nachts lauschte sie manchmal besorgt auf Geräusche auf dem Hotelflur, vor allem auf die eines Mannes – sie war sich sicher, dass es ein Mann war – , einen Mann mit einer Dysmetrie, einer Unregelmäßigkeit im natürlichen Bewegungsablauf, der verdächtig oft vor ihrer Tür langsamer wurde und nach drinnen zu horchen schien.

Sie spulte den Film zurück. Ein weiteres Mal kam Mikael Blomkvist wie ein geprügelter Hund aus der Fiskargatan. Sie griff zu ihrem Whiskyglas und sah aus dem Fenster. Dunkle Wolken zogen von der Duma über den Roten Platz und den Kreml; es sah nach Regen aus, als stünde ein schreckliches Unwetter bevor, und das war vielleicht gerade gut. Sie stand auf und überlegte kurz, ob sie duschen oder ein Bad nehmen sollte. Doch dann begnügte sie sich damit, die Bluse zu wechseln. Sie wählte eine schwarze. Das fühlte sich passend an, und aus einem Geheimfach in ihrer Reisetasche nahm sie die Cheetah – eine Beretta, die sie an ihrem zweiten Tag in Moskau illegal erstanden hatte – , schob sie unter dem Jackett ins Holster und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen.

Sie mochte das Zimmer nicht – und das Hotel ebenso wenig. Hier war alles zu luxuriös und verschnörkelt, und nicht nur dass sich unten in den Salons Männer wie ihr Vater herumtrieben, riesige Arschlöcher, die ihre Geliebten und Bediensteten als ihren Besitz betrachteten; sie hatte dort überdies das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen. Es konnte durchaus sein, dass gewisse Dinge weitergetragen wurden – an den Nachrichtendienst oder an Gangster – , und oft saß sie dort wie jetzt gerade in ihrem Zimmer: mit geballten Fäusten und kampfbereit.

Sie ging ins Bad und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Es half nicht. Ihre Stirn spannte vor Schlaflosigkeit und Kopfschmerz. Sollte sie gehen? Es wäre im Grunde egal, oder nicht? Sie lauschte auf den Flur hinaus, dort war nichts zu hören, also schlüpfte sie durch die Tür. Sie wohnte im zwanzigsten Stock, und der Fahrstuhl war nicht weit entfernt. Davor stand ein Mann um die fünfundvierzig. Gut aussehend, kurze Haare, Jeans, Lederjacke und schwarzes Hemd, so wie sie. Den hatte sie schon mal gesehen. An seinen Augen war etwas seltsam – Glanz und Farbe waren unterschiedlich. Doch diesmal schenkte sie ihm keine Beachtung.

Mit gesenktem Blick fuhr sie mit ihm nach unten, stieg im Foyer aus, trat auf den Platz hinaus und sah erneut zu der großen Glaskuppel mit der rotierenden Weltkarte, die im Dunkeln glitzerte. Darunter befand sich ein viergeschossiges Einkaufszentrum und obenauf eine Bronzestatue des heiligen Georg mitsamt Drachen. Sankt Georg war der Schutzheilige der Stadt, und mit seinem erhobenen Schwert war er allgegenwärtig. Manchmal führte sie die Hand an ihre Schulter, wie eine schützende, fürsorgliche Geste für ihren eigenen Drachen. Ab und zu berührte sie auch die alte Schusswunde oder die Narbe, die ein Messerstich in ihrer Hüfte hinterlassen hatte. Als wollte sie sich an all das, was wehgetan hatte, erinnern.

Sie dachte an Feuersbrünste und Katastrophen und an ihre Mutter und gab sich unterdessen alle Mühe, nicht in den Aufnahmebereich einer Überwachungskamera zu geraten. Sie ging ruckartig, angespannt, beeilte sich, zum Twerskoj Boulevard zu kommen, der großen Prachtstraße, die an Parks und Gärten entlangführte, und sie blieb erst stehen, als sie vor dem »Versailles« angekommen war, einem der schicksten Restaurants der Stadt.

Das Lokal mit seinen Pfeilern, Kristall- und Goldornamenten sah aus wie ein Barockpalast, ein strahlend perfektes Siebzehntes-Jahrhundert-Gemälde, und am liebsten hätte sie gleich wieder kehrtgemacht. Doch dort drinnen würde heute ein Fest für die Reichsten der Stadt gegeben, und sie sah schon aus der Ferne, wie die letzten Vorbereitungen getroffen wurden. Bislang war lediglich ein Grüppchen bildhübscher junger Frauen gekommen, sicher gebuchte Callgirls. Das Personal arbeitete hart daran, allem den letzten Schliff zu geben. Sie ging ein Stück näher und entdeckte den Wirt.

Er hieß Wladimir Kusnezow. In einem weißen Smoking und Lackschuhen stand er am Eingang. Obwohl er nicht alt war, gerade knapp fünfzig, sah er aus wie der Weihnachtsmann mitsamt weißem Haar und Bart und einem Schmerbauch, der nicht zu seinen dünnen Beinen passte. Er galt als Legende – ein erfolgloser Kleingangster, der umgesattelt hatte und ein berühmter, auf Bärensteaks und Pilzsoßen spezialisierter Koch geworden war. Insgeheim unterhielt er eine Reihe von Trollfabriken, die Fake News produzierten – oft mit antisemitischem Unterton. Kusnezow hatte nicht nur Chaos verursacht und politische Wahlen beeinflusst; ihm klebte auch Blut an den Händen.

Er hatte die Voraussetzungen für Mord und Totschlag geschaffen und den Hass zum Big Business gemacht, und allein sein Anblick am Eingang bestärkte Lisbeth in ihrem Vorhaben. Sie berührte die Beretta in ihrem Holster und sah sich um. Kusnezow zupfte nervös an seinem Bart. Das hier würde sein großer Abend, drinnen spielte bereits das Streichquartett, von dem Lisbeth wusste, dass es später durch die Jazzband Russian Swing ersetzt würde.

Draußen erstreckte sich unter einem Dach aus schwarzen Rundmarkisen der rote Teppich, der von Tauen und Leibwächtern gesäumt war. Die Leibwächter standen Schulter an Schulter, trugen graue Anzüge und Kopfhörer und waren allesamt bewaffnet. Kusnezow sah auf seine Armbanduhr. Noch war keiner der Gäste aufgetaucht. Vielleicht war das auch eine Art Spiel; keiner wollte der Erste sein.

Auf der Straße hingegen drängten sich Schaulustige, die glotzen und gaffen wollten. Es hatte sich offenbar herumgesprochen, dass Berühmtheiten im Anmarsch waren, und das war nur gut, fand Lisbeth. Da fiel sie nicht weiter auf. Dann setzte ein Nieselregen ein, der in einen Platzregen überging. In einiger Entfernung ein Blitz. Das Gewitter grummelte bereits, und die Leute verzogen sich. Nur einige Tapfere mit Regenschirmen standen noch da, und kurz darauf kamen die ersten Limousinen, die Gäste. Kusnezow grüßte und verbeugte sich. Eine der Damen neben ihm malte Häkchen in ein schwarzes Büchlein, und allmählich füllte sich das Restaurant mit Männern mittleren Alters und umso mehr jungen Frauen.

Lisbeth hörte von drinnen Gemurmel, das sich mit der Musik der Streicher mischte, und ab und zu waren Gestalten zu erkennen, auf die sie während der Vorbereitungen gestoßen war. Sie nahm zur Kenntnis, wie sich Kusnezows Mimik und Gestik je nach Bedeutung und Status der Ankömmlinge veränderten. Die normalen Gäste bekamen ein Lächeln und die Verbeugung, die sie seiner Meinung nach verdient hatten; die richtig Vornehmen bedachte er überdies mit einem Scherz, über den Kusnezow selbst am meisten lachte. Er grinste und gluckste wie ein Hofnarr, während Lisbeth sich verfroren und nass das Spektakel ansah. Vielleicht war sie ein wenig zu sehr ins Schauen vertieft.

Einer der Wachleute bemerkte sie und nickte einem Kollegen zu, und das war nicht gut, gar nicht gut. Sie tat, als wollte sie gehen, versteckte sich stattdessen jedoch ein Stückchen weiter in einem Hauseingang. Erst dort bemerkte sie, wie ihre Hände zitterten, und zwar nicht nur aufgrund des Regens und der Kälte.

Sie war zum Zerreißen angespannt und nahm ihr Handy heraus, um sicherzustellen, dass alles bereit war. Ihr Timing musste perfekt sein, sonst wäre sie verloren, und sie ging das Ganze ein-, zwei-, dreimal durch. Ihr lief die Zeit davon, und allmählich nahmen die Zweifel an der Sache überhand. Der Regen fiel weiter, und nichts geschah. Es sah zusehends aus wie eine verpasste Gelegenheit.

Inzwischen schienen sämtliche geladenen Gäste eingetroffen zu sein. Kusnezow kehrte zurück in sein Lokal, und da trat sie vorsichtig auf die Straße hinaus und spähte durch die Fenster. Das Fest war in vollem Gange. Die Männer hatten angefangen, Shots zu kippen und Mädchen anzugrapschen, und sie beschloss kurzerhand, ins Hotel zurückzukehren.

Im selben Moment fuhr eine letzte Limousine vor. Die Frau an der Tür stürzte eilig ins Lokal, um Kusnezow zu rufen, der mit Schweiß auf der Stirn und einem Glas Champagner in der Hand aus dem Restaurant getrottet kam. Lisbeth hielt inne. Offenbar war es ein wichtiger Gast. Das sah man den Wachen an, spürte es an der Nervosität, die in der Luft lag, und an Kusnezows lächerlichem Gesichtsausdruck. Erneut zog Lisbeth sich in ihren Hauseingang zurück.

Erst stieg niemand aus. Kein Chauffeur lief in den Regen hinaus und öffnete den Schlag. Das Auto stand einfach nur da, Kusnezow richtete sein Haar und rückte die Fliege zurecht, wischte sich die Stirn, zog den Bauch ein und leerte sein Glas auf einen Zug, und im selben Moment hörte Lisbeth auf zu zittern. Sie hatte etwas in Kusnezows Blick entdeckt, was sie nur zu gut kannte, und ohne weiter zu zögern, setzte sie ihre Attacke in Gang.

Anschließend schob sie ihr Handy in die Tasche und ließ die Programmcodes für sich arbeiten, während sie selbst sich mit fotografischer Schärfe umsah und jedes Detail der Umgebung registrierte, die Körpersprache der Leibwächter, die Hände über den Waffen, die Lücken im Schulterschluss entlang des roten Teppichs, selbst die Unebenheiten und Pfützen auf dem Bürgersteig.

Still, fast katatonisch stand sie da und betrachtete die Szene, bis der Chauffeur endlich ausstieg, einen Regenschirm aufspannte und die hintere Tür öffnete. Mit katzengleichen Schritten lief sie los. Ihre Hand ruhte auf der Pistole unter dem Jackett.

KAPITEL 3

15. August

Zu seinem Handy hatte Mikael kein gutes Verhältnis. Er hätte sich schon längst eine Geheimnummer anschaffen sollen. Trotzdem zögerte er; als Journalist wollte er die Tür zur Öffentlichkeit nicht vollends zuschlagen. Allerdings quälten ihn all die endlosen Gespräche, und er war der Ansicht, dass sich allein im vergangenen Jahr diesbezüglich etwas verändert hatte.

Der Ton war rauer geworden. Die Leute schimpften, krakeelten und kamen mit den verrücktesten Hinweisen. Wenn ihn eine unbekannte Nummer anrief, ging er kaum noch ran. Dann ließ er das Telefon brummen und klingeln, und wenn er schließlich doch einmal ranging, so wie jetzt, zog er oft, ohne es selbst zu merken, eine Grimasse.

»Mikael?«, sagte er und nahm sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank.

»Entschuldigung«, sagte eine Frauenstimme. »Störe ich gerade?«

»Nein, alles gut«, antwortete er ein wenig sanfter. »Worum geht’s?«

»Ich heiße Fredrika Nyman und bin Rechtsmedizinerin in Solna …«

Er schreckte zusammen.

»Was ist passiert?«

»Nichts, nichts – jedenfalls nicht mehr als sonst, und es hat ganz sicher auch nichts mit Ihnen zu tun. Allerdings haben wir eine Leiche reinbekommen …«

»Eine Frau?«, fiel er ihr ins Wort.

»Nein, nein, ein Mann in höchstem Maße … oder was heißt, in höchstem Maße … Komische Formulierung, was? Aber es ist ein Mann, vielleicht um die sechzig oder ein bisschen jünger, und er muss Schreckliches durchgemacht haben. So was hab ich tatsächlich noch nie gesehen.«

»Wären Sie so nett, zur Sache zu kommen?«

»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht beunruhigen. Ich glaube kaum, dass Sie ihn gekannt haben. Er war ziemlich sicher obdachlos und sogar im Milieu eher weit unten in der Hierarchie.«

»Und was hat er mit mir zu tun?«

»Er hatte einen Zettel mit Ihrer Telefonnummer in der Tasche.«

»Das haben viele«, blaffte er, schämte sich dann aber sofort dafür. Er kam sich taktlos vor.

»Das ist mir klar«, erwiderte Fredrika Nyman. »Und bestimmt werden Sie auch andauernd angerufen. Allerdings nehme ich diese Angelegenheit irgendwie persönlich …«

»Inwiefern?«

»Ich finde, selbst Menschen, die ganz unten angelangt sind, haben im Tod ein wenig Würde verdient.«

»Selbstverständlich«, sagte er überdeutlich, um seine vorige Taktlosigkeit zu kompensieren.

»Schweden«, fuhr sie fort, »war in dieser Hinsicht immer ein zivilisiertes Land. Aber mit jedem Jahr bekommen wir mehr Leichen rein, die wir nicht identifizieren können. Das stimmt mich ehrlich gesagt traurig. Wir haben alle ein Recht auf eine Identität, auf einen Namen und eine Geschichte.«

»Das ist wahr«, sagte er mit dem gleichen Nachdruck, allerdings hatte seine Konzentration bereits jetzt nachgelassen. Ohne dass er sich dessen bewusst gewesen wäre, trat er an den Schreibtisch und an seinen Computer.

»Manchmal ist es tatsächlich unmöglich, jemanden zu identifizieren«, erklärte sie. »Oft liegt es allerdings an mangelnden Ressourcen und zu wenig Zeit oder, noch schlimmer, am mangelnden Willen. Und bei dieser Leiche habe ich diesbezüglich düstere Vorahnungen.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil der Tote nicht in der Datenbank war und weil der Mann aussieht wie ein Mensch ohne Bedeutung. Wie jemand ganz unten, von dem wir lieber den Blick abwenden, den wir lieber vergessen.«

»Traurig«, sagte er.

Er durchsuchte nebenbei die Dateien, die er im Lauf der Jahre für Lisbeth angelegt hatte.

»Tja, hoffentlich liege ich da falsch«, sagte Fredrika Nyman. »Ich hab soeben Proben auf den Weg geschickt, so erfahren wir vielleicht doch bald mehr über den Mann. Ich bin jetzt zu Hause, und da dachte ich, ich könnte den Prozess genauso gut ein bisschen beschleunigen. Und Sie wohnen doch in der Bellmansgatan, nicht wahr? Das ist gar nicht weit weg von dem Ort, an dem er gefunden wurde. Vielleicht sind Sie einander ja mal begegnet. Vielleicht hat er Sie sogar angerufen.«

»Wo wurde er denn gefunden?«

»Unter einem Baum im Tantolunden … und Sie würden sich erinnern, wenn Sie ihn schon mal gesehen hätten. Dunkler Teint, schmutzig, tiefe Falten. Schütterer Bartwuchs. Wahrscheinlich war er starker Sonne und extremer Kälte ausgesetzt. Er hatte Erfrierungen – es fehlten ihm mehrere Finger und Zehen. Die Muskelfasern weisen Anzeichen von extremer Anstrengung auf. Wenn ich raten müsste, würde ich auf eine Herkunft irgendwo in Südostasien tippen. Womöglich hat er mal richtig gut ausgesehen, klare Gesichtszüge und so, auch wenn er am Ende schwer mitgenommen war. Die Haut war aufgrund einer Leberschädigung gelblich, Teile des Gewebes auf beiden Wangen tot und schwarzfleckig. Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist die Altersbestimmung in einem so frühen Stadium schwierig, aber ich würde vermuten, dass er auf die sechzig zuging und schon länger an der Grenze zur Dehydrierung war. Er war klein, kaum mehr als eins fünfzig …«

»Ich weiß nicht, da klingelt bei mir nichts«, sagte Mikael.

Er suchte nach E-Mails von Lisbeth. Fand keine. Sie schien ihn nicht einmal mehr zu hacken, was ihm zusehends Sorgen machte. Irgendwie hatte er das Gefühl, sie könnte in Gefahr sein.

»Ich bin noch nicht fertig«, erklärte Fredrika Nyman. »Das Bemerkenswerteste an ihm hab ich noch gar nicht erwähnt – seine Daunenjacke.«

»Was ist damit?«

»Die war so dick und warm, dass sie in dieser Hitze Aufmerksamkeit erregt haben muss.«

»Es ist, wie Sie sagen, daran müsste ich mich eigentlich erinnern.«

Er klappte den Computer zu und blickte hinaus über den Riddarfjärden. Wieder schoss ihm durch den Kopf, wie verdammt schlau es von Lisbeth gewesen war, von hier zu verschwinden.

»Aber das tun Sie nicht.«

»Nein …«, erwiderte er zögernd. »Haben Sie kein Bild, das Sie mir schicken könnten?«

»Das fände ich unethisch.«

»Was meinen Sie denn, woran er gestorben ist?«

Er war immer noch nicht ganz bei der Sache.

»Auf den ersten Blick würde ich sagen: Vergiftung. Wahrscheinlich selbst verursacht. Allem voran natürlich Alkohol. Er stank nach Schnaps, aber das heißt ja nun nicht, dass er sich nicht auch noch was anderes einverleibt haben könnte. In ein paar Tagen haben wir diesbezüglich Gewissheit, sobald das Labor sich zurückmeldet. Ich hab einen Tox-Screen bestellt, der deckt mehr als achthundert Substanzen ab. Allerdings dürfte die Vergiftung bei ihm über einen längeren Zeitraum stattgefunden haben – langsam versagende Organe, ein sich schleichend vergrößerndes Herz …«

Mikael setzte sich aufs Sofa und nahm einen Schluck Bier. Offenbar hatte er zu lange geschwiegen.

»Sind Sie noch da?«

»Ich bin noch da. Ich dachte nur …«

»Was?«

Er dachte an Lisbeth.

»Dass es vielleicht gut war, dass er meine Telefonnummer hatte«, murmelte er.

»Inwiefern?«

»Anscheinend war er der Meinung, er hätte etwas zu sagen, und das könnte die Polizei vielleicht dazu motivieren, sich ins Zeug zu legen. Manchmal, wenn ich ordentlich in Form bin, kann ich unsere Freunde und Helfer richtiggehend aufscheuchen.«

Sie lachte.

»Das ist wohl wahr.«

»Manchmal verärgere ich sie auch nur.«

Manchmal verärgere ich mich selbst, dachte er.

»Dann hoffen wir mal, diesmal ist es Ersteres.«

»Meine Rede.«

Er wollte das Gespräch beenden. Er wollte seinen eigenen Gedanken nachhängen. Doch Fredrika Nyman wollte offenbar weiterreden, und er brachte es nicht übers Herz aufzulegen.

»Ich hab doch gesagt, der Mann war jemand, den wir am liebsten vergessen hätten, erinnern Sie sich?«

»Das haben Sie gesagt.«

»Allerdings trifft das nicht zu – nicht für mich. Es fühlt sich an, als ob …«

»Wie fühlt es sich an?«

»Als wollte sein Körper mir etwas erzählen.«

»Erzählen?«

»Er sieht aus, als wäre er durch Kälte und Feuer gegangen. Wie gesagt, ich glaube, ich hab noch nie etwas Vergleichbares gesehen.«

»Ein tougher Typ also.«

»Schon, vielleicht … Er war kaputt und unbeschreiblich dreckig. Er stank erbärmlich. Trotzdem hatte er eine gewisse Haltung. Ich glaube, das will ich eigentlich sagen: Er hatte etwas, was ihm bei aller Erniedrigung Respekt verlieh. Er hatte gekämpft, war ein Fighter gewesen.«

»Ein Ex-Soldat?«

»Keine Schusswunden, nichts dergleichen.«

»Dann vielleicht eine Art Stammeshäuptling?«

»Eher nicht. Er hatte ansatzweise gepflegte Zähne und konnte offensichtlich schreiben. Auf seinem linken Handgelenk ist ein buddhistisches Lebensrad eintätowiert.«

»Verstehe.«

»Sie verstehen …?«

»Er hat Sie in irgendeiner Weise beeindruckt. Ich checke noch mal meine Mailbox, vielleicht hat er ja doch angerufen.«

»Danke«, sagte sie, und vermutlich unterhielten sie sich noch kurz, er hätte es später nicht mehr sagen können, er war einfach zu zerstreut.

Nachdem sie aufgelegt hatten, saß Mikael gedankenversunken auf seinem Sofa. Vom Mitternachtslauf auf der Hornsgatan waren Rufe und Applaus zu hören, und er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Es war sicher drei Monate her, dass er zuletzt beim Friseur gewesen war. Er musste sein Leben wieder in den Griff bekommen. Er sollte endlich leben und sich vergnügen, so wie alle anderen auch, nicht nur arbeiten und sich auspressen wie eine Zitrone, und vielleicht sollte er auch öfter mal ans Telefon gehen und nicht immer nur allein auf seine verdammten Reportagen fixiert sein.

Er ging ins Bad, ohne dass ihn das wesentlich fröhlicher gestimmt hätte. Dort hingen Kleider am Wäscheständer. Zahnpasta- und Rasierschaumflecken im Waschbecken, Haare in der Badewanne. Eine Daunenjacke, dachte er, mitten im Sommer? Damit hatte es doch etwas auf sich, oder? Aber es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Ihm ging zu viel durch den Kopf. Er wischte das Waschbecken und den Spiegel sauber, faltete die Wäsche zusammen, nahm sein Handy und rief die Mailbox auf.

Siebenunddreißig Nachrichten. Kein Mensch sollte siebenunddreißig Nachrichten abhören müssen. Gequält hörte er sie sich an. Meine Güte, was war denn bitte mit den Leuten los? Einige hatten tatsächlich mit Hinweisen angerufen und wirkten freundlich und bescheiden. Die meisten waren indes wütend gewesen. Ihr lügt uns über die Flüchtlinge an, schrien sie, ihr vertuscht das mit den Moslems! Ihr deckt doch die jüdische Finanzelite! Er fühlte sich, als wäre er mit Schmutz beworfen worden, und war schon drauf und dran aufzulegen, hörte dann aber doch tapfer weiter, und am Ende war da etwas, was weder das eine noch das andere zu sein schien – ein Moment der Verwirrung.

»Hello, hello«, sagte eine Stimme in gebrochenem Englisch, atmete schwer und fügte nach kurzem Schweigen hinzu: »Come in, over.«

Es klang wie ein Funkspruch über ein Walkie-Talkie, und danach folgten noch ein paar Wörter, die sich verzweifelt und einsam anhörten, aber nicht zu verstehen waren, vielleicht in einer anderen Sprache. Sollte das dieser Penner gewesen sein? Möglich. Aber genauso gut hätte es auch jemand anders sein können.

Mikael legte auf, ging in die Küche und überlegte kurz, Malin Frode anzurufen oder irgendwen sonst, der seine Laune hätte aufbessern können. Stattdessen schickte er Lisbeth eine verschlüsselte Nachricht. Was spielte es schon für eine Rolle, sofern sie nichts mehr von ihm wissen wollte?

Er selbst fühlte sich mit ihr verbunden. Und das würde für immer so bleiben.

Der Regen prasselte auf den Twerskoj Boulevard, und Camilla – oder Kira, wie sie sich inzwischen nannte – , saß mitsamt Chauffeur und Leibwächtern in ihrer Limousine und blickte auf ihre langen Beine hinab. Sie trug ein schwarzes Dior-Kleid und rote Gucci-High-Heels, dazu ein Collier mit einem Oppenheimerdiamanten, der in ihrem Ausschnitt in bläulichem Licht schimmerte.

Sie war atemberaubend schön, und niemand wusste das besser als sie selbst. So wie jetzt gerade ließ sie sich auf der Rückbank öfter Zeit. Es gefiel ihr, es sich auszumalen: wie die Männer zusammenzuckten, wenn sie eintrat, wie viele von ihnen gar nicht mehr aufhören konnten, zu starren oder auch nur den Mund zuzubehalten. Nur einige wenige, das wusste sie aus Erfahrung, brachten den Mut auf, ihr Komplimente zu machen und ihr in die Augen zu sehen. Kira wollte strahlen wie niemand sonst, und hier im Wagen schloss sie die Augen und lauschte dem Regen, der auf die Karosserie prasselte. Dann warf sie einen Blick durch die getönten Scheiben.

Nicht viel zu sehen. Bloß eine Handvoll Männer und Frauen, die unter ihren Regenschirmen zitterten und kaum daran interessiert zu sein schienen, wer hier gleich aussteigen würde. Verärgert sah Kira zum Restaurant. Dort drinnen drängten sich die Gäste, prosteten einander zu und plauderten, während ein Stück tiefer hinein auf einer kleinen Bühne ein paar Musiker saßen und Geige und Cello spielten. Mein Gott, jetzt schleppte sich auch noch Kusnezow mit seinen Schweinsäuglein und der fetten Wampe heraus. Dieser Hanswurst. Sie hatte nicht übel Lust, einfach auszusteigen und ihm unversehens eine Ohrfeige zu verpassen.

Doch sie musste Ruhe und ihre königinnengleiche Aura bewahren. Durfte mit keinem Blick verraten, dass sie gerade erst in einen Abgrund gestürzt und rasend vor Wut gewesen war, weil sie es immer noch nicht geschafft hatten, ihre Schwester zu finden. Sie hatte geglaubt, wenn sie erst deren Adresse gefunden und die Tarnung geknackt hätten, wäre der Rest ein Kinderspiel. Doch Lisbeth blieb verschwunden, und nicht mal Kiras Kontakt beim GRU – nicht mal Galinow – hatte sie aufspüren können. Sie wussten genau, dass es hoch komplizierte Hackerangriffe auf Kusnezows Trollfabriken und andere Ziele gegeben hatte, die auf Lisbeth zurückverwiesen. Allerdings war nicht klar, was davon auf ihr persönliches Konto ging und was auf das Konto anderer Akteure. Sicher war lediglich: Es musste ein Ende haben. Sie musste endlich zur Ruhe kommen.

Aus der Ferne war Donnergrollen zu hören. Ein Streifenwagen raste vorbei. Sie nahm ihren Spiegel aus der Tasche und lächelte sich zu, wie um Kraft zu sammeln. Dann hob sie den Blick, sah, wie Kusnezow sich wand und an Fliege und Hemdkragen nestelte. Dieser Idiot war nervös – wenigstens etwas. Sie wollte, dass er schwitzte und zitterte und bloß keinen seiner grässlichen Witze riss.

»Jetzt«, sagte sie, und Sergej, der Chauffeur, stieg aus, um ihr die Tür aufzumachen.

Auch die Leibwächter stiegen aus. Sie selbst ließ sich Zeit, stellte erst sicher, dass Sergej den Regenschirm aufgespannt hatte. Dann streckte sie das Bein und erwartete den Seufzer, das Keuchen, das »Ah«. Es war nichts weiter zu hören als der Regen und die Streicher und Gemurmel von drinnen. Also beschloss sie, kalt und abweisend zu sein, den Kopf oben zu halten. Sie konnte gerade noch sehen, wie Kusnezow ebenso sorgen- wie erwartungsvoll die Arme zur Begrüßung ausbreitete, als sie mit einem Mal noch etwas anderes spürte – den puren, blanken Schrecken, der sich in sie hineinbohrte.

Erst war es nichts Greifbares, nur eine Vorahnung, etwas an einer Hauswand ein Stück die Straße hinauf. Doch dann sah sie hin und entdeckte die dunkle Gestalt, die mit einer Hand in der Jacke auf sie zumarschiert kam. Sie wollte schon ihre Leibwächter anschreien oder sich einfach auf den Boden werfen. Stattdessen erstarrte sie, als hätte sie erkannt, dass sie sich in einer Lage befand, in der die kleinste unvorsichtige Bewegung sie das Leben kosten könnte – und vielleicht begriff sie da bereits, um wen es sich handelte, obwohl sie bis dahin nichts weiter als eine Kontur wahrnahm, einen sich nähernden Schatten.

Aber irgendetwas in der Gestik, in der Zielgerichtetheit der Schritte, bescherte ihr schreckliche Gewissheit. Und noch ehe sie es für sich selbst hätte formulieren können, wusste sie, dass sie verloren war.

KAPITEL 4

15. August

Hatten sie je eine Chance gehabt, wieder zueinanderzufinden? Etwas anderes als Feindinnen zu sein? Möglich, trotz allem … Immerhin hatten sie eine Zeit lang zumindest eines geteilt: den Hass auf den Vater, Alexander Zalatschenko, und die Angst davor, dass er Agneta, ihre Mutter, mal wieder windelweich prügeln könnte.

Damals hatten die Schwestern noch in einem kleinen, einer Abstellkammer gleichenden Zimmer an der Lundagatan gewohnt. Wenn der Vater nach Schnaps und Tabak stinkend vorbeikam, die Mutter ins Schlafzimmer zerrte und sie vergewaltigte, konnte man in jener Kammer jeden ihrer Schreie hören, jeden Schlag, jedes Keuchen. Manchmal nahmen Lisbeth und Camilla sich dann bei den Händen und suchten beieinander Trost – etwas anderes war da nicht, aber immerhin. Sie teilten ihr Entsetzen, die gemeinsame Verletzlichkeit. Doch selbst das wurde ihnen genommen.

Als sie zwölf Jahre alt waren, steigerte es sich ins Unermessliche – nicht nur im Grad der Gewalt, sondern auch in der Frequenz. Zalatschenko kam immer wieder vorbei, und mitunter vergewaltigte er Agneta Abend für Abend. Im selben Atemzug schlich sich in der Schwesternbeziehung eine Veränderung ein, eine Verschiebung, zunächst kaum greifbar; dann war sie zusehends in Gestalt des erhitzten Glanzes in Camillas Augen und im beschwingteren Schritt zu erahnen, sobald sie den Vater an der Tür begrüßen lief. Da hatte es sich entschieden.

Als der Kampf schließlich drohte, tödlich zu werden, wählten sie unterschiedliche Seiten, und ab diesem Zeitpunkt gab es keinerlei Möglichkeit mehr zur Versöhnung, nicht nachdem Agneta auf dem Küchenfußboden zusammengeschlagen worden war und einen irreparablen Hirnschaden erlitten hatte. Nicht nachdem Lisbeth einen Molotowcocktail auf Zalatschenko geworfen und ihn auf dem Fahrersitz seines Mercedes hatte brennen sehen. Seither ging es um Leben und Tod. Seither war das Vergangene nichts anderes als eine tickende Bombe, und jetzt – Jahre später, noch während Lisbeth aus dem Hauseingang auf den Twerskoj Boulevard hinaustrat – rauschten all die Ereignisse aus der Lundagatan in Bildsequenzen an ihr vorbei.

Hier und jetzt galt es. Sie sah genau vor sich, in welche Lücke sie würde schießen müssen, und wusste exakt, wie sie hinterher fliehen musste. Doch sie erinnerte sich an mehr, als sie begreifen konnte, und ging langsamer weiter, immer langsamer. Erst als Camilla auf hohen Absätzen und in ihrem schwarzen Kleid den roten Teppich betrat, beschleunigte Lisbeth wieder. Immer noch gebeugt, immer noch stumm.

Aus dem Restaurant waren nach wie vor Streicher und das Klirren von Gläsern zu hören. Die ganze Zeit über fiel Regen. Er prasselte auf sie nieder, ein Streifenwagen raste vorbei, sie starrte erst ihn an und dann die Leibwächter und fragte sich, wann man sie bemerken würde. Noch bevor sie schoss? Oder danach? Schwer zu sagen. Noch schien es zu dauern. Es war dunkel und neblig, und Camilla zog alle Aufmerksamkeit auf sich.

Die Schwester strahlte, wie sie es immer getan hatte, und Kusnezows Augen leuchteten, genau wie vor langer Zeit die Augen der Jungs auf dem Schulhof geleuchtet hatten. Camilla besaß die angeborene Fähigkeit, das Leben zum Stillstand zu bringen. Lisbeth sah zu, wie die Schwester voranschritt, wie Kusnezow den Rücken durchdrückte und in einer nervösen Geste zum Gruß mit den Armen wedelte und wie die Gäste an der Tür, die jetzt auch etwas sehen wollten, sich vordrängelten. Im selben Augenblick war ein Ruf zu hören, auf den Lisbeth insgeheim gewartet hatte: »там, посмотрите« – »Dort, hinsehen!« Einer der Leibwächter, ein blonder Mann mit platt geschlagener Nase, wirbelte zu ihr herum. Sie durfte keine Sekunde länger zögern.

Sie führte die Hand an die Beretta im Holster. Genau wie damals, als sie ihrem Vater die mit Benzin gefüllte Milchpackung entgegengeschleudert hatte, überkam sie eine Eiseskälte, und sie sah, wie Camilla vor Entsetzen erstarrte, wie mindestens drei Leibwächter nach ihren Waffen griffen und ihr entgegenstarrten, während sie selbst immer noch meinte, jetzt blitzschnell und schonungslos zu agieren.

Doch binnen eines Wimpernschlags war auch sie selbst wie gelähmt. Erst begriff sie gar nicht, warum, sie spürte nur, wie ein Schatten aus ihrer Kindheit über sie wischte. Dann dämmerte ihr, dass sie nicht nur ihre Chance vertan hatte. Komplett schutzlos stand sie vor der feindlichen Phalanx. Sie würde nicht mal mehr fliehen können.

Camilla hatte gar nicht gesehen, wie die Gestalt innegehalten hatte. Sie hatte nur ihren eigenen Schrei gehört und gespürt, wie Köpfe sich drehten und Körper zusammenzuckten und Waffen gezogen wurden. Sie war der festen Überzeugung, dass es vorbei wäre. Dass ihre Brust jeden Moment von Kugeln zerfetzt würde. Aber es kam kein Angriff, und irgendwie schaffte sie es dann, nach drinnen zu flüchten und hinter Kusnezow Schutz zu suchen, und sekundenlang vernahm sie nichts anderes als ihren eigenen keuchenden Atem und hektische Bewegungen um sie herum.

Es dauerte, ehe sie begriff, dass sie nicht nur davongekommen war, sondern dass sich das Blatt überdies zu ihren Gunsten gewendet hatte. Nicht mehr sie selbst schwebte in Lebensgefahr, sondern die Gestalt dort draußen, von der sie noch immer nicht das Gesicht sehen konnte. Die Gestalt neigte den Kopf, kontrollierte ihr Handy. Das konnte nur Lisbeth sein. Camilla spürte es wie pochenden Hass, wie Blutgier in ihrer Kehle, diese gewaltsame Sehnsucht, sie leiden und sterben zu sehen, und erneut ließ sie den Blick über das Durcheinander schweifen.

Es sah besser aus, als sie sich hätte träumen lassen. Während sie selbst von Leibwächtern in Schutzwesten umgeben war, stand Lisbeth mutterseelenallein auf dem Bürgersteig. Eine ganze Reihe Waffen war auf sie gerichtet. Es war einfach nur fantastisch. Camilla hätte am liebsten die Zeit angehalten. Sie wusste jetzt schon, dass sie sich diesen Moment wieder und immer wieder ins Gedächtnis rufen würde. Lisbeth war erledigt, wäre alsbald erledigt, und damit nicht noch jemand auf die Idee käme zu zögern, schrie Camilla: »Schießt! Sie will mich umbringen!«

In der nächsten Sekunde meinte sie tatsächlich zu hören, wie Schüsse fielen.

Sie spürte am ganzen Leib, wie es dröhnte und gellte, und auch wenn sie Lisbeth nicht mehr sah – um sie herum rannten Leute hektisch auf und ab – , stellte sie sich vor, wie die Schwester getroffen worden war, wie sie im Kugelregen starb, blutend aufs Trottoir fiel. Aber nein … Irgendwas stimmte da nicht. Das waren keine Schüsse gewesen, eher … Was? Eine Bombe, eine Explosion?

Ein brutales Getöse rollte über sie hinweg, und obwohl Camilla keine Sekunde davon verpassen wollte, wie Lisbeth erniedrigt und getötet würde, starrte sie in die Menschenmenge. Es war unbegreiflich.

Die Streicher hatten aufgehört zu spielen und suchten die Festgesellschaft mit erschrockenem Blick ab. Dort standen Gäste, die sich die Ohren zuhielten. Andere hatten sich ans Herz gefasst oder schrien vor Angst. Die meisten jedoch rannten panisch zum Ausgang, und erst als die Tür zum Restaurant aufflog und die ersten Menschen in den Regen flüchteten, dämmerte es Camilla. Das war keine Bombe gewesen. Es war Musik – zu einer so kranken Lautstärke hochgedreht, dass kaum noch Töne wahrnehmbar waren. Es fühlte sich vielmehr an wie ein vibrierender Angriff im Luftraum, und sie war kein bisschen überrascht, als ein älterer Mann mit Glatze immer wieder schrie: »Was ist das? Was ist das?«

Eine Frau, vielleicht zwanzig Jahre alt, in einem kurzen dunkelblauen Kleid sank mit den Händen über dem Kopf auf die Knie, als fürchtete sie, das Dach könnte über ihr einstürzen. Kusnezow, der direkt neben ihr stand, murmelte etwas Unverständliches, was im Lärm verebbte, und im selben Augenblick ging Camilla auf, welchen Fehler sie gemacht hatte. Sie hatte sich ablenken lassen. Als sie jetzt wütend wieder zum Bürgersteig und zur Hauswand starrte, war ihre Schwester verschwunden.

Sie war wie vom Erdboden verschluckt, und Camilla sah sich in dem allgemeinen Wahnsinn aus kreischenden, verwirrten Gästen um, konnte gerade noch einen Fluch murmeln, als jemand sie gewaltsam zu Boden stieß. Sie schlug mit den Ellbogen und dem Kopf auf dem Asphalt auf, und während die Schläfe schmerzhaft pochte und die Lippe blutete und um sie herum Füße umherstolperten, hörte sie direkt über sich eine eisige bekannte Stimme: »Rache folgt, Schwester, sie folgt.« Und offenbar war sie zu umnachtet, um schnell genug zu reagieren.

Als sie den Kopf hob, um sich umzusehen, war von Lisbeth nirgends mehr eine Spur. Um sie herum herrschte ein Durcheinander aus Menschen, die nach und nach aus dem Restaurant stürzten, während sie selbst wieder schrie: »Erschießt sie!«, ohne selbst noch daran zu glauben.

Wladimir Kusnezow hatte nicht einmal bemerkt, dass Kira zu Boden gegangen war. Er nahm von dem ganzen Wahnsinn um ihn herum kaum mehr etwas wahr. Inmitten des Getöses hatte er etwas aufgeschnappt, was ihm mehr Angst einjagte als alles andere zusammen: ein paar wenige abgehackte Wörter, die mit pochendem, dröhnendem Rhythmus hinausgebrüllt wurden. Er weigerte sich zu glauben, dass dies gerade wirklich passierte.

Irgendwann schüttelte er bloß den Kopf, murmelte: »Nein, nein«, und versuchte verzweifelt, alles als schreckliche Einbildung, als einen Streich seiner erregten Fantasie abzutun. Aber es war wirklich dieser Song – das Lied seiner Albträume – , und er wollte einfach nur im Erdboden versinken und sterben.

»Das ist nicht wahr, das kann nicht wahr sein«, stammelte er, während der Refrain ihm wie die Druckwelle einer Granate entgegendonnerte:

Killing the world with lies

Giving leaders

The power to paralyze

Feeding the murderers with hate

Amputate, devastate, congratulate

But never, never

Apologize

Kein Song auf dem ganzen Planeten erschreckte ihn so sehr wie dieser, und im Vergleich dazu war es nichtig, dass sein Fest, auf das er sich so sehr gefreut hatte, sabotiert worden war oder er gar Klagen von wütenden Oligarchen und Machthabern wegen zerfetzter Trommelfelle riskierte. Das Einzige, woran er noch denken konnte, war die Musik, und das war kein Wunder: Allein die Tatsache, dass sie hier und jetzt gespielt wurde, bedeutete nur, dass dort draußen jemand sein Geheimnis kannte. Er lief Gefahr, vor der ganzen Welt lächerlich gemacht zu werden. Wilde Panik legte sich über seine Brust, und er hatte Mühe zu atmen. Trotzdem versuchte er, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, als es seinen Jungs endlich gelang, den Lärm abzuschalten. Er gab sogar einen Seufzer der Erleichterung vor.

»Entschuldigen Sie, meine Damen und Herren«, rief er. »Offenbar sollte man sich nie auf die Technik verlassen. Ich bitte tausendmal um Entschuldigung. Lassen Sie uns jetzt weiterfeiern. Ich verspreche Ihnen, nicht am Alkohol und auch nicht an anderen Versuchungen zu sparen …«

Er hielt Ausschau nach ein paar leicht bekleideten Callgirls, als könnte weibliche Schönheit die Situation retten. Doch die vereinzelten Mädchen, die sein Blick fand, lehnten an die Hauswand und sahen zu Tode erschreckt aus, weshalb er seinen Satz auch nicht mehr beendete. Seiner Stimme fehlte es an Überzeugungskraft, und das merkten die Leute. Sie konnten ihm ansehen, dass er sich im Zustand der Auflösung befand, und als die Musiker demonstrativ an ihm vorbei auf die Straße hinausmarschierten, schienen auch die meisten Gäste einfach nur noch nach Hause zu wollen, und eigentlich war Kusnezow mehr als froh darüber. Er wollte mit seinen Gedanken und seiner Panik allein sein.

Er wollte seine Anwälte und seine Kontakte im Kreml anrufen, um dort zumindest ein wenig Trost zu erheischen und um zu hören, dass er nicht als Schande oder gar Kriegsverbrecher in westlichen Zeitungen landen würde. Wladimir Kusnezow hatte mächtige Beschützer, und er war ohne Zweifel ein Big Shot, dem es gelungen war, abscheuliche Untaten ohne die geringsten Gewissensqualen zu begehen. Ansonsten war er keine starke Persönlichkeit, nicht wenn »Killing the world with lies« auf seinem eigenen privaten Protzfest gespielt wurde.

In derlei Stunden war er wieder der Alte, als der er angefangen hatte, ein nichtsnutziger Tunichtgut, ein nachrangiger Krimineller, der einst durch einen göttlichen Zufall im selben türkischen Bad gelandet war wie zwei Duma-Abgeordnete und der ein paar Räuberpistolen zum Besten gegeben hatte. Kusnezow besaß im Großen und Ganzen keine Talente, keine besonderen Begabungen und auch keine Ausbildung, trotzdem konnte er verrückte Geschichten erzählen, und mehr war nicht nötig gewesen.

An jenem Nachmittag vor vielen Jahren hatte er einfach nur in einer Sauna gehockt, gesoffen und gelogen, hatte sich einflussreiche Freunde gemacht und angefangen, hart zu arbeiten. Inzwischen hatte er Hunderte Angestellte, die meisten entschieden intelligenter als er selbst: Mathematiker, Strategen, Psychologen, Ratgeber vom FSB und GRU, Hacker, IT-Spezialisten, Ingenieure, Experten für künstliche Intelligenz und Robotik. Er war reich und mächtig und vor allem: Nach außen hin verknüpfte ihn niemand mit den Lügen und den Desinformationssystemen.

Er hatte seine Verantwortlichkeiten und seine Teilhaberschaft geschickt verschleiert, wofür er in letzter Zeit mehrmals seinem Glücksstern gedankt hatte, und zwar keineswegs wegen der Verwicklung in den Börsencrash, im Gegenteil, den betrachtete er eher als Feder, die er sich an den Hut stecken konnte; sondern wegen einiger Aufträge aus Tschetschenien, die in den Medien förmlich explodiert waren und zu Protestbewegungen und Aufruhr in der UNO und – was am schlimmsten war – zu einem eigens getexteten Hardrock-Song geführt hatten, der natürlich zu einem Welthit hatte avancieren müssen.

Diesen Song hatte man auf jeder verdammten Demonstration gegen das Morden gehört, und jedes Mal hatte er Todesängste ausgestanden, sein eigener Name könnte in dem Zusammenhang genannt werden. Erst in den vergangenen Wochen, als er sein Fest geplant hatte, war sein Leben wieder halbwegs in normalen Bahnen verlaufen. Sein Lachen war zurückgekehrt und seine Witze und Anekdoten auch. Heute Abend war ein vornehmer Gast nach dem anderen gekommen, und er hatte das Ganze erhobenen Hauptes genossen – bis plötzlich dieser Song derart zu dröhnen begann, dass einem schier der Kopf platzen wollte.

»Verdammte Hölle, verdammt, Teufel auch …«

»Was sagen Sie?«