Verschlungen - Nina Jäckle - E-Book

Verschlungen E-Book

Nina Jäckle

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Beschreibung

Verschlungen: Packend und ganz bei sich erzählt Nina Jäckle in ihrem neuen Roman die Geschichte einer Obsession. Während Ewa, die dominantere von zwei Schwestern, manisch nach absoluter Symbiose sucht, unternimmt die Ich-Erzählerin, beengt durch das genetische Diktat des Gleichseins und die Obses­sion ihrer Schwester, immer wieder Ausbruchversuche. In virtuosen Volten wird hier der Kampf einer Ablösung und Befreiung erzählt. Eine harte, herbe, packende Geschichte – und doch auch eine Art Liebesgesang. Virtuos, vielschichtig: Der Klang dieser versuchten Eroberung einer eigenen Identität und Welt bleibt lange im Ohr.

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Seitenzahl: 170

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Nina Jäckle wurde 1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf und begann früh, Hörspiele zu schreiben; es folgten Erzählungen und Romane. Sie erhielt u.a. den Tukan-Preis, den Evangelischen Buchpreis, den Italo-Svevo-Preis, die Förderung des Deutschen Literaturfonds sowie die Stipendien der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo und des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia.

Bei Klöpfer & Meyer erschienen zuletzt die Romane Der lange Atem (2014) und Stillhalten (2017).

Nina Jäckle

Verschlungen

Roman

1. Auflage

in der KrönerEditionKlöpfer

Stuttgart, Kröner 2023

ISBN DRUCK: 978-3-520-77101-8

ISBN E-BOOK: 978-3-520-77191-9

Die Arbeit der Autorin an dem vorliegenden Buch

wurde vom Deutschen Literaturfonds e.V. gefördert.

Umschlaggestaltung Denis Krnjaic´

unter Verwendung eines Fotos von Luke Jones, unsplash.com

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2023 Alfred Kröner Verlag Stuttgart · Alle Rechte vorbehalten E-Book-Konvertierung: Zeilenwert GmbH Rudolstadt

Für meinen Schröder

DIE FRAGEIST, WASMANALS GEGEBENgelten lassen, was man als gegeben anerkennen muss. Und so macht man sich auf die Suche nach dem Vorgegebenen und ebenso nach der definierbaren eigenen Form. Man versucht zu komponieren, auf dass man Urheber der Melodie des geführten Lebens werde. Doch es bleibt die Befürchtung, einem Diktat zu unterliegen, einem Diktat, das alles ins Unausweichliche zwingt, das besagt, egal welches Handeln man ihm entgegensetzt, es wird unausweichlich nichts zu verhindern sein.

Es gibt ein unumgängliches Wir in meinem Leben. Wir, das bedeutet Ewa für mich. Ewa und ich wurden als absolute Einheit geboren, wir kamen auf die Welt als bedingungslos Gleichgesinnte, denn Ewa und ich haben uns aus ein und derselben Eizelle entwickelt, wir waren von jeher zweifach eine, monozygot war das mächtige Wort zu unserer Verwünschung. Zwei Keime aus einer Eizelle, also Zellgleiche zu sein, war Ewas und mein unfreiwilliges Los, ein Zufallsdiktat, dem alles unterworfen ist. Unsere hohe genetische Übereinstimmung ist der mächtige biologische Prolog zu Ewas und meinem Leben.

Das Haus, das ich für mich gefunden habe, ist klein, es ist gerade groß genug für eine. Es ist aus Holz, es steht mitten im Wald, umgeben von einem verwilderten Grundstück, im Sommer von keiner Seite einsehbar. Das Haus, so scheint es, ist aus der Welt und aus der Zeit in wild wucherndes Urgrün gefallen. Um das Haus herum habe ich Büsche zurückgeschnitten, ich habe ineinandergreifende Efeuranken, Gräser und Brennnesseln entwurzelt und auf kahlgerissenem Boden dann einen schmalen Streifen Wiese gesät. Zwei große Königsfarne befreite ich aus den Brennnesseln, zwei Hortensien setzte ich, zwei Akazien, zweimal Blauregen direkt am Haus. Dieser Streifen domestizierter Natur, diese minimale Gestaltung im Durcheinander des Wuchernden ist Zeichen meines Einzugs in eine mir fremde Wurzel- und Schlingenwelt, in der es kaum eine Möglichkeit gibt, sich selbst zu entkommen.

Um allein in dem Haus leben zu können, muss ich, nach nun fast zwei Jahren, immer noch viel lernen. Ich muss mich immer noch daran gewöhnen, nur meine Schritte, nur mein Räuspern zu hören. Die völlige Dunkelheit des Nachts, das Schlafen ohne Ewa an meiner Seite, ist immer noch gewöhnungsbedürftig. Die nächtliche Stille des Waldes, die in gewisser Weise durch Ereignislosigkeit stillstehende Zeit, alles dies furchtlos mein Leben zu nennen, ist immer noch eine komplizierte Aufgabe für mich. Ich lernte, mein Abseits zu bewohnen, eine Vorratskammer zu organisieren, ich lerne es immer noch, Gedanken zu ertragen, ohne mit Ewa darüber sprechen zu können. Es fällt mir immer noch schwer, Entscheidungen zu treffen, ohne zuvor Ewas Einverständnis einzuholen, mich über etwas zu freuen, ohne auch Ewas Freude daran sehen zu können, etwas abzulehnen, ohne mich an Ewas Ablehnung zu orientieren.

Ewa und ich tragen das gleiche Erbgut, wir stammen aus selber Zelle, wir waren uns bedingungslos zugeordnet, von Anfang an. Weil wir eine sind, zweifach, flüsterte Ewa eines Abends vor dem Einschlafen unsere Losung in das dunkle Kinderzimmer. Im Flüsterton klang sie, wie auch ich klinge, und so hörte ich ihr Flüstern abends im Dunkeln, als wären ihre Worte meine Worte. Eine, zweifach, schrieben wir in unsere Handinnenflächen, ich schrieb in ihre Handinnenfläche, sie in meine. Ewas Schriftzug auf meiner Haut sehe ich oft vor mir, ich sah ihn auch vor mir, als ich den Mietvertrag für das Haus im Wald unterzeichnete.

So wird das nicht gutgehen, steht in einem der Notizhefte, die ich während unseres gemeinsamen Lebens heimlich führte. So wird das niemals gutgehen mit ihr, mit mir, mit uns, steht da, und ich meinte diese ungebrochene Einheit, die Ewa mir stets abverlangte, diese ungebrochene Einheit, die nichts und niemanden zwischen oder neben uns duldete.

Ich weiß etwas, sagte Ewa eines Abends, wir waren dreizehn Jahre alt, ich weiß etwas sehr Schlimmes. Fetus in fetu, flüsterte sie, so heißt das, wenn ein Zwilling den anderen Zwilling im Mutterleib schluckt, das habe ich gelesen. Was denkst du, welche von uns beiden hätte sich wohl welche geschnappt, flüsterte sie. Von diesem Moment an begann ich, Ewa besonders genau zu beobachten, ich versuchte herauszufinden, welche Bücher sie wohl heimlich las, ob sie Geheimnisse vor mir hatte, ich begann, mich noch mehr als sonst auf Ewa zu konzentrieren, um mögliche Vorhaben rechtzeitig zu bemerken. Ich war voll des Misstrauens, Ewas absorbierendes Wesen beängstigte mich zunehmend, ich ließ sie nicht mehr aus den Augen.

Verschlungener kann man nicht Schwester sein, steht in einem meiner zahlreichen einfach gebundenen, schwarzen Notizhefte. Viele Jahre hielt ich sie gut versteckt. Meine Notizen darin waren Verrat an Ewas und meinem Pakt, sie waren meine verborgenen Versuche einer Abkehr. Es war aufregend für mich, diese Hefte zu führen. Das Infragestellen unseres lückenlosen Systems, das Ewa in unserem Leben immer weiter und weiter entwickelte, das Infragestellen ihres Zugriffs auf mich, das heimliche Besorgen und Verstecken der Hefte, alles das war aufregend. Die in meiner Handschrift geschriebenen Zeilen darin, diese Aufzeichnungen meiner Erregungs- und Entspannungswellen, waren mein heimliches Kardiogramm.

Unsere monozygote Welt wurde von Ewa stets perfektioniert. Ewas Bestreben, als ausschließliches und einhelliges Zuzweit zu existieren, war nicht zu bändigen. Unsere angeborene Übereinstimmung ließ für Ewa keinen Zweifel daran, dass sie, uns beide anleitend, lediglich ausführte, was für uns genetisch vorherbestimmt und also befohlen war. Ewas wilde Entschlossenheit und ihr Eifer machten sie mir, trotz all unserer Gleichheit, überlegen, ebenbürtig waren wir nie. Ich wusste immer, sie wäre im Leib unserer Mutter jene von uns beiden gewesen, die sich die andere einverleibt hätte. Ewa hatte mich im Leib unserer Mutter nicht erwischt, und so würde sie also ein Leben lang nicht davon ablassen, mich auf andere Weise aufzusaugen. Fetus in fetu, sage ich auch heute noch vor mich hin, sobald mich die Sehnsucht nach Ewa befällt.

Immer ist Ewa vorweggegangen, meist hat Ewa für uns beide das Wort ergriffen, sie hat entschieden, wie wir uns am nächsten Tag zu kleiden hatten, welche Farbe die Schleife in unserem Haar haben sollte, ob wir die Milch warm oder kalt trinken wollten, wann wir welche Ausflüge machten, was wir uns zum Geburtstag wünschten, mit welcher Laune wir den Tag verbrachten, wann der Tag damit endete, dass Ewa das Licht in unserem gemeinsamen Zimmer ausschaltete. Rührte Ewa die Erbsen auf ihrem Teller nicht an, so aß auch ich die meinen nicht. Als wir kleine Mädchen waren, gehörten wir so eng zueinander, dass es mir wie ein Naturgesetz, wie eben etwas Angeborenes und somit Selbstverständliches erschien, dass Ewa, die bessere Variante von uns, das Kommando über uns beide innehatte. Alles, was sie entschied, empfand ich als meine Entscheidung, denn wir waren aus selber Zelle, wir waren eine, zweifach. Fetus in fetu, sage ich auch heute noch oft vor mich hin, und ich kann nicht glauben, dass es immer noch möglich ist, Sehnsucht nach Ewa zu empfinden, bei aller Kraft, die es mich in all den Jahren gekostet hat, an dieser monozygoten Entzweiung meiner selbst nicht zu Grunde zu gehen.

Ich war mir niemals sicher, weder als Kind noch in späteren Jahren, wie weit Ewa mit ihrer Inszenierung unserer Doppelgängerschaft gehen würde. Viele Jahre unserer Kindheit profitierten wir davon, in dem kleinen Ort, in dem wir mit unserer Mutter lebten, die einzigen Zwillinge, also etwas Besonderes, etwas Bestauntes zu sein. Auch wenn das Staunen über uns durchzogen war von Spott, wir wussten es zu nutzen, für ein paar Bonbons, für Kaugummis oder Klebebilder. Jede von uns war bis ins kleinste Detail das forcierte Abbild der anderen, Hand in Hand und in aller Konsequenz ergaben wir eine, zweifach, von Ewa für den gesamten kleinen Ort auf seltsame Weise choreografiert.

Als ich das Haus im Wald bezogen hatte, trennte ich Pflanzen von Pflanzen, ich bildete Paare, ohne es mir vorgenommen zu haben, ich lache darüber, auch lache ich immer noch darüber, meine Füße in Gummistiefeln, meine Hände in Gartenhandschuhen zu sehen. Auf dem Waldweg, der an meinem Haus vorüberführt, lagen im vergangenen Sommer immer wieder zerteilte Blindschleichen. Mich faszinierte der Anblick dieser zertrennten, schimmernden Körper, vermutlich durch Fahrradreifen der Ausflügler zerteilt. Auf dem Weg vertrockneten diese leblosen Körper auseinandergerissen zu leeren Hüllen. Das Vertrocknen, das Zersetztwerden, das überall auf den Kadavern kriechende Getier, das Übriggebliebene all dieser eben noch lebendigen Körper von klein bis groß, all die natürlichen Zusammenhänge und ewigen Kreisläufe waren in ihrer brutalen Eindeutigkeit neu für mich. Ich musste mir die Zuneigung zu diesem Ort erkämpfen, nichts war besetzt, nichts also war mir vertraut. An diesem Ort lernte ich bereits einiges, ich lernte auch, dass es für mich praktischer ist, Lebendfallen durch Schlagfallen zu ersetzen.

Als ich die Tür meines Hauses zum ersten Mal hinter mir zufallen ließ, die Kisten waren noch nicht ausgepackt, da hallte der harte Schlag der ins Schloss fallenden Tür durch alle Räume. Mit diesem Hall im Ohr sah ich plötzlich auf mich herab, ich sah den leeren Raum um mich herum, ich sah mich stehen in diesem leeren Raum, ich dachte Ewas Namen, wie soll das hier denn gehen, so allein, dachte ich, und ich begann sofort, meine Dinge aus den Kisten zu holen, gegen den Hall also meine Dingwelt auszupacken. Kein Hall mehr, dachte ich, alles gegen das Echo meiner Stimme, du wirst schon sehen, sagte ich in den Raum hinein, zu mir, als sagte ich es zu ihr.

Die Notizen in meinen heimlichen Heften waren mir stets Beweis dafür, dass ich es nicht verstand, den Auftrag, mit Leib und Seele Zwilling zu sein, zu erfüllen. Ich wusste, alles in die Hefte Geschriebene war im Verborgenen und also in einem absolut unbeeinflussten Moment entstanden. Ich sah meine Handschrift gerne an, manchmal schlug ich ein Notizheft nur deshalb auf, um mich meiner unverwechselbaren, also meiner einzigartigen Handschrift darin zu vergewissern. Im selben Moment jedoch sah ich ebenso mein ganzes Versagen, ich las meinen Verrat an Ewas und meinem Zwillingspakt, nicht nur unverkennbar von meiner Hand geschrieben, sondern auch unverkennbar in meinen Worten gedacht.

Eines Morgens, bevor wir in die Schule gingen, standen Ewa und ich gemeinsam im Badezimmer vor dem Spiegel und kämmten uns in gleichen, langsamen Bewegungen das Haar. Plötzlich stellte sich Ewa dicht hinter mich, die Differenz ausreißen, das wäre doch was, sagte sie leise, deine Haare zählen und meine Haare zählen und dann Haar für Haar die Differenz ausreißen, sagte sie und band mir einen Zopf. Dann stellte sie sich dicht vor mich, damit auch ich ihr einen gleichen Zopf binden konnte.

Oft sprachen wir darüber, wie viele Einlinge es auf der Welt doch gibt, wie viele bemitleidenswerte Menschen also ihr Leben allein bestreiten müssen, ohne jede Ahnung davon, wie wunderbar es ist, eine Zellgleiche zu haben, eine Zellgleiche zu sein. Wir waren uns sicher, keinem Einling, nicht einmal unserer Mutter, würde unser Einander-Wissen, unsere genetisch radikale Zuordnung je erklärbar sein.

Zwölf Minuten lang war Ewa allein im Leib unserer Mutter zurückgeblieben. Zwölf Minuten vor Ewa wurde ich von unserer Mutter abgetrennt, mein erster Schrei, zwölf Minuten vor Ewas Schrei, nur ich war zu hören in diesem Moment. Ich hatte Ewa also zurückgelassen, für zwölf Minuten hielten wir uns in unterschiedlichen Welten auf. Wir haben nie darüber gesprochen, ob es von Belang ist, dass ich die Erstgeborene bin. Älter geworden, konnte ich mich nicht gegen den Gedanken wehren, dass der Moment der Befruchtung, der Moment, in dem das Spermium unseres Vaters auf die Eizelle unserer Mutter traf, eigentlich nur mir allein gegolten hatte, dass also ich allein gemeint gewesen war mit diesem Zeugungsakt, dass folglich Ewa sich mit aller Kraft in die Anlage meines bereits begonnenen Lebens, in mein begonnenes Werden hineinentwickelt, dass also Ewa sich von dem nur für mich bestimmten Blut und Sauerstoff mitversorgt und sich so in meine werdende Existenz miteingenistet hatte. Dieser Gedanke war abstoßend, zugleich faszinierte mich das Durchsetzungsvermögen, das ich Ewa somit sogar vorgeburtlich unterstellte.

Die befruchtete Eizelle bin ich gewesen, ich also war zuerst, bevor ich dann nach ein paar Tagen zu uns gespalten wurde von dir. Ich kam früher zur Welt, ich war schon vor dirZygote und also auch vor dir schon Mensch. Du hast mich verdoppelt und gleichsam alles halbiert, steht in einem meiner Notizhefte.

Als ich die Kisten in meinem Haus ausgepackt hatte, als die Möbel an ihrem Platz standen, kam mir das Haus als Ort für mich allein kühn vor. Das schaffst du nie, ganz auf dich gestellt, dachte ich, das wirst du niemals schaffen. Und selbst hier im Wald und so weit entfernt von allem Vertrauten wie niemals zuvor in meinem Leben, selbst jetzt noch, nachdem die Kisten bereits seit zwei Jahren ausgepackt sind, ist Ewa es, die mich immer wieder so denken lässt, das wirst du niemals schaffen, an einem solchen Ort vollkommen auf dich gestellt, so bist du nicht gedacht.

Die Jahreszeiten haben an diesem Ort für mich an Bedeutung gewonnen. Im Sommer denke ich, geschult vom letzten Sommer, bereits beim ersten Regen das unausweichliche Verfaulen alles Blühenden mit. Der Herbst ist die Jahreszeit der Eindringlinge, das beheizte Haus zieht die Kiefernwanzen, die Mäuse, die Marder an. Der Winter steht still als Scherenschnitt kahler Bäume in allen Fenstern rundum. Im Frühling, wenn die Sonne auf den blanken Fensterscheiben steht, sich der Wald also in den Fenstern spiegelt, schlagen Vögel ungebremst gegen die Scheiben. Kernbeißer, Buntspechte, Meisen und Amseln habe ich von meinem Grundstück aus mit der Schaufel zu toten Mäusen in den Wald geworfen. Die Handhabung dieser kleinen Morde ist erlernbar durch die Wiederholung, alles, was man mehrfach wiederholt, verliert den Schrecken und wird zur Normalität.

Ein Wunderwesen mit zwei Körpern sind wir, so wurden wir geboren, dem Zufall sei Dank, schrieb Ewa einmal auf eine Geburtstagskarte an mich. Wir waren siebzehn Jahre alt geworden. Schreib das ab für mich, sagte sie und gab mir eine gleiche Karte und einen Stift. Ewa bestand darauf, dass diese Karten auf unseren Nachttischen lagen, deine Handschrift bei mir, meine Handschrift bei dir, sagte sie. Zwei Schwäne waren auf den Postkarten abgebildet, einander zugewandt, jeder Schwanenhals ein halbes Herz bildend.

Ein Wesen, zwei Körper. Ich mag diesen Gedanken nicht, dieser Gedanke halbiert mein Wesen, steht in einem meiner Notizhefte.

Als Ewa und ich die Windpocken hatten, verglichen wir die Flecken, die sich auf ihrer und auf meiner Haut entwickelten. Ich wusste, Ewa war es unerträglich, dass sich der Ausschlag nicht identisch auf unseren Körpern ausbreitete. Nur unsere Fußsohlen und unsere Handinnenflächen blieben von den Pusteln unbefallen. Wenigstens da sehen wir noch gleich aus, sagte Ewa. Exanthem heißen diese Hautbläschen, das kommt von blühen, sagte sie.

Meine Flecken und Bläschen damals, ganz anders auf meinem Kinderkörper verteilt als Ewas Flecken und Bläschen auf ihrem Körper. Zwei verschiedene Sternenhimmel also, exanthein, ich blühte auf.

Es gibt viele Fotografien von uns, auf denen wir Säuglinge sind. Auf keinem dieser Bilder kann ich mit Gewissheit sagen, welches der beiden abgebildeten Kinder ich bin. Wenn ich diese Fotografien von uns ansehe, werde ich unruhig, manchmal sogar wütend, keines der abgebildeten Kinder kann ich bei seinem Namen nennen. Auch auf den Fotos, auf denen wir Kleinkinder sind, kann ich nicht zweifellos auf eines der Mädchen zeigen, das bin ich, ist für mich nicht mit Gewissheit zu sagen. Es ist, als sei ich beide Kinder, zugleich ist es, als sei ich keines von beiden. Auf den Fotografien, auf denen wir bereits älter sind, ist eine Unterscheidung möglich, diese Bilder drängen mir einen schwer zu ertragenden Vergleich auf. Ewa ist ein wenig größer, sie steht aufrechter, auf vielen dieser Bilder sieht sie direkt in die Kamera, sie hat etwas Elegantes, etwas Hochnäsiges im Blick, während ich den Kopf immer ein wenig in ihre Richtung neige und sie mit den Augen zu suchen scheine. Man könnte denken, das kindliche Aushandeln einer geschwisterlichen Hierarchie wäre bei gleichen Fähigkeiten und bei der hohen körperlichen Übereinstimmung kompliziert unter Zellgleichen. Meine ständige Unterordnung jedoch erschien mir von jeher folgerichtig, ich hielt es für eine natürliche Gegebenheit, mich, als der unzureichende Teil unseres Ganzen, Ewa unterzuordnen. So wurde mein Leben unkompliziert, ich musste nicht stark sein, denn Ewa war stark genug für uns beide, ich musste keine Entscheidungen treffen, ich musste nicht selbstverantwortlich handeln, ich musste mich nicht entwerfen, Ewa war für uns da, sie sorgte für alles, sie war unsere Repräsentanz. Fetus in fetu, denke ich sofort, wenn ich Sehnsucht verspüre nach diesem monozygoten Einssein.

Ich weiß so wenig von dem, was ich wissen müsste, aber Ewas Wissen und Ewas Mut reichen für uns beide. So sind wir gedacht. Ich hoffe, sie meint es gut mit uns.

In der Einsamkeit meines Hauses im Wald ist die Funktionsfähigkeit meines Körpers bedeutsamer geworden. Hier bin ich meinem Körper ausgeliefert, denn Hilfe ist fern, niemand sähe mich liegen, niemand hörte mich rufen, niemand wäre rechtzeitig an meiner Seite. Man darf darüber nicht zu lange nachdenken, denn sonst werden die Schritte unsicher, oder das Haus erscheint plötzlich unerträglich still und leer. Immer noch will es mir nicht recht gelingen, dieses von Ewa nicht überwachte Leben als ein befreites Leben zu sehen, die Ruhe nicht Fehlen zu nennen, Ewa nicht in allem zu suchen. Nach zwei Jahren ist es immer noch nicht selbstverständlich für mich, nur meinen Namen auf dem Schild am Briefkasten zu lesen, kein Und nach meinem Vornamen, dachte ich, als ich das Schild anbrachte.

Es gibt ein Eichhörnchen auf meinem Grundstück. Ich habe Rosinen und Walnüsse unter den Baum gelegt, auf dem ich das Eichhörnchen sah. Niedlicher Jungvogelräuber, niedlicher Nestschurke, lockst mir die Marder, die Wiesel und Katzen an, dachte ich, als das Eichhörnchen kam, um sich seinen Wintervorrat zu holen. Jeder, der sich hier jemanden schnappt, wird von jemandem geschnappt werden, dachte ich, von klein nach groß gibt es da keinen Unterschied. Alles, auch die Handhabung der kleinen Morde, verliert seinen Schrecken. Auf dem Dachboden direkt über dem Schlafzimmer schnappt des Nachts immer wieder einmal eine der Mausefallen zu. Ich höre manchmal, wie eine nicht sofort getötete Maus im Todeskampf die Falle noch kurz auf dem hölzernen Dachboden bewegt. Die ersten Male konnte ich nicht schlafen, bevor ich die Leiter zum Dachboden hinaufgestiegen war, um die gefangene Maus zu erlösen und nachts noch fortzubringen. Mittlerweile gehören das Zuschnappen und die Geräusche der sterbenden Mäuse zum nahenden Winter, mittlerweile gehe ich einmal pro Woche morgens Kadaver einsammeln, bevor ich dann in Ruhe meinen Kaffee trinke.

Ich habe Ewas Geburtsbändchen aufbewahrt, unsere beiden Vornamen stehen darauf, getrennt von einem Und. Ewas Name ist unterstrichen, eine Zwei ist vermerkt. Auf meinem Geburtsbändchen wäre eine Eins zu lesen, das Bändchen gibt es nicht mehr. Gerne sehe ich Ewas Zwei an, der zarte Umfang unserer damaligen Handgelenke erstaunt mich immer wieder. Ewas rosafarbenes Geburtsbändchen hängt bei meinen Hausschlüsseln an meinem Schlüsselbrett, mein Geburtsbändchen lag in unserer Kindheit stets auf Ewas Schreibtisch in unserem Zimmer. Rosa passt doch gar nicht zu uns, sagte Ewa einmal, wenn ich meine Augen schließe und an uns denke, dann sehe ich Tiefblau, sagte sie zu mir, so tiefblau, dass man auch Schwarz denken könnte, sagte sie. Meist erinnere ich mich bei dem Anblick von Ewas Geburtsbändchen auch an unsere Mutter, und somit auch an die Abwesenheit eines Vaters.

Unsere Mutter erzählte uns immer wieder einmal davon, wie schwierig alles für sie gewesen sei, das ganze Leben sowieso, viel mehr und vor allem aber die Zeit, nachdem sie mit Ewa und mir aus dem Krankenhaus zurück nach Hause gekommen war. Es hätte doch eine schöne, eine glückliche Zeit sein müssen, ich war eine junge Mutter mit zwei gesunden Töchtern. Stattdessen, sagte unsere Mutter, stattdessen, wiederholte sie dann noch einmal, ohne weiterzusprechen, und diese nicht ausgesprochenen Worte blieben als seltsame Leerstelle auf ewig ein stets anwesender Vorwurf an Ewa und mich.