Was nebenan passiert ist - Rose Klay - E-Book

Was nebenan passiert ist E-Book

Rose Klay

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Beschreibung

Eine schreckliche Entdeckung wirft Friederikes Leben völlig aus der Bahn: Sie findet die kleine Nachbarstochter ermordet in deren Kinderzimmer, daneben liegt der schwer verletzte Vater. Doch wo ist die ältere Tochter? Und wo die Mutter?

Für Friederike, die sich selbst nichts sehnlicher wünscht als ein Kind, beginnt ein Spießrutenlauf. Denn sie gerät nicht nur ins Visier der Ermittlungen, auch die Medien stürzen sich auf den Fall - und auf sie. Friederike muss herausfinden, Was nebenan passiert ist. Aber je mehr sie erfährt, desto mehr fragt sie sich, wem sie noch vertrauen kann ...

Wie bereits in DIE TOCHTER überzeugt Rose Klay auch in ihrem neuen Roman durch ein faszinierendes Spiel mit der Wahrheit. Ein psychologischer Thriller, der auf jeder Seite fesselt!

Das sagen Leserinnen und Leser über DIE TOCHTER:

"Ein Thriller, der absolut überzeugt, berührt und erschreckend nah an der Realität zu sein scheint. Rose Klay hat mich gefangen genommen, in eine Welt voller falscher Fassaden und Geheimnisse begleitet und mich mit dem Ende der Geschichte begeistert zurückgelassen." (Sasazoom, Lesejury)

"Immens spannend bis zum Ende! Entführungsgeschichten und -thriller gibt es viele da draußen - Rose Klay's "Die Tochter" sticht dennoch aus der Masse heraus." (LenaF, Lesejury)

"Ein Thriller vom Feinsten, das kann ich ohne Übertreibung sagen. Atemlos musste ich immer weiterlesen, es ging einfach nicht anders. Eine Story, die im Gedächtnis haften bleibt." (Magnolia, Lesejury)

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

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Inhalt

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Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

1

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Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

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Über dieses Buch

Eine schreckliche Entdeckung wirft Friederikes Leben völlig aus der Bahn: Sie findet die kleine Nachbarstochter ermordet in deren Kinderzimmer, daneben liegt der schwer verletzte Vater. Doch wo ist die ältere Tochter? Und wo die Mutter?

Für Friederike, die sich selbst nichts sehnlicher wünscht als ein Kind, beginnt ein Spießrutenlauf. Denn sie gerät nicht nur ins Visier der Ermittlungen, auch die Medien stürzen sich auf den Fall – und auf sie. Friederike muss herausfinden, was nebenan passiert ist. Aber je mehr sie erfährt, desto mehr fragt sie sich, wem sie noch vertrauen kann ...

Wie bereits in DIE TOCHTER überzeugt Rose Klay auch in ihrem neuen Roman durch ein faszinierendes Spiel mit der Wahrheit. Ein psychologischer Thriller, der auf jeder Seite fesselt!

ROSE KLAY

WAS NEBENAN PASSIERT IST

THRILLER

1

28. April

Da war schon wieder einer.

Auf dürren Stängeln stand der in Plastik verpackte Blumenstrauß am Gartentor. Darüber war ein Heliumballon in Form von Engelsflügeln festgebunden, der aufgeregt im Wind hin und her flatterte, als wolle er vor etwas fliehen.

Ein Sturm kam auf. Es war den ganzen Tag davor gewarnt worden.

Über den Häusern hing eine dunkle Wolkendecke, aber bis auf die Windböen, die ab und zu wie Irrwische durch die Straßen fegten, war es beunruhigend still. Als wenn die ganze Siedlung sich selbst ermahnt hatte, eine Gedenkminute einzulegen, um nicht zu vergessen, was passiert war.

Nachdem die Presse verschwunden war, hatte ich gehofft, das Interesse würde langsam abflauen, doch es sah nicht so aus. Es kamen immer noch Leute, die etwas auf dem Gehweg vor Eriks Haus ablegten.

Von meinem Küchenfenster aus hatte ich einen direkten Blick in unsere Vorgärten. Das Haus von Erik und meines waren beinahe identisch, nur spiegelverkehrt, was in gewisser Weise inzwischen auch auf Erik und mich zutraf. Ein Mann und eine Frau, die beide in einem viel zu großen Haus mit leeren Kinderzimmern lebten.

Unsere Garagen lagen Wand an Wand, die beiden Einfahrten nur durch einen Streifen Gras getrennt. Zur Straße hin verlief ein Zaun, zwischen unseren Grundstücken jedoch konnte man einfach hin- und herlaufen, was ich auch immer tat, wenn ich etwas in Eriks Vorgarten einsammelte. Es war eine Art Buße.

Ich schnappte mir den gelben Sack, den ich ohnehin zur Tonne hatte bringen wollen, und ging nach draußen.

Eine unerträgliche Stille empfing mich.

Die Kinderstimmen, die wir vermissten, verursachten keinen bloßen Mangel an Geräuschen, es ging darüber hinaus. Es war, als hätte ihr Fehlen einen Unterdruck erzeugt, als hätte jemand alle Luft aus Eriks Haus herausgesogen und ein Vakuum hinterlassen, das einem das Trommelfell nach außen stülpte, um mit Gewalt zu sagen, dass wir besser hätten hinhören sollen. Dass ich besser hätte hinhören sollen.

Die Tankstellenblumen an Eriks Gartenzaun wirkten jämmerlich, als wären sie unter der Plastikfolie längst erstickt. Ich konnte nicht nachvollziehen, dass offenbar niemand darüber nachdachte, wer die Teddybären, Kerzen und Blumen vor dem Gartentor einsammeln musste.

Die Blumen verrotteten und fingen an zu stinken. Ihr Anblick half niemandem, außer vielleicht der Person, die sie niederlegte. Die Teddybären wurden nass und schimmelten. Sie erinnerten uns höchstens daran, dass sie nachts in keinem Kinderarm liegen, niemanden mehr trösten konnten. So würde man einfach nicht zur Ruhe kommen.

Die Presse hatte ich inzwischen abgewimmelt. Wochenlang hatte sie vor unserem Haus Stellung bezogen, aber ich hatte geschwiegen. Ich wusste, welche Story sie sich von mir wünschten. Die übliche. Die, die man nach so einer Geschichte immer hörte.

Dass ich Alexa so etwas niemals zugetraut hätte. Dass sie immer eine ganz unauffällige Nachbarin gewesen war. Dass ich niemals gedacht hätte ... Dass wir eine ganz normale Nachbarschaft waren ... Dass die Kinder ganz entzückend gewesen ... dass Erik in einem Schockzustand ... Dass alle Anwohner seit dem Vorfall ...

Doch nicht alles davon wäre die Wahrheit.

Alexa war nicht unauffällig gewesen. Sie war eine YouTuberin, die ständig alles filmte, immer auf Außenwirkung aus. Sie hatte einen Familienkanal, wo sie ständig ihren Alltag präsentierte, samt Kindern und Familienhund. Sie war hübsch auf die Art, die auf Social-Media-Plattformen gut ankam. Langes rehbraunes Haar, gebogene Wimpern und betonte Augenbrauen. Zu jedem Anlass hatte sie das passende Outfit an einem schlanken Körper, den man in Alexas Welt als »lean« bezeichnet hätte.

Erik, das passende Gegenstück, tauchte in ihren Videos eher selten auf und wenn, hatte ich im Nachhinein betrachtet den Eindruck, dass er versuchte, der Kamera zu entkommen – eine Möglichkeit, die sich den Kindern nicht geboten hatte.

Geschmack konnte man Alexa nicht absprechen. Wenn man ihre sorgfältig bearbeiteten Filme ansah, hatte man automatisch das Gefühl, dass man sich dringend neu einrichten und mehr dekorieren müsste. Alles sah hell und leicht und luftig aus, gerade so, als wenn niemand, nicht einmal der Hund, je Dreck ins Haus schleppte oder auch nur ein Haar verlor. Dass ich die Kinder öfter hatte weinen hören und der Hund häufig im Garten ausgesperrt war, wo er dann jämmerlich winselte, davon sah man im Netz selbstverständlich nichts.

Ich stopfte den Blumenstrauß zu meinem Plastikmüll in den gelben Sack. Eine erneute Windböe schlug mir die Haare ins Gesicht. Der Ballon flatterte über meinem Kopf wie ein gefangener Vogel. Ich versuchte das Geschenkband zu lösen, doch der Knoten wurde durch das Reißen des Windes nur fester gezurrt.

Am Ende der Straße tauchte das nächste unbekannte Auto auf. Die meisten Leute kamen sonntags, aber auch unter der Woche gab es immer mal wieder ungebetene Besucher. Manche fuhren nur langsam vorbei, das Handy im Anschlag, manche stiegen aus und legten etwas vor das Haus. Es gab auch welche, die beteten.

Das Auto hielt ein Stück entfernt, doch mich konnte man nicht täuschen. Hierher verirrten sich keine Fremden, niemand bog aus Versehen von einer Landstraße in eine schmale, mitten in einem Brachacker liegende Zufahrtsstraße ab, die schon von Weitem »Neubaugebiet« schrie. Außer uns Anwohnern fuhren nur Müllfahrzeuge und Paketzusteller hier hinein und hinaus.

Aus dem Auto stieg eine Frau, die eine Baseballkappe und eine Sonnenbrille trug. Leider war es nicht möglich, das Kennzeichen zu notieren, von hier aus erkannte ich es nicht. Das Smartphone in ihrer Hand sah ich trotzdem. Ich seufzte.

Falls sie anfing zu filmen, konnten wir klagen, das hatte ich den anderen erst bei der letzten Krisensitzung der Eigentümergemeinschaft erklärt. Allerdings waren Anzeigen bei der rasanten Verbreitung der Bilder durch das Netz in der Realität die reinste Sisyphusarbeit. Am Ende waren wir uns einig gewesen: Wir wollten keine weitere Aufmerksamkeit durch Gerichtsprozesse, wir wollten einfach nur unsere Ruhe. Doch wir würden zumindest jedem, den wir beim Filmen erwischten, mit Anzeige drohen.

Die Frau filmte nicht. Noch nicht. Aber sie sah sich um, drehte sich halb um die eigene Achse, als fürchtete sie, dass jemand hinter ihr stand, um sie zu vertreiben.

Einen Moment lang sah ich die Siedlung durch die Augen der Fremden: ein nur wenige Jahre altes Neubaugebiet, das wie ein Saum an die alte Siedlung auf der anderen Seite der Hauptstraße angenäht wurde, als der Bedarf an Wohnraum unaufhörlich gestiegen war.

In Form eines Rechtecks zog sich die baumlose Straße an allen Neubauten vorbei. Der Weißdornweg entsprach mit einer Breite von 4,75 Metern exakt den »Mindestanforderungen für Begegnungsverkehr«.

In der Mitte des Rechtecks befand sich ein breiterer Streifen mit einer doppelten Reihe von Häusern, deren Gärten hinten aneinandergrenzten. Auf der Vorderseite wurde die Siedlung von Feldern gesäumt, die bis zur Landstraße reichten, an der linken Seite lag ein großes Schrebergartengebiet, rechts ein kleiner Wald, der uns vom neu erschlossenen Bauland auf der anderen Seite abtrennte.

Das war er, unser ganzer Kosmos.

Hier war im Schnellverfahren das aufgebaut worden, was sich viele Familien wünschten: ein ruhiges, beschauliches Leben am Stadtrand mit Eigenheim, Garten und Parkplatz vor der Tür. Es roch wieder nach Baustelle, nach feuchtem Zement und frisch aufgeworfener Erde. Eine Erweiterung der Siedlung war in Planung, neben dem kleinen Wald sah man bereits die ersten ausgehobenen Gruben.

Ich hatte nicht damit gerechnet, wie sehr ich den Kauf dieses Hauses einmal bereuen würde. Wir waren davon ausgegangen, dass die Häuserpreise weiter so rasant steigen würden wie bisher, doch der Wert der Häuser auf dem Weißdornweg war an jenem Morgen schlagartig gesunken.

Dadurch wurde das Gefühl der Beklemmung noch verstärkt. Wir konnten nicht ohne riesige Verluste verkaufen. Wir waren hier gefangen. Zumindest, bis die Leute vergessen hatten, was hier passiert war.

Die Frau mit der Baseballkappe entdeckte mich und wechselte die Straßenseite.

Sie blieb in einigen Metern Entfernung stehen und schien zu überlegen, ob sie sich durch meine Anwesenheit von ihrer Besichtigungstour abbringen lassen sollte. Noch hatte sie nicht gefilmt, aber ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln, während ich weiter an dem Geschenkband herumfummelte.

Normalerweise versuchte ich, unter dem Radar zu bleiben. Ich verzog mich ins Haus, wenn Neugierige auftauchten. Doch jetzt wollte ich den Ballon noch entfernen, bevor Erik ihn entdeckte. Ich wusste, dass er nichts von diesen Beileidsbekundungen hielt. Im Gegensatz zu Alexa scheute er die Öffentlichkeit.

Endlich löste sich der Knoten. Der Ballon flatterte im Wind, als wolle er sich aus meiner Umklammerung befreien. Mit der Schnur in der Hand sah ich sicherlich aus wie ein zu groß geratenes Kind auf einer Kirmes.

»Tun Sie uns einen Gefallen, und gehen Sie wieder«, sagte ich laut. »Es gibt hier nichts für Sie zu sehen. Niemand wird mit Ihnen sprechen. Und wenn Sie hier ohne Genehmigung filmen oder fotografieren, muss ich Sie leider anzeigen.«

Die Frau starrte mich an. Ich fragte mich, zu welchem Typ sie gehörte. Die meisten waren von der Presse, den Social Media oder einer anderweitig sensationslüsternen Gruppe: Typen, die auch einen Unfall auf der Autobahn filmten und ins Netz stellten, ohne dass sich mir der Sinn dessen erschloss. Eine etwas gemäßigtere Gruppe versuchte, Anteilnahme zu zeigen, ohne die Anwohner zu stören. Und dann gab es noch eine Gattung: Frauen, die auf der Jagd waren. Nach Erik. Er hatte eine regelrechte Fangemeinde im Netz.

Es waren auch vor allem Frauen, die Alexa die schlimmsten Dinge an den Hals wünschten und ihre Social-Media-Kanäle mit Nachrichten bombardierten. Ihre einstigen Fans waren über Nacht zu einer geifernden Meute geworden. Du wirst in der Hölle schmoren. Monster. Du hast den Namen Mutter nicht verdient. Du bist Abschaum.

Diese Frau war etwa in meinem Alter, Mitte bis Ende dreißig, ich konnte es schwer schätzen, weil sie die Kappe und die Sonnenbrille trug und in ihrer Kleidung fast verschwand. Sie hatte Jogginghosen, Sneaker und einen zu großen Hoody an, die Sonnenbrille war ein billiges Drahtmodell mit verspiegelten Gläsern, wie sie im Sommer an Ständen an der Rheinuferpromenade verkauft wurden. Quer über ihrer Brust hing eine Ledertasche.

Es wäre mir lieb gewesen, sie wäre wieder verschwunden, sie hatte ja nun, was sie wollte: einen Blick in die Siedlung geworfen. Doch sie schien keinesfalls gewillt, den Ort wieder zu verlassen, und kam einen Schritt näher. Sie sah an der Fassade von Eriks Haus empor.

Ohne mir den Blick zuzuwenden, sagte sie: »Sie sind die Nachbarin – die nicht aufhören konnte zu weinen. Ich habe Sie im Internet gesehen.«

Ich holte den Ballon ein und drückte die Engelsflügel an mich. Mir stiegen schon wieder Tränen in die Augen, aber inzwischen hatte ich mich besser im Griff.

Niemand hatte mich auf so etwas vorbereitet. Ich war weder gewohnt noch interessiert daran, ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt zu werden, auch wenn ich genau genommen nur in Alexas Fahrwasser geraten war. Überall waren Videos mit Spekulationen über mich aufgetaucht, teils sogar mit meinem vollen Namen. »Friederike Mönch – die einzige Zeugin« hatte eine True-Crime-YouTuberin eines ihrer Videos betitelt, wogegen ich allerdings sofort vorgegangen war.

Die Frau trat näher und stand schließlich direkt vor mir. Nur der Zaun trennte uns noch. Man konnte hinter den verspiegelten Gläsern der Sonnenbrille nicht viel von ihr erkennen, was mir nicht gefiel. Sie schien zu überlegen, was sie nun tun sollte, und knabberte an ihrem Daumennagel. Auf ihre Kappe war ein »R« gestickt, an dessen Enden Flammen züngelten und das deswegen entfernt an eine startende Rakete erinnerte.

»Das Haus ist nicht mehr versiegelt«, sagte sie. Sie klang auf einmal aufgeregt.

Ich schwieg.

Sie warf mir einen raschen Blick zu. »Ist Erik wieder hier?«

Also gehörte sie zu Eriks Fanclub. Fast hatte ich Mitleid. Wieder eine einsame Seele, die hoffte, sie würde hier auf eine andere treffen. Die dachte, dass dies hier eine einmalige Gelegenheit war, eine Verbindung herzustellen. Zu einem Mann, der verwundet war.

Sie war auch da nicht die Erste. Erst am Morgen hatte ich wieder die Polizei gerufen, weil eine aufgedonnerte Endvierzigerin vor Eriks Haus in einem orangen Cabrio gesessen hatte und einfach nicht verschwinden wollte, weil sie der Meinung war, dass das Schicksal sie und Erik füreinander bestimmt hätte, wie sie mir versicherte. Die Tragödie, die hier stattgefunden hatte, schien weitere anzuziehen. Doch aus zwei Unglücken konnte man kein Glück stricken.

»Kannten Sie seine Frau gut? Alexa?«

Das fragte ich mich auch.

Wie gut kennt man seine Nachbarn?

Alexa hatte immer freundlich und extrovertiert gewirkt, war aber gleichzeitig unnahbar geblieben. Wir kamen über einen bestimmten Punkt einfach nicht hinaus. Ich war allerdings auch nicht besser gewesen. Meine innersten Gefühle hatte ich ebenfalls sorgfältig vor ihr verborgen.

Nach außen wirkten Alexas Töchter wie bunte Tupfen in einer Welt aus Weiß- und Cremetönen, einer Welt, die aussah, als sei sie direkt einer Werbung entsprungen.

Und tatsächlich hatte Alexas Karriere genau dort ihren Ursprung gehabt. Das Haus der Kellers war von der Baufirma, die unsere Siedlung gebaut hatte, als Paradebeispiel einer perfekten Behausung gefilmt worden. Der Geschäftsführer, ein etwas schmieriger Typ namens Henning Pape, war von Alexa offenbar so angetan gewesen, dass er Alexa und ihr Haus unbedingt für seine Werbekampagne haben wollte.

Kameraleute waren gekommen, Beleuchter und Maskenbildner, und Alexa hatte als »echte Kundin« durch ihr Heim und das Video geführt. Die Werbung wurde deutschlandweit ausgestrahlt, man sah sie überall, im Fernsehen und im Internet. Alexa hatte bezaubernd ausgesehen.

Den Werbefilm hatte ich inzwischen so oft angesehen, dass ich den Text mitsprechen konnte. Kaum dass ich am Laptop saß, ploppte er irgendwo auf. Irgendwann kam es mir vor, als wäre die Absicht des Films gar nicht der Verkauf von Fertighäusern, sondern mir zu vermitteln, wie ein richtiges Zuhause aussehen müsste. Der Film riss alle meine Wunden auf. Inzwischen fand man ihn im Netz nicht mehr. Ein Tatort eignete sich nicht als Werbung.

Seitdem hatte Alexa ständig gefilmt. Das war ihr Job. Alles, alles wurde gefilmt. Rebecca war schüchtern vor der Kamera, doch die kleine Celina hatte das Prinzip schnell verstanden, denn sobald das Handy der Mutter in ihre Richtung schwenkte, lächelte sie, weshalb sie Alexas erkorenes Lieblingsziel war.

Celina. Ich spürte immer noch den brennenden Schmerz in meinen Fingerspitzen, als hätte ich dort, wo ich sie berührt hatte, einen Eisbrand erlitten. So kalt war sie gewesen. Wie konnte ein Mensch sich so kalt anfühlen?

Die Frau vor mir betrachtete ein Stück Draht, mit dem Alexa vor einiger Zeit ein Rosengitter am Zaun festgemacht hatte, das sie jedoch später wieder entfernt hatte, weil die Rosen einfach nicht hatten wachsen wollen. Der Draht stand vom Pfosten ab wie ein warnender Zeigefinger.

»Wissen Sie, wann Erik zurückkommt?«, fragte sie.

Auf einmal hatte ich die Nase voll von all den Verrückten. Wir hatten genug durchgemacht, wir konnten nicht noch die Sorgen der übrigen Welt schultern, erst recht nicht Erik.

»Lassen Sie ihn in Ruhe«, sagte ich scharf.

Sie musterte mich von oben bis unten, als hätte sie eine unerwartete Konkurrentin entdeckt.

»Und machen Sie sich bloß keine Hoffnungen«, sagte ich und stieß demonstrativ den Heliumballon gegen den Draht. Es knallte laut.

Die Frau ließ sich von der Geste nicht beeindrucken. Sie beugte sich über den Zaun und griff nach meinem Arm.

»Und Sie, Sie sollten besser aufpassen«, sagte sie.

Kurz durchzuckte mich der Gedanke, dass ich den Kopf der Frau packen und mit aller Wucht nach unten auf den Metallpfahl schlagen könnte, der unsere beiden Welten wie ein treuer Grenzsoldat trennte. Ich starrte sie an. Fast erwartete ich, dass ihr Blut über das Gesicht lief.

Als wenn sie meine Gedanken gespürt hätte, ließ sie mich los und trat einen Schritt zurück.

Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und ging ins Haus.

2

Vorher

Mit dem Einzug in die Siedlung hatte sie beginnen sollen, die bedeutendste Phase meines Lebens. Ich hatte mich niederlassen wollen. Ankommen. Einen Ort schaffen, wo Jasper und ich hingehörten, unseren höchstpersönlichen Platz auf Erden. Es kam anders.

Dass wir von diesem Haus erfuhren, bevor es auf den Markt kam, hatten wir Erik zu verdanken. Ein Wink des Schicksals. Häuser gingen in Zeiten des Niedrigzinses weg wie warme Semmeln, erst recht in Städten wie Düsseldorf. Der Markt war leer gefegt, auch in den Randgebieten, in die es uns jetzt verschlagen hatte.

Erik und ich kannten uns aus der Schule. Das heißt, eigentlich kannte nur ich ihn. Da er zwei Klassen über mir gewesen war und ich ein recht unscheinbares Mädchen, glaube ich nicht, dass er mich je bemerkt hätte, wenn nicht unsere Mütter im selben Bridgeclub gespielt hätten. Aber jeder kannte Erik. Schon in der Schulzeit hatte er gut ausgesehen, und das Älterwerden hatte nichts daran geändert.

Entscheidender jedoch war, dass seine Mutter unser Gymnasium geleitet und der einzige Sohn nicht allein dadurch ein Alleinstellungsmerkmal besaß, sondern auch ihr erklärter Augapfel war.

Jedenfalls war es Karin Keller gewesen, die meiner Mutter von dem überraschenden Verkauf des Hauses neben Erik erzählt hatte.

Wir hatten sofort einen Termin mit dem Makler gemacht.

Ich war geradezu durch unser künftiges Heim geschwebt. Alles, alles fand ich wunderbar. Das moderne Wohnkonzept mit der offenen Küche ließ mich von geselligen Abenden an einem großen Esstisch träumen. Dass ich – von Mona einmal abgesehen – den Kontakt zu sämtlichen Freundinnen längst abgebrochen hatte, war in diesem Moment nebensächlich gewesen. Ich wollte sie alle um Verzeihung bitten.

In meiner Euphorie hatte ich alles gelobt: den Briefkasten, der an der Straße statt am Haus angebracht war, die Garage, durch die man einen direkten Zugang in die Küche hatte, den Master-Bedroom mit dem angrenzenden Badezimmer, das über eine Wäscheklappe verfügte, und das zweite Badezimmer, das die beiden Kinderzimmer verband.

»Ich sehe, der Architekt hatte eine Vorliebe für amerikanische Details. Solche Badezimmer nennt man dort Jack & Jill«, hatte ich gesagt.

»Das wären auch schöne Namen für Ihre Kinder«, antwortete der Makler.

»Meine Frau hat in den USA studiert«, lenkte Jasper rasch ab, der sich wohl ertappt fühlte, denn die Ärztin hatte uns geraten, vor Ablauf der kritischen zwölf Wochen besser über meinen Zustand zu schweigen.

Mit Schweigen kannten wir uns aus. Wir hatten so lange vergeblich versucht, ein Kind zu bekommen, dass wir einfach keine Ratschläge mehr ertragen konnten. Denkt nicht dran, dann klappt das von allein. Entspannt euch einfach. Fahrt in den Urlaub. Denkt doch mal über Adoption nach. Kauft euch einen Hund.

Nach außen tat ich längst so, als würden Kinder in meiner Lebensplanung nicht mehr vorkommen. Es war der einzige Weg, die Leute zum Schweigen zu bringen. Von meinen Freundinnen, die bis auf Mona alle Mütter geworden waren, hatte ich mich abgewendet, weil ich sie nicht ständig belügen konnte — darüber, wie sehr ich sie um ihre Kinder beneidete. Es war nicht schön, ständig krampfhaft zu lächeln, wenn eine Freundin ihr Baby herzte, während mir gleichzeitig die Tränen in die Augen stiegen. Und schließlich konnte ich kaum verlangen, dass sie damit aufhörte, nur damit ich mich nicht schlecht fühlte.

Auch die Behandlung in der Kinderwunschklinik war ein Geheimnis zwischen Jasper und mir. Wir wollten nie wieder jemandem Rede und Antwort stehen müssen, wenn wieder ein Versuch erfolglos geblieben war.

In der Firma war diese Fassade allerdings vorteilhaft gewesen. Ich wurde als Nachfolgerin meiner Chefin gehandelt, die nie einen Zweifel daran gelassen hatte, dass sie Mütter für weniger geeignet hielt, in Führungspositionen aufzurücken. »Reine Mathematik«, sagte sie dazu. »Der Tag hat nur vierundzwanzig Stunden. Rechnen Sie selbst, wie viel Zeit es kostet, sich um ein hilfloses Lebewesen zu kümmern, das jederzeit krank werden kann. Und Elternzeit beantragen gerade mal zwei Komma sechs Prozent der Männer, man kann sich also vorstellen, wie viele von ihnen im Notfall einspringen.«

Wenn ich Glück hatte, wurde über die Nachfolge entschieden, solange sie noch nichts von meiner Schwangerschaft mitbekam. Aber selbst das war mir in dem Moment egal gewesen.

Ich hatte am Ende des Rundgangs voller Inbrunst zu dem Makler gesagt: »Das Haus ist ein absoluter Traum.«

Erst im Büro des Notars überkam mich ein winziger Zweifel.

Das Ehepaar, von dem wir das Haus kauften, betrat nach uns die Kanzlei. Wir hörten sie vor der Bürotür streiten.

»Eine Scheidung ist immer eine hässliche Sache«, sagte der Notar und hob bedauernd die Schultern.

Als das Paar schließlich in das Büro eintrat, dachte ich erschüttert, dass es uns ähnelte, auch wenn die Frau sich auffälliger kleidete als ich. Ich fühlte mich in konservativer Kleidung am wohlsten und besaß vor allem Kostüme, Hosenanzüge und viele weiße Blusen. Diese Frau trug für den Anlass einen zu auffälligen engen Lederrock und einen Oversize-Pullover mit tiefem V-Ausschnitt, der über eine Schulter rutschte. Es wirkte ein wenig verzweifelt, als wolle sie ihrem Mann im letzten Moment noch zeigen, was er nun verlor.

Sie verzichtete auf das Vorlesen des Vertrages, unterschrieb im Stehen und war so schnell wieder verschwunden, dass ich annahm, dass sie andernfalls die Fassung verloren hätte. Sie tat mir leid. Wahrscheinlich hatte der Mann sich von ihr getrennt. Bei der Unterschrift hatte ich bemerkt, dass sie noch ihren Ehering getragen hatte, mit einem herzförmigen Stein in der Mitte, trauriges Symbol einer Liebe, die nun zu Ende ging. An der Hand ihres Ex-Mannes dagegen sah ich keinen Ring mehr.

Einen Moment lang hatte ich mich gefragt, ob es ein böses Omen war, dass wir das Haus eines Ehepaars kauften, das sich gerade scheiden ließ.

Und es sah aus, als sollte mein Gefühl mich nicht täuschen.

Ich verlor unser Kind.

Statt im neuen Haus ein Babyzimmer einzurichten, füllte ich beim Einzug den Kühlschrank wieder mit Medikamenten, die mit einer Kinderwunschbehandlung einhergingen. Ich stapelte Metformin, von dem ich immer Magenschmerzen bekam, Brevactid, das bei mir Schmerzen in der Brust auslöste, Clomifen und Progestan in den Kühlschrank und jagte mir wieder täglich Spritzen in die Bauchdecke.

Aufgeben stand für mich nicht zur Debatte. Es gibt Gedanken, die kommen einem einfach nicht, weil sie zu absurd sind. Ich fragte mich schließlich auch nicht, ob es eine gute Idee wäre, mit dem Atmen aufzuhören.

Zeit meines Lebens war ich davon ausgegangen, dass ich eines Tages eine Mutter sein würde, ja sein musste. Das war meine Bestimmung. Wie sonst sollte ich je zu einer richtigen Familie kommen? Als Adoptivkind, das die leiblichen Eltern nicht kannte, hatte ich immer das Gefühl gehabt, haltlos durch die Welt zu schweben, ohne den zugehörigen Ankerplatz, auf dem meine DNA geschrieben stand. Ein Kind würde alles ändern. Blut von meinem Blut.

Doch nicht nur die Familienplanung lief schlecht. Auch unsere Ehe wurde auf die Probe gestellt, als Jasper kurz nach unserem Umzug einen Lehrauftrag an einer privaten Fachhochschule in München angeboten bekam. Wir hatten einen richtigen Streit deshalb. Ich hatte meine Arbeit hier, immer noch gute Karten für eine Beförderung, und außerdem hatten wir mit dem Hauskauf gerade erst unseren Lebensmittelpunkt an den Stadtrand verlagert, um endlich eine Familie zu werden.

Ich warf Jasper vor, dass er mich im Stich ließ, in der wichtigsten Zeit meines Lebens. Er widersprach und sagte, mit seiner Arbeit würde er schließlich für die Familie sorgen. Ich schluckte hinunter, dass ich mehr verdiente als er. So ging das eine ganze Weile hin und her.

Jasper war der Meinung, dass ein Job in München durchaus für eine absehbare Zeit machbar war, wenn wir uns mit dem Fahren abwechselten.

»Ein Jahr. Danach sehen wir weiter«, sagte er.

Mir blieb nichts anderes übrig, als zuzustimmen, allerdings unter der Bedingung, dass Jasper sich im Gegenzug mit einer Kryo-Konservierung einverstanden erklärte, denn ein ganzes Jahr konnte ich nicht verschenken, nicht in meinem Alter.

Die Kryo-Konservierung ist ein technisch sehr komplizierter Vorgang, bei dem die befruchtete Eizelle kurz vor der Vermischung der Eltern-DNA eingefroren wird.

Der Zeitpunkt des Einfrierens hatte zwar lediglich juristische Gründe – es handelte sich nämlich noch nicht um einen Embryo und unterlag deshalb nicht dessen speziellem Schutz –, trotzdem kam mir die Erstarrung unserer Gene so kurz vor der Verschmelzung auf einmal symptomatisch vor.

Nach diesem Vorgang würde ich Jasper zwar nicht mehr benötigen, trotzdem fühlte ich mich von ihm verraten, da er mir an den schweren Tagen auch nicht mehr zur Seite stehen konnte. Vielleicht war er das ganze Theater langsam satt. Ich fühlte mich oft elend. Die ständige Hormonzufuhr beeinflusste meine Stimmung, die schwankte wie eine Nussschale auf hoher See.

Während ich Jasper nur noch am Wochenende sah, nahm gleichzeitig die berufliche Belastung zu.

Meine Firma wollte nicht nur einen kleineren Konkurrenten aufkaufen, sie wollte gleichzeitig eigenes Personal abbauen, um ein paar der Leute der aufgekauften Firma übernehmen zu können, denn das mittelständische Familienunternehmen beharrte auf einer Übernahme der eigenen Leute. Das war alles rechtlich kompliziert und schwierig durchzusetzen, da meine Firma gleichzeitig möglichst wenig Abfindungen zahlen wollte. Meine Vorgesetzte lud sämtliche Personalprobleme auf meinem Schreibtisch ab, die streng genommen in ihren Aufgabenbereich gehört hätten.

Ich musste Gesetzbücher wälzen und Sonder- und Präzedenzfälle heraussuchen. Dabei konnte ich viel von der Basisarbeit nicht auf meine Mitarbeiter verteilen, da ich im Grunde nach Möglichkeiten suchte, um sie loszuwerden. Immer häufiger verlagerte ich deshalb meinen Arbeitsplatz nach Hause.

Nicht einmal mit meiner einzigen Freundin Mona konnte ich darüber sprechen, da sie in derselben Firma arbeitete wie ich, und ich hatte ein Schweigegebot meiner Vorgesetzten einzuhalten. Das fiel mir schwer. Außerdem vermisste ich den täglichen Kontakt mit anderen Menschen.

Auch an das Leben im Neubaugebiet musste ich mich erst gewöhnen. Das Schlimmste war, dass ich mich von Familien eingekesselt fühlte, die mir jeden Tag aufs Neue vorführten, was mir fehlte. Überall gab es Kinder. Da ich nicht einmal meine Freundinnen mehr ertragen hatte, nachdem sie Mütter geworden waren, fiel es mir jetzt auch nicht leicht, auf die Nachbarinnen zuzugehen.

Jasper war allerdings der Meinung, dass wir unbedingt ein paar nachbarschaftliche Beziehungen pflegen mussten. Er verstand sich gut mit Erik. Erik hatte, sehr zum Ärger seiner Mutter, nach einer Pilotenausbildung stattdessen sein Hobby zum Beruf gemacht und einen eigenen Fahrradladen eröffnet. Jasper, der ebenfalls gern Fahrrad fuhr, begleitete Erik am Wochenende oft.

Ich wurde bei diesen Gelegenheiten häufig von Alexa eingeladen und musste dann Celina und Rebecca beim Spielen zuschauen, während ich versuchte, vom Neid auf diese Kinder nicht zerfressen zu werden.

Während Alexa sich meist auf die fröhlichere Celina konzentrierte, hatte es mir vor allem Rebecca angetan. Dieses eher stille Mädchen beobachtete ihre Welt aufmerksam, während Kurt, der Familienhund, so gut wie nie von ihrer Seite wich.

In jenem Sommer vor den Morden schien unser aller Welt in Ordnung. Die winzigen Schatten, die vorüberflogen, waren zu flüchtig, als dass ich ihnen Aufmerksamkeit geschenkt hätte.

Alexa und Erik waren begeisterte Gastgeber und luden uns öfter zum Grillen ein. Es war bei einer dieser Grillnachmittage, als ich Eriks Besorgnis über Alexas Verhalten in der Öffentlichkeit des Internets zum ersten Mal wahrnahm.

Kiki und Ulf von gegenüber waren auch dort, sie hatten ihre Tochter dabei, die siebenjährige Anni.

Anni hatte das Down-Syndrom, und Kiki neigte dazu, sie mehr zu behüten, als meiner Meinung nach nötig war. Sie musste ständig schlafen, weil Kiki wegen Annis angeborenen Herzfehlers ständig in Sorge war. Es war etwas Besonderes, dass sie den ganzen Nachmittag mit Rebecca und Celina verbringen durfte. Annis vierzehnjähriger Bruder Tom hatte »keine Lust auf Babyspiele« und sich zu den Tiedes abgesetzt, die links von Alexa und Erik wohnten und zwei Jungs im Teenageralter hatten.

Rebecca und Anni türmten Sandkuchen vor Celina auf, die diese mit einer Schaufel sofort wieder zerschlug und jedes Mal vor Freude laut lachte.

Alexa filmte das Sandkastenspiel, schnitt den Film direkt am Terrassentisch zu einer Insta-Story zusammen.

»Es ist ja so toll, wie viele Follower Alexa inzwischen hat«, sagte Kiki. »Sie wird noch ein richtiger Star, wenn das so weitergeht. Du musst unbedingt alle Kanäle abonnieren, Friederike.«

Mit der randlosen Brille, der eher rundlichen Figur und dem praktischen Kurzhaarschnitt war Kiki ein vollkommen anderer Typ als Alexa, schien sie aber zu bewundern.

Erik war weniger begeistert von den Aktivitäten seiner Frau. »Na ja. Ich wünschte, Alexa würde damit aufhören«, sagte er. »Im Internet treiben sich die merkwürdigsten Gestalten rum. Das ist nicht ungefährlich, vor allem für die Kinder. Wer weiß, auf was für Ideen sie solche Leute bringt.«

»Meinst du die Trolle?«, fragte Kiki. »Die gibt es doch überall.«

»Ich meine, dass es nicht gut ist, wenn Kinder zu sehr in der Öffentlichkeit stehen. Das kann traumatisch sein.«

Ich konnte mir vorstellen, warum Erik damit Probleme hatte.

An unserer Schule war es für ihn als Sohn der Schulleiterin unmöglich gewesen, in der Masse unterzutauchen, zumal Karin Keller ihn ständig mit den ehrenvollsten Aufgaben betraute. Erik musste jede Medaille überreichen, wurde in jedes Schülergremium gewählt, musste jede Rede halten. Niemand mochte es, dass er so offensichtlich bevorzugt wurde. Doch viel mehr dürften Erik die nicht enden wollenden Gerüchte um seinen Vater zugesetzt haben.

Seine Mutter war alleinerziehend und verweigerte zum Thema Vaterschaft die Aussage. Die Tatsache, dass Erik ausgerechnet dem Hausmeister ziemlich ähnlich sah, sorgte für viel Getuschel, und so stand Erik ständig im Rampenlicht.

»Du meinst es bestimmt gut«, sagte Kiki. »Aber Alexa meint, solche Kommentare bekommt jeder im Social Media Business.«

»Was für Kommentare?«, fragte ich und kraulte Kurt zwischen den Ohren.

»Alexa hat einen Stalker«, sagte Kiki. »Der schreibt ihr gerne.«

»Einen Stalker?«

»Jedenfalls eine Person, die merkwürdige Kommentare unter ihren Videos hinterlässt. Bösartiges Zeug. Mal über ihr Aussehen, mal über ihre schlechten Mutterqualitäten, weil sie die Kinder der Öffentlichkeit preisgibt.«

Alexa kam an den Tisch. »Also erstens ist Aussehen ja Geschmacksache. Und man kann mich genauso gut im Supermarkt mit meinen Kindern sehen. Das ist auch in der Öffentlichkeit. Wo ist da der Unterschied?«

Kiki zuckte mit den Achseln.

»Und die Kommentare lösche ich einfach. Puff. Dann sind sie weg. Ich habe keine Lust, mich mit so was zu befassen.«

»Ich würde lieber Anzeige erstatten, statt sie zu löschen«, sagte Erik.

»Hast du ja schon gemacht. Aber die Polizei hat nichts unternommen. Das muss man ja jetzt nicht für jeden blöden Kommentar wiederholen.«

»Immerhin hat er das letzte Mal gesagt, dass dein Leben in Gefahr ist«, mischte sich Kiki ein.

»Wie schätzt du das ein?« Erik wandte sich an mich. »Würdest du so was nicht anzeigen?«

»Also reine Gemeinheiten würde ich auch löschen. Aber wenn es Drohungen sind, auf jeden Fall dokumentieren und der Polizei vorlegen«, sagte ich. »Da bin ich deiner Meinung, Erik.«

»Ich glaube eher, Eriks alte Narben sind noch nicht verheilt. Er vermutet immer gleich das Schlimmste.«

»Was für Narben?«, fragte ich.

»Ich habe keine Narben«, sagte Erik. »Ich habe Lebenserfahrung.«

»Ja, mit einer Verrückten.«

Alexa wandte sich an mich und flüsterte so laut, dass alle es hörten: »In Wirklichkeit hatte er nämlich selbst mal eine Stalkerin. Aber eine echte, keinen Troll im Internet. Mit einstweiliger Verfügung und allem.«

»Wirklich?«, fragte ich und sah Erik neugierig an.

»Ja. Aber sie ist dann weggezogen. Seitdem habe ich nie wieder etwas gehört. Ist jetzt auch schon fast zehn Jahre her.«

»Gott sei Dank«, sagte Alexa und schlug scherzhaft ein Kreuz. »Jetzt bin ich halt mal dran mit Stalkern.«

»Ich finde es nicht so lustig wie du«, sagte Erik. »Man sollte so etwas ernst nehmen.«

Alexa machte eine wegwerfende Handbewegung. »Quasi jeder Kanal hat mindestens fünf Prozent hater, sogar Mathematikkanäle, das gehört in den Social Media quasi zum guten Ton.«

Doch am nächsten Tag entdeckte ich einen winzigen Riss in Alexas makelloser Fassade, und ich stellte mir zum ersten Mal die Frage, ob sie nicht vielleicht doch angespannter war, als sie zugeben mochte.

Alexa und die Kinder hockten zusammen auf Knien im Beet im Vorgarten. Ich reinigte die Plastikplane im Kofferraum meines Autos mit einem Handfeger. Dafür brauchte ich länger als nötig, denn zwischendurch schielte ich zu den dreien hinüber und fragte mich, was mich an ihrem Anblick so störte, obwohl sie hinreißend aussahen. Oder war es genau das?

Celina und Rebecca trugen dasselbe Outfit wie ihre Mutter, eine Latzhose aus dunkelblauem Jeansstoff, mit karierten Flicken auf den Knien und rosa Gummistiefel. Alexa hielt ihr Handy an einem Selfiestick in die Höhe, die Mädchen hatten kleine rote Schippen in der Hand, die wie Mehlschaufeln geformt waren.

Die Kinder versuchten vergeblich, damit die durch einen überraschend früh einsetzenden Herbst bereits erkaltete Erde zu lockern. Rebecca bemühte sich redlich, doch die Geduld der kleinen Celina war schon nach wenigen Versuchen erschöpft. Sie schmiss die Schaufel auf die Wiese und fing an zu brüllen. Rebecca versuchte sie zu beruhigen, doch es gelang ihr nicht.

Auf einmal ließ Alexa, die probeweise in die Kamera gelächelt hatte, den Selfiestick fallen, grapschte ungeduldig nach Celinas Schaufel und stieß sie ein paarmal mit solcher Gewalt in die Erde, dass Celina vor Schreck aufhörte zu schreien. Danach schlug Alexa mit der flachen Seite die dicken Brocken so fest in kleine Stücke, dass Rebecca zurückwich. Ich war nicht sicher, ob sie sich vor der hochfliegenden Erde oder ihrer Mutter in Sicherheit brachte. Es war ein kleiner, ein winziger Ausbruch von Gewalt, der überhaupt nicht zu Alexa zu passen schien.

In dem Video, das später gepostet wurde, war der Vorfall nicht zu sehen, es deutete rein gar nichts auf eine Dissonanz hin. Es zeigte nur zwei süße Kinder, in einem Blumenbeet sitzend, die gemeinsam mit ihrer bildhübschen Mutter Blumenzwiebeln einpflanzten.

»Was wir hier tun?«, fragte Alexa und strahlte in die Kamera, als habe sie nicht kurz zuvor Erdklumpen zu Brei geschlagen. »Wir erschaffen eine neue Tradition. Jede Familie kann das tun. Das können Kleinigkeiten sein, aber die Kinder werden sich für immer daran erinnern. Wir werden zum Beispiel ab jetzt jeden Herbst Blumenzwiebeln in den Vorgarten pflanzen. Und Rebecca und Celina können im Frühling jeden Tag nachsehen, ob schon etwas aus der Erde lugt.«

Die Mädchen schauten auf die aufgeworfene Erde vor ihnen, als könne das bereits heute der Fall sein. Die Normalität im Film war so überzeugend, dass ich prompt darüber nachdachte, warum ich noch nie eine einzige Blumenzwiebel in meinem Vorgarten gepflanzt hatte und ob das nicht vielleicht symbolisch war.

Später hat die Polizei viel Erde umgegraben. Selbst ein frisch gegossenes Fundament auf der Baustelle hinter dem kleinen Wäldchen wurde wieder aufgebrochen, die Erde darunter durchwühlt. Alle Gärten und Vorgärten wurden mit Hunden und GPR-Geräten abgesucht.

Gefunden wurde nichts.

3

Im Nachhinein fielen viele Puzzleteile an ihren Platz. Doch in der Zeit, in der ich vielleicht noch etwas hätte ändern können, war ich zu sehr mit meinem eigenen Leben beschäftigt.

Der Vorfall mit der Blumenerde hätte mich misstrauisch machen können, ob vielleicht mehr hinter Alexas winzigem Gewaltausbruch stecken konnte. Im Nachhinein allerdings hätte mir vor allem Rebeccas Verhalten auffallen müssen.

Sie war das perfekte Kind. Sie gab keine Widerworte, sondern tat, was man ihr sagte. Sie bockte nicht und versuchte nie, ihren Willen durchzusetzen.

Wenn Celina in ihrem Bettchen schrie, lief Rebecca mit der Flasche in der Hand die Treppe nach oben.

»Was für eine liebe Schwester«, lobte ich, blind für die Tatsache, dass es nicht ihre Aufgabe war, ein Kleinkind zu versorgen.

Alexa gegenüber nahm Rebecca eine Schonhaltung ein. Als wenn sie ständig darauf achtete, was Alexa brauchte. Wenn Alexa sich nach einer helfenden Hand umsah, reichte Rebecca sie ihr.

Ihre allzu gegenwärtige Bereitschaft, sich den Umständen immer wieder anzupassen, sich selbst in den Hintergrund zu stellen, die habe ich lange Zeit nicht bemerkt. Warum, lag auf der Hand: Das Mädchen machte keine Probleme.

Wenn sie an meiner Hand ging, fühlte es sich an, als hielte man ein Vögelchen an seinem Flügel, als wenn Rebecca mich nicht mit dem Gewicht ihres Arms belasten wolle.

Sie war einfach zu reif für eine Sechsjährige. Nur wenn sie mit Anni oder Kurt spielte, wirkte sie gelöst.

Ich bot Alexa an, auf die Mädchen aufzupassen, wenn sie Hilfe brauchte. Erst lehnte sie ab. Für Notfälle hätte Kiki ein Babyphone im Haus. Aber dass ich Kurt auf meine täglichen Spaziergänge mitnahm, die ich in der Mittagszeit gern machte, wenn ich zu Hause arbeitete, dagegen hatte sie nichts einzuwenden. Es war allen gedient, ich hatte Begleitung und Alexa etwas Entlastung in ihrem durchaus stressigen Familienalltag.

Doch vor Kurzem hatte Kurt einen schrecklichen Unfall mit dem Rasenroboter gehabt. Das rechte Vorderbein war in die Messer geraten und die Pfote völlig zerfetzt worden. Eine Woche lang bangten wir um das Leben von Kurt, weil er sich eine schlimme Infektion zuzog. Inzwischen war das Bein amputiert, und Kurt musste lernen, auf drei Beinen durchs Leben zu humpeln. Da er jedoch noch schwach war, nahm ich ihn nicht mehr auf meine Spaziergänge mit.

Bald nach diesem Zwischenfall brachte Alexa mir dann doch das Babyphone herüber. Sie hatte Streit mit Kiki.

Schon bald war das Babyphone fester Bestandteil meines Küchenregals, und Alexas Türcode klebte an meinem Kühlschrank. Sie bat mich, Erik nichts von unserem Arrangement zu erzählen.

»Erik ist ein übervorsichtiger Vater. Er wähnt seine Töchter immer gleich in Gefahr. Aber wenn ich die kurzen Verschnaufpausen am Mittag nicht ausnutze, komme ich sonst zu gar nichts mehr!«, hatte Alexa mir erklärt, und ich hatte es versprochen, obwohl ich mich Erik eher verbunden fühlte, weil wir früher in eine Schule gegangen waren und wir ohne seine Mutter unser Haus nie bekommen hätten.

Ich überzeugte Alexa rasch davon, dass es kein Problem war, wenn Rebecca zu mir kam, während Celina schlief. Ich lernte diese friedlichen Mittagsstunden zu lieben. Wir stellten das Babyphone auf den Tisch, damit wir Celina hörten, falls sie aufwachte, und ich las Rebecca Geschichten aus meinen alten Kinderbüchern vor.

Sie konnte nicht genug bekommen. Wir hatten schon sämtliche meiner Kinderbücher von Erich Kästner durch und arbeiteten uns gerade durch die Werke von Astrid Lindgren. Inzwischen hatten wir »Die Brüder Löwenherz« angefangen, für mich ihr heimliches Meisterwerk, da sie es geschafft hatte, auf eine tröstliche Weise das Thema Tod und Sterben in einem Kinderbuch zu verarbeiten.

An jenem Tag war alles anders. Wegen Kurts Unfall ging ich allein spazieren und wählte für meine Runde ausnahmsweise die Schrebergärten statt den Wald, da man dort zurzeit viel Baustellenlärm hörte.

Auf dem Heimweg begegnete ich Henning Pape, dem Bauunternehmer, der gerade seinen BMW auf den Parkplatz lenkte. Ich hatte seinen Wagen schon öfter hier stehen sehen. Innerhalb der Weißdornsiedlung gab es nur wenig Parkraum, weshalb der Schrebergartenparkplatz gern als Ausweichmöglichkeit genutzt wurde. Doch für die neue Baustelle war dieser Parkplatz eigentlich unpraktisch, da die Baustelle genau am anderen Ende der Siedlung lag.

»Baustaub ist der Tod von Autolack«, erklärte mir Pape beim Aussteigen, als hätte er meine Gedanken gelesen.

Ich lächelte nur kurz und hob entschuldigend die Hand, da genau in diesem Moment mein Handy klingelte. Alexa war dran und bat mich, das Babyphone einzuschalten, da sie einkaufen müsse.

»Bin in einer Minute wieder zu Hause, dann mach ich es an. Schick mir doch Rebecca rüber, dann lesen wir etwas, bis du wiederkommst.«

»Das ist lieb, aber Rebecca war heute total müde. Sie schläft schon.«

Ich schaltete also das Babyphone ein und verschob unsere Lesestunde.

Irgendwann ging ich rasch zum Briefkasten. Ein eisiger Windstoß kündigte den Herbst an. Nebenan bellte Kurt, was ich aber zunächst nicht beachtete, da ich zu aufgeregt war, was ich in meinem Briefkasten heute vorfinden würde.

Im Kasten lagen neben zwei Rechnungen und einem Werbeprospekt, den ich umgehend in die Papiertonne beförderte, vier Briefe. Bei allen waren Adresse und Absender in meiner eigenen Handschrift verfasst und die Briefmarke von mir selbst in die Ecke geklebt worden. Vier Briefe von einhundertzweiundzwanzig, die ich vor zwei Wochen verschickt hatte. In den ersten Wochen kamen erfahrungsgemäß die meisten zurück. Danach vergaßen die Leute, dass ich ihnen geschrieben hatte. Die Umschläge waren leer. Ich versuchte, es positiv zu sehen. Wenigstens konnte ich sie von meiner Liste streichen.

Als ich zum Haus zurückging, bemerkte ich Kurt. Er hatte sich mit seinem Vorderbein auf das kleine Gartentor gestützt und bellte mich an. Normalerweise war er mittags im Haus, vor allem, wenn Alexa nicht da war. Doch heute hatte Alexa ihn offenbar in den Garten gesperrt.

Kurts Geschichte kannte ich aus Alexas Videos.

Erik hatte Kurt beim Fahrradfahren im Wald gefunden, so eng an einen Baum gebunden, dass er sich nicht einmal hatte hinlegen können, ohne sich dabei zu erhängen.

Es gab ein herzerweichendes Video davon auf Alexas Instagram-Kanal, wie sich Kurt erschöpft an den Stamm lehnte und krampfhaft versuchte, sich auf den Beinen zu halten. Er war abgemagert, niemand wusste, wie lang er dort schon angebunden war. In einem weiteren Film versuchte Erik, das nasse Seil auseinanderzuknoten, um Kurt aus seiner misslichen Lage zu retten.

Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass Alexa begeistert gewesen war, als Erik den ziemlich hässlichen Hund – er war groß und plump, hatte struppiges graues Fell, einen breiten Schädel und viel zu große, abstehende Ohren – in ihr optisch makelloses Haus schleppte, hatte sie wohl die Gunst der Stunde erkannt. Ein Bild von Kurts hervorstehenden Rippen und den traurigen Augen wurde medienwirksam auf ihrem Familienkanal gepostet. Mit Erfolg, denn Alexas Abonnentenzahl stieg daraufhin sprunghaft an, wie eine kurze Recherche meinerseits ergeben hatte.

Nach einer Weile schien Alexa von Kurt eher genervt zu sein. Weil sie immer sehr beschäftigt war, konnte sie nicht stundenlang mit ihm laufen, aber dadurch war er nicht ausgelastet und zerkaute Alexas sorgfältig ausgesuchte Dekoration, weshalb Alexa ihn gern im Garten aussperrte.

Das einzig Gute an der Angelegenheit war, dass Alexa daraufhin für mehrere Wochen ein immer wiederkehrendes Thema für ihre Kanäle hatte. Inzwischen war auch mir klar, dass es sehr anstrengend sein musste, sich jeden Tag neue Inhalte – Alexa nannte es Content – ausdenken zu müssen. Ständige Präsenz war das A und O in dieser Branche.

Hundevideos wurden immer gern geschaut. Also filmte Alexa die Tierarztbesuche, teilte unter Tränen die schreckliche Diagnose der Amputation mit ihrem Publikum und warnte vor Mährobotern, deren Gefahr sie schrecklicherweise überhaupt nicht auf dem Schirm gehabt hatte.

Glücklicherweise lernte Kurt recht schnell, auch mit drei Beinen zu laufen, wenn auch wesentlich langsamer als zuvor. Bellen konnte er immer noch genauso laut, wie er mir gerade bewies.

»Sei leise, Kurt«, sagte ich. »Die Mädchen schlafen.«

Kurt bellte weiter, sprang dabei vor Aufregung gegen den Zaun und fiel beinahe nach hinten um.

»Hast wohl keine Lust auf Gartenarrest«, sagte ich. »Dann komm halt mit rüber. Aber lass die Mädchen schlafen.«

Ich öffnete das Gartentor, nahm Kurt am Halsband und führte ihn in meine Küche, wo er aufgeregt in den Ecken herumschnüffelte.

Doch kaum, dass er damit durch war, lief er zur Haustür und bellte dort weiter.

Vorsichtshalber checkte ich das Babyphone: Es war eingeschaltet, alles war still im Nachbarhaus.

Ich sah von meinem Ordner auf. Kurt bellte immer noch die Haustür an.

Jetzt wurde ich unruhig. Normalerweise benahm sich Kurt nicht so. Vielleicht sollte ich besser nachsehen, ob mit den Kindern alles in Ordnung war. Ich warf einen raschen Blick auf den Türcode, der an meinem Kühlschrank hing und den ich bisher noch nie benutzt hatte, und machte mich auf den Weg zu Alexas Haus. Kurt ließ ich vorsichtshalber im Haus zurück, damit er die Kinder mit seinem Gebell nicht weckte.

Kaum hatte ich Alexas Haustür geöffnet und den Flur betreten, wusste ich, warum Kurt gebellt hatte: Ein unangenehmer Geruch schlug mir entgegen, der mich sofort in Alarmbereitschaft versetzte. Gas!

Ich rannte durchs Wohnzimmer und riss die Terrassentür sperrangelweit auf.

Anschließend eilte ich in die Küche zurück, öffnete die Ofentür, doch der Backofen war leer und kalt. Wo kam das Gas dann her?

Das Haus war makellos, beinahe wie unbewohnt. Wie auch bei uns war das gesamte Erdgeschoss komplett offen gestaltet, Küche, Wohnzimmer und Esszimmer gingen ineinander über, sodass man alles auf einen Blick erfassen konnte.

Rasch öffnete ich das Küchenfenster, doch der frische Luftzug verhinderte augenblicklich, dass ich die Fährte aufnehmen konnte, also drückte ich es wieder zu, witterte wie ein Pferd mit geblähten Nüstern. Im Flur war der Geruch intensiver. Er schien aus dem Keller zu kommen.

Vorsichtig stieg ich in die Treppe hinab. Wegen möglichen Funkenflugs traute ich mich nicht, den Lichtschalter zu berühren. Auch die Taschenlampe des Handys benutzte ich lieber nicht. Ich verließ mich voll und ganz auf meine Nase. Der Geruch wurde stärker.

Von der Treppe drang noch ein wenig Tageslicht durch die Kellertür, sodass ich Umrisse im Keller erkennen konnte. Aus der Waschküche kam ein rumpelndes Geräusch: Die Waschmaschine lief. Laut Digitalanzeige blieb noch eine Restzeit von sieben Minuten. Daneben stand ein Eimer, über den zum Trocknen ein Putzlappen gebreitet war.

Ich trat einen Schritt näher. Ein Geräusch versetzte mich in Unruhe. Es kam ... vom Eimer? Vorsichtig zog ich den Lappen weg. Eine Gasflasche kam zum Vorschein. Leise zischend strömte Gas heraus. Mit schwitzigen Händen drehte ich den Ventilverschluss zu. Da war ich gerade noch rechtzeitig gekommen.

»Mama?« Eine zitternde Stimme erklang vom Treppenabsatz.

Im Gegenlicht sah ich den Umriss von Rebecca.

»Ich bin es, Friederike!«, rief ich nach oben. »Ich bin gleich bei dir!«

Ich öffnete das Kellerfenster.

Erst dann eilte ich nach oben, nahm Rebecca auf den Arm. Was hätte nicht alles passieren können, wenn ich nicht rechtzeitig gekommen wäre! Ich hoffte, dass sie nicht bemerkte, wie aufgeregt ich war.

»Wann bist du wach geworden?«, fragte ich.

»Wo ist Mami?«, fragte Rebecca und kaute auf ihrer Unterlippe.

»Mama kommt gleich wieder«, sagte ich. »Sie hatte einen Termin. Ich sollte so lange auf euch aufpassen.«

»Ich bin die Treppe runtergegangen, da hat es so komisch gerochen«, sagte Rebecca.

»Ja«, sagte ich und bemühte mich um einen leichten Ton, um ihr keine Angst zu machen. »Das kommt draußen von den Feldern. Wahrscheinlich hat jemand Gülle verteilt. Am besten machen wir oben auch mal die Fenster auf und schauen, ob es noch nach Gülle riecht.«

Celina schlief mit dem Daumen im Mund. Leise öffnete ich die Fenster in den Kinderzimmern, ließ Celina aber in ihrem Bettchen liegen. Der Geruch von Gas hatte sich bereits verflüchtigt.

Rebecca sah besorgt aus. »Sonst passt Kurt immer auf, wenn Mama nicht da ist. Ich habe ihn gerufen, aber er war nicht da.«

Mir wurde mulmig. Offenbar hatte Rebecca durchaus mitbekommen, dass Alexa das Haus verlassen hatte, auch wenn Alexa behauptet hatte, sie würde tief und fest schlafen.

»Kurt war im Garten. Hat Mama dir nicht gesagt, dass sie weggeht?«, fragte ich.

Rebecca schüttelte den Kopf. »Sie hat gewartet, bis wir eingeschlafen sind und ist dann gegangen.«

Dabei hatte Alexa wohl übersehen, dass Rebecca gar nicht schlief. Rebecca hatte offensichtlich ihrer Mutter den Gefallen getan und die Augen geschlossen.

»Warum bist du nicht rübergekommen?«

»Mama hat gesagt, du hättest keine Zeit.«

Das war gelogen. Alexa hatte mich gar nicht gefragt, sondern hatte behauptet, dass Rebecca bereits schlief.

Ich betrachtete die Gewürzdosen aus weißem Porzellan, die in Alexas ordentlicher Handschrift mit einem Kreidestift auf Tafelfolie sorgfältig beschriftet waren und alle mit dem Schild nach vorn zeigten. Das Aufbewahrungssystem besaß genau die richtige Mischung aus Ordnung und persönlicher Note.

In den Kräutertöpfen auf der Fensterbank war kein welkes Blatt. Ein selbst gemaltes Bild von Rebecca, das Alexa darstellte, hing am Kühlschrank. Man erkannte Alexas langes braunes Haar, sie hielt einen Cupcake in der Hand, die andere Hand ging zum Mund, als hätte sie gerade einen zweiten gegessen. Darunter stand in Großbuchstaben MAMA.

Auch im Wohnzimmer war alles hübsch arrangiert. Ein Strauß frischer Herbstmargeriten stand in der Mitte des Tisches. Nur der hohe Kerzenständer neben den Blumen wirkte ein wenig fehl am Platz. Es war ein Kerzenständer, wie man ihn eher bei einem formalen Abendessen als an einem Nachmittag zu Hause benutzen würde. Zusammen mit dem Kerzenständer bildete die schlanke weiße Kerze darin eine fast einen Meter hohe Skulptur.

Der Docht war schwarz, aber die Kerze war kaum heruntergebrannt, als hätte sie jemand angezündet und sofort wieder ausgepustet. Einem Impuls folgend steckte ich den Finger in die Mulde. Ich bildete mir ein, dass das Wachs dort ein wenig warm war. War die Kerze erst vor Kurzem angezündet worden?

Wieder rief ich Alexa an, ohne Erfolg.

Obwohl ich ihr versprochen hatte, ihre mittäglichen Ausflüge Erik nicht zu verraten, fühlte mich jetzt von diesem Versprechen entbunden. Erik mochte ein übervorsichtiger Vater sein, aber die Kinder waren tatsächlich in Gefahr gewesen. Also rief ich ihn an und schilderte ihm kurz die Situation, versuchte aber zugleich, die Gefahr herunterzuspielen.

»Kurt hat die offene Gasflasche zum Glück rechtzeitig bemerkt«, erklärte ich.

»Ich bin sofort zu Hause. Warte bitte auf mich.«

In der Zwischenzeit holte ich Kurt und unser aktuelles Lesebuch herüber. Kurt leckte Rebecca mehrmals durchs Gesicht, warf sich ihr dann zu Füßen und zeigte seinen Bauch.

Erik kam nur Minuten vor Alexa.

Ich verzog mich rasch. Erik sah verärgert aus, Alexa schuldbewusst, aber vor den Kindern würden die beiden bestimmt keine Auseinandersetzung vom Zaun brechen, das war nicht ihre Art, zumindest nicht Eriks.

Aber am Abend hörte ich die beiden auf der Terrasse streiten.

»Wie kannst du nur eine Gasflasche nicht richtig zudrehen?«, rief Erik. »Du hättest die Kinder in die Luft sprengen können! Wenn Kurt nicht gewesen wäre ...!«

»Ich dachte, ich hätte sie zugedreht.«

»Wo warst du denn überhaupt?«, fragte Erik. »Was war denn so wichtig, dass du dafür die Kinder alleine lassen musstest?«

Alexa schwieg.

»Nicht mal eine Erklärung, Alexa? Habe ich nicht einmal eine Erklärung verdient?«

»Ich war bei meiner Mutter.«

»Bei deiner Mutter?« In Eriks Stimme klang Unglauben mit. »Wirklich? Nach allem, was passiert ist?«

»Darum habe ich ja nichts gesagt. Ich wusste, dass du nicht damit einverstanden sein würdest.«

»Wenn man etwas absichtlich verschweigt, ist das auch nicht besser als lügen, Alexa.«

Offenbar wurde in der Weißdornsiedlung zurzeit viel gelogen.

Auch ich nahm es momentan mit der Wahrheit nicht so genau.

4

Meine Adoptivmutter hatte keine Ahnung, dass ich mittlerweile beim Jugendamt den Antrag gestellt hatte, meine leiblichen Eltern zu finden. Es war zwischen uns nie ein Thema gewesen, doch ich wusste, sie würde es als Affront empfinden, obwohl sie mir umgekehrt bei jeder Gelegenheit gesagt hatte, dass Blut dicker sei als Wasser.

Ich glaube, es war als Entschuldigung gedacht, als sie feststellte, dass sie mich einfach nicht lieben konnte. Sie hatte es sicher einmal versucht. Doch das Leben läuft nicht immer so, wie man es sich vorstellt.

Blut ist dicker als Wasser. Dieser Satz hatte sich mir eingebrannt. Er hatte mich stets erinnert, dass ich ihr leibliches Kind nie würde ersetzen können, egal, wie sehr ich mich anstrengte. Es war vergebens. Ich war kein Blut von ihrem Blut. Ich war nur das Ersatzrad gewesen, ich funktionierte, war aber von minderer Qualität.

Erst vor Kurzem hatte ich mich heimlich auf die Suche nach meinen leiblichen Eltern begeben.

Theoretisch hätte ich das seit meinem sechzehnten Lebensjahr tun können. Doch als ich sechzehn wurde, war mein Adoptivvater bereits sieben Jahre tot, und ich wohnte mit meiner Adoptivmutter allein. Sie war bitter. Ihr erstes Kind war am plötzlichen Kindstod gestorben, ihr Mann, der sie daraufhin zu einer Adoption überredet hatte, starb an einem Herzinfarkt. Geblieben war ihr nur ... ich.

Ich hatte immer gespürt, dass sie mir übel nahm, dass ausgerechnet ich am Leben geblieben war. Gleichzeitig wollte ich ihr beweisen, dass Blut nicht immer dicker als Wasser war, dass auch ich es verdiente, geliebt zu werden. Wie hätte ich mich da an das Jugendamt wenden können? Ich hätte zugegeben, dass Blutsverwandtschaft doch Wichtigkeit besaß. Deshalb hatte ich die Unterlagen nie angefordert.

Erst als ich in diese Siedlung zog und auf einmal inmitten all dieser Eigenheimträume mitsamt den Bilderbuch-Familien darin lebte, regte sich diese uralte Sehnsucht nach genetischer Zugehörigkeit. Und eine andere Hoffnung regte sich ebenfalls wieder: Vielleicht bedauerten ja meine leiblichen Eltern seit damals, mich weggegeben zu haben. Vielleicht warteten sie seit Jahrzehnten auf eine Nachricht von mir. Nach einer Inkognito-Adoption hatten sie selbst keine Möglichkeit mehr, mich zu finden. Wenn, konnte die Suche nur von mir ausgehen.

Also stellte ich den Antrag auf Akteneinsicht.

Laut Gesetz musste das Jugendamt Adoptionsunterlagen einhundert Jahre lang aufbewahren, aber während eines irgendwann durchgeführten Digitalisierungsprozesses waren die meisten meiner Unterlagen spurlos verschwunden. Ich hatte zu lange gewartet. Nur noch der Nachname meiner Eltern konnte herausgefunden werden. Aber ihre Spur, die laut Auskunft vom Jugendamt »Klein« hießen und verheiratet gewesen waren, verlor sich schon nach dem ersten Umzug. Man entschuldigte sich, versprach mir beim Amt, weiter nachzuforschen. Bisher ergebnislos.

Seitdem probierte ich andere Wege, um sie zu finden. Ich ließ meine DNA-Probe bei mehreren Portalen wie FamilyTree und MyGenes nach eventuellen Verwandten durchsuchen. Und ich schrieb alle Kleins in Düsseldorf und Umgebung an, in der Hoffnung, dass in irgendeiner Familie jemand von einer Adoption gehört hatte.