Welt unter Sechs - Beile Ratut - E-Book

Welt unter Sechs E-Book

Beile Ratut

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Beschreibung

"Manchmal will er innehalten, im Trotz des treulosen Mannes die Weisheit freien." So steht der Mann in der Welt. Unbehaust und verirrt. Hartherzig und tändelnd. Wie kann er heil werden? Wie kann er entdecken, wer er wirklich ist? Drei Erzählungen von Beile Ratut: von Männern, die fehlgehen, zerbrechen und sich auf die Suche machen nach ihrer Bestimmung als Mann, als Liebender, als Vater. In bestechender Sprache, poetisch und eindringlich erzählt Ratut von zerstörerischen Irrtümern und der Weigerung, dem sanften Ruf zu folgen, von Anmaßung, Zorn und Ausflüchten, aber auch vom Wiederfinden des Paradieses, von Versöhnung, Überwindung und Gnade. Ein zeitloser Band über die herausragende Rolle des Mannes in dieser Welt. "Mannsein, das war seine Formel der Unterwerfung, das war die Aufforderung zur Täuschung. Mannsein, das war das Missgönnen des Empfindens, das war irregeleitete Gier und vergoldete Verächtlichkeit. Mannsein, das war etwas, das man erringen musste, doch er hatte nur eine Täuschung errungen."

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Beile Ratut

WELT UNTER SECHS

Erzählungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

Erste Auflage 2015

ISBN epub: 978-3-88509-122-6

ISBN Kindle-Format: 978-3-88509-123-3

Copyright © Ruhland Verlag, Bad Soden 2015

Beile Ratut, Welt unter Sechs

Lektorat: Gabriele Pässler, Görwihl, www.g-paessler.de

Alle Rechte vorbehalten.

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software, Saarbrücken

 

www.ruhland-verlag.de

Nicht nur das moralische Schicksal des Helden muss durch die Frau Erlösung finden, auch sein Wissen muss durch ihres modifiziert werden.

Karl Stern

DAS SCHANDMAL

Der Tag, an dem er bemerkte, dass mit seinem Gesicht etwas geschah, war unerwartet heiß und still. Mattei saß am geöffneten Fenster, trank Eistee und arbeitete an der Predigt, die er am Sonntag halten wollte. Seine Frau war nicht im Garten, sie war zum Friedhof hin-übergegangen. Er war allein im Haus.

Er stützte die Stirn auf die linke Hand und bemühte sich, konzentriert zu arbeiten. Immer wieder spannte er sich an, zog die Schultern hoch und lauschte auf seinen Atem. Dieses Lauschen hatte ihm oft geholfen, die treffenden Worte zu finden. Und wenn ihm das nicht gelang, so gelang ihm wenigstens, sich zu sammeln.

An jenem Tag standen über dem Tal dichte Wolken. Von den Tannen am Waldrand drang Nadelduft. Kinder waren nicht zu sehen, und es gab auch keine Spaziergänger, die sonst jeden Tag über den schmalen Weg von der Schafweide an dem hübschen Pfarrhaus vor-überkamen.

Unruhig saß er da. Ein Vagabund der Gedanken, ein Wegelagerer des Gefühls.

Unzählige Male hatte er versucht, sich zu sammeln. Vergebens.

Die letzten Wochen hatten ihn viel Mühe gekostet. Die Gespräche waren aufreibend gewesen, die Besuche hatten sich in die Länge gezogen. Zu viele Menschen waren mit ihren Fragen an ihn herangetreten.

Er musste ihnen von Gott erzählen. Er musste ihnen sagen, dass es ein Himmelreich gab. Dass man es erreichen konnte, wenn man nur an den Christus glaubte.

Ein Reh war bis an die Malven, die seine Frau gepflanzt, herangekommen und hatte vorsichtig zu ihm herübergeblickt. Er hatte es nicht bemerkt, hatte sich angespannt und leise geschimpft.

Er hatte Angst bekommen, die alte Angst, er könnte die Fähigkeit verlieren, seine Gedanken in Worte zu fassen, die das Publikum fesselten.

Diese Fähigkeit war sein Ein und Alles. Er war Pfarrer geworden, weil er, wenn er zu den Menschen sprach, etwas empfand, das er sonst nicht kannte. Durch seine Worte hatte er gelernt, die guten Kräfte in der Welt als etwas zu sehen, das man würdigen und von dem man zu den Menschen sprechen musste. All das, was den Menschen zu sich selber rief. Alles, was ihm half, über sich hinauszuwachsen. Im Sprechen hatte er ein unzugängliches Reich des Geistes entdeckt, ein verwildertes Reich, in dem man sich verbergen und wo man verbotene Früchte finden konnte. Er pflegte zu sagen, er habe Gott im Wort gefunden.

Er hatte nicht glauben können, dass dieses Reich real war. Doch dann hatte er gespürt, dass sich die Begeisterung, die er empfand, mit jedem Wort vervielfachte. Er konnte sehen, wie sehr die Menschen ihn brauchten. Er sah, dass sie an ihm hingen, dass seine Worte sie ereilten und es niemanden gab, der es ihm hätte gleichtun, der ihm hätte ebenbürtig sein können. Ihm, einem Mann von fünfundfünfzig Jahren, mit blondem, schütterem Haar, grauen, durchdringenden Augen und einem forschen und vertrauenerweckenden Händedruck. Nun saß er am geöffneten Fenster und rieb sich immerfort die Schläfe.

Gegen drei Uhr wurde die Hitze unerträglich, er ging in die Küche, um sich zu erfrischen, kam zurück ans Fenster, nahm wieder Platz.

Mit dem Zeigefinger strich er sich über die Stirn, nah bei der Schläfe, dort, wo die Augenbraue endet. Er fühlte eine seltsam weiche Kruste, pfenniggroß, mit zackigen Rändern. Er dachte sich nichts dabei und beschäftigte sich weiter mit den Worten, die er am Sonntag sprechen wollte.

Wie herrlich wäre es doch, wenn ihm die Worte zufallen würden, wenn trotz der Hitze jeder seiner Gedanken zu einem treffsicheren Satz würde! Er aber tat sich schwer.

War es dieser Tag, der ihn hinderte? Die Schwüle?

Er arbeitete einige Stunden. Dann kam seine Frau zurück. Er hatte sie nicht kommen sehen, hörte nur das leise Klicken des Schlosses. Niemand betrat dieses alte Haus so leise wie Malessa. Und hätte nicht jede andere Frau aus ihrer Rückkehr einen rauschenden Auftritt auf der Bühne seiner Aufmerksamkeit gemacht?

Geräuschlos kam Malessa den Korridor entlang. Flüchtig nahm er ihren Geruch wahr, ihre Gegenwart, diesen unergründlichen Blick, der ihn erforschte.

Hatte er ihr nicht unzählige Male gesagt, dass er es nicht mochte, wenn sie ihn bei der Arbeit störte? Hatte er ihr nicht erklärt, dass es wichtig war, an diesen Abenden mit seinen Gedanken alleine zu bleiben?

Er glaubte, ihren Atem zu hören, dann einen Laut, wie ein Seufzen.

Verärgert wandte er sich um. Doch sie war nicht dort.

In der Nacht, als er sein Gesicht wusch, sah er über seiner linken Braue deutlich eine Erhebung. Er rieb daran, und eine bräunliche Kruste löste sich von seiner Haut. Er rieb weiter, bis die Stelle ganz glatt war. Ein wenig Blut drang aus einer Wunde, die er nicht sehen konnte.

Er wusch sein Gesicht erneut, trocknete es ab und betrachtete die Haut an dieser Stelle, die nun ganz unauffällig schien. Beruhigt löschte er das Licht und ging schlafen.

Was träumte er?

Träumte er noch?

Am folgenden Tag konnte er sich nicht mehr da-ran erinnern, aber in dieser Nacht träumte er von der dunklen Frau.

Er stand allein auf dem Feld, nah bei seinem Geburtshaus. Schon seine Vorväter hatten dieses Feld bestellt. Seine eigensinnige Großmutter hatte eines Nachts heimlich beim Jesuskreuz den Apfelbaum gepflanzt; immer hatte man in seiner Familie darüber getuschelt, doch er hatte nie erfahren, was es damit auf sich hatte.

Niemand hatte geglaubt, dass der Baum wachsen würde, denn er war zaghaft und kümmerlich gewesen. Doch er wuchs. Höher und höher. Und er lieferte die reichste Ernte von allen, vielleicht gerade weil er so abgesondert dastand.

Mattei konnte sich nicht bewegen. Er war in einem Schreckzustand, warum, das hätte er nicht sagen können. Er spürte den Schrecken im ganzen Leib, das Zetern, das Dräuen, das Haschen. Klamm stand er da, nah beim Jesuskreuz.

Da spürte er, dass etwas seine Schulter berührte.

Er wandte sich um.

Es war der Apfelbaum seiner Großmutter, er legte seine Zweige um Matteis Leib.

Mattei versuchte, sich loszureißen, doch er konnte es nicht.

Ein kalter Wind kam auf. Mattei spürte ihn, der Hauch glitt über seine Stirn, seinen Nacken, seinen Leib hinab, tief in sein Herz. Dann sah er die Frau.

Er wollte fort, wollte über den Weg an seinem Geburtshaus vorbei in die Stadt davonlaufen. Doch er konnte sich nicht bewegen. Er begann, sich gegen die Umklammerung des Apfelbaumes zu stemmen, doch er vermochte es nicht. Der Schrecken zerrte an ihm, sein Atem ging so heftig, dass es ihn schmerzte.

Die Frau kam auf ihn zu. Bei der Pferdekoppel aber hielt sie inne und beugte sich zur Erde, wie um etwas aufzuheben.

Dann streckte sie sich, warf ihr schwarzes Haar zurück und stieg über den Zaun.

Die Pferde scheuten und suchten das Weite. Doch die Frau hatte keine Mühe, sie zu stellen. Ihm stockte der Atem. Er sah die Frau, die sich auf die Pferde stürzte. Die Tiere brüllten vor Angst und vor Schmerz. Sie zerrte sie zu Boden, eins nach dem anderen, und riss ihnen mit bloßen Händen die Kehle auf. Er hörte die Frau, sie spie Worte des Zornes aus, die er nicht verstand. Er sah sie, sie brauste und hasste und überbot jede andere Macht.

Als die sieben Pferde tot waren, stieg sie wieder über den Zaun, kam auf ihn zu.

Auf ihrem Weg den Hügel herauf brach sie die Apfelbäume nieder, die dort standen. Trotz ihrer zierlichen Gestalt bewies sie eine ungeheure Kraft, einen unbändigen Zorn; mit festen Schritten ging sie ihm entgegen, er wollte schreien, wollte fliehen, doch er konnte sich nicht rühren.

Er glaubte, dass sie kommen würde, um auch ihm die Kehle zu zerreißen. Doch die dunkle Frau ging an ihm vorüber zu seinem Geburtshaus. Sie hieb gegen die Fenster, hieb gegen die Türen, hieb gegen die Mauern. Sie brauste und hasste. Dann wehklagte sie.

Das Haus bebte, er konnte Risse sehen, die sich durch das Mauerwerk furchten. Dann fiel es langsam, Stein um Stein, in sich zusammen.

Die dunkle Frau stand daneben und sah schweigend zu. Ihr schwarzes Haar hing ihr über die Schulter, berührte beinahe den Boden. Sie lächelte, doch es war ein verzweifeltes Lächeln. Der Staub des zusammenstürzenden Hauses fiel überall um sie her zu Boden und schluckte die Farben. Nur sie stand da, eine blendende Gestalt. Lächelnd, unheildräuend.

Sie blickte zu ihm herüber. Die dunkle Frau, in Zorn gekleidet.

Wie oft war sie ihm begegnet, wie oft hatte er sie gescheut. Er zitterte, wollte schreien, wollte fliehen, doch er konnte sich nicht rühren.

Da erwachte er.

Sein Körper war starr. Er fror nicht, doch ihm war schwindelig.

Er blickte sich um.

Von draußen drang das Zirpen der Grillen zu ihm herein. Der Duft des Gartens wehte durch das geöffnete Fenster.

Auf dem Tisch lag Malessas silbernes Halsband, er hatte es ihr geschenkt, doch sie trug es nur an den Sonntagen in der Kirche.

Er blickte sich zu ihr um. Sie schlief fest, ihm zugewandt, die rechte Hand zu ihm herübergestreckt, als wolle sie prüfen, ob er noch dort war. In einem Anflug von Gereiztheit erhob er sich, bewusst heftig, wie um sich der Berührung zu entziehen, die ihn doch gar nicht erreicht hatte.

Malessa regte sich nicht. Sie atmete lautlos. Ihr kaum geöffneter Mund zitterte leicht.

Er ging ins Badezimmer und trank ein Glas Wasser. Als er wieder in den Spiegel blickte, bemerkte er, dass er blutete. An jener Stelle über seiner linken Schläfe hatte sich bereits eine Kruste gebildet. Erstaunt betastete er seine Haut, die sich taub anfühlte. Er wusch sich erneut, betupfte die Stelle mit Watte, bis die Blutung versiegte.

Die Haut war rosig und glatt, wie bei einem Neugeborenen.

Er trank noch einen Schluck Wasser und legte sich wieder zu Bett.

Einige Wochen verstrichen. Er ging seiner Arbeit nach, aß, trank und schlief. Nichts Ungewöhnliches erreignete sich. Nichts geschah, das ihn sonderlich rührte. Er traute ein junges Paar aus der Nachbarschaft, taufte das schreiende Balg des Bäckerehepaares und beerdigte drei Menschen, die er nicht gekannt hatte. Er tröstete die Hinterbliebenen, er wusste genau, was er sagen musste, um die Trauer der Menschen zu bannen. Er wusste, was er den zweifelnden Menschen in seiner Sprechstunde sagen musste, und den Menschen, die zufällig zu ihm kamen und tiefgründige Fragen über den Ursprung ihres Seins stellten. Menschen, die ihm begegneten und die er schnell wieder vergaß, nachdem er ihnen erklärt hatte, wie man von dem breiten Weg des Verderbens auf den schmalen Weg gelangte, wo man die überragenden Gedanken dachte, die besseren Konzepte der Liebe hatte und wo man schließlich selig werden würde.

An den Abenden saß er am Fenster, trank Tee und ruhte sich aus. Malessa war im Garten.

Manchmal, wenn er dort saß und las, betrachtete er seine Frau, wie sie mit versonnenem Blick in der Erde grub, als sei sie ihr Altar.

Er musste sich eingestehen, dass ihre Mühe sich voll auszahlte. Der Garten erblühte, jedes Jahr aufs Neue, er war reich an Obstbäumen und Beerensträuchern, an üppigen Stauden, überreichen Rosen und duftenden Kräutern. Keiner kam vorüber, ohne diese Zierde zu loben. Sogar Mattei genoss den Duft der Pflanzen, der um ihn war, wenn er manchmal am späten Abend mit seinem Wein in der Hand durch den Garten ging. Dennoch, ihre Hingabe an diesen Garten, ihre Versunkenheit, wenn sie darin arbeitete, sie störte ihn. Was war es denn? War es nicht nur ein irdischer Ort, an dem sie sich verausgabte? Waren es nicht doch nur Dinge, die bald schon vergangen sein würden? Weshalb konnte sie nicht mit ihm seine Bücher lesen? Weshalb wollte sie nicht aus der schweren Erdenwelt ihres Gartens in diejenige seines Geistes treten, in der sie all das Gute, das in den Evangelien steckte, gemeinsam hätten erfahren können?

Er schrieb gegenwärtig an einem Buch über die Rolle der Nächstenliebe in der Politik. Weshalb aber konnte Malessa seine Interessen nicht teilen? Weshalb musste sie in dieser Erde wühlen, bis ihr Gesicht von Schweiß und Schmutz verschmiert war? War es am Ende doch so, dass die Frauen keinen Anspruch auf Gleichheit stellen konnten, weil sie eben doch nicht gleich waren? War es nicht so, dass die Frauen immer in weltlichen Dingen gefangen sein würden, im Geschaffenen, Erdhaften, Vergänglichen?

Sie waren seit beinahe zwölf Jahren verheiratet. Ihre Ehe war kinderlos geblieben. Er hatte sie umschmeichelt, war ihr zugetan gewesen, denn sie war immer eine sehr reizvolle Frau gewesen. Manchmal, wenn er sie betrachtete, fühlte er noch immer dieses Pochen in den Lenden, einen beinahe lustvollen Schmerz. Dann glaubte er zu verstehen, was die »heilige Hochzeit« bedeutete: die intensivste geschlechtliche Vereinigung, die man sich vorstellen konnte. Der Untergang des Ichs in unvorstellbarer Lust.

Er grämte sich nicht, andere Frauen verschmäht zu haben. Denn er sagte sich, dass keine andere Frau ihm solche Lust hätte geben können.

Er war Malessa immer treu gewesen. Doch konnte er nicht leugnen, dass die jungen Frauen, die er manchmal in der Kirche sah, seine Blicke fesselten. Er war ein anständiger Mann, deshalb wollte er sich nicht fragen, weshalb ein Mann nur eine Frau haben dürfe. Er hatte eine vorbildliche christliche Erziehung genossen, da-rum hatte er niemals eine Scheidung in Betracht gezogen, um in den Genuss einer anderen Frau zu kommen. Wenn sein Körper doch einmal anders dachte – mit seinem Geist würde er seiner Frau die Treue halten.

Anders als in den ersten Jahren seiner Ehe, in denen sie sehr viel miteinander gesprochen hatten, in denen Malessa lebhaft und freudig seine Sprache erlernte und er alles tat, um ihr das Gefühl zu geben, dass sie bei ihm ein Zuhause gefunden hatte, anders als in diesen ersten Jahren der Innigkeit und der Leidenschaft zog er sich, seit er in dieser Stadt das Pfarrhaus bewohnte, Stück für Stück in seine Gedankenwelt zurück, von der er annahm, dass seine Frau sie ohnehin nicht begreifen würde. Wie sollte sie auch, sie hatte nicht studiert, hatte nicht einmal die Oberschule besucht. Wenn sie zu ihm sprach, sprach sie schlicht und leise und erweckte den Anschein von Schüchternheit.

Oft hatte er es im Stillen bereut, dass er diese Frau geheiratet hatte. Hätte er nicht eine ihm ähnliche Frau wählen sollen? Keine Frau aus einem fremden Land, sondern eine aus seiner Stadt? Eine, die ihm an Bildung und Geist nicht nachstand? Malessa las wenig, doch wenn sie las, so waren es Schriften, die er nicht mochte, Schriften wie Hiob, die Offenbarung, die Sprüche Salomos, das Hohelied, das Johannesevangelium, Jesus Sirach oder das Buch der Weisheit. Wenn er mit ihr über diese Schriften sprechen wollte, waren ihre Antworten niemals seinem Kreuzverhör gewachsen, immer gab sie nach, zog sich zurück und ging in den Garten, um ihre Kräuter zu pflegen.

Er blieb mit einem Gefühl von Gereiztheit und Triumph zurück, schrieb an seinem Buch, stundenlang, bis tief in die Nacht.

Sein Freund Laubinger, der Antiquar, hatte ihm gut zugeredet, er hatte ihm bei ihren langen Gesprächen beim Barthel im Weinkeller immer wieder zu verstehen gegeben, dass sein Buch auf dem Gebiet der Theologie eine Bresche schlagen würde.

»Mattei«, hatte er gesagt, »erst wenn dieses Buch erscheint, wird die Fachwelt die Dimension menschlicher Verantwortung verstehen!« Auf hohem sprachlichen und geistigen Niveau habe er das Paradigma der Verantwortung in einen historischen Kontext gestellt und ihre Rolle in einer modernen Welt von Grund auf neu erfunden.

Laubinger war ein findiger Mann, klein, schlau und wortgewandt: der Umgang, den Mattei sich wünschte.

Laubinger glaubte nicht an Gott. So saßen sie oft nächtelang beisammen und führten Streitgespräche über dessen Existenz.

Wenn Laubinger zu ihnen nach Hause kam, hatte Malessa nie etwas gesagt, und sie hatte nie mehr getan, als schweigsam Kaffee zu servieren. So hatte Mattei den Eindruck gewonnen, dass sie den kleinen Mann nicht besonders mochte.

Darum, und vielleicht auch, weil er sich für seine schlichte Frau ein wenig schämte, trafen sie sich immer beim Barthel im Weinkeller. Manchmal kam auch Doktor Schadhauf hinzu, ein Verehrer Nietzsches und Spezialist in Fragen des Nihilismus. Sowohl Schadhauf als auch Laubinger hatten nie geheiratet. Schadhauf war Dozent an der philosophischen Fakultät der Universität und unterhielt stetig wechselnde Liebschaften unter seinen Studentinnen. Laubinger dagegen hatte seit über vierzig Jahren nie eine Frau auch nur angerührt. Hin und wieder blätterte er durch einen Band mit Aktfotografien, doch nach einer Weile empfand er dann Überdruss und legte das Buch in die unterste Schublade zurück.

Mattei genoss die Gespräche mit diesen beiden Männern, obgleich ihm schien, dass er sich sehr von ihnen unterschied. Hatte er nicht durch seinen Glauben, durch seinen Beruf und seine Ehe in seinem Leben bereits die Freiheit gefunden, von der die Christen sprachen? Ein wenig vom Himmelreich, an das diese beiden Männer nicht glauben wollten?

Hatten aber nicht alle Menschen vor Gott das Recht, in ihrem Sein anerkannt zu werden? Forderte Gott nicht von ihm, diesen Menschen mit Achtung und Liebe zu begegnen und auch ihren Lebensweg als Artikulation der Schöpfung zu betrachten? Gab es nicht immer einen Grund, der das Verhalten eines jeden Menschen rechtfertigte? Hatte Gott nicht auch die Ursachen geschaffen, die uns zu unseren Entscheidungen führen? Da beide Männer in erotischen Belangen grundlegend anders lebten als er selbst, fühlte er sich durch ihre Berichte vervollkommnet. Wenn sie ihm von ihren erotischen Neigungen berichteten, schien ihm, als fülle sich in seinem Leben eine Leerzeile. Und er glaubte, dass auch sein Bericht über das Leben mit seiner Frau für die beiden Männer eine Lücke schließen würde.

Mattei schienen beide Männer für sein Nachdenken maßgeblich zu sein. Manchmal, wenn Laubinger etwas sagte, verstand er ihn gar nicht. Dann schwieg er und bemühte sich, eine Frage zu ersinnen, die die Intelligenz Laubingers noch übertraf. Doktor Schadhauf dagegen war trotz seiner Anstellung an der Universität ein Mensch geblieben, der niemals mit seiner Bildung zu glänzen suchte. Zusammen waren sie ein einvernehmliches Trio, das kameradschaftlich über die Schöpfung debattierte, sich über den gewöhnlichen Menschen erhaben wusste und darüber philosophierte, wie die der Frau angemessene Rolle beschaffen war.

Eines Tages kam Mattei von der Kirche die Gasse her-auf.

Er ging am Glöckchenbrunnen vorüber und gelangte zum Bahnübergang bei den drei Eichen.

Die Bahnschranke schloss sich gerade.

Er trat an sie heran, umfasste den Balken, der ein wenig vibrierte. So stand er eine Weile und wartete, eigenartig erregt.

Er dachte darüber nach, welcher Zug wohl um diese Zeit vorüberfuhr, und ging in Gedanken den Fahrplan durch. Doch er konnte sich nicht daran erinnern, dass zu dieser Stunde je ein Zug gefahren wäre. Er spähte links, spähte rechts. Nichts war zu sehen, nichts zu hören.

Er wartete.

Die Grillen begannen zu zirpen. Von der Gartenterrasse hundert Schritt weiter klang das Klappern von Geschirr. Manchmal hörte er den Hund. Auf den Gleisen spazierten gemächlich zwei Elstern.

Mattei wurde nervös. Er stand dort vor der Schranke wie ein Idiot, wartete auf einen Zug, der vorüberfahren sollte, doch der Zug kam nicht. Er wartete wie vor der Tür, die sich hätte öffnen sollen, doch sie blieb verschlossen.

Ihm wurde heiß, seine Schläfen pochten. Er stand dort vor der Schranke wie das Kind, das ein erfülltes Leben erwartete, doch er war um dieses Leben betrogen worden.

Er pochte mit der Faust gegen die Schranke, die nun stärker vibrierte und laut knarrte. Leise murmelte er vor sich hin. Er spähte nach links, dann nach rechts. Nichts war zu sehen, nichts zu hören.

Nun wollte er über die Schranke steigen.

Ein kühler Wind ging über die Gleise, die Elstern flatterten auf. Da kam fauchend der Zug um die Biegung.

Es war einer der überregionalen Reisezüge. Er war leer. Er fuhr vorüber und verschwand.

Die Schranke öffnete sich.

**

Spät in der Nacht erwachte er, spürte starken Durst. Er erhob sich, stieg aus dem Bett, ging hinüber in die Küche und trank hastig ein Glas Wasser.

Dann verharrte er reglos, starrte in den Raum, zunächst ohne etwas wahrzunehmen. Dann begann der Raum, ganz allmählich, Gegenstand um Gegenstand, in seine Aufmerksamkeit zu quellen.

In der Ecke bei den Zeitungen stand eine Tasche. Das Deckenlicht schimmerte auf der polierten Oberfläche des Leders.

Er trat näher, betrachtete sie und bemerkte, dass es Laubingers Tasche war.

Was hatte Laubinger hier getan? Hatte er nicht am selben Tag noch mit Mattei gesprochen, einige Stunden zuvor, jedoch ohne erwähnt zu haben, dass er sein Haus aufgesucht hatte? Hatte Mattei selbst nicht peinlich genau darauf geachtet, den Freund von seinem Haus fernzuhalten? Warum hatte er es getan? War es nicht, um gerade eine solche Situation zu vermeiden? Weil er nicht wollte, dass er in seinem Haus die Tasche des Freundes finden würde, ohne zu wissen, was sich hinter diesem Umstand verbarg?

Seine Frau würde ihn belügen, dessen war er sich ganz sicher. Sie würde sagen, es sei ein kurzer Besuch gewesen. Laubinger habe nur wissen wollen, ob Mattei zu Hause sei, um ihm ein Buch zu bringen. Dann habe er versehentlich die Tasche bei ihnen liegenlassen, vergesslich wie er war.

Mattei konnte Malessas Stimme hören, die zu ihm sprach, freundlich, ein wenig scheu. Er konnte auch die Schuld ausmachen, die auf ihr lag, weil sie ihren Mann betrogen hatte.

Mattei öffnete die Tasche, blickte hinein. Dort war kein Buch, kein Manuskript. Nur ein zerdrücktes Halstuch, ein paar Handschuhe, Broschüren von Auktionen und ein paar zerknitterte Geldscheine.

Sein Herzschlag sprengte seinen Atem. Die Erklärung seiner Frau würde eine Lüge sein.

Ihm wurde übel, er musste sich setzen.

Er legte die Tasche zurück in die Ecke, genau so, wie sie dort gestanden hatte. Als hätte er sie niemals gesehen.

Er versuchte sich zu sammeln, einen Weg zu finden, wie er diese Situation aus dem Weg räumen konnte. Hatte er die Tasche denn gesehen? Und wenn er sie nicht gesehen hätte? Wenn sie niemals dort gewesen wäre? Brauchte er sich nicht nur so zu stellen, als habe es diesen Vorfall nie gegeben? Wollte er denn mit den niedrigen Beweggründen der Menschen irgendetwas zu schaffen haben? War er nicht dazu berufen, sein Augenmerk auf das Gute zu richten? Auf all das, was den Menschen in Gottes Augen adelte?

Er wurde ruhiger, trank noch ein Glas Wasser und legte sich wieder zu Bett.

Am anderen Morgen schlief er länger als gewöhnlich. Malessa hatte längst das Haus verlassen.

Als er erwachte, fühlte er einen bitteren Geschmack im Mund, als hätte er erbrochen. Ihm war schwindelig, seine Schläfen pochten. Er ging in die Küche, trank ein Glas Wasser. Als er sich umwandte, sah er, dass die Tasche verschwunden war.

Gegen Mittag kam seine Frau zurück. Er saß bei geöffnetem Fenster über seinem Manuskript und trank ein Glas Wein. Ein Schwarm Schmetterlinge war in der Luft, und von den Tannen auf der Anhöhe drang das Sägen der Waldarbeiter.

Malessa ging in den Garten und machte sich drüben bei den Beerensträuchern zu schaffen. Eine Weile beobachtete er sie, heimlich, er wollte nicht, dass sie es bemerkte. Sie hatte sich die Haare nach hinten gebunden und trug Handschuhe. Sie arbeitete mit der Emsigkeit einer Ameise. Wenn sie sich ihm zuwandte, konnte er sehen, dass sie die Lippen bewegte.

Er wandte sich ab.

Was ging ihn denn dieser Garten an! Was hatte er mit den Obstbäumen zu tun, mit den Beerensträuchern, mit den üppigen Stauden, überreichen Rosen und duftenden Kräutern! Niemals würde er wie ein Knecht in dieser Erde wühlen. Natürlich war die Erde ein Teil der Schöpfung, genauso wie der menschliche Körper und die geschlechtliche Liebe, doch man durfte sich nicht an die Dinge dieser Welt verlieren. Man musste die Dinglichkeit überwinden, hinter die Materie blicken, um zur Klarheit des Geistes zu kommen, der heilig war.

Am Anfang ihrer Ehe las Malessa einige der Bücher, die ihm am Herzen lagen. Für eine Frau ihrer Herkunft hielt sie sich wacker, sie stellte kluge, einleuchtende Fragen, doch dann begann sie, im Inhalt der Bücher nach ihm zu suchen. Sie bedrängte ihn mit Fragen, die seine Geduld auf die Probe stellten.

Was hatten die Kostbarkeiten dieser großen Denker denn mit seiner Vergangenheit, seinem Erleben zu tun? Warum belauerte Malessa sein Herz? War sie nicht in der Lage, über ihr eigenes Leben hinwegzusehen? Konnte sie nicht erkennen, dass es ein gefährliches Vorurteil, ja sogar Selbstüberhebung war, in allem nur die eigene Gefühlslage wiederfinden zu wollen? War nicht das eigene Ich ein Tatbestand, den das Christentum in jahrhundertelanger Arbeit hatte überwinden wollen? Ein Tatbestand der Täuschung, des Irrglaubens und des Betrugs?