Wie Farben im Regen - Alicia Zett - E-Book

Wie Farben im Regen E-Book

Alicia Zett

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Beschreibung

Das ergreifende Finale der YA-Trilogie am Nordsee-Internat von Spiegel-Bestsellerautorin Alicia Zett - mit Charakterkarte exklusiv in der 1. Auflage

Caro und Sam sind das Traumpaar am Internat Schloss Mare. Gemeinsam haben sie die Queer & Friends AG gegründet und spielen im Fußballteam. Am liebsten würde Caro für immer am Internat bleiben - doch nun steht das letzte Schuljahr an. Sie hat Angst, ihre Freund*innen zu verlieren, und auch Sam scheint ihr immer mehr zu entgleiten. Doch das hat einen Grund: Sam ist nicht die beliebte Stürmerin, für die ihn alle halten - sondern Samuel, der beliebte Stürmer. Als er es schafft, sich Caro anzuvertrauen, wirft das viele Fragen auf: Darf er nach wie vor im Fußballteam spielen? Wie outet man sich am besten vor Freund*innen und Verwandten? Und was bedeutet das für die beiden als Paar?


Eine bewegende Geschichte über die Suche nach der eigenen Identität, Freundschaft und das Ende der Schulzeit

Alle Bände sind unabhängig lesbar und handeln von einer Freund*innen-Clique

Die Autorin auf Social Media: @aliciazett

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 580

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumHinweisWidmungPlaylistVorwortPrologHamburg – 1 Woche zuvorVeränderungenWieder vereintRitualeDie »Queer & Friends«-AGDrei BäckerinnenLouis PartyBoxershortsIch will dich nicht verlierenIch bin SamuelWir am Rand der WeltAlle Farben des LebensFehlender MutterinstinktInformationsflutKüsse und KuchenteigPumpkins, Ghosts & Coming-outsDysphoria-HoodiesBei Oma KarinEin lang ersehntes PaketHappy BirthdayDas bin ichPommes und StrikesChemie-Genies unter sichDie Label-FrageGender-EuphoriaElternGeteilter SchmerzErklärvideoAuf nach SüdtirolDas Blue Mountain ResortLetzte VorbereitungenDas WinterturnierSiegesfeierIch will nicht gerettet werdenStefanies ÜberraschungMutter und TochterWundervoller Frühlingsmorgen nach eisiger WinternachtSchöne BescherungMein SohnMehr als ein NameDie eine wunderschöne AusnahmeFeuerwerk in der NachtAbiturBestandenEin Tag voller MeilensteineAbschlussballEine Handvoll SandEpilogDanksagungAnlaufstellenTRIGGERWARNUNG

Über dieses Buch

Caro und Sam sind das Traumpaar am Internat Schloss Mare. Gemeinsam haben sie die Queer & Friends AG gegründet und spielen im Fußballteam. Am liebsten würde Caro für immer am Internat bleiben – doch nun steht das letzte Schuljahr an. Sie hat Angst, ihre Freund*innen zu verlieren, und auch Sam scheint ihr immer mehr zu entgleiten. Doch das hat einen Grund: Sam ist nicht die beliebte Stürmerin, für die ihn alle halten – sondern Samuel, der beliebte Stürmer. Als er es schafft, sich Caro anzuvertrauen, wirft das viele Fragen auf: Darf er nach wie vor im Fußballteam spielen? Wie outet man sich am besten vor Freund*innen und Verwandten? Und was bedeutet das für die beiden als Paar?

Über die Autorin

Alicia Zett wurde 1996 geboren, hat Film studiert und arbeitet bei einem lokalen Fernsehsender. Wenn sie nicht gerade auf ihren Social-Media-Kanälen (@aliciazett) über queere Bücher, Filme und Serien spricht, verbringt sie ihre Tage am liebsten mit ihrem Mann und ihren drei Katzen. Alicia schreibt Bücher, die sie selbst in ihrer Jugend gebraucht hätte. Nun nutzt sie ihre Geschichten, um zu zeigen, dass Liebe in allen Formen und Farben existiert.

A L I C I AZ E T T

Band 3

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Langenbuch & Weiß Literaturagentur.

Copyright 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Silvana Schmidt

Umschlaggestaltung: Kristin Pang

unter Verwendung von Illustrationen von Mi Ha, Guter Punkt, München

Illustration: © Mi Ha, Guter Punkt, München

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4365-5

one-verlag.de

luebbe.de

Liebe Leser:innen,dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.Dazu findet ihr eine Triggerwarnung auf S. 495.Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.Euer Team vom ONE-Verlag

Für Luca. Weil es dieses Buch ohne dich nicht gäbe.Für all die Menschen auf dieser Welt, die ihre Farben verstecken müssen.Dieses Buch ist für euch.

PLAYLIST

Older – Alec Benjamin

Your Daughter – Dina Rebeka

Holding Together – TOMOS, Ana Michell

Heavy (feat. Kiiara) – Linkin Park, Kiiara

frog – Cavetown

i don’t wanna ruin ur party – Munn

I’m With You – Alex Goot, Madilyn Bailey

By The Sea – Anna Phoebe

Silent Scream – Damien Dawn

blau – LUNA

What Do You Call It? – Beth McCarthy

counting houses – Luz

Till Forever Falls Apart – Ashe, FINNEAS

As You Are – Daughtry

second – Miki Ratsula

Hold On, You Belong – Ryan Cassata, Hello Noon

Wofür du brennst – Luca Pfeiffer

Will It Ever Be The Same – Young Summer

Moments to Memories – Adeline Hill

Fette Wilde Jahre – Juli

Better Days – Hedley

Vermisse gar nichts – Madeline Juno

ERA – The Faim

Die komplette Buchplaylist findet ihr auf Spotify unter:

Wie Farben im Regen – Official Book Playlist

VORWORT

Eigentlich dachte ich, »Wie Wellen im Sturm« würde mein persönlichstes Buch werden. Dann schrieb ich dieses hier. Als sich mein Mann Luca 2019 bei mir als trans outete, waren wir bereits vier Jahre zusammen und seit zwei Jahren verlobt. 2020 kann man als sein Coming-out-Jahr bezeichnen, denn nein, es ist nicht mit einem Mal getan – was ich auch in diesem Buch versucht habe festzuhalten. Im Frühjahr 2021 begann er mit der Hormonersatztherapie und im Sommer 2022 heirateten wir.

Das hier ist keine Autobiografie, aber in Caro stecken all meine Ängste. All die Gefühle, die mich in den letzten Jahren und vor allem in der Zeit kurz nach Lucas Coming-out begleiteten. Wir sind nicht ein und dieselbe Person, ich überlasse das Backen zum Beispiel lieber anderen Menschen, die es besser können, aber es wäre gelogen zu sagen, dass sie kein Teil von mir ist. Auch in Samuel steckt viel von Luca. Obwohl er absolut kein Fußball spielen kann. Ich habe dieses Buch gemeinsam mit ihm geplant und dachte, es würde leicht werden. Weil ich über etwas schreibe, das ich gut kenne. Falsch gedacht. Es wurde eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Es gab viele Dinge, die ich erneut durchlebt habe, so viele Ängste, die wieder hochgekommen sind. Aber es hat mir gleichzeitig so viel Freude bereitet, all die schönen Momente zu erzählen. Denn davon gibt es in diesem Buch einige. Mehr, als Luca und ich in der Realität erlebt haben.

Die Geschichte von Caro und Samuel ist genau das: eine Sicht auf die Dinge. Eine Geschichte. Da draußen gibt es zahlreiche andere. Jede auf ihre Art und Weise einzigartig. Manchen wird dieses Buch unrealistisch erscheinen. Weil es zu positiv ist. Andere wird es stören, dass nicht alles durch eine rosarote Brille gezeigt wird. Bevor ihr mit diesem Buch beginnt, möchte ich nur sagen: Jede Geschichte ist anders. Weil auch jede trans Person und deren Partner*in anders ist. Deren Umfeld. Nicht alle sind so privilegiert wie Caro und Samuel, die beide in reichen Elternhäusern aufwachsen und weiß sind.

Daher war es mir so wichtig, auch mit anderen trans Personen und ihren Partner*innen zu sprechen. Danke für eure Erzählungen und privaten Einblicke. Eure Offenheit hat mir sehr dabei geholfen, dieses Buch zu schreiben.

Wenn ihr dieses Buch lest, wurde bereits über das Selbstbestimmungsgesetz entschieden. Während meiner Überarbeitung hat sich die Gesetzeslage allerdings noch nicht geändert, weswegen Samuel den alten Weg der Vornamens- und Personenstandsänderung geht. Hoffen wir, dass Menschen Ende 2024 endlich selbstständig über ihren Namen und ihr Geschlecht entscheiden dürfen.

Klingt es pathetisch zu sagen, dass in diesem Buch mein ganzes Herz steckt? Vielleicht. Aber es ist die Wahrheit. Ich hoffe so sehr, dass es anderen trans Personen, deren Partner*innen, Familien und Verwandten und ganz vielen anderen Menschen da draußen helfen kann. Wir brauchen solche Geschichten. Weil wir existieren. Weil diese Welt, egal was euch manche erzählen mögen, bunt ist.

Ich wünsche euch viel Freude mit Wie Farben im Regen.

PROLOG

Manchmal würde ich gerne die Zeit anhalten.

Vielen gefällt die Schulzeit nicht, sie freuen sich darauf, endlich frei und erwachsen zu sein. Das machen zu können, was sie wollen. In eine eigene Wohnung ziehen, eigenes Geld verdienen. Aber was, wenn mir all das nicht wichtig ist?

Meine Freundinnen fiebern auf ihren achtzehnten Geburtstag hin. Sie reden über ihre Traumstudiengänge und über Städte, in die sie ziehen wollen. Manche planen eine Weltreise oder ein Auslandsjahr. Hauptsache weg, Hauptsache etwas anderes sehen als das Internat, in dem wir alle die letzten Jahre gelebt haben.

Doch ich? Ich will nichts von alledem. Weil das hier mein Zuhause ist. Mehr als jeder andere Ort auf der Welt. Ich liebe unser Fußballteam und die »Queer and Friends«-AG, die Sam und ich gegründet haben. Auf Schloss Mare kann ich wahrhaftig ich selbst sein.

Könnte ich die Zeit anhalten, ich würde es tun, denn in 152 Tagen werde ich achtzehn, und ein furchtbares Gefühl sagt mir, dass ab diesem Tag alles anders wird.

Meine Freundin Sam ist der Meinung, dass ich mir viel zu viele Gedanken mache, und ja, vielleicht hat sie recht. Denn einerseits will ich das. Erwachsen werden, was auch immer das heißen mag. Aber wieso muss das zwangsläufig bedeuten, dass sich alles verändert? Mir ist klar, dass wir nicht für immer auf dem Internat bleiben können, aber ich hätte nicht gedacht, dass das letzte Schuljahr so schnell anbricht. Es kommt mir vor, als sei es gestern gewesen, dass ich zum ersten Mal durch das geschwungene Eingangstor getreten bin.

Jetzt gerade will ich hier sein. Genau in diesem Moment. Mit meiner wundervollen Freundin, die leicht schnarcht und ihr Bein aus dem Bett hängen lässt.

Ich will hierbleiben, während draußen vor dem Fenster Sommerregen gegen das Internatsfenster prasselt und diese wunderbare Stille in der Luft liegt, die nur ein Sonntag mit sich bringt. Kein Unterricht, kein Training. Nur Sam und ich in diesem Bett, in dem alles nach uns riecht.

Ich will hierbleiben. In dieser Sekunde. 9:24 Uhr und sieben Sekunden. Acht. Neun. Zehn.

Ich kann die Zeit nicht aufhalten, also schließe ich die Augen und lausche dem Regen.

Ich bin hier.

Alles ist gut.

Wir haben noch über zehn Monate bis zum Abschluss.

Wir haben noch so viel Zeit.

HAMBURG – 1 WOCHE ZUVOR

»Caro, wie schön, dich wiederzusehen.« Simone, die Cafébetreiberin meines Vertrauens, nickt mir zu. »Was darf es heute sein?«

»Hallo. Habt ihr noch etwas von dem Bananenmehl? Und Backkakao bräuchte ich auch.« Ich reiche ihr zwei leere Einmachgläser über den Tresen, und sie nimmt sie entgegen.

»Kommt sofort.«

Während Simone in der Backstube verschwindet, begutachte ich die Auslage mit den Kuchen und Törtchen. Betritt man das Sweets Haven, riecht es jedes Mal anders. Das Angebot ändert sich wöchentlich, weil Simone immer neue Dinge ausprobiert. Heute liegt der Duft von Limetten, Hefe, Aprikosen und karamellisierten Nüssen in der Luft.

In Hamburg gibt es dutzende Cafés, aber das Sweets Haven ist mein liebstes, weil man hier nicht nur Süßwaren kaufen kann, sondern auch spezielle Backzutaten. Simone ist drei Jahre durch die Welt gereist, hat an den unterschiedlichsten Orten das Backen gelernt und sich mit Rezepten aus den verschiedensten Kulturen befasst. Als sie dann mit Mitte zwanzig zurück nach Hamburg kam, hat sie ihr kleines Café eröffnet und ist sesshaft geworden. Wobei sie nach wie vor viele Wochen im Jahr verreist. In den Sommerferien habe ich hier oft gejobbt, nur dieses Jahr fehlte mir die Zeit dafür.

Geld verdienen, während ich leckere Teigwaren backe und Leuten meine liebsten Kreationen empfehle? Ich könnte mir Schlimmeres vorstellen.

»So, bitte schön.« Simone reicht mir meine befüllten Einmachgläser.

»Für dich geht’s bald zurück ans Internat, oder?«, fragt sie.

»Ja, nur noch einmal schlafen.«

»Wie schön. Schade, dass wir diesen Sommer nicht zusammen in der Backstube standen. Deine kreativen Ideen haben mir gefehlt.«

Verlegen starre ich auf die Einmachgläser in meinen Händen. »Meine Eltern wollten, dass ich mich ab sofort mehr aufs Abi konzentriere«, meine ich ausweichend. Dass mein Vater es lächerlich findet, dass ich in einem Café aushelfe, erwähne ich nicht. Für ihn ist das niedere Arbeit. Keine Ahnung, wovor er Angst hat. Dass ich beim Teigkneten verblöde, oder, dass es mir zu viel Spaß macht und ich mich nicht mehr darauf konzentriere, einen richtigen Job zu lernen.

»Na ja, das ist schon verständlich. Wobei ich sagen muss, dass es mir nicht geschadet hat, beim ersten Anlauf durchs Abi zu rasseln. Hätte ich es direkt geschafft, hätte ich meine Weltreise vielleicht nie gestartet.« Sie lacht. »Es gibt einfach wichtigere Dinge als gute Noten.«

Wem sagt sie das.

»Aber hör nicht auf mich, ich bin alt …«

»Du bist jünger als meine Eltern.«

»Trotzdem«, jetzt grinst sie. »Ich bin jedenfalls gespannt, wohin es dich verschlägt. In meiner Backstube warst du auf alle Fälle unterfordert.«

»Das stimmt doch gar nicht.«

Simone lächelt nur, wechselt dann aber das Thema: »Und was backst du heute?«

»Einen Erdnuss-Schokozopf. Meine Eltern kommen von einer Geschäftsreise zurück, und ich möchte sie damit überraschen.« Und die Küche nutzen, solange ich sie noch für mich allein habe.

»Gute Wahl. Dazu passt das Bananenmehl perfekt.«

Hoffentlich sieht meine Mutter das auch so.

»Falls wir uns vor deiner Abreise nicht mehr sehen, wünsche ich dir ein tolles letztes Schuljahr.«

»Danke.« Ich hebe die Hand zum Abschied.

»Grüß mir das Meer und deine Freundin.«

»Mache ich«, bringe ich noch hervor, dann verlasse ich den Laden.

Drei Stunden später hole ich den Zopf aus dem Ofen und sauge den süßen, nussigen Duft ein. Im Haus ist es still, nur die Lüftung des Backofens und das Ticken der Wanduhr sind zu hören. Mittlerweile haben wir nach fünf. Im Online-Kalender meiner Eltern steht, dass sie bereits um vier gelandet sind, aber das hat nichts zu bedeuten. Vielleicht mussten sie länger vor Ort bleiben oder wurden bei der Gepäckabholung aufgehalten.

Als sie um kurz nach sieben immer noch nicht da sind, beschließe ich, mir meinen Schlafanzug anzuziehen und schon mal das Abendessen zu kochen. Doch dazu kommt es nicht, denn als ich gerade die Treppe nach oben in den ersten Stock nehmen möchte, höre ich das elektronische Klicken unserer Eingangstür.

In Filmen würde man jetzt ein »Schatz, wir sind zu Hause« hören. Oder ein »Hallo, wie schön, dich wiederzusehen«. Etwas in der Art wäre angebracht, nachdem man seine Eltern fast eine Woche nicht gesehen hat, aber in dieser Familie läuft alles etwas anders, und daran bin ich gewöhnt.

Papa schiebt stöhnend seinen Koffer in den Flur, während er mit der anderen Hand das Handy ans Ohr hält. Mama entledigt sich ihrer Pumps und massiert sich die Füße.

Sie sind müde und verspannt. Am besten, ich lasse sie in Ruhe.

»Willst du uns nicht begrüßen?« Papa hat das Handy zur Seite gelegt, um sich sein Jackett auszuziehen.

»Hallo«, bringe ich lahm hervor. »Ich habe einen Erdnusszopf gebacken.«

»Deshalb stinkt das ganze Haus. Hast du wieder vergessen, die Lüftung anzuschalten?« Mein Vater sieht genervt aus.

Das Lächeln auf meinem Gesicht fällt in sich zusammen. Wieso habe ich nicht an die Dunstabzugshaube gedacht? Dabei weiß ich sehr wohl, wie sehr er jegliche Essensgerüche im Haus verabscheut.

»Das ist sehr lieb von dir, Carolin«, kommt mir meine Mutter zur Hilfe. »Wir schneiden ihn nach dem Abendessen an, okay? Dein Vater und ich brauchen erst einmal etwas Richtiges.«

»Klar. Soll ich euch mit dem Gepäck helfen?«

Mamas müdes Lächeln ist Antwort genug, also greife ich nach ihrem Koffer.

»Hattet ihr eine schöne Woche?«, frage ich, während ich meiner Mutter helfe, das Gepäck in den ersten Stock zu tragen.

»Sie war erfolgreich, aber auch sehr stressig. Dein Vater hat jede Nacht nur vier Stunden geschlafen.« Das ist nichts Neues.

»Entschuldige, wir sind beide total platt, lass uns morgen darüber reden, ja? Hast du die Zeit zum Lernen nutzen können?«

»Hm«, antworte ich ausweichend. Wenn es als lernen zählt, jeden Tag ein neues Rezept auszuprobieren, Backvideos zu schauen und queere Serien zu gucken … Dann ja. Gebildet habe ich mich auf jeden Fall. Nur nicht auf die Art, die sie erwartet.

»Soll ich euch etwas kochen?«

Der müde Blick meiner Mutter flackert zu mir. »Gerne. Aber keine Karotten, du weißt ja, dein Vater achtet auf seinen glykämischen Index.«

»Carolin, reichst du mir bitte das Wasser?« Mein Vater sieht nicht zu mir, sondern starrt weiterhin auf sein Smartphone.

Ich greife nach der Karaffe, doch mein Vater hat wohl schon wieder vergessen, worum er mich gebeten hat.

»Das ist doch nicht zu fassen!« Er fängt an, heftig auf das Display zu tippen.

»Thomas, kann das nicht warten?« Meine Mutter sieht entschuldigend zu mir. »Der Auflauf schmeckt köstlich, Schatz.«

»Danke.«

Mit meinen Eltern zu Abend zu essen fühlt sich an, als säße man in einem riesigen Konferenzsaal. Das liegt nicht nur an den hohen Decken und der klinisch weißen Einrichtung, sondern auch an den grauen Marmorböden, dem wuchtigen Esstisch und den Smartphones und Tablets, die die ganze Zeit über klingeln oder Geräusche von sich geben.

»Die wollen mich hier für dumm verkaufen. Wir hatten zwölf Prozent festgelegt, und jetzt schreibt mir die Pächterin, dass sie fünfzehn wollen. Nicht zu fassen.« Mein Vater rauft sich das braun-graumelierte Haar, das an den Schläfen immer lichter wird, und spielt mit der teuren Uhr an seinem Handgelenk.

»Ich spreche mit June, vielleicht kann sie sich morgen darum kümmern«, wirft meine Mutter ein. June ist die Geschäftspartnerin meiner Eltern, und ich frage mich, wie sie es all die Jahre über schon aushält, mit den beiden zusammenzuarbeiten.

»Danke.« Mein Vater klingt müde und legt endlich das Smartphone zur Seite. »Entschuldigt. Dieser Auftrag sollte schon längst abgeschlossen sein.« Er atmet tief ein und wieder aus, ehe er endlich nach der Karaffe greift und sich Wasser einschenkt.

Offenbar will meine Mutter diesen kurzen Moment der Stille nutzen, um das Thema zu wechseln: »Hast du deine Sachen gepackt?« Ihre grauen Augen mustern mich über ihr Weinglas hinweg.

»Ja, hab ich.« Mein Koffer steht schon seit Tagen fertig gepackt in meinem Zimmer. Wenn es nach mir ginge, kann die Schule nicht früh genug beginnen. Doch es ist nicht der Unterricht, den ich vermisse. Es sind meine Freundinnen, das Fußballteam und Sam …

»Morgen früh holt dich ein Taxi ab, ich habe mich bereits um alles gekümmert.« Mein Vater tippt schon wieder etwas in sein Smartphone. »Also steh bitte um sieben vor dem Haus.«

»Okay.«

Ich stochere in meinen Kartoffeln herum und frage mich, wann ich endlich den Tisch verlassen darf. Wieso dachte ich nur, dass unser letzter Abend anders ablaufen würde als sonst? Wieso habe ich immer noch die Hoffnung, dass sie sich ändern?

Das Telefon meiner Mutter klingelt, und sie erhebt sich, um kurz das Zimmer zu verlassen.

»Ich habe mit deinem Schuldirektor gesprochen«, wendet sich mein Vater wieder an mich und sieht mich diesmal doch tatsächlich an. Ich sinke tiefer in meinen Stuhl. Wieso nur kann mich niemand anrufen und vor diesem Gespräch retten?

»Er meinte, du leitest nach wie vor diese AG?«

»Ja«, presse ich hervor. »Wieso?«

»Du weißt sicher, dass außerschulische Aktivitäten sich gut auf deinen Zeugnissen machen, aber ich habe mir das einmal genauer angesehen. Ihr habt eine eigene Webseite und stellt euch dort … ziemlich zur Schau.«

Wie bitte?

»Wir leisten Aufklärungsarbeit über queere Themen. Bieten Hilfe für Menschen aus der Community und deren Angehörige an …«

Mein Vater fällt mir ins Wort. »Aber wieso reicht es nicht, das am Internat zu machen? Sieh mal, das Internet vergisst nichts, und ihr wisst nicht, wer alles auf diese Seite gelangt. Was, wenn du bei deiner späteren Berufswahl Probleme bekommst?«

Jetzt ist mir der Appetit endgültig vergangen. Stattdessen liegt ein ekliger, saurer Geschmack auf meiner Zunge.

»Diese Webseite haben Sam und ich das ganze letzte Jahr über aufgebaut, ich werde sie nicht löschen«, erwidere ich und verleihe meiner Stimme so viel Nachdruck wie möglich.

»Du verstehst nicht, worum es hier geht. Willst du wirklich, dass dich jeder so sehen kann?«

»Wie meinst du das?«, frage ich, und meine Stimme bebt leicht. Da wären wir also. Die letzten Wochen sind wir ohne jegliche Vorwürfe ausgekommen. Fast habe ich geglaubt, dass wir die Ferien diesmal ohne einen Streit beenden.

»Du weißt, wie ich das meine. Du und … Sam. Müsst ihr denn so viele Bilder von euch online stellen?«

Es gibt ein Kussbild von Sam und mir. Eins. Das ist letztes Jahr auf dem CSD in Hamburg entstanden, den wir in den Sommerferien besucht hatten. Eine Fotografin hatte uns für eine Lokalzeitung abgelichtet und mir das Bild danach zur Verfügung gestellt. Ich liebe es, weil wir in diesem Moment so glücklich waren. Weil wir uns frei und akzeptiert fühlten.

Mein Blick flackert zur Tür, sucht nach einem Anzeichen, dass meine Mutter zurückkommt und dieses Gespräch beendet. Doch sie telefoniert anscheinend noch immer.

»Carolin«, mein Vater sieht mich an, und ich weiß, dass er denkt, er sei im Recht. Er denkt, dass er mich mit seinem Verhalten beschützt und mir so zeigt, dass er mich liebt. Doch das Gegenteil ist der Fall.

»Du willst doch nur nicht, dass deine Kundschaft diese Fotos sieht, stimmt’s?«

Ich wollte ihn provozieren, ihn zu einer lautstarken Verteidigung herausfordern, doch als er nicht antwortet, wird mir klar, dass es genau darum geht.

»Ernsthaft? Du verbietest mir, Bilder mit meiner Freundin zu posten, weil du Angst hast, dann keine Häuser mehr an reiche, queerfeindliche Menschen verkaufen zu können?« Normalerweise werde ich nicht laut. Ich versuche immer einen kühlen Kopf zu bewahren, aber es gibt Momente, in denen mir das nicht gelingt. Das hier ist einer davon.

»Ich kann nichts für die Ansichten meiner Kunden, Carolin, das kannst du mir nicht vorwerfen, und darum geht es hier auch gar nicht.«

Eigentlich doch. Eigentlich kann ich ihm genau das vorwerfen. Dass er Villen in Dubai und anderen Städten dieser Welt verkauft, in die ich nicht reisen kann, ohne Angst um mein Leben zu haben. Doch das mache ich nicht. Weil es nichts bringt.

»Ich möchte nur an dich appellieren, dir noch einmal ganz genau zu überlegen, was du mit der Welt teilen möchtest und was nicht. Ich will nicht, dass du das in ein paar Jahren bereust.«

Er denkt also immer noch, meine Sexualität sei eine Phase. Dass ich eines Morgens aufwache und mir klar wird, hey, ich bin doch hetero. Die Wut in mir brodelt und ist kurz davor überzukochen.

»Was ist hier los?« Meine Mutter steht in der Tür, das Smartphone noch in der Hand. Meistens trägt sie einen ihrer Businessanzüge, doch nach dem langen Flug hat sie sich eine Jeans angezogen. Ihre Definition von lockerer Kleidung.

»Nichts«, sagt mein Vater und greift seelenruhig nach der Weinflasche.

»Nur das Übliche. Er verleugnet meine Sexualität, und wir streiten uns über seine Kundschaft.«

Ihr Blick flackert zwischen mir und meinem Vater hin und her. Ob sie mich dieses Mal verteidigt?

»Das war sicherlich ein Missverständnis, Carolin.« Ich bin nicht enttäuscht über diese Reaktion. Ehrlich gesagt habe ich genau das erwartet. Wenn es heißt Papa oder ich, entscheidet sie sich für ihn. So war das schon immer. »Das ist unser letzter Abend als Familie, können wir einmal nicht über solche Themen streiten? Wir sehen uns doch erst Weihnachten wieder.«

Meine Unterlippe zittert, und auf einmal ist da keine Wut mehr. Sie verpufft über uns an den hohen Decken. Ich will nicht mehr hier sein. Ich will zu Sam, mich in ihre Arme werfen und sie nie wieder loslassen.

»Ich bin müde«, sage ich und stehe auf. »Der Nusszopf steht im Vorratsraum. Probiert ihn wenigstens.«

»Carolin, das ist kindisch. Bleib hier, wir haben noch nicht zu Ende gegessen.« Mein Vater bedeutet mir wieder Platz zu nehmen, doch ich bleibe stehen. Für ihn bin ich doch sowieso zu viel, zu anstrengend. Ich tue ihm und uns allen einen Gefallen, wenn ich diesen Tisch jetzt verlasse.

»Gute Nacht«, sage ich und begebe mich zu der gewundenen Wendeltreppe, die in den ersten Stock führt.

Mein Zimmer befindet sich auf der Hinterseite des Hauses, von der aus man direkt aufs Wasser schauen kann. Wir wohnen in einer dieser Villen direkt an der Alster. Eine traumhafte Umgebung. Dennoch hasse ich es, hier zu sein.

Ich schließe die Tür hinter mir und schmeiße mich auf mein Bett, sinke in die weiche Matratze und versuche, meinen Atem zu beruhigen. Nicht mehr lange. Nur noch einmal schlafen, dann kann ich hier weg.

Ich rolle mich zur Seite, ziehe mein Handy aus der Hosentasche und öffne den Gruppenchat der »Queer & Friends«-AG, die Sam und ich vor drei Jahren gegründet haben. Vor allem in der Ferienzeit schreiben wir dort viel. Zu Schulzeiten treffen wir uns einmal im Monat, doch während der Ferien ist immer jemand online, der einem zuhört. Gestern haben Ash, Max und Tari ewig darüber diskutiert, wer der beste Avenger sei, davor ging es um eine neue Serie mit queerer Hauptfigur, auf die wir alle gespannt warten. Normalerweise kann man auch in die Gruppe schreiben, wenn man Probleme zu Hause hat oder es einem nicht so gut geht, aber ich möchte niemandem den letzten Ferienabend vermiesen, also schreibe ich stattdessen:

Caro:Helloooo! 😊 Ich hoffe, ihr habt alle schon gepackt und seid ready, morgen wieder ins Internatsleben einzutauchen – ich freue mich riesig, euch alle wiederzusehen! Es gibt so viel zu besprechen. Deshalb schlage ich vor, dass wir das erste Treffen direkt in die erste Woche legen. Vielleicht haben wir dieses Jahr auch wieder ein paar Neuzugänge bei uns. Macht also schön Werbung unter den Neuen am Internat 😉 Das wäre es von meiner Seite aus. Also dann, bis morgen ♥

Ich schicke die Nachricht ab, und kurz darauf antworten die ersten schon. Lou schickt ein galoppierendes Einhorn-Emoji und schreibt:

Lou:Wenn ich nicht den Zug nehmen müsste, würde ich morgen so zum Schloss kommen :D

Das findet Tari besonders lustig, und Max fragt:

Max: Gibt es wieder Kekse?

Caro: Das muss ich mir noch überlegen 😛

antworte ich, worauf drei Menschen Gifs von bettelnden Hundeaugen schicken. Sie wissen einfach, wie man mich rumkriegt.

Während immer weitere Nachrichten im Gruppenchat eintrudeln und die schlechte Stimmung, die seit dem Abendessen auf mir lastet, hinfortspülen, erreicht mich eine Privatnachricht von Sam.

S♥: Hi du 😊

Caro: Hi ♥

S♥: Noch 14 Stunden, bis wir uns wiedersehen :*

Caro: Du bist so kitschig :D

S♥: Verrate das bloß nicht, das schadet meinem Rockstar-Image.

Caro: Na gut, ich werde schweigen …

S♥: Und wie war dein Tag? Immer noch kein Drama?

Caro: Na ja, nicht ganz.

Kurz fasse ich das Gespräch mit meinem Vater zusammen.

S♥: Oh Mann … Soll ich dich anrufen?

Wie gerne würde ich dieses Angebot annehmen. Aber den letzten Ferienabend verbringt Sam immer mit ihren Eltern und ihren Brüdern, also antworte ich:

Caro: Schon gut, morgen kann ich hier raus, das macht es leichter.

S♥: Okay. Aber schreib, wenn du doch reden willst. Ich schalte mein Handy auf laut 😊 Muss jetzt runter, Ma will uns unbedingt diesen neuen Oscar-Film zeigen.

Ich weiß, dass Sam nicht möchte, dass ich mich schlecht fühle, doch die Sache ist die: Ihre Familie ist das komplette Gegenteil von meiner.

Caro: Dann iss Popcorn für mich mit, ja?

S♥: Mach ich. Bis morgen! ♥

Caro: Bis morgen :*

Seufzend schalte ich mein Handy aus und schlüpfe in mein Schlafoutfit: graue Jogginghose und ein Jenna-Ortega-Fan-Shirt – nein, dafür schäme ich mich nicht.

Den Rest des Abends verbringe ich mit Snacks in meinem Bett und jeder Menge Fanvideos auf YouTube. Nicht alle davon handeln von Jenna Ortega. Eins ist ein ziemlich schnulziger Zusammenschnitt meiner liebsten queeren Serienpärchen. Erwachsene wie mein Vater verteufeln das Internet immer, doch Fakt ist: Ohne YouTube, Tumblr, Instagram und Co wüsste ich nicht, wie ich die Sommerferien mit meinen Eltern überleben würde.

Zehn Stunden später klingelt mein Wecker. Einzelne Sonnenstrahlen fallen durchs Fenster, und während ich dieses Schauspiel bewundere, wandert mein Blick zu dem Wandkalender, auf dem ich jeden vergangenen Tag der letzten acht Wochen durchgestrichen habe. Ich springe auf und streiche das letzte weiße Kästchen durch.

Endlich. Die Ferien sind vorbei, ich kann zurück nach Schloss Mare. Das Internat mit seinen hohen Mauern, den vielen Türmen und dem kleinen Strandabschnitt direkt an der Nordsee. Es ist der wundervollste Ort, den man sich vorstellen kann.

Ich trete ans Fenster und atme die warme Juliluft ein. Ein paar Enten gackern unten auf dem Wasser, und eine Möwe fliegt darüber hinweg.

»Ich fahre heute nach Hause!«, rufe ich ihr entgegen, doch sie blickt mich nur verwirrt an und schnattert.

»Nach Hause«, murmle ich und blicke auf den dunkelblauen Blazer mit dem Internatswappen darauf. Der Blazer ist das einzige Kleidungsstück, das ich noch nicht eingepackt habe, damit es nicht verknittert.

Meine Finger streifen über das goldene Wappen.

»Also dann – auf ins letzte Schuljahr.«

VERÄNDERUNGEN

»Fühlt sich seltsam an, oder?« Mika deutet auf die abgegriffene Schlüsselkarte in meiner Hand, und ich nicke.

Vor zwanzig Minuten hat mich das Taxi vor dem Schloss abgesetzt. Mika war die erste Freundin, auf die ich getroffen bin, also haben wir beschlossen, schon einmal nach drinnen zu gehen. Jetzt stehen wir in dem langen Flur und beobachten die anderen Schülerinnen der Abschlussklasse, die bereits damit beschäftigt sind, letzte Habseligkeiten aus ihren alten Zimmern zu räumen und ins Treppenhaus zu tragen.

»Wie waren deine Ferien?«, frage ich, um das Unausweichliche hinauszuzögern. »Bist du jetzt fest beim VfL?«

Mika streicht ihre langen schwarzen Haare zur Seite, sodass ich das Logo des VfL Wolfsburg erkennen kann, das auf ihrem grünen T-Shirt prangt. Es bildet einen schönen Kontrast zu ihrer braunen Haut.

»Das Sommercamp war der Wahnsinn. Ich wäre am liebsten dortgeblieben, aber du kennst ja meine Eltern … Ich musste ihnen versprechen, das letzte Jahr fertig zu machen. Zum Glück will mich der Trainer unbedingt im Team haben. Außerdem hat es auch Vorteile, noch ein Jahr hierzubleiben.«

»Du meinst, weil du uns dann ein weiteres Jahr als Kapitänin herumkommandieren darfst?«

»Vielleicht.« Sie grinst und dreht sich dann wieder zu der Tür um, vor der wir stehen. »Ich werde das Turmzimmer vermissen.«

»Weißt du schon, wer es bekommt?«, frage ich.

Mika schüttelt den Kopf. »Ich bete nur, dass sie es zu schätzen wissen. Das ist nicht einfach nur ein Zimmer.«

Ich muss lächeln, denn ich weiß genau, was sie meint. Mika lebte bereits am Internat, als ich vor vier Jahren in das Zimmer neben ihrem zog. Dass wir beide mit unseren Mitbewohnerinnen zusammen sind, macht es noch einzigartiger. Glücklicherweise hat die Internatsleitung kein Problem damit, solange nicht die Gefahr einer Schwangerschaft besteht. Seltsame Welt, aber gut.

Genau in diesem Moment tritt Lou durch die Glastür am anderen Ende des Flurs. Ihren Koffer hat sie nicht bei sich, den muss sie schon in das neue Zimmer gebracht haben. Stattdessen läuft sie mit langen Schritten auf uns zu und steckt ihre hellbraunen Haare zu einem lockeren Dutt zusammen. Lou hat helle Haut und ist mit ihren eins achtzig die Größte in unserem Team.

»Hi«, sagt sie etwas atemlos und küsst Mika zur Begrüßung. Dabei stört es sie offensichtlich nicht, dass Mikas Make-up ihre Brille verschmiert.

Mika flüstert etwas, das ich nicht verstehen kann, und Lou erwidert leise: »Ich dich auch.«

Ich räuspere mich, und Lou fährt zu mir herum. »Mein Zug hatte Verspätung, habt ihr schon angefangen?«

Mika und ich schütteln die Köpfe.

»Wir bringen es nicht über uns«, meine ich lachend.

»Aber wir ziehen doch nur einen Flur nach oben. Habt ihr mir nicht letztes Jahr ständig erzählt, wie sehr ihr euch auf die größeren Zimmer freut?« Erstaunt blickt Lou uns an.

Sie hängt wohl nicht so sehr an dem Zimmer wie wir. Aber sie lebt auch erst seit zwei Jahren hier, vielleicht fällt es ihr deswegen leichter.

»Na dann, bringen wir es hinter uns.« Mika seufzt und hält die Schlüsselkarte an den Sensor. Kurz darauf öffnet sich die Tür.

»Viel Erfolg«, wünsche ich ihnen, und sie grinsen mich an, ehe sich die Zimmertür hinter ihnen schließt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie die nächsten Minuten nicht mit Aufräumen verbringen werden, immerhin haben sie sich einige Wochen lang nicht gesehen. Als ich einen dumpfen Schlag und ersticktes Gekicher von drinnen vernehme, muss ich lachen. Wusste ich es doch. Wieder wende ich mich den anderen Schülerinnen der Abschlussklasse im Gang zu. Meine Teamkolleginnen Toni und Yuki, im Zimmer gegenüber, sind schon seit einer Weile zugange. Toni ist nicht gerade der ordentlichste Mensch, wohingegen Yuki eine pure Abneigung gegen jedes noch so kleine Staubkorn hegt. Dass die beiden es schon so lange in einem Zimmer zusammen aushalten, kann nur dadurch erklärt werden, dass sie beste Freundinnen sind.

Genau in diesem Moment öffnet sich die Tür, und eine verschwitzte Toni lässt sich auf den Boden fallen. Wie immer hat sie ihre blonden Haare zu einem hohen Zopf gebunden, aus dem sich jedoch einige Strähnen gelöst haben. Ihre Wangen glühen rot, und sie fährt sich über die feuchte Stirn.

»Hilf mir«, formt sie lautlos mit den Lippen in meine Richtung.

»Was macht ihr denn da drin? Ich dachte, die Zimmer werden in den Ferien immer schon geputzt. Wir sollen doch nur die letzten Sachen rausräumen, die wir vergessen haben, oder?«, frage ich verdutzt, doch Toni schüttelt den Kopf.

»Hast du das nicht mitbekommen? Es gab einen richtig üblen Wasserschaden im oberen Flügel. Meine Mutter und ihre Crew haben die ganzen Ferien über alles renoviert, aber mehr als eine Grundreinigung der Zimmer in den unteren Stockwerken haben sie bis jetzt nicht geschafft. Wenn du mich fragst, reicht das auch vollkommen, aber Yuki …« Sie senkt ihre Stimme. »Sie hat die Fenster jetzt schon zweimal geputzt.«

»Können wir deiner Mutter und ihrem Team denn irgendwie helfen?«, frage ich. »Also muss oben im Flur noch was gemacht werden?«

»Da ist alles fertig, zum Glück. Aber Direktor von Bülow meinte, es sei doch eine gute Maßnahme, wenn wir uns selbst um unsere alten Zimmer kümmern.«

Müde lässt sie ihren Kopf gegen die Wand fallen. »Ein Hoch auf die Eigenverantwortung.«

Bevor ich etwas erwidern kann, kommt Yuki mit einem Wischmopp in der Hand heraus und sieht anklagend zu Toni. Ein buntes Tuch hält ihre schwarzen, kinnlangen Haare aus dem Gesicht und endet in einer Schleife über ihrer Stirn, die sie aussehen lässt wie eine Hausfrau aus den Fünfzigern. »Wir sind noch nicht fertig. Wieso sitzt du hier draußen?«

»Weil ich … Da drinnen glänzt doch schon alles«, bringt Toni erschöpft hervor.

»Antonia Müller, wenn du nicht sofort aufstehst …« Yuki hebt drohend den Wischmopp, doch Toni breitet nur die Arme aus, sieht ihre beste Freundin herausfordernd an und ruft: »Dann tu es doch! Stoß zu! Ich bin bereit.«

»Seit sie mit Lukas zusammen ist, schaut sie zu viele Dramen, wenn du mich fragst«, höre ich eine vertraute Stimme an meinem Ohr. Ich drehe mich um, und da steht Sam.

»Du bist hier!«, rufe ich etwas zu laut, doch das ist mir egal.

»Ich stehe vor dir, ja.« Sam lächelt ihr perfektes halbes Lächeln und fährt sich durch die Haare, die deutlich kürzer sind als noch vor ein paar Wochen. Die sonst braunen Locken leuchten golden an den Spitzen, dort wo die italienische Sonne sie geküsst hat.

Ich ziehe Sam an mich, vergrabe meinen Kopf an ihrem Hals und atme den vertrauten Geruch ein. Sam streicht mir über den Rücken.

»Ich hab dich vermisst«, sage ich und meine es auch so. In den ersten Ferienwochen waren wir zusammen in Italien bei ihrer Familie, danach haben wir nur selten telefoniert oder gefacetimt, weil meine Eltern mich gezwungen haben, drei Wochen mit ihrer Yacht über den Pazifik zu schippern. Es war grauenvoll, obwohl ich das Meer liebe. Und als der Bootsurlaub dann vorbei war, war Sam auf Italienrundreise mit ihren Eltern, um all ihre Verwandten zu besuchen. Wir haben also die meiste Zeit nur geschrieben, und auch das nicht regelmäßig. Umso froher bin ich nun, dass wir wieder zusammen sind.

»Hast du noch nicht angefangen?«, fragt Sam und deutet auf die verschlossene Tür. »Okay, blöde Frage. Natürlich hast du noch nicht angefangen.«

Sam kennt mich, sie weiß, wie schwer mir das hier fällt. Veränderungen sind nicht mein Ding. Ich mag es geordnet, wenn alles an seinem Platz ist.

»Ich wollte nicht ohne dich anfangen«, meine ich ausweichend.

Sams braune Augen mustern mich liebevoll, als sie mir ihre Hand entgegenhält. Ich ergreife sie, halte die Chipkarte an den Sensor, und gemeinsam treten wir durch die Tür.

Vor uns ausgebreitet liegen vier Jahre. Ich sehe mein Bett auf der linken Seite. Die gelbe Bettwäsche habe ich bereits vor den Ferien abgezogen, doch das Gestell erinnert mich an meine erste Nacht am Internat.

Sam war von Anfang an die perfekte Mitbewohnerin. Wir verstanden uns von Sekunde eins an. Da gab es keine Streitigkeiten oder gegenseitiges Aufziehen wie bei Mika und Lou. Wir mochten uns, so einfach war das.

Mein Blick gleitet über mein Bett zu dem kleinen Fenster, hinter dem man das satte Grün des Fußballfelds erkennen kann. Dort auf dem Fenstersims saßen wir, und Sam erzählte mir alles über das Team, in das sie unbedingt eintreten wollte. Ich hatte noch nie zuvor Fußball gespielt, aber die Leidenschaft, mit der sie davon schwärmte, riss mich mit. Also gingen wir beide zum Probetraining und – mein Blick wandert weiter zu meinem Schreibtisch und dem gerahmten Teamfoto, das dort steht – wurden aufgenommen. Sam als Stürmerin, ich in der Abwehr. Später spielte ich auch manchmal im Mittelfeld.

Sam greift nach dem Bilderrahmen und legt ihn in die Kiste, die sie mitgebracht hat. Ich will nicht nur hier stehen und ihr bei der Arbeit zusehen, also fange ich ebenfalls an, die letzten persönlichen Gegenstände einzupacken, die wir vor den Ferien hiergelassen haben. Eine verirrte Socke, ein platter Fußball, gut ein Dutzend Haargummis und die Packung von der rosa Farbe, mit der ich mir im letzten Jahr die Haare gefärbt habe.

»Schau mal, was ich gefunden habe.« Sam liegt halb unter ihrem Bett, ich sehe nur die Sohlen ihrer schwarzen Vans, ehe sie zurückrobbt und einen Regenbogen-Pin in die Höhe hält.

»Den habe ich überall gesucht!«, rufe ich und laufe zu ihr, um den Pin entgegenzunehmen.

»Er war die ganze Zeit hier«, meint Sam und reicht ihn mir.

Mit dem Pin kommen neue Erinnerungen. All diese verwirrenden Gefühle, die in meinem ersten Jahr am Internat aufkamen. Da war dieses Mädchen in meinem Zimmer, das ziemlich schnell meine beste Freundin geworden war, und dann gab es Momente, in denen ich mir wünschte, dass wir mehr als das waren. Mehr als Freundinnen.

Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich Sam sagen sollte, was in mir vorging. Das alles war viel zu verwirrend. Als ich meine Eltern zu Hause besuchte, fand ich diesen Regenbogen-Pin auf der Straße vor ihrer Villa. Ich habe bis heute keine Ahnung, wie er dort gelandet ist, doch ich weiß noch, wie viel Angst ich hatte, ihn aufzuheben. Wie heiß er in meiner Hand lag, weil ihn die Sonne aufgeheizt hatte.

Als ich aus den Ferien zurückkam, trug ich den Pin an meinem Rucksack und wartete nur darauf, dass Sam mich darauf ansprach. Doch das tat sie nicht. Als ich daran denke, muss ich lächeln. Das alles liegt so lange zurück, dass es sich anfühlt, als wäre es in einem anderen Leben gewesen. Manchmal würde ich mein vierzehnjähriges Ich gerne in den Arm nehmen und ihm sagen, dass alles gut wird, dass Sam ebenfalls Gefühle für mich hat und ich mich einfach trauen soll, es ihr zu sagen.

»Ich weiß noch, wie du ihn zum ersten Mal getragen hast.« Sam streicht über den Pin, den ich mir an mein weißes Crop Top geheftet habe.

»Steht mir immer noch gut, oder?«

»Du siehst umwerfend aus.«

»Danke, genau das wollte ich hören.« Wir grinsen uns an, ehe wir beide fortfahren, das Zimmer auszuräumen. Bald schon liegen all unsere Habseligkeiten in zwei kleinen Kisten, und wir fangen an, das Zimmer zu reinigen.

Es dauert keine halbe Stunde, dann sind wir fertig. Vor uns liegt ein leerer Raum ohne Erinnerungen. Aber das stimmt nicht ganz. Die Wände wurden zwar bereits überstrichen, aber ganz leicht sieht man den Fleck noch immer. Er ist entstanden, als Sam mir einen Trick mit dem Fußball zeigen wollte und etwas zu fest gegen ihn getreten hat. Oder die eingeritzten Buchstaben an Sams Bett. C+S.

Sam neben mir wippt ungeduldig mit dem Fuß, und ich weiß, dass sie nach oben gehen und unser neues Zimmer einräumen möchte, doch ich brauche noch eine Sekunde. Eine letzte Erinnerung, die aufkommt, wenn ich dieses Zimmer betrachte.

Es ist Sams Bett, das die Erinnerung auslöst. Unser erster Kuss, der zwischen all ihren Kissen gefallen ist. Es war die Nacht vor ihrem fünfzehnten Geburtstag. In diesem Moment fühlte ich mich schwerelos.

»Wollen wir langsam?« Sam klingt nicht genervt, aber ich höre diesen Unterton in ihrer Stimme, also nicke ich.

Wir nehmen jede eine Kiste und gehen durch den langen Flur und ins Treppenhaus. Von Toni oder Yuki ist nichts zu sehen. Ich hoffe für Toni, dass sie nicht immer noch beim Auswischen sind, und frage mich, ob Mika und Lou schon mit dem Aufräumen begonnen haben.

Der dritte Stock ist für die Schülerinnen der Abschlussklasse vorgesehen. Hier sind die Zimmer größer, wir haben ein großes Waschbecken mit einem runden Spiegel und mehr Stauraum für Lehrbücher. Wenn man einen gesonderten Antrag stellt, oder besonders einflussreiche Eltern hat, kann man auch ein Einzelzimmer bekommen, aber das wollten wir natürlich nicht. Unser Zimmer ist die Nummer fünf und liegt auf westlicher Seite in der Mitte des Gangs. Durch die Renovierungsarbeiten riecht es noch nach Farbe und neuen Böden. Alles glänzt.

»Perfekt, ein Zimmer direkt neben dem Waschraum, dann müssen wir morgens nicht so lange anstehen.«

»Dafür werden wir wach, sobald die erste Person da drin den Wasserhahn aufdreht.« Sam klingt nicht begeistert.

»Ach komm, du schläfst doch sowieso nie lange.«

Sam zuckt nur mit den Schultern. Vielleicht vermisst sie unser altes Zimmer genauso sehr wie ich und will es nur nicht zugeben.

Wir öffnen die Tür und sehen uns in dem geräumigen Zimmer um. Ja, mehr Platz hat man hier auf jeden Fall. Auch die Luft wirkt frischer, obwohl wir nun näher am Dachgeschoss sind. Hier haben wir zwei Fenster, die uns einen wunderschönen Blick hinaus aufs Meer und auf die Dünen davor schenken.

Innerlich werde ich ruhiger. Ich hatte solche Angst vor diesem Umzug, doch das Zimmer ist perfekt.

»Schau dir nur unseren Ausblick an!« Ich ziehe Sam zu mir und stelle mich neben sie ans Fenster. Wir beide betrachten die Wellen eine Zeit lang, und ich spüre, wie auch Sam ruhiger wird.

»Das ist schön«, sagt sie, klingt dabei aber seltsam weit weg. Ob sie mit ihren Gedanken gerade schon beim Willkommensfest heute Abend ist?

»Na dann machen wir dieses Zimmer mal zu unserem, oder?« Ich schiebe meinen Koffer herein und stelle ihn vor das linke Bett, weil ich immer links schlafen muss, dann wuchte ich den Koffer auf die Matratze und beginne ihn auszuräumen.

Sam holt ebenfalls ihren Koffer herein, und eine Zeit lang räumen wir stillschweigend aus. Auch das liebe ich an unserer Beziehung. Dass wir nicht miteinander reden müssen, sondern auch die gemeinsame Stille genießen können.

Sam stellt das Teamfoto auf ihren Schreibtisch und fährt dann fort, eine Lichterkette über ihr Bett zu spannen.

»Wie geht es Enrico und Paolo?«, erkundige ich mich, während ich meine gefalteten Shirts in den Schrank räume. Sams Brüder sind absolute Wirbelwinde, und jedes Mal, wenn ich im Hotel von Sams Eltern zu Besuch bin, fordern sie mich zu neuen Wettbewerben heraus. Letztes Mal ging es darum, wer mehr Gummibärchen in seinem Mund behalten kann. Ich habe knapp gegen Paolo verloren, der sich danach allerdings auf den roten Teppich im Eingangsbereich des Hotels übergeben musste.

»Die beiden haben dich vermisst. Sie meinten, die Ferien sind ohne dich immer so langweilig.« Sam lacht.

»Glaub mir, ich habe sie auch vermisst.«

»Auf einer Skala von eins bis zehn, wie schlimm war der Trip mit deinen Eltern?«

Da muss ich nicht lange überlegen. »Zwölf.«

Sam kommt zu mir, setzt sich neben mich aufs Bett und umarmt mich. »Tut mir leid, dass ich nicht dabei war.«

Sam hat die Angewohnheit, sich für Dinge zu entschuldigen, für die sie absolut nichts kann, doch ihre Nähe tut gut.

»Ihr hattet doch auch Pläne für die Ferien, und die letzten zwei Sommer habe ich komplett bei deiner Familie verbracht. Meine Mutter meinte, sie würde mich auch ganz gerne mal wieder sehen.« Ich seufze. »Keine Ahnung, die zwei leben einfach auf einem anderen Planeten.«

»Ich weiß, was du meinst.« Sam lässt sich nach hinten auf mein Bett fallen und blickt an die Decke, ich folge ihr und schmiege mich an sie.

»Gegen dich haben sie nichts, das ist immerhin etwas. Aber manchmal sehen sie mich an, und ich weiß einfach, dass ich sie enttäusche.«

Sam und ich haben dieses Gespräch schon öfter geführt, und ich habe Angst, dass sie es langsam leid ist, doch sie zieht mich nur noch enger an sich und murmelt in mein Haar: »Wie könntest du jemanden enttäuschen? Du bist wundervoll.«

Ich lache, weil ich an meinem ersten Tag am Internat nicht weinen möchte. »Danke. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich es ihnen nie recht machen kann, egal was ich tue. Nicht, solange ich mit einer Frau zusammen bin.«

Sam neben mir versteift sich.

»Nein, so meine ich das nicht!«, rudere ich schnell zurück. »Ich liebe es, mit dir zusammen zu sein, und du weißt, dass meine Eltern dich auch mögen, aber manchmal denke ich, dass sie hoffen, dass diese Phase irgendwann endet. Dann würde ich sie gerne anschreien und sagen: Ich bin lesbisch, und daran wird sich auch nichts ändern!«

Sam steht langsam vom Bett auf und drückt noch einmal meine Hand. »Jetzt bist du ja hier, da musst du dich nicht mit ihren Blicken herumschlagen.« Doch dabei sieht sie mich nicht an. Scheiße. Ich wollte ihr nicht das Gefühl geben, dass unsere Beziehung ein Problem für mich ist. Ich habe lange gebraucht, um es aussprechen zu können, das Wort lesbisch überhaupt erst in den Mund nehmen zu können. Und auch, wenn meine Eltern auf mein Coming-out nicht mit Jubelrufen reagiert haben, so tolerieren sie es doch. Zumindest, solange ich trotzdem eine akademische Laufbahn einschlage, super Noten schreibe und online keine Fotos mit meiner Freundin poste.

Ich bin stolz darauf, mit Sam zusammen zu sein. Es ist das Normalste der Welt, und ich liebe sie. Genau das sage ich ihr auch kurz darauf, als wir die Regenbogenflagge über unserer Tür aufhängen. Doch aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass ich Sam dennoch verletzt habe.

Vielleicht zerdenke ich das alles schon wieder zu sehr, aber ich kenne meine Freundin, und ich spüre ganz deutlich, dass sie etwas beschäftigt. Vielleicht muss ich ihr nur etwas Zeit geben, bis sie bereit ist, darüber zu reden.

WIEDER VEREINT

Der erste Schultag beginnt wie immer viel zu früh. Gestern saßen wir noch lange zusammen bei der Willkommensfeier, haben lecker gegessen und viel zu viel Cola getrunken, weswegen ich später noch ewig wach lag.

Jetzt verrät mir mein Handy, dass es bereits nach sieben ist. Neben mir durch die Wand höre ich das Prasseln einer Dusche. Das ist mit Sicherheit Mika, die jeden zweiten Morgen am Meer entlangjoggt und vor allen anderen aufsteht. Manchmal ist auch Lou mit dabei, aber oft schreibt sie auch frühmorgens an ihrem nächsten Buch. Die Disziplin der beiden hätte ich gerne mal.

»Aufstehen«, murmle ich und küsse Sam auf die Wange. Wir haben zwar zwei Betten in unserem Zimmer, schlafen aber meistens in einem, je nachdem, wessen Bettwäsche gerade frischer ist.

Sam gibt einen verschlafenen Laut von sich und rollt sich zur Seite. Mit einem dumpfen Klong landet sie auf dem Boden. Das ist der Nachteil an einem neunzig Zentimeter breiten Bett.

»Alles okay da unten?«, frage ich, als ich mich über die Matratze beuge und versuche, mir das Lachen zu verkneifen.

»Ging mir nie besser«, meint Sam grummelnd und reibt sich den Po.

»Soll ich dir eine Dusche reservieren?«, frage ich, nachdem ich mich aus der Decke geschält habe, doch Sam winkt ab.

»Ich dusche nach dem Training, hab jetzt zu viel Hunger.«

»Alles klar.«

Ich greife mir ein Handtuch und meinen Kulturbeutel und verschwinde im Bad. Als ich mit tropfenden Haaren wiederkomme, ist Sam nicht mehr da. Es dauerte eine Weile, bis ich mich daran gewöhnt hatte, dass wir nicht immer alles zusammen machen und jede von uns ihren eigenen Rhythmus hat. Auch, wenn wir in einem Zimmer wohnen und zusammen sind, haben wir doch zwei eigenständige Leben. Sich damit anzufreunden war anfangs nicht leicht. Ich dachte oft, Sam wolle keine Zeit mit mir verbringen, dabei war ihr die Bandprobe einfach sehr wichtig. Andererseits war Sam sauer, wenn ich ohne sie Zeit mit unseren Freund*innen verbrachte. Das alles ist mittlerweile zum Glück kein Problem mehr.

Als ich die Mensa betrete, winken mir Mika und Lou schon von weitem zu. Sam sitzt bei Lukas, Jacob, Fayola und Toni, den anderen Mitgliedern unserer Internatsband Hyper Wave. Wir lächeln uns an, ehe ich zur Essensausgabe laufe und mir mein übliches Frühstück zusammenstelle. Dann setze ich mich auf den Stuhl neben Lou und versenke den Löffel in meinem Müsli.

»Na, bereit für den letzten ersten Schultag?«, fragt Mika.

»Sag das nicht so. Wir haben dieses Jahr schon genug letzte Male«, gebe ich gequält von mir.

»Also auf die Doppelstunde Mathe könnte ich gut verzichten«, meint Lou und nippt an ihrem Orangensaft. »Wer denkt sich bei der Kursplanung denn: Ja, damit startet der Abschlussjahrgang perfekt in einen Montag?«

»Montage haben aber auch etwas Gutes: Training!«, sagt Mika erfreut.

»Habe ich da Training gehört?« Yuki kommt mit ihrem Tablett an unseren Tisch und setzt sich zu uns. »Ich habe die Ferien über nur mit meinem Bruder trainiert, das war nicht gerade befriedigend. Ich freue mich so, nachher endlich wieder richtig zu spielen.«

»Als Kapitänin höre ich das gerne.« Mika grinst.

»Gibt es dieses Jahr eigentlich wieder ein Probetraining? Ein Mädchen aus der Achten hat mich gestern auf der Willkommensfeier danach gefragt«, wirft Lou ein.

»Muss es doch, oder? Wenn wir alle im nächsten Jahr nicht mehr da sind, fehlt uns fast der gesamte Stammkader.« Da spricht Yuki etwas Wahres aus. Etwas, an das ich bisher ebenfalls nicht denken wollte.

Als ich damals ans Internat kam, gab es andere Spielerinnen, die viel älter waren als ich. Mit jedem Jahr sind mehr von ihnen abgegangen, und nun sind wir die Ältesten. Natürlich sind auch immer wieder jüngere nachgekommen, aber ein paar Frischlinge wären nicht schlecht.

»Ja, es gibt ein Probetraining, ich habe mich schon um den Aushang gekümmert, und Frau Nielsen hat in den Ferien bereits eine Rundmail an die jüngeren Jahrgangsstufen geschrieben. Aber wenn die Mannschaft im nächsten Jahr gut aufgestellt sein will, brauchen wir mindestens vier neue Spielerinnen«, meint Mika und sieht sich in der Mensa um, so als sei sie auf der Suche nach neuen Mitgliedern.

»Uns kann man eben nicht ersetzen, wir sollten einfach hierbleiben«, werfe ich ein und meine es nur halb als Scherz.

»Haben sich auf die Rundmail denn schon welche gemeldet?«, fragt Yuki, und Mika nickt.

»Ein paar Interessentinnen gibt es wohl, aber bisher niemanden, der sich ins Tor traut.«

Der Schulgong erinnert uns daran, dass in zehn Minuten die erste Stunde beginnt, also packen wir unsere Sachen zusammen und verlassen die Mensa.

Am späten Nachmittag stehen wir in unseren dunkelblauen Trikots auf dem Platz oder sitzen im aufgeheizten Gras. Unsere Trainerin, Frau Nielsen, verteilt bereits Hütchen und Stangen auf dem Platz, um einen Hindernisparcours aufzubauen, mit dem sie die Koordinations- und Ausdauerfähigkeit der Neuen testen will. Währenddessen sitzt der Rest von uns am Rand, schnürt sich die Schuhe zu oder redet über den ersten Schultag. Ich stehe neben Sam, lehne meine Schulter leicht gegen ihre und höre Mika dabei zu, wie sie sich über ihre Spanischlehrerin aufregt.

Fayola tritt zu uns. Die Sonne glänzt auf ihrer dunkelbraunen Haut. »Da hinten kommt das Frischfleisch«, meint sie und deutet vielsagend auf das hintere Internatstor, durch das eine kleine Traube an Menschen läuft.

»Das sind ja richtig viele«, meint Yuki überrascht.

»Freu dich nicht zu früh, die Hälfte von denen sieht so aus, als hätten sie noch nie einen Ball am Fuß gehabt.« Mika mustert die Neuen argwöhnisch. Doch ich weiß, dass sie so jedes Mal reagiert, wenn ein neues Mitglied zur Mannschaft stößt. Seit sie Kapitänin ist, achtet sie noch genauer darauf, wer zum Team passt und wer nicht. Auch Lou hat sie es anfangs nicht leicht gemacht.

»Schenk ihnen wenigstens ein Lächeln. Wenn du so guckst, laufen sie vor Angst noch davon.« Lou sieht ihre Freundin an, die doch tatsächlich beschämt wirkt und ihre Mundwinkel nach oben zwingt.

»So besser?« fragt sie gequält durch ihre Zähne hindurch.

Lou küsst sie. »Perfekt.«

»Kein Kitsch auf dem Platz, wie oft soll ich das noch sagen?« Fayola stemmt die Hände in die Seiten und schüttelt frustriert den Kopf.

»Konzentration, Leute, ich möchte euch heute von eurer besten Seite sehen. Zeigt unseren Anwärterinnen bitte, dass sie hier willkommen sind.«

Frau Nielsen ist zu uns getreten und wirft Mika einen langen Blick zu. Die stellt sich sofort aufrechter hin und nickt.

Die kleine Gruppe erreicht das Spielfeld, und ich mustere die Neuen interessiert. Zwei von ihnen sehen sich verblüffend ähnlich. Von den roten Locken über das grüne Haarband bis hin zu den nagelneuen Schuhen und der blassen Haut. Ich habe die Zwillinge schon öfter auf dem Gang gesehen, aber hier in Fußballmontur sehen sie schon cool aus, das muss ich ihnen lassen. Hinter ihnen erkenne ich zwei neue Schülerinnen, die sicher erst dieses Jahr ans Internat gekommen sind. Nur eine Person kenne ich bereits.

»Ash!«, rufe ich erfreut und winke demm zu. Ash ist seit letztem Jahr Mitglied in unserer »Queer & Friends«-AG. Ich wusste allerdings nicht, dass dey Fußball spielt.

Ash lächelt mir entgegen und reckt einen Daumen in die Höhe.

»Ich dachte, ich versuche es mal. In Wii Sports war Fußball immer mein Lieblingssport.«

Das findet eine der Zwillinge wohl besonders lustig, doch Ash lässt sich von ihr nicht beirren, fährt sich über die raspelkurzen, blondgefärbten Haare und stellt sich ganz selbstbewusst vor die anderen.

»Also, womit fangen wir an?«

»Nicht so schnell«, meint Frau Nielsen lachend. »Ihr könnt gleich alle eure Fähigkeiten unter Beweis stellen, aber erst mal machen wir eine kleine Vorstellungsrunde. Danach lauft ihr euch vier Runden warm, und dann starten wir mit dem spannenden Teil.«

Ein paar der Neuen sehen nun doch angespannt aus. Vorstellungsrunden sind nie einfach, das merke ich in unserer AG auch immer wieder. Glücklicherweise fällt es mir nach all den Jahren leicht.

Mika macht als Kapitänin den Anfang, danach folgen Lou, Sam, Fayola, ich, Yuki und der Rest des Teams. Die Zwillinge stellen sich als Nele und Maike vor, Ash ist nach ihnen dran. Als Letztes stellen sich die zwei Neuen am Internat vor. Sie heißen Zeynep und Janne.

Sobald alle ihre Namen gesagt haben, schickt uns Frau Nielsen aufs Feld. Die ersten zwei Runden laufen wir ohne Ball, die letzten zwei mit. Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie gut Ash mithalten kann. Natürlich interessieren mich auch die anderen, aber sie kenne ich nicht so gut. Insgeheim drücke ich Ash die Daumen.

Wir beenden das Warmlaufen mit einer Dehneinheit. Hier wird deutlich, dass die Kondition der Neuen nicht überragend ist. Janne und Zeynep setzen sich direkt auf den Boden und greifen nach ihren Wasserflaschen, so als seien sie kurz vorm Verdursten, und auch die Zwillinge sind knallrot im Gesicht. Nur Ash hält sich noch auf den Beinen.

»So, das war die erste Runde. Seid ihr bereit für ein wenig mehr Action?« Man kann richtig sehen, wie viel Spaß Frau Nielsen daran hat, uns auszupowern. Doch ich kann es ihr nicht verübeln, ich liebe Parcours-Übungen ebenfalls.

Nele hilft ihrer Schwester auf die Beine, und auch die anderen erheben sich.

Kurz darauf stehen wir im Halbkreis auf dem Platz, und Frau Nielsen erklärt uns die Regeln. Kurz zusammengefasst: Wer den Parcours am schnellsten und ohne Fehler durchläuft, ist automatisch direkt im Team. Wer den Ball verliert, muss von vorne anfangen.

»Auf geht’s. Hopp, hopp. Nele und Janne, ihr seid die Ersten.«

Frau Nielsen startet ihre Sportplaylist und lässt sie über eine Musikbox laufen, sodass sie auf dem ganzen Platz hörbar ist. Mit Musik läuft alles gleich viel besser.

Nele und Janne schlagen sich erstaunlich gut. Rote und blonde Zöpfe wehen durch die Luft, als sie unter der Stange hindurchtauchen, den Ball durch die Hütchen dribbeln, ihn an einem Kasten vorbeischießen und sich selbst daran vorbeiducken. Janne strauchelt beim letzten Hindernis und landet im Gras, doch Nele schafft es bis kurz vors Tor. Dort schießt sie allerdings im wahrsten Sinne des Wortes über das Ziel hinaus. Der Ball fliegt weit über das Tor hinweg und landet am anderen Ende des Platzes.

»Kein Problem. Holt eure Bälle, und stellt euch hinten an. Das war ein guter erster Durchlauf.«

Frau Nielsen klatscht in die Hände, und als Nächstes sind Sam und Mika dran. Mika ist die bessere Dribblerin, Sam hingegen ist unfassbar schnell und hat von uns allen den härtesten Schuss. Ich liebe es, ihr beim Fußballspielen zuzusehen. Ihre Bewegungen sind geschmeidig und perfekt aufeinander abgestimmt. Sicher bin ich voreingenommen, weil ich Sam liebe, aber meiner Meinung nach ist sie die Beste im Parcours.

»Das war’s! Das sah doch super aus. Ash und Nele, ihr beiden habt den Parcours in Bestzeit durchlaufen, auch wenn wir an eurer Schusskraft noch arbeiten müssen.«

»Also sind wir im Team?«, fragt Ash, und auch Nele sieht aufgeregt zu Frau Nielsen. Die lächelt und nickt, wendet sich dann aber zu Janne, Maike und Zeynep:

»Wir schließen hier niemanden aus, ihr drei seid natürlich auch herzlich willkommen.«

Sie sagt nicht, dass wir dringend auf neue Leute im Team angewiesen sind, aber das ist Zeynep und Janne auch nicht wichtig. Sie strahlen und klatschen sich ab. Nur Maike sieht noch nicht ganz überzeugt aus. Will sie überhaupt hier sein?

Die Sonne wandert hinter die Internatsmauern, und als wir uns die Leibchen überwerfen, um die letzten zwanzig Minuten gegeneinander zu spielen, liegt das Feld endlich im kühlen Schatten.

Das Abschlussspiel ist wie immer das Beste am ganzen Training. Ich schieße sogar ein Tor und schaffe es zweimal, Sam zu blocken, weil sie im gegnerischen Team ist. Nele und Zeynep wechseln sich auf der anderen Seite im Tor ab, weil Frau Nielsen schon einmal schauen möchte, ob eine von ihnen ein möglicher Ersatz für Lou wäre, doch sobald ein Schuss aufs Tor erfolgt, ducken sie sich weg oder springen zur Seite. Nicht die besten Voraussetzungen, würde ich sagen. Nele macht in der Abwehr eine deutlich bessere Figur. Ihre Schwester Maike hingegen bleibt ständig stehen, um sich Grasflecken von den neuen Schuhen zu wischen.

Das Training endet mit einem Drei-zu-zwei-Sieg für meine Mannschaft, und glücklich und verschwitzt laufen wir an den Spielfeldrand.

Insgesamt haben sich alle Neuen gut angestellt. Niemand von ihnen war herausragend, auch Ash nicht, aber das ist für ein erstes Training auch gar nicht wichtig. Hannah und Kala kamen letztes Jahr neu ins Team, und es ist erstaunlich, wie sehr sie sich innerhalb von einem Jahr verbessert haben.

Alle Neuen haben bis zum Ende durchgehalten. Das zählt. Tatsächlich hat Nele den Schnelligkeitswettbewerb gewonnen, und das, obwohl sie mit ihren vierzehn Jahren die Jüngste auf dem Platz ist.

»Sehr schön, Mädels. Das war’s für heute. Ihr seid mit Eifer dabei, das sieht man.«

Beim Wort Mädels zucke ich innerlich leicht zusammen und sehe zu Ash, kann deren Blick jedoch nicht ganz deuten.

»War das okay für dich?«, frage ich kurz darauf, während Ash in die Alltagsschuhe schlüpft. Dey zuckt nur mit den Schultern.

»Nicht wirklich. Aber keine Ahnung, ich will auch niemanden nerven oder so.«

»Du nervst doch nicht. Wenn du magst, spreche ich mit Frau Nielsen.«

»Ich wollte sowieso noch zu ihr gehen, aber vielleicht wäre es gut, wenn du dabei bist? Keine Ahnung, ich will da echt keine große Sache draus machen. Den anderen habe ich es vorhin schon auf dem Platz gesagt.«

Ich nicke. »Klar. Ich komme gern mit.«

»Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?«, fragt Ash, als der Rest des Teams sich schon verabschiedet hat. Nur Sam wartet am Rand auf mich und beobachtet uns.

»Was gibt es?«, fragt Frau Nielsen, die gerade den Ballsack zuknotet.

»Ähm, ja. Also … Die Sache ist die, ich bin kein Mädchen, ich bin nicht binär und fühle mich mit dem Begriff Mädels nicht wohl. Ich habe überlegt, ob man vielleicht einen anderen wählen könnte?«

Frau Nielsen wirkt nicht überrascht, stattdessen lächelt sie und nickt verstehend. »Natürlich. Entschuldige, lass mich kurz überlegen … Wie wäre es mit Team? Das ist ein neutraler Begriff, oder?«

Ashs Augen leuchten. »Ja, das gefällt mir.«

»Sehr schön. Verwendest du auch andere Pronomen? Ich bin ehrlich, bisher hatte ich noch keine nicht binäre Person in meinem Unterricht, aber wir hatten da letztens eine Fortbildung, deswegen weiß ich immerhin etwas.« Sie lächelt und sieht Ash offen an.

Ich stehe nur daneben und beobachte dieses Gespräch mit gemischten Gefühlen. Einerseits freue ich mich unheimlich für Ash, weil so viel Verständnis und Akzeptanz leider immer noch nicht die Normalität ist, andererseits erinnert mich all das hier auch wieder an die Gespräche mit meinen Eltern und daran, wie viel schwerer es ihnen fällt, diese Thematik zu verstehen. Zu verstehen, wer ich bin und wie ich liebe. Etwas, das eigentlich so einfach sein könnte. Vielleicht sollte ich sie auch einmal auf solch eine Fortbildung schicken.