Wie ich wurde, wer ich bin, und was wir einmal sein werden - Patrick Breitenbach - E-Book

Wie ich wurde, wer ich bin, und was wir einmal sein werden E-Book

Patrick Breitenbach

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Beschreibung

"Sei ganz du selbst" ist ein beliebter Ratschlag - doch wie mache ich das eigentlich? Wann wird das Ich zum Wir? Und wonach entscheiden wir, wie wir leben wollen? Patrick Breitenbach und Nils Köbel führen freundschaftliche Gespräche darüber, was uns Menschen als Individuen ausmacht und was unsere Gesellschaft zusammenhält. Mit großer Leichtigkeit führen sie dabei bedeutende Denker ein, erklären philosophische Konzepte und kommen immer wieder darauf zurück, was diese Gedankengebäude für uns und unser Leben bedeuten. Selten war Philosophie so nahbar.

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Über dieses Buch

»Sei ganz du selbst« ist ein beliebter Ratschlag – doch wie mache ich das eigentlich? Wann wird das Ich zum Wir? Und wonach entscheiden wir, wie wir leben wollen? Patrick Breitenbach und Nils Köbel führen freundschaftliche Gespräche darüber, was uns Menschen als Individuen ausmacht und was unsere Gesellschaft zusammenhält. Mit großer Leichtigkeit führen sie dabei bedeutende Denker ein, erklären philosophische Konzepte und kommen immer wieder darauf zurück, was diese Gedankengebäude für uns und unser Leben bedeuten. Selten war Philosophie so nahbar.

PATRICK BREITENBACH & NILS KÖBEL

WIE ICH WURDE, WER ICH BIN,UND WAS WIR EINMAL SEIN WERDEN

STREIFZÜGE DURCH DEN GARTEN DER PHILOSOPHIE

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.

www.ava-international.de

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Tobias Schumacher-Hernández

Umschlaggestaltung: Bürosüd, München

Umschlagmotiv: © Sven Sönnichsen und © Patrick Breitenbach

Illustrationen: Isabella Blatter

Mindmaps: Sven Sönnichsen

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-7325-2312-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Ilka Breitenbach, die gemeinsam mit uns in zahlreichen abendfüllenden Gesprächen dieses Buch hat mit entstehen lassen

INHALT

Vorwort von Nadia S. Zaboura

TEIL 1 | ICH

Kapitel 1 | Mensch, wer bin ich?

Identität, Jugend, Subjektivität

Kapitel 2 | Wer bestimmt eigentlich, wer ich bin?

Erziehung, Sozialisation, Rollen, Geschlecht, Medien

Kapitel 3 | Wer kann ich sein?

Bildung, Psychoanalyse, Konstruktivismus

TEIL 2 | WIR

Kapitel 4 | Das vertraute Wir

Familie, Liebe, Freundschaft

Kapitel 5 | Das unvernünftige Wir

Das Böse, Macht, Gewalt, Fundamentalismus und Extremismus

Kapitel 6 | Das vernünftige Wir

Moral, Demokratie und die offene Gesellschaft

TEIL 3 | DAS ANDERE

Kapitel 7 | Die Welt

Ideologie, Kapitalismus, Atheismus

Kapitel 8 | Gott

Religion und das Heilige

Epilog

VORWORT von Nadia S. Zaboura

Ach, Postmoderne! Wie schön, wie sinnerfüllt, wie vernünftig geht es endlich in unserer Welt zu – jetzt, da die Menschheit sich aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien kann. Jetzt, da sie vernetzter, informierter und selbstbestimmter denn je leben darf. Denn ein kurzer Blick auf Hunderte Jahre Philosophie- und Geistesgeschichte genügt, um abzuleiten, wie sehr der Mensch nach dieser Freiheit, nach diesen »freundlichen Formen des Zusammenlebens« sinnt (Brecht). Und wie stark er nach einer Gesellschaft strebt, in der herrschaftsfreie Kommunikation nicht mehr bloß graue Habermas-Theorie ist, sondern Lebenswirklichkeit, durchdrungen von Pluralität, Freiheit und Toleranz. Eigentlich.

Doch unsere Zündschnur scheint kurz, unsere Geduld mit uns und mit anderen ein knappes Gut geworden. Denn auch das ist postmoderne Lebenswirklichkeit: Eine zunehmende Komplexität bindet unsere Aufmerksamkeit, die gesteigerte Beschleunigung zehrt an unseren Energien. Ein ideales Spielfeld für Vereinfacher und Verführer: Der Vielschichtigkeit unserer Zeit setzen sie vermeintlich einfache Antworten entgegen, kappen mit geführter Polarisierung echten Austausch und verleiten mit gezielter Provokation zu ungerichteter Aufgeregtheit, zu Ad-hoc-Hysterie – und im schlimmsten Fall zur Agitation. So funktioniert verbale Brandbeschleunigung.

Zum Glück gibt es ein Entschärfungskommando, das diese sozialen Sprengsätze mit wissenschaftlichem Fingerspitzengefühl und präziser Sprache analysiert und sie vor unser aller Augen – Schritt für Schritt – dekonstruiert. Seit 4 Jahren bilden Dr. Nils Köbel und Patrick Breitenbach das »Soziopod«-Dream-Team. Fast 40 Folgen umfasst ihr preisgekrönter Podcast. Und es ist nur logisch, dass sie uns nicht nur dabei zuhören und zusehen, sondern mit diesem Buch erstmals auch mitlesen lassen, wie sie scheinbare Dogmen mit Leichtigkeit aushebeln und stattdessen Lust auf eigenes Denken machen.

Dazu entwickeln sie entlang von acht aufeinander aufbauenden Kapiteln eine Geschichte der Identität, Kultur und Gesellschaft. Und das liest sich erstaunlich lebendig und unterhaltsam: Ganz im Sinne eines Zwiegesprächs, eines echten Diskurses wird gefragt, erläutert, nachgehakt und belegt. Immer wieder greifen Köbel und Breitenbach dabei elegant auf Theorien zurück, um diese in kontemporären Zusammenhängen lebendig werden zu lassen: Geistesgrößen von George Herbert Mead und Sigmund Freud über Peter Bieri oder Jesper Juul bis hin zum schon genannten Jürgen Habermas kommen durch die beiden Autoren zu Wort, erweitern unseren Blick und unseren Horizont.

Gleichzeitig ist dieses Buch auch ein schönes Stück Erkenntnistheorie: Köbel und Breitenbach geben dem Leser fast beiläufig das Rüstzeug an die Hand, um Selbstreflexion zu lernen, um die Kunst der Argumentation zu üben und um die Kraft des kritischen Fragens zu studieren – eine Anleitung in sokratischer Lebenskunst. Denn um mit einer der einflussreichsten Philosophinnen unserer Zeit, Martha Nussbaum, zu schließen: Wer sich selbst (er-)kennt und selbstwirksam spürt, wer Handeln und Denken in Einklang bringt und wer über eine Vorstellungskraft und Empathie verfügt, die über das eigene Leben und die eigenen Ansichten hinausreicht, ist gewappnet vor Angst und Angstmachern. Beste Grundlagen also, um in einer pluralistischen Welt seinen Platz, seine Zugehörigkeit und seine Bestimmung zu kreieren.

In diesem Sinne: Sapere aude!

Nadia S. Zaboura

TEIL 1 | ICH

KAPITEL 1 | MENSCH, WER BIN ICH? Identität, Jugend, Subjektivität

Patrick Breitenbach: Wer bin ich eigentlich?

Nils Köbel: Wie bitte?

Patrick Breitenbach: Ich denke gerade darüber nach, wer ich eigentlich bin, also was mich als Person ausmacht. Woran man meine Identität festmachen kann. Was ist denn eigentlich diese I-den-ti-tät?

Nils Köbel: Jetzt verstehe ich deine Frage. Also gut, lass mich nachdenken.

Fangen wir doch so an: Die Psychologie und die Soziologie haben sich schon sehr lange mit dem Begriff Identität herumgeschlagen, und es gibt eine Definition, die ich eigentlich gar nicht schlecht finde, vor allem, weil sie so schön einfach ist.

Es handelt sich hierbei um ein Konzept, das sich anlehnt an Erik Erikson, einen Psychologen, der die gesamte Identitätsforschung sehr stark geprägt hat. Ein wichtiger Schüler Eriksons, Augusto Blasi, hat diese sehr einfache Definition formuliert. Er sagt: Identität ist die Antwort auf die Frage »Wer bin ich?«. Oder mehr noch: auf die Frage »Wer bin ich wirklich?«. Und die Antwort, die wir auf diese Frage geben, ist das, was unsere Identität ausmacht. Also eigentlich ganz einfach – oder aber auch ziemlich schwer.

Patrick Breitenbach: Gut, den Test können wir ja gleich mal machen. Wenn du mich jetzt fragen würdest, wer ich bin und wer du bist, dann würde ich sagen: Patrick Breitenbach und Nils Köbel. Aber das ist ja noch nicht Identität, oder?

Nils Köbel: Ein Name ist zwar wichtig, ein Name ist schon sehr viel. Aber da fehlt noch so einiges.

Patrick Breitenbach: So etwas wie »Was machst du eigentlich beruflich?«

Nils Köbel: Interessant. Daran sieht man schon, wie komplex die Antwort auf eine scheinbar so simple Frage sein kann, denn ich müsste, um dir eine angemessene Antwort zu geben, an dieser Stelle eine kurze Geschichte über mich selbst erzählen. Also: Ich habe Soziologie studiert und anschließend in Erziehungswissenschaften promoviert. Danach war ich Dozent in Frankfurt, Gießen und Köln und bin es Stand heute in Mainz. Und vielleicht schon wieder ganz woanders, wenn dieses Buch erschienen ist oder zehn Jahre später mal wieder aus dem Regal geholt wird. Und wie sieht es bei dir aus?

Patrick Breitenbach: Bei mir ist das vielleicht noch verzwickter. Ich habe mehrere Studiengänge begonnen, bin dann aber Mediendesigner geworden und arbeite heute sowohl als Berater für Unternehmen im Bereich digitaler Wandel, Marketing und Strategie, bin aber gleichzeitig auch Dozent an einer Hochschule, Buchautor, Podcaster, Blogger, Vortragsredner usw. Ich passe anscheinend nicht so einfach in eine berufliche Schublade, was natürlich deutlich die erzählerische Komponente erhöht. Ich erwische mich auch immer wieder dabei, dass ich, wenn man mir diese Frage stellt, erst mal eine lange Pause mache, um dann zu sagen: »Oohh, das ist ziemlich kompliziert.«

Nils Köbel: Aber wie du jetzt schon siehst, ist der Beruf sehr wichtig für unsere Vorstellung von Identität, da wir einen großen Teil unseres Lebens mit Erwerbsarbeit zubringen und uns stark über diese Tätigkeit definieren.

Patrick Breitenbach: Und oftmals beantworten sich dadurch auch so Fragen wie: Wo kommst du her?, Wie bist du aufgewachsen? und Welche Bildungserfahrungen bringst du mit? Was gibt es denn noch, das Identität ausmacht? Vielleicht so etwas wie der Familienstand?

Nils Köbel: Familie, sehr gut. Das sind schon die zentralen Orte, an denen Identitätsbildung stattfindet: Familie, Bildung und Heimat. Wo komme ich her? Wo gehe ich hin?

Patrick Breitenbach: Interessanterweise hängen diese Fragen ja unmittelbar mit dem beruflichen Weg zusammen. Ich bin zum Beispiel aufgewachsen in einer Arbeiterfamilie in einer industriell geprägten Stadt, hatte aber beispielsweise einen politisch interessierten und engagierten Opa, der extrem viel Wert auf Bildung gelegt hat und immer sehr viele Bücher um sich herum hatte, eine Werkstatt besaß und einen Garten, in dem ich mich austoben konnte. Und ich war Teil einer Familie, die Kreativität, Freiheit und Engagement eigentlich immer sehr gefördert hat. Gleichzeitig bin ich im deutschen Bildungssystem der Achtzigerjahre aufgewachsen, mir standen also im Vergleich zu Menschen aus anderen Ländern und Kulturen sehr viele Wege offen.

Nils Köbel: Und jetzt könnte ich dich natürlich im Anschluss nach deiner politischen Orientierung oder deinen religiösen Standpunkten fragen.

Patrick Breitenbach: Ja, und dabei merke ich sehr schnell, wie intim die Fragen nach Identität plötzlich werden und dass ich mir die Antworten auf diese Fragen hier auch eher verkneifen würde.

Nils Köbel: Genau. Und damit sind wir schon beim Kern. Erik Erikson würde sagen, dass Identität immer um bestimmte weltanschauliche Themenkomplexe kreist: politische Orientierung, Religiosität, Ethik, Sinnfragen, in denen wir Vergangenheit und Zukunft aufeinander beziehen und miteinander koordinieren. Das ist ganz zentral für die Beantwortung der Frage »Wer bin ich?«.

ERIK ERIKSON

1902–1994Identitätsforscher, Psychoanalytiker

»Was nützt es dem Menschen, wenn er die Welt kennenlernt, aber nicht sich selbst?«

Patrick Breitenbach: Das heißt aber ja eigentlich, dass diese Frage eine Überfrage ist, die nur mit vielen verschiedenen Teilfragen wirklich beantwortet werden kann. Und somit auch niemals eindeutig auf den Punkt gebracht werden kann. Identität, oder die Frage nach Identität, ist also eine lebenslang anhaltende Auseinandersetzung, und zwar sowohl mit mir selbst, also die Selbstreflexion, wie auch in Beziehung zu anderen Menschen und deren Wahrnehmung von mir selbst. Identität erschließt sich immer aus Fragen, die wir oder die anderen uns im Leben stellen.

Wenn du mich zum Beispiel fragst: »Was ist Gott?«, dann sagt meine Antwort darauf mehr über mich und meine Identität als über den Gegenstand des lieben Gottes aus und ob es ihn oder sie wirklich gibt.

Nils Köbel: Genau, das sagt etwas über dich aus. So ist es mit allen weltanschaulichen Fragen und mit den Wertungen, die sich hinter vielen Antworten verbergen. Was ist gut? Was ist schlecht? Was ist böse? Das sind alles Fragen, deren Beantwortung viel über uns selbst verrät, weil sie mit den ganz großen Fragen verknüpft sind: Wer bin ich wirklich? Wer kann ich sein? Wer will ich sein?

Erik Erikson sagt, dass die Identitätsfrage vor allem im Jugendalter verstärkt aufkommt. Kinder können sie noch nicht ganz so gut beantworten. Sie würden wahrscheinlich ihren Namen sagen, vielleicht auch primäre Bezugspersonen in der Familie nennen, aber erst im Jugendalter, ab der Pubertät, wird es hinsichtlich der Identität ziemlich interessant, weil dann erstmals die Frage aufkommt: Wer bin ich wirklich?

Diese Frage ist mit der Sehnsucht verbunden, einzigartig und unverwechselbar zu sein. Anders zu sein, als ich von anderen gesehen werde. Anders zu sein, als meine Eltern oder meine Lehrer mich sehen. Mein Lehrer sieht mich zum Beispiel nur in der Rolle eines Schülers unter vielen. Ich aber möchte vielleicht einzigartig und unverwechselbar sein und setze ganz andere Prioritäten und möchte natürlich auch für diese wertgeschätzt werden.

Patrick Breitenbach: Zum Beispiel als Rebell oder Klassenclown, und genieße dafür die Aufmerksamkeit und Anerkennung meiner Mitschüler.

Nils Köbel: Wenn das passiert, dann nimmt die Suche nach dem »wahren Selbst« so richtig Fahrt auf. Deshalb ist das Jugendalter laut Erikson auch das Alter der Identitätssuche. Die Suche nach mir selbst hat begonnen.

Patrick Breitenbach: Hat man denn vorher als Kind keine echte Identität oder eine Art Selbstbewusstsein?

Nils Köbel: Doch, natürlich. Aber die Identität eines Kindes entspricht immer seinem Entwicklungsstand. Das Nachdenken über mich selbst entwickelt sich genauso, wie sich mein Denken generell im Laufe meines Lebens entwickelt.

Am Anfang ist das Denken sehr einfach, mit kleinen Bezügen, mit groben Strukturen, und es wird im Laufe der Entwicklung immer feiner und differenzierter. Die Frage »Wer bin ich?« können Kinder natürlich vor allem mit ihren einfachen Reflexionen, also auf ihren Namen und ihre Familie hin beantworten. Was hierfür das Grundlegende ist, wäre vielleicht das, was Philosophen Subjektivität nennen. Das ist die entscheidende Eigenschaft des Menschen, aus dem seine Identität hervorgeht.

Patrick Breitenbach: Den Begriff der Subjektivität musst du mir jetzt natürlich genauer erklären.

Nils Köbel: Ja, der ist fast noch schwieriger zu definieren als Identität. Ich will es mit Dieter Henrich versuchen, einem modernen Bewusstseinsphilosophen: Er sagt, dass Subjektivität in der grundlegenden Fähigkeit des Menschen besteht, ein Verhältnis zu sich selbst einnehmen zu können. Wir haben ein Bewusstsein davon, dass wir da sind. Wir können uns selbst anschauen, in uns selbst hineinforschen und mit uns selbst in einen Dialog treten.

Patrick Breitenbach: So etwas wie die Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren? Sich wie in einem Spiegel zu betrachten, von außen und mit Abstand auf die eigenen Handlungen zu schauen und sie zu analysieren. Also welche Gefühle hatte ich in der und der Situation? Oder: Welcher Teil in mir hat mich so oder so auf diese oder jene Situation reagieren lassen?

Reflexion als Spiegel meines Selbst. So kann ich an mir zum Teil sogar ziemlich paradoxe Gefühlsregungen beobachten. Wenn zum Beispiel jemand in meinem Bekanntenkreis großen Erfolg mit der Umsetzung einer Idee hat, freue ich mich einerseits für ihn, aber andererseits bin ich vielleicht auch neidisch, dass ich so etwas bisher selbst nicht umsetzen konnte.

Nils Köbel: So ist es. Subjektivität ist also die Fähigkeit, in ein Verhältnis zu sich selbst treten zu können. Es ist das Vermögen, sich selbst so anschauen zu können, wie man auch eine andere Person betrachten kann. Und das gelingt eben nur, indem ich mich mit meinen Gefühlen und Gedanken auseinandersetze.

Diese Fähigkeit ist die Voraussetzung für die Entwicklung von Identität, weil sie die Voraussetzung dafür ist, diese entscheidende Frage stellen zu können: Wer bin ich eigentlich wirklich? Identität entsteht somit auf der Basis der grundlegenden Fähigkeit des Menschen, sich seiner selbst bewusst zu sein.

Patrick Breitenbach: Wie wichtig sind denn meine Mitmenschen, die mich tatsächlich von außen betrachten? Die haben ja vermutlich wieder eine ganz andere Perspektive auf mich. Welchen Einfluss haben die auf den gesamten Prozess meiner Identitätsentwicklung?

Nils Köbel: Das Umfeld ist für die Entstehung von Identität ganz zentral. Der einflussreiche Identitätsforscher George Herbert Mead hat den Aspekt hervorgehoben, dass Identität und soziale Beziehungen sehr eng miteinander zusammenhängen: Ich kann nur Identität aufbauen, wenn ich mit anderen Menschen zusammenlebe und im Zuge dessen Rollen- und Perspektivübernahmen einübe, damit ich mich selbst aus der Perspektive eines anderen sehen und verstehen kann.

Patrick Breitenbach: Hast du dafür vielleicht ein konkretes Beispiel?

Nils Köbel: Jede Rolle benötigt eine Art Gegenstück. Ein Arzt braucht einen Patienten, damit er überhaupt Arzt sein kann. So wie der Patient wirklich nur dann Patient ist, wenn er von einem Arzt behandelt wird. Oder ein Lehrer, der Schüler benötigt, um seine Rolle auszufüllen, und eben auch umgekehrt brauchen die Schüler für ihre Rolle den Lehrer.

Der Idealfall tritt dann ein, wenn beide Rollen passgenau aufeinander abgestimmt sind, also wenn der Patient akzeptiert, dass der Arzt die Therapie vorgibt, und der Schüler nach den Erwartungen des Lehrers agiert. Eine Krise entsteht übrigens immer dann, wenn einer der beiden Rollenträger den Erwartungen nicht entspricht und somit buchstäblich aus der Rolle fällt. Wenn zum Beispiel ein Schüler ständig den Unterricht stört oder sich dem Lehrer anders verweigert oder der Patient sich durch Dr. Google besser beraten fühlt.

Das alles entwickelt sich im Laufe des Lebens nach und nach. Kinder und Jugendliche können anhand des Verhaltens der anderen die Reaktion des sozialen Umfeldes auf ihr eigenes Handeln mit zunehmendem Alter immer genauer ablesen. Mit der Zeit entwickeln sie dadurch die Fähigkeit, die Rolle des anderen einnehmen und sich selbst aus fremder Perspektive betrachten zu können. Erst durch den Perspektivtausch mit anderen gewinnen Menschen ein Verhältnis zu sich selbst. Ich kann einfach keine Identität im stillen Kämmerlein entwickeln, sondern brauche dafür die Spiegelung anderer Personen.

Patrick Breitenbach: Das heißt aber, der Begriff des Ichs, wenn wir den jetzt mal mit Identität gleichsetzen, kann gar nichts Eigenständiges und Getrenntes sein. Die Trennung zwischen mir und der Welt ist also nur eine Art Illusion?

Nils Köbel: Genau. Es sieht so aus, als ob wir alle schon immer eine Identität gehabt hätten, aber Identität ist etwas, das sich entwickelt und entfaltet und das ohne den anderen überhaupt nicht auskommen kann.

Patrick Breitenbach: Identität kann sich also nicht aus sich selbst heraus entwickeln, sondern ich benötige immer jede Menge Daten, Informationen oder Input von außen. Identität braucht Futter und Feedback.

Nils Köbel: Heranwachsende brauchen vor allem Anerkennung, Vertrauen, Pflege und Fürsorge, damit sich ihre Persönlichkeit entfalten kann. Das ist die Voraussetzung dafür, die im Jugendalter aufkommende Frage »Wer bin ich?« konstruktiv bearbeiten zu können.

Patrick Breitenbach: Die Frage »Wer bin ich?« bezieht sich ja immer auf die Gegenwart. Aber interessant für Identität ist ja auch die Frage nach der zukünftigen Identität, also der Frage »Wer will ich sein?«. Gerade in der Pubertät stellen ja Jugendliche oft grundsätzliche Wertfragen und hinterfragen als wahr akzeptierte Grundsätze und Leitbilder.

Nils Köbel: Diese Fragen sind ebenfalls eng miteinander verbunden: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Denn wir sind alle immer nur für einen Augenblick wir selbst in der Zeit. Ich bin in jedem Augenblick schon ein Gewesener und ein noch nicht Seiender. Auch jetzt in unserem Gespräch sind wir gleich schon wieder Vergangenheit. Und deshalb ist die Frage »Wer bin ich?« immer auch die Frage »Wer war ich?«, »Wer will ich sein?« und »Wie bin ich zu dem geworden, der ich jetzt bin?«.

Patrick Breitenbach: An der Stelle kann ja der Leser selbst mal ganz kurz innehalten und sich diese Fragen stellen.

Nils Köbel: Oder die Leserin.

Patrick Breitenbach: Wenn ich an »Wer bin ich?« denke, fällt mir natürlich sofort der gute alte Descartes ein mit seiner berühmten Formel, die vermutlich auf so manches Küchentuch gestickt worden ist: »Ich denke, also bin ich«. Was hat Descartes denn damit – schon weit vor Erikson – gemeint?

Nils Köbel: René Descartes ist derjenige Philosoph, der im 17. Jahrhundert erstmalig das Subjektthema in das Zentrum seiner Philosophie gestellt hat. Vor Descartes, vor allem im Mittelalter, stand die Frage nach Gott im Mittelpunkt des Philosophierens: Wie kann ich Gott beweisen, wie kann ich das Universum in seiner Ordnung beschreiben usw. Da gab es diese Frage »Wer bin ich wirklich?« natürlich auch schon, jedoch vermutlich ganz anders, als wir sie heute denken. Die Frage nach uns selbst hat sich stark verändert im Laufe der Geschichte.

RENÉ DESCARTES

1596–1650Philosoph, Begründer der neuzeitlichen Philosophie

»Ich denke, also bin ich«

Früher war sie wahrscheinlich gar nicht so wichtig, weil die Gesellschaft sehr streng strukturiert war, sodass eine Person stets genau ihren Platz in der Welt kannte. Einem Handwerkersohn war klar, dass er den Betrieb seines Vaters übernimmt. Der Adel hat Macht und Herrschaft über Geburt und Vererbung an die jeweils nächste Generation weitergegeben. Jeder hatte einen relativ eindeutigen, gut sichtbaren und verstehbaren Platz in der Welt. Von daher war diese Frage vielleicht nicht so brennend, wie sie uns heute erscheint.

Patrick Breitenbach: Denn sie war ja ziemlich einfach zu beantworten. »Wer bist du?« – »Also ich bin der Sohn vom Schorsch-Karl, und ich bin Schmied. Genau wie mein Vater.« Punkt. Er wird ganz selbstverständlich Schmied sein. Und sein Sohn sollte den gleichen Weg, die gleiche Identität einschlagen.

Nils Köbel: Genau. Und man dachte, dass die Welt auch immer so sein wird, wie sie jetzt ist. Es gab klare Machtstrukturen: Kirche, König, Adel. Und die Frage, welche Identität ich sonst noch in dieser Welt haben könnte, stand einfach nicht zur Debatte.

Patrick Breitenbach: Das heißt doch eigentlich, dass die Frage nach dem »Wer kann ich noch sein?« nur dann interessant und am Ende auch komplex wird, wenn ich ein gewisses Maß an Freiheit und Angebote in der Wahl meiner Identität(en) habe.

Nils Köbel: So ist es. Die Frage stellt sich eigentlich erst dann, wenn ich überhaupt ernsthafte Alternativen zu meinem jetzigen Leben habe.

Patrick Breitenbach: In der Industrialisierung im 19. Jahrhundert ging es ja zum Teil auch noch ziemlich traditionell zu. Als Teil einer Arbeiterfamilie hatte man relativ wenig Zugang zu alternativen Identitäten. Wobei sich das Bürgertum erstmals mehr Macht erarbeiten konnte als der Adel und der Klerus.

Der nun einsetzende Kapitalismus hat auch neue Formen der Identität hervorgebracht. Etwa die Rolle des Fabrikbesitzers, der eben nicht zwangsläufig aus dem Adel stammen musste.

Und der nächste Quantensprung, was die Möglichkeiten von alternativen Identitäten angeht, fand wohl in der Postmoderne, dem anbrechenden Informationszeitalter, statt.

Durch soziokulturelle Veränderungen wie zum Beispiel durch neue Massenmedien konnte der Mensch plötzlich unfassbar viele Identitäten entdecken und damit auch einnehmen – wenn auch vielleicht nur virtuell in Rollenspielen oder in der Fantasie. Und die berühmte Erzählung »Vom Tellerwäscher zum Millionär« und das damit verbundene Befreiungsversprechen »Egal, wo ich herkomme, ich kann theoretisch aufsteigen, ich kann was anderes machen« haben sich vermutlich erst durch die modernen Massenmedien extrem verbreitet. In ganz vielen Medienformaten steckt diese Erzählung, dieses Narrativ drin. Von »Wer wird Millionär?« über »Deutschland sucht den Superstar« bis hin zu den modernen Geschichten rund um Aschenbrödel.

Nils Köbel: Du hast gerade das Bürgertum erwähnt, da möchte ich noch mal kurz einhaken. Gerade für das Bürgertum des 19. Jahrhunderts war Identität ein großes Thema. Das Ethos des Bürgertums bestand ja gerade in der Loslösung von der mechanischen Übertragung von Macht und Herrschaft über Stand und Geburt und in der Hinwendung zu Leistung und Bildung. Was kann ich aus mir machen, was kann ich werden, gemäß des Mottos: »Kannste was, biste was«.

Hier bildeten sich die ethischen Grundlagen für die moderne Frage »Wer bin ich eigentlich?« angesichts meiner Möglichkeiten, angesichts meiner Begrenztheit und meiner Pläne für mich selbst. So wurde Identität zum wesentlichen Thema des 19. und 20. Jahrhunderts, in denen sich allmählich Multioptionsgesellschaften entwickelten, wie man sie heute nennt.

Patrick Breitenbach: Das Fiese an »Kannste was, biste was« ist ja nicht die Frage »Wer bin ich?«, sondern »Bin ich auch wirklich gut genug?«.

Nils Köbel: Und diese Frage begleitet uns ständig. Das ist auch ein Problem heutiger Gesellschaften. Wann kann ich denn wirklich mal sagen »Es ist gut so, wie es ist«? Immanuel Kant konnte wohl noch mit letzter Kraft »Es ist gut« am Sterbebett postulieren. Das ist übrigens wohl nur ein Mythos, aber so kursiert diese Geschichte.

Heute wird das definitiv immer schwieriger, weil die Optionen zunehmen und die Welt sich so schnell verändert, dass ich schauen muss, ob ich eigentlich noch der bin, der ich sein will, oder ob ich mich selbst doch verändern oder anpassen oder noch mal grundlegender verwandeln soll, um diese Frage »Wer bin ich?« zumindest vorläufig beantworten zu können.

So hatte der Automechaniker vor 20 Jahren eine ganz andere Rolle und Aufgabe. Er machte die Motorhaube auf, konnte mit einem Blick sehen, was kaputt ist, und konnte mit einem Schraubenschlüssel das Fahrzeug reparieren. Heute nennt sich der Beruf Mechatroniker, und ohne Laptop kann er schon gar nicht mehr den Defekt erkennen, und auch sein Werkzeug ähnelt eher dem eines IT-Spezialisten.

Patrick Breitenbach: Hinzu kommt also, dass wir uns als eine Art sich entwickelndes Wesen begreifen, und in Entwicklung steckt ja implizit die Weiterentwicklung, also die Selbstoptimierung mit drin. Selbstoptimierung setzt aber auch voraus, dass wir Herr im eigenen Haus sind. Der Körper ist unser Tempel, und wir können mit genug Disziplin und Übung alles erreichen.

Jetzt gibt es natürlich in der Wissenschaft ganz viele unterschiedliche Disziplinen, die dem Menschen eigentlich diese Hoheit und Freiheit absprechen wollen. So gibt es biologische Theorien, die unsere genetischen Programme als extrem einflussreich betrachten. Vieles sei damit vorprogrammiert, z.B. Charakterzüge und damit auch wieder wichtige Teile unserer Identität.

Aus der Neurowissenschaft erfahren wir, dass die materiellen Strukturen im Gehirn nur beschädigt oder spezifisch von außen gereizt werden müssen, um auch Verhalten und damit Identitätsmerkmale zu beeinflussen. Dann gibt es neue Forschungen zu kiloweise Bakterienklumpen in unserem Körper, also Fremd-DNA, die mit uns in Symbiose leben, ohne die wir gar nicht richtig verdauen können, die aber gleichzeitig, so vermutet man, auch Auswirkungen auf unsere Stimmung und damit wieder auf Teile unserer Identität haben.

Damit stellt sich die Frage: Wer steuert uns und unsere Identität eigentlich wirklich?

Nils Köbel: Das ist eine interessante Frage! Descartes, den du vorhin ins Spiel gebracht hast, ging noch davon aus, dass wir so etwas wie eine zentrale Steuerungseinheit in uns haben. Es gibt ein Ich, das alles bestimmt, ähnlich einem Fahrer, der das Lenkrad in der Hand hält. Heute erkennt man immer mehr, dass es vermutlich keine solche Steuerungsinstanz gibt, sondern dass wir es mit einem System zu tun haben, das sich aus ganz vielen unterschiedlichen Faktoren und Funktionen zusammensetzt. Identität kann man nicht auf den Punkt bestimmen, nach dem Motto: Also hier, genau in diesem Teil des Gehirns, da sitzt das Ich!

Patrick Breitenbach: Und hinzu kommen dann noch Faktoren oder Substanzen, die unmittelbaren und mitunter sehr heftigen Einfluss auf mein Bewusstsein haben, wie zum Beispiel bestimmte Arten von Drogen. Indem Drogen meinen Bewusstseinszustand massiv verändern, verändern sie auch Teile meiner Identität. Tagsüber bin ich der schüchterne Typ, aber wenn ich abends meine drei Bier, meine Linie Koks oder meine Party-Pille intus habe, mutiere ich vielleicht plötzlich zum draufgängerischen, wortgewandten Superstar. Also eine richtige Identitätsverwandlung findet da statt, wenn auch mit zum Teil sehr gefährlichen Nach- und Nebenwirkungen.

Nils Köbel: Auch das soziale Feedback ist anders, wenn ich Drogen nehme. Ich werde anders bewertet und in meiner Identitätspräsentation anders wahrgenommen als im Normalzustand.

Patrick Breitenbach: Apropos Zuschreibungen und Beeinflussung von außen. Das bringt mich zu meiner Lieblingstheorie oder eher Denkschablone: die Meme.

Nils Köbel: Da musst du aber kurz zur Einführung erklären, was damit gemeint ist.

Patrick Breitenbach: Nehmen wir die Genetik. Also die Lehre von der genetischen Vererbung. Ich habe DNA, da drin stecken konkrete Bauanleitungen, die sich per Fortpflanzung kopieren. Und nun denken wir an etwas, das die gleiche Funktion erfüllt. Etwas, das ebenfalls Merkmale oder Verhaltensweisen oder Wissen generationsübergreifend überträgt, aber explizit nicht per Genetik. Zum Beispiel Modetrends, Sprache, Musik, Technologie, Kunst etc. Auch durch diese kulturellen Techniken werden Informationen, Ideen, Anleitungen und Verhaltensweisen über Generationen hinweg weitergegeben.

Richard Dawkins, ein Evolutionsbiologe, brachte nun in dem Zusammenhang den Begriff »Mem« ins Spiel. Meme sind nach Dawkins so etwas wie die (Über-)Träger von kulturellen Informationen, wobei die Übertragung nicht per körperlicher Fortpflanzung, sondern mittels Kommunikation und vor allem Imitation stattfindet.

Wie verbreitet sich Mode? Durch Imitation. Sprache? Genauso. Und von diesen kulturellen Informationen, den Memen, sind wir ja ständig umgeben. Sie wirken daher auch permanent auf uns ein. Vor den Massenmedien waren die Anzahl und Vielfalt von Memen relativ überschaubar. So gab es im Dorf – außerhalb der eigenen Familienstruktur – nur wenige Autoritätspersonen wie Ärzte, Pfarrer oder Lehrer. Sie gaben den Ton an. Sie streuten Meme, die der Gemeinschaft erklärten, wie man miteinander bestmöglich umgeht, was wahr und was falsch ist.

Heute machst du den Fernseher an, guckst Videos auf Youtube und Facebook und hast Billionen von verschiedenen Botschaften, die auf dich einprasseln und dir mehr oder minder direkt oder indirekt sagen möchten, wie du am besten sein solltest, was du alles kannst und tun sollst.

Und wenn man das alles mal zusammennimmt und durchdenkt, kommt einem die eigene Identität fast schon ein bisschen wie ein Spielball vor, der eifrig hin und her geworfen wird.

So waren im Mittelalter einfach viel weniger Meme im Umlauf – und vor allem entwickelten sie sich nicht so rasend schnell. Es gab überschaubare Regeln für Religion, Sittlichkeit und daher auch wenige verschiedene Moden und Lebenswirklichkeiten und Spielarten. Heute gibt es fast täglich neue Trends und Hypes und dadurch auch sehr viele ethische Vorstellungen, die darum ringen, zur herrschenden Moral zu werden.

Nils Köbel: Es gibt so viele Erwartungen, so viele Reize, so viele Inputs, dass Identität als produktive Verarbeitung dieser Informationen sehr anspruchsvoll wird und uns viel abverlangt. Identität ist nie nur eine Einzeltatsache, sondern sie ist immer eingebunden in soziale Kommunikationsformen. Je komplexer diese Kommunikation ist, umso mehr muss ich mich mit scheinbaren Widersprüchen und unterschiedlichen Themen auseinandersetzen.

Ich muss mich bei unterschiedlichsten Impulsen, zum Beispiel angeregt durch Debatten in den Medien, ständig fragen: Wie will ich mich jetzt zu Salafismus verhalten? Welche Antwort will ich auf die Frage nach der Legitimität von Sterbehilfe geben? Und mit jeder Antwort gebe ich auch wieder einen Teil meiner Identität preis.

Patrick Breitenbach: Wenn es tatsächlich so ist, dass wir auf so viele Außenreize reagieren müssen, stellt sich ja schon die Frage: Wie unabhängig ist unsere Identität eigentlich? Wie frei ist das Ich? Wie viel habe ich eigentlich selbst noch in der Hand? Ich kann mir vorstellen, dass da die eine oder andere Kränkung für unser selbstbewusstes Ich dabei ist.

Nils Köbel: Die psychologische Kränkung schlechthin wurde von Sigmund Freud formuliert. Er sah die Menschen motiviert durch unbewusste Faktoren, durch Triebe, durch Begehrlichkeiten, die ihnen gar nicht bewusst sind. Freud brachte diese Einsicht auf die berühmte Formel: »Wir sind nicht Herr im eigenen Haus«. Das war eine wirkmächtige Kränkung, die im 19. und 20. Jahrhundert große Wellen der Verunsicherung schlug. Und heute sind es oftmals soziologische Kränkungen, die immer wieder das Selbstverständnis der Menschen erschüttern.

SIGMUND FREUD

1856–1939Arzt und Psychologe, Begründer der modernen Psychoanalyse

»Wo Es war, soll Ich werden«

Patrick Breitenbach: Hast du ein Beispiel?

Nils Köbel: Man denke nur an die Milieustudien, die zeigen, wie abhängig wir von unserer sozialen Herkunft sind, und wie sehr die Bedingungen unseres Aufwachsens unsere Sprache, unser ganzes Ausdrucksverhalten prägen. Und die effektivsten Kränkungen stellen schließlich die Erkenntnisse der Hirnforschung dar: Du kannst irgendeinen Zellhaufen in mir aktivieren, und plötzlich habe ich Liebesgefühle oder empfinde Traurigkeit oder muss anfangen zu lachen usw.

Die materielle Gebundenheit unserer Identität wird dadurch ganz stark in den Vordergrund gestellt. Doch trotz dieser Kränkungen, die zeigen, in welcher Hinsicht wir nicht so frei sind, wie wir uns gerne sehen würden und wie wir uns fühlen, haben wir ein anscheinend unverwüstliches Bewusstsein unserer personalen Freiheit, das immer noch den Kern unserer Selbstdeutung ausmacht.

Patrick Breitenbach: Das mit der Freiheit und der Unfreiheit ist ja immer so eine Sache. Wenn ich zum Beispiel erkenne, die Medien beeinflussen mich immens in meinem Verhalten – von der Werbung bis zu den Terrormeldungen in den Nachrichten –, habe ich in dem Moment doch plötzlich eine neue Freiheit aufgedeckt, nämlich die Freiheit, meinen Medienkonsum bewusst steuern zu können. Das wird mir zwar nie hundertprozentig gelingen, aber ich kann mir aus der erkannten Unfreiheit heraus wieder ein Stückchen Freiheit zurückerobern.

Ähnliches erleben wir beim »Always On«-Phänomen, also dem Drang, in unserer digitalisierten Gesellschaft ständig erreichbar sein zu müssen. Wenn ich aber erkenne, dass diese permanente Erreichbarkeit mich in meiner Lebensgestaltung eher unfrei macht, kann ich aus dieser Erkenntnis heraus mein Handeln verändern und mir die Freiheit nehmen, das einfach mal abzuschalten. Erkenne die Unfreiheit und mache dich aus dieser Erkenntnis heraus wieder frei.

Nils Köbel: