Wir in mir - Dan Campall - E-Book

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Dan Campall

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Beschreibung

Als unser Schützling zwölf Jahre alt war, drohte ihn das Erleben der sich selbst geißelnden Mutter und ihr damit einhergehender, stetig anwachsender religiöser Wahn, zu entwurzeln. Wir fühlten seinen Schmerz und eben jener war es, der uns das Tor zu seiner Seele öffnete. Stets gesellten wir uns nachts zu ihm unter die Decke und redeten ihm gut zu, wenn er in seinen Ängsten und Nöten zu ertrinken drohte. Solange sprachen wir unseren Trost aus, bis er endlich den Ort in sich gefunden hatte, an dem seine Seele in unseren fürsorglichen Armen schlafen durfte. In jenen Nächten zeigten wir ihm, dass er nicht allein den Widrigkeiten des Lebens gegenüberstand. Wir waren ihm seit diesen Stunden Verbündete und Vertraute, nahmen den Platz seines Gewissens ein und standen ihm fortan so nah, wie nie zuvor. Und wir werden ihn begleiten und werden ihn lenken bis zum Ende aller Tage!

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Ähnliche


Dan Campall

Wir in mir

Das Erwachen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Wir sind bei dir!

Prolog Werdegang

Kapitel 1 Ich bin...

Kapitel 2 Brüder

Kapitel 3 Die Bürde

Kapitel 4 Die Buße

Kapitel 5 Die Berufung

Kapitel 6 Häusliche Gewalt

Kapitel 7 Reuelos

Kapitel 8 Der Unfall

Kapitel 9 Mammon

Kapitel 10 Altweiber-Sommerfest

Kapitel 11 Harpers sunshine

Kapitel 12 Freund oder Feind

Kapitel 13 Katharina

Kapitel 14 Die Bestie

Kapitel 15 Einzig rechtens

Impressum

Wir sind bei dir!

Als unser Schützling zwölf Jahre alt war, drohte ihn das Erleben der sich selbst geißelnden Mutter und ihr damit einhergehender, stetig anwachsender religiöser Wahn, zu entwurzeln.

Wir fühlten seinen Schmerz und eben jener war es, der uns das Tor zu seiner Seele öffnete.

Stets gesellten wir uns nachts zu ihm unter die Decke und redeten ihm gut zu, wenn er in seinen Ängsten und Nöten zu ertrinken drohte. Solange sprachen wir unseren Trost aus, bis er endlich den Ort in sich gefunden hatte, an dem seine Seele in unseren fürsorglichen Armen schlafen durfte.

In jenen Nächten zeigten wir ihm, dass er nicht allein den Widrigkeiten des Lebens gegenüberstand. Wir waren ihm seit diesen Stunden Verbündete und Vertraute, nahmen den Platz seines Gewissens ein und standen ihm fortan so nah, wie nie zuvor.

Prolog Werdegang

Als sie ihre Köpfe gegeneinander lehnten um das, was sie da trieben vor neugierigen Blicken zu schützen, wussten sie nicht, dass es nicht die Nachbarn oder Passanten gewesen waren, die sie hier beobachten wollten. Vielmehr waren wir es, die lusterfüllt an den Unternehmungen dieser beiden neugierigen Jungen teilnahmen.

Zunächst hatten wir nicht oft während Michaels Kindheitstagen die Gelegenheit erhalten, an die Oberfläche seines Bewusstseins zu kriechen, mit den Jahren jedoch gelang uns dies in zunehmendem Maße. In diesen Momenten war es für ihn, als beobachte er sich und seinen Körper wie ein Zaungast, der von fremdem Willen gelenkt, handelt.

Auch heute noch erinnern wir uns gern daran, wie er in Kinderschuhen steckend, einen noch viel stärkeren Geist besessen hatte, als jetzt und doch schafften wir es immer wieder so weit vorzudringen, dass wir seine Handlung durch die Augen unseres kleinen Gastgebers beobachten konnten. Dabei fieberten wir mit und erschauderten euphorisch, wenn er sich an anderen Lebewesen gütlich tat.

Auch an diesem Tag, als sich die getigerte Katze ängstlich unter den vier forschenden Händen wandte und warnend fauchte.

Michaels Finger versanken tief im grau-schwarzen Fell, als er das Tier an den Schulterblättern zu Boden drückte. Butch, sein bester Freund hingegen, bog ihren Schwanz nach oben, um mit seinem Zeigefinger die darunter liegende Körperöffnung zu erkunden. Dabei legte er den Kopf zur Seite und das Schwarz der Pupillen in seinen neugierigen Augen ergoss sich über das dunkle Braun der Iris und er erfasste im starren Blick nichts anderes mehr, als das Tier.

Nichts um sie herum konnte die beiden in diesem Augenblick mehr fesseln und dies stimmte uns, sagen wir einmal, glücklich.

Es war wirklich eine Wohltat, einen solch unterhaltsamen Wirt gefunden zu haben, in dem wir uns irgendwann würden beliebig austoben dürfen.

Die Katze schrie jämmerlich und vermochte es trotz größter Kraftaufwendung nicht, sich aus dem klammernden Griff des Jungen zu befreien.

Nur zögerlich wurden die Kinder der Stimme im Hintergrund gewahr und erst als der Ruf forscher klang, hoben sie die Köpfe.

„Jungs, kommt endlich, das Essen ist fertig!“

Als ihr unerwartet die Last vom Rücken genommen wurde, setzte die Katze zum Sprung an. Butch versuchte nach ihr zu greifen, wollte noch einen Momente mit ihr auskosten, dazu aber war er nicht schnell genug gewesen. Sie nahm mit riesigen Sätzen das ganze Stück durch den Garten bis hinauf auf die Mauer, die das Grundstück umsäumte.

Wir alle sahen der Katze nach, die buckelnd zu uns herüberschaute, um auf die andere Seite zu verschwinden, sicherlich froh darüber, nicht länger gequält zu werden.

„Es wird kalt. Auf geht’s!“ Sarah, Michaels Mutter, klang ungeduldig, doch ehe sie die Verandatür aufstoßen konnte, hüpften ihr die beiden Jungen bereits entgegen.

„Wie ihr wieder ausseht!“ Sie schüttelte grinsend den Kopf, als ihr Sohn vor ihr stand und versuchte, sich die Grasflecke vom Knie zu reiben.

„Lass es, das mach ich dann schon“, sagte sie, betrachtete die von Dreck verschmierten Kinder und wies sie mit dem Kinn an, zum Waschbecken zu gehen.

Sarah überraschte Michael und Butch immer wieder gern mit leckerem Essen und so setzten sie sich auch an diesem Tag strahlend an den Tisch, wo bereits gefüllte Pfannenkuchen duftend auf einer Porzellanplatte bereitlagen. Ganz allmählich jedoch kühlten diese ab, weil das Tischgebet viel Zeit in Anspruch nahm.

Nach einigen Minuten schob sich die Mutter eine vollbeladene Gabel in den Mund und sah neben sich auf den kleinen Blondschopf herab, schluckte ihren Happen hinunter und lächelte sanft. „Michael, erzähl doch, was ihr heute Vormittag gemacht habt.“.

Der Junge schaute weiter auf seinen Teller. „Hm, haben uns einen Ameisenhaufen angeguckt“, antwortete er ihr und ließ den Blick weiter über die saftige, von Sirup triefende Teigmasse gleiten. Butch hingegen zuckte lediglich mit den Schultern und wischte sich mit dem nackten Arm über den verkleckerten Mundwinkel. Von nun an genossen die beiden Jungen das Essen schweigend und nickten ab und zu zur vorgetragenen Lobeshymne über Jesus, die Sarah bis zuletzt zum Besten gab. Wie gewöhnlich während des Essens.

Gegen später begleiteten wir die Kinder in Michaels Zimmer, wo sie sich über eine Ameisenfarm hermachten. Für uns war dies ja eher unspektakulär, doch was sollten wir den beiden den Spaß verderben. Den Ernst des Lebens würden wir ihnen noch zeitig genug lehren, sollten sie bis dahin eben etwas Freude an derartigen Kindereien haben.

Butch ließ sich eine der kleinen Insekten in die Nase krabbeln und zog sie vorsichtig hoch und Michael schüttelte sich angewidert: „Voll eklig bist du!“

Weil der Freund plötzlich niesen musste, flog das Tier im hohen Bogen durch die Luft und landete auf dem Boden. Michael krabbelte der Ameise auf allen Vieren hinterher, hob theatralisch den Daumen und zerquetschte sie genüsslich.

„Und was ist das dann?“ Butchs Lachen vibrierte in seiner Brust. Er sah in das Gesicht seines Freundes, direkt in die ungewohnt tiefschwarzen Augen, betrachtete einen Moment lang Michaels Seele und an dessen Seite auch unseren Geist und wendete sofort irritiert den Kopf ab. Butch sprang auf und suchte nach Ablenkung, griff nach zwei bereitgelegten Decken auf dem Bett und warf sie seinem kleinen Freund zu.

Weil er über Nacht bleiben durfte, begannen sie ein Lager zu bauen und als sie ihre Decken- und Matratzenhöhle fertiggestellt hatten, legten sie sich nebeneinander hinein und schauten sich Butchs Füße an. Im Gegensatz zu denen unseres kleinen Wirts, ragten seine bereits ein ganzes Stück zum Eingang hinaus.

Allmorgendlich, wenn sich Michael die Zähne putzte, betrachteten wir ihn im Spiegel und bemerkten, dass er mit seinen sechs Jahren noch sehr zierlich und klein geraten war, während wir seine Gedanken als rege, fast altklug erlebten.

Im Gegensatz zu ihm waren seinem Freund bereits jetzt schon deutlich die männlichen Muskelstrukturen anzusehen. Sein Denkvermögen dagegen schien eher weniger stark ausgeprägt zu sein.

Die beiden Kinder waren ein völlig ungleiches Paar, ergänzten sich auf diese Weise jedoch prächtig und hingen aneinander wie liebende Brüder.

Wir hatten entschieden Butch nach dem Nachbarshund zu benennen, nach einer muskelbepackten Bulldogge mit beeindruckender Stimme, weil wir fanden, dass beide gleichermaßen Respekt einflößend auf Fremde wirkten. Der Köter, wie auch das Kind. Wir mussten Michael unsere Idee nur lang genug zuflüstern, ehe er diese als die eigene betrachtete. So wurde aus Peter Brannigan fortan Butch. Alle empfanden wir diesen Namen als originell und selbst Sarah gewöhnte sich bald daran.

Michaels Mutter nahm sich rührend dieses fremden Jungen an. Während sich seine Eltern bereits früh morgens zur Arbeit aufmachten, überließen sie Butch bis in die späten Abendstunden seinem Schicksal.

Einzig mit einem geschmierten Brot gerüstet, machte er sich dann erneut auf den Weg, um während der Ferien bei Michael und Sarah den Rest des Tages zu verbringen, denn hier fühlte er sich offensichtlich behütet und wohl.

Sarah mochte diesen einsamen Jungen sehr, begrüßte ihn immer an der Haustür mit einer Umarmung und führte ihn die Treppen nach oben, um ihn im Badezimmer erst einmal zu waschen und um ihm liebevoll über das Haar streichen, bevor sie ihn wieder aus dem Raum entließ.

„Warum sagen wir eigentlich immer so wenig?“

Uns überraschte der Klang von Michaels Stimme doch ein wenig, nachdem die beiden Kinder über längere Zeit, wie gewohnt, nicht miteinander gesprochen hatten. Neugierig auf Butchs Antwort lehnten wir uns zurück und warteten.

„Brauchen wir nicht“, sagte dieser nur knapp.

„Wieso nicht? Magst Du mir nichts sagen?“, entgegnete ihm Michael.

„Nö, ist ja nicht so, weil ich nicht will. Aber du weißt eh immer, was ich denke. Und ich weiß es von dir, was du denkst.“ Er klemmte die Arme unter den Kopf und sah zur herabhängenden Stoffdecke nach oben. Erneut schwiegen die Kinder, doch wir verspürten deutlich, wie sich in Michael das Bedürfnis regte, sich seinem Freund mitzuteilen. Lang mussten wir warten, bis die Worte letztlich doch aus ihm hervorsprudelten.

„Der blöde Drache kommt manchmal jede Nacht in meinen Traum.“

„Was für ein Drache?“

„So einer mit sieben Köpfen. Und da ist noch ein Engel mit einem glänzenden Schwert und Menschen, die im Dreck liegen.“

Butch schwieg, hörte weiter zu, setzte sich dann aber ruckartig auf, um Michael in seine kräftigen Arme zu ziehen, weil sich die Stimme seines Freundes vor Aufregung plötzlich überschlug.

Immer wieder begann er von vorn, weinte dabei und mit jedem Mal erzählte er detaillierter von den Bildern, die ihn nachts quälten. Er wiederholte sich so oft, bis seine Tränen im wortlosen Trost von Butchs Umarmung versiegten und er entkräftet darin versank.

***

Am nächsten Morgen erwartete Sarah die beiden Kinder bereits in der Küche. Durch Michaels Augen betrachteten wir sie etwas genauer, dabei bemerkten wir, dass sie merklich schmächtiger war, als noch einige Wochen zuvor. Bislang hatte sie, trotz ihrer enthaltsamen Lebensweise glücklich und froh gewirkt, heute jedoch mutete sie eher verhärmt und verbittert an.

Nach dem Frühstück machten sie sich auf zum See. Für gewöhnlich zeigte sich Michael nicht in der Badehose, deshalb behielt er auch heute sein T-Shirt an. Butch hingegen präsentierte sich gern und zeigte vor allem in späteren Jahren, was er körperlich zu bieten hatte.

Einige Kinder der Nachbarschaft waren vor ihnen angekommen, auch Julie Baker, die zu glauben schien besser zu sein, als alle anderen.

Michael hasste dieses Mädchen und er strafte sie in seiner Vorstellung häufig für ihr Verhalten, dafür was und wie sie war. Gleich darauf schämte er sich für seine Fantasien.

Die beiden Jungen kauerten sich gut versteckt hinter einem Busch zusammen, von wo aus sie die beste Sicht auf Julie und ihre Freundinnen hatten.

„Ich würde der gern mal die Haare abrasieren“, sagte Butch ohne erkennbare Gefühlsregung. Doch in seinem Blick lag unmissverständlich dasselbe Verlangen, das jedes Mal während der kleinen Untersuchungsspielchen an all den Katzen zugegen war. All jene Kadaver lagen inzwischen in Michaels Garten verscharrt unter der Erde, Julie zählte leider nicht dazu.

Sie kicherten beide, weil ihnen der Gedanke einer Julie mit Glatzkopf zu komisch erschien.

Den restlichen Tag verbrachten sie am See, weil sie diesen Ort einfach liebten. Hier stellten sie sich die verrücktesten Bestrafungen für die dumme Gans vor und erweiterten nebenbei noch Michaels Ameisenfarm um ein paar besonders schöne Exemplare.

Wochen später wurde Julie Baker vermisst. Natürlich suchten wir in Michael nach einem verräterischen Gedanken, dass er etwas mit der Entführung des Mädchens zu tun haben könnte, schon allein deswegen, weil Gerüchten zufolge, die abrasierten Haare des Kindes, sauber zu einem Zopf geflochten aufgefunden worden waren. Von Julie aber fehlte jede Spur. Doch Michael schien nichts damit zu tun zu haben. Leider waren wir damals noch nicht imstande unseren kleinen Wirt dazu zu bringen, seinen besten Freund nach dem Verschwinden des Mädchens zu fragen. Womöglich hätte uns Butch zu unserer großen Freude mit einer unterhaltsamen Geschichte überrascht.

Nach dem Abendessen las ihnen Sarah wieder einmal aus der Bibel vor und danach spielten sie Mensch-ärger-dich-nicht, bevor Butch nach Hause ging.

Sie machten häufig Brettspiele zusammen, weil es einen Fernseher oder ein Radio in diesem Haus nicht gab.

„Das ist Teufelswerkzeug, um die Seelen der Menschen zu vergiften!“ War Sarahs Begründung. Dafür aber erzählte sie viele Geschichten, Märchen und Fabeln und manchmal berichtete sie auch von Michaels Vater, der bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.

Als wir Michael an diesem Abend ins Bett begleiteten, bemerkten wir seine Unruhe, die insgeheim und während des ganzen Tages in ihm aufgekeimt war. Wir fühlten das Dröhnen in seinem Kopf und es fiel uns ebenso schwer, wie Michael, uns fallen zu lassen und in seinem Kissen zu ruhen.

Es kam des Öfteren vor, dass er derartig aufgewühlt war. Einen besonderen Grund dafür musste es nicht geben.

Umso leichter war es dann, wenn wir uns erst einmal durch seine Emotionen hindurchgekämpft hatten, an die Oberfläche seines Bewusstseins zu treten.

In den voran gegangenen Jahren hatte er unsere Stimmen durchaus gehört, wenn auch lediglich als Rauschen oder Zischen und dies auch nur, wenn wir uns mit großer Kraftanstrengung darum bemühten, uns ihm kenntlich zu machen. Später dann schien er offener zu werden, erlaubte den Lauten als leises Flüstern zu ihm vorzudringen. Tatsächlich erkannte er zunehmend unsere kleinen Botschaften und wir wussten, dass wir auf dem richtigen Weg waren.

Das erste Mal, als er uns sehr zaghaft antwortete, hätte sich unsere Brust vor Stolz geschwellt, wären wir körperlich einer solchen habhaft gewesen.

Wie aus der Ferne vernahm er unsere Rufe nach seinem Namen fast so, als würden sich unsere Stimmen den Weg durch einen dichten Nebel bahnen. Zumindest hatte er uns dies in späteren Jahren so beschrieben.

Natürlich war er neugierig zu erfahren, was da in ihm vorging, doch die Angst überwog zuweilen. So kam es vor, dass er uns zwischendurch die Pforte zu seinem Geist vor der Nase zuschlug und uns tagelang in eine schmerzliche Isolation verbannte.

***

Im Laufe der Jahre kam in Michael zunehmend der Wunsch auf, wie schon seine Klassenkameraden, über Kinofilme oder Fernsehsendungen reden zu können. Oft wurde er deswegen gehänselt, weil er Superman nicht kannte, nicht wusste, dass der rot bemantelte Mann die Welt errettete oder, dass Roadrunner über die Straßen flitzte, um Wile E. Coyote auszutricksen.

Nach Schulende war es an diesem Freitagnachmittag besonders schlimm mit dem Hohn. Er wurde von einigen seiner Mitschüler umkreist, dabei sangen sie dumme Reime und schubsten ihn wie eine Pingpongkugel hin und her.

Butch brach plötzlich durch den Kreis der Kinder, baute sich schützend vor seinem kleinen Freund auf und ein einziger Blick des hünenhaften Jungen reichte schon aus, um die Schar auseinanderzutreiben.

Auf dem Nachhauseweg beschlossen die Beiden, sich in den nächsten Stunden ins Baumhaus in Michaels Garten zurückzuziehen, damit Butch von den Abenteuern des großen Weltenretters erzählen konnte.

„Es liegt an unserer gelben Sonne, dass Superman so eine ganz besondere Kraft hat, weißt du?“ Er sah zur gegenüberliegenden Holzwand und betrachtete das Poster, das er vor Tagen bereits dort aufhängt hatte und den imposanten Helden zeigte.

„Er hat diese Wahnsinnsfähigkeiten, ist unverwundbar, superschnell und superstark. Dann hat er noch ein Supergehör und mit den Augen kann er alles schmelzen. Wenn etwas ohne Blei ist, dann schaut er mit seinem Röntgenblick einfach so durch alles durch!“

Michael lachte aufgeregt, ergriff den, aus seiner Hose heraushängenden Hemdzipfel und zeigte ihn Butch.

„Ja klar, der kann auch durch deine Kleider durchsehen und weiß dann die Farbe von deiner Unterhose!“ Sie schrien vor Lachen und wir gackerten in Michaels Brust mit. Alle Informationen saugte unser Wirt in sich auf, bemerkte aber bald, dass er dies alles nicht wirklich würde nachempfinden können, wenn er nur davon hören durfte. Als Michael nun auch erfuhr, dass sein Lieblingsheld fliegen konnte, wünschte er sich nichts mehr, als ihn auf der Kinoleinwand betrachten zu dürfen.

Nach all diesen Erzählungen warf sich Michael eines Mittags einen Umhang über und rannte wie besessen mit uns durch den Garten. Dabei schwang er mit den Armen auf und ab und ließ das Tuch flattern. Sarah beobachte ihn, fing ihn auf und fragte, welche Bewandtnis dies hätte. Also erzählte ihr Michael vom fliegenden Superhelden. Ihm stiegen Tränen der Freude in die Augen und diese verschleierten uns den Blick auf seine Mutter. Leider sahen wir sie nur noch schemenhaft, ihr Zerren an seinem Umhang jedoch konnten wir umso deutlicher spüren.

„Nicht das Wissen um fliegende Helden ist es, mein Schatz, das uns zu großen Taten erhebt. Nur der von Gott beflügelte Geist führt dich an die Spitze wahrhaft heldenhaften Tuns!“

Wie sollte ein kleiner Junge verstehen, was sie damit meinte? Wo er lediglich im Spiel die Welt erretten wollte.

Michael stand also nur da, bewegte sich nicht, ließ sich von ihr regungslos den Umhang von den Schultern reißen und war erneut den Tränen nahe, diesmal jedoch vor Enttäuschung. Mit einem liebevollen Klaps auf seinen Hintern verschwand die Mutter im Haus und ließ das verwirrte, ernüchterte Kind allein im Garten zurück.

***

Inzwischen war Michael zwölf Jahre.

Lange bereits hörte er nachts Sarahs Stöhnen, ihr Flüstern und das Reden in monotoner Stimme und niemals hatte er es bislang gewagt, der Sache auf den Grund zu gehen.

Doch diesmal übermannte ihn die Neugierde und er konnte dem Drang, aus seinem Zimmer zu schleichen, nicht länger widerstehen.

„Bleib hier! Geh ins Bett und schlaf jetzt“, flüsterte er, doch seine Beine schienen sich von eigenem Willen gesteuert fortzubewegen. Wenige Momente später standen wir mit ihm unter der, einen Spaltbreit geöffneten Schlafzimmertür seiner Mutter. Mit einem Finger drückte sie der Junge weiter auf und starrte ins Innere des Raums. Weiß schimmerte dort die Haut von Sarah im grellen Licht der Nachttischlampe. Schweiß rann an ihrem nackten Rücken herab und rote Striemen überzogen das helle Fleisch. Michael zuckte zusammen, als die Peitsche schnalzte und Sarahs Haut beleckte. Über ihre Lippen ging ein Stöhnen und die Bitte um die Gnade Gottes und nochmals hob sie den Arm, um sich einen Streich mit dem Leder zu geben. Der schiere Anblick ihres zitternden Leibes ließ selbst bei uns die schwache Neigung von Mitleid zu und wir konnten erahnen, wie sich Michael fühlen musste.

Er legte sich die Hand auf den Mund, zog sich aus dem Raum zurück und setzte dabei wie im Traum einen Fuß vor den anderen, um diese schrecklichen Geschehnisse hinter sich zu lassen.

Allmählich spürten wir den Schmerz in seiner Brust, darum geleiteten wir ihn besorgt ins Bett und leisteten ihm Trost.

Ja, hier waren wir nun also, stärker denn je, in dieser, unserer Sternstunde, schälten uns aus dem schemenhaften Schattendasein hervor und drangen ein in eine reale Daseinsform.

Endlich hast du uns die Tür zu deiner Seele geöffnet! Sprachen wir im Chor, als wir spürten, dass er sich wieder etwas gefangen hatte.

„Ja, jetzt hab ich euch reingelassen“, flüsterte er nur und legte sich ruhig atmend in sein Kissen zurück, um in einen wohltuenden und heilsamen Schlaf zu fallen.

Seit dieser Nacht waren wir immer bei ihm, weil er nicht länger versuchte uns zu ignorieren, selbst wenn er hin und wieder gezwungen war, uns in unserem Übermut in die Schranken zu verweisen. Denn, wie aus dem Nichts kam es durchaus vor, dass wir uns untereinander zankten, oder auch wild durcheinander brüllten, wenn Michael Ärger mit einem Klassenkameraden hatte. Unsere Ratschläge hätten für manch einen etwas übertrieben anmuten können, das ist uns durchaus bewusst, doch schienen uns diese mehr als angemessen, wenn wir Michael aus seinem Innersten zuriefen:

Zermalme sein Gesicht!

Weil Timothy soeben versuchte, ihm die Vesperbox zu entreißen.

Oder: Schubs Patrick vom Stuhl!

Weil dieser Michaels sauber geführtes Hausaufgabenheft verunstaltet hatte.

Butch jedoch war meistens schnell zur Stelle und übernahm die Bestrafung dieser Kinder, so dass unser kleiner Schützling erst gar nicht zu handeln brauchte.

Inzwischen erhielten wir alle eigens von Michael ausgesuchte Namen, denn auf seine Frage hin, wie wir denn heißen, schwiegen wir uns aus. Wir wollten ihn nicht gleich zu Beginn der heranwachsenden Vertrauensbasis, verschrecken.

Insgesamt machte er sieben von uns aus. Also benannte er uns kurzerhand Doc, Happy, Sleepy, Sneezy, Bashful, Grumpy und Dopey nach den „Sieben Zwergen“, weil diese schon immer seine Lieblingsmärchenfiguren gewesen waren. Mit Ausnahme dieses einen, ständig wütenden Schreihalses aus unserer Mitte, fanden wir anderen unsere Namensgebungen sogar recht lustig.

Noch immer nahmen wir nicht den Stellenwert von Butch ein, aber ganz allmählich schien sich Michael ein Leben ohne uns nicht mehr vorstellen zu können und dies war ein erfreulicher Fortschritt in unserem Wirken.

Butch zeigte sich zu unser aller Überraschung begeistert, als ihm sein kleiner Freund eines Tages von uns erzählte.

„Ist doch cool! Wenn ich mal nicht da bin, passen die auf dich auf.“

Dies freute uns sehr, denn er glaubte tatsächlich an unsere Existenz und dies wiederum festigte unseren Platz in Michaels Realität ganz erheblich.

Inzwischen hörte unser kleiner Wirt nachts recht häufig die Stimme seiner Mutter, dann wieder verstummte sie für Wochen. Während dieser Pausen jedoch verharrte sie in der selbstgeschaffenen Isolation oder in Lethargie. Die fröhlich tanzende und lachende Frau ging ganz allmählich verloren.

***

Butch wich seinem besten Freund nicht von der Seite. Selbst an der High-School war er stets sein starker Arm. Er beschützte ihn auch hier vor den Anfeindungen der anderen Schüler, die sich über das für sie mehr als eigenartige Leben von Mutter und Sohn lustig machten, weswegen er ordentlich austeilte. Irgendwann zogen sich auch die größten Lästermäuler zurück und ließen Michael in Ruhe.

Im Gegenzug half ihm der schmächtige Junge bei den Hausaufgaben, übte mit ihm für Klassenarbeiten und tüftelte Strategien zum erfolgreichen Schummeln aus. Butch war nicht dumm, einfach nur faul und etwas verzögert in seiner Auffassungsgabe. Doch gemeinsam schafften es die Freunde die Hürden, die ihnen das Leben stellte, zu meistern.

***

Ihr Bedürfnis Lebewesen zu untersuchen, sie auszuweiden und anschließend im Garten zu verscharren endete zu unserem Bedauern ganz plötzlich im Verlangen, der fremdartigen Gattung `Mädchen´ nachzustellen. Im Alter von 15 Jahren wurde dies wohl auch von Jungen so erwartet. Zumindest für Butch erwies es sich aufregend, mehr, als das Jagen nach Kleintieren. Regelmäßig stahl er deswegen seinem Vater die Männermagazine, die dieser achtlos in der Toilette herumliegen gelassen hatte, um sie gemeinsam mit Michael zu bestaunen, natürlich gut darauf bedacht, dass Butch die Heftchen aus dem Baumhaus wieder mit sich nahm und ordentlich auf dem Weg nach Hause unter dem Hemd versteckte. Es war nicht auszudenken, was Sarah mit ihnen anstellte, hätte sie die beiden damit ertappt.

Eines Tages betrachteten wir Butch durch Michaels Augen, als er eines seiner Männermagazine studierte. Zu unserer Verblüffung stellten wir dabei fest, dass auch er ein durchaus geeigneter Wirt für uns gewesen wäre. Wir wurden aber schnell von Michaels Gefühlsregungen abgelenkt, als er den Blick von seinem Freund nahm und das stark verblasste Poster mit Superman an der Holzwand ansah und wir spürten, wie in ihm die Frage aufkeimte, wohin sein Traum verschwunden war, seinem großen Helden nachzueifern.

***

Bei einem mehrtägigen Schulausflug erlebten wir zum ersten Mal, wie auch Michael die Mädchen ernsthaft beobachtete. Die beiden Freunde merkten jedoch schnell, dass diese mehr am dunkelhaarigen, für menschliche Verhältnisse gut aussehenden Kerl interessiert waren, denn am zierlichen blonden Jungen. Während wir Michaels Gefühl teilten, dass er noch immer das kaum wahrgenommene Kind von einst war, schien zu unser aller Verblüffung die hübsche Rosalie doch ein wenig von ihm angezogen zu sein: „Du bist voll süß, Michael!“, flüsterte sie ihm ins Ohr und gab ihm sogar einen scheuen Kuss auf die Wange. Sonst machte keine der Mädchen Anstalten, ihm näher kommen zu wollen.

Es machte ihm nicht sonderlich viel aus, denn Michael war es viel wichtiger, dass sein Freund seinen Spaß hatte, solange er ihn nicht vergaß.

***

Während seine Mutter sanft lächelte und ihm zärtlich über das Haar strich, tobten wir alle Sieben entfesselt in Michaels Brust, nachdem er zum Stolz aller die High-School mit hervorragenden Zensuren bewältigt hatte.

„Du hast mich sehr stolz gemacht, Michael. Dein Vater wäre es ebenso, wenn er noch unter uns weilte“, schmeichelte ihm Sarah.

Natürlich freute sich unser Wirt darüber, musste jedoch wegen unserer wild durcheinander gekreischten Kommentare plötzlich laut lachen, was seine Mutter wiederum mit Unverständnis quittierte.

Vor Monaten bereits hatte sich unser Michael am Boston College in Chestnut Hill, Massachusetts immatrikuliert, um dort Theologie und Philosophie zu studieren, wovon sein Vater bestimmt nicht begeistert gewesen wäre, davon gehen wir zumindest aus. Dieser hätte sich sicherlich gewünscht, dass der Sohn in seine Fußstapfen als gutverdienender Anwalt treten wollte. Sarah dagegen freute sich sehr darüber.

Dies war es nun einmal, wofür er sich bereits seit Kindheitstagen entschieden hatte und genau diesen Lebensweg sollte er auch beschreiten, im Sinne des tief in ihm verankerten Glauben an Gott und an das Gute im Menschen, vor allem aber im Glauben an uns!

***

Am Vorabend seiner Abreise standen Michaels Koffer und Reisesäcke fertig gepackt neben der Haustür, damit er sehr früh am nächsten Tag die Reise zum College würde antreten können.

Getrübt wurde seine Vorfreude jedoch, als er aus dem Zimmer seiner Mutter die altbekannten Geräusche hören musste. Anspannung lag in der Luft und wir tobten in seiner Brust, drängten ihn schnell die Stufen nach oben zu nehmen und hielten Michael mit aller Macht davon ab, sich im Bett zu verkriechen, wie er es gewohnt war. Seinem Wunsch, in der heutigen Nacht wieder klein sein zu dürfen und sich in unseren trostreichen Worten sicher zu wähnen, schenkten wir keine Beachtung.

Zunächst blieb er wie versteinert an der Treppe stehen und umklammerte das Geländer mit beiden schweißnassen Händen. Er lauschte den Worten, die seine Mutter erstickt von sich gab, bemerkte aber schnell, dass diese nicht untermalt wurden vom gewohnten Geräusch des gedämpften Zischens einer Peitsche. Vielmehr war ein Hecheln hinter der Tür zu vernehmen. Er kam nicht umhin, sich der Schlafzimmertür zu nähern, um hier, zunächst noch zögernd, die Handflächen und seine Stirn auf das kühle Holz zu legen. Als ihm gewahr wurde, dass diese Laute aus dem Raum dahinter nicht aus der Kehle eines unversehrten Menschen hervorkrochen, trat er erschrocken ein und erfasste mit einem einzigen Blick die Gefahrensituation, in der sich seine Mutter befand. Ihr hatte es wohl nicht mehr ausgereicht, sich zu peitschen, sich durch Schmerz und Pein das Böse aus dem Leib zu treiben, diesmal bedurfte es eines Lederriemens, den sie sich um den Hals gelegt und an den Bettpfosten geknüpft hatte, um durch diese Art der Geißelung die größtmögliche Verheißung auf Buße und Vergebung zu erfahren.

Ihr fehlte inzwischen die Kraft, sich selbst wieder aus der Todesfalle zu befreien, denn das Gesicht war bereits blau, die Adern traten wie Äste unter der Haut des Halses hervor und ihre Finger zogen zittrig am Riemen. Deshalb fing sie Michael von hinten auf, stützte sie und zerrte mit der freien Hand am Leder, um ihn vom Pfosten zu lösen.

Keuchend öffnete Sarah die Augen, als sie im Arm ihres Sohnes lag und sie versuchte entschuldigende Worte zwischen ihren blauen Lippen hervorzupressen.

„Was tust du nur?“, schrie Michael, „Was tust du uns beiden nur an?“ Kaum noch Herr seiner Gefühle, rannen ihm heiße Tränen über die Wangen, tropften hinab, benetzten das Gesicht seiner Mutter er schlug wütend mit der Faust gegen den Bettkasten, immer und immer wieder. Dabei presste er mit der anderen Hand ihren Kopf gegen seine Brust.

„Warum, Mutter, bitte erklär es mir.“ Flehentlich sah er ihr in die Augen. „Wie soll ich morgen wegfahren, wenn ich Angst um dich haben muss?“

Die Minuten vergingen, ehe Sarah genug Kraft gesammelt hatte und endlich antworten konnte.

„Musst du nicht haben, mein Junge, Keine Angst...“ Sie rang nach Luft und Michael hatte das Gefühl, als müsse er mit ihr um jeden Atemzug kämpfen.

„Ich habe heute für mein Vergehen gebüßt und Gott hat mir vergeben. Das hat er mir gesagt“.

„Er hat ...es dir ...gesagt?“ Michael stockte.

„Ja natürlich, er redet doch mit mir!“

„Aber für was musstest du überhaupt büßen?“

Sie schüttelte den Kopf. Auch sie weinte nun.

„Mach schon, du bist es mir schuldig.“ Er war ungehalten, völlig fassungslos. Seine Mutter schloss die Augen und ließ die Bilder der Vergangenheit zu, die sie all die Jahre über in die Schranken verwiesen hatte. „Ich trage allein die Schuld am Tod deines Vaters, mein Junge.“

Michael suchte nach den passenden Worten, doch seine Mutter hob die Hand und wies ihn an zu schweigen.

„Zunächst wollte ich nicht daran glauben, dass er neben mir, seiner Ehefrau, eine Liebschaft unterhielt, wo ich ihm doch einen so wunderbaren Sohn geschenkt hatte. Aber leider wurde ich eines Besseren belehrt. Er tat es ab, als liege es in der Natur des Mannes, sich selbst auf diese Art beweisen zu müssen.“

Wir waren in diesem Augenblick sehr überrascht, denn nie zuvor hatte Sarah ihrem Sohn derartig Intimes erzählt. Bislang hatte sie nur Worte des Lobes gefunden, ließ niemals einen Zweifel zu, dass sein Vater etwas anderes, als ehrenvoll gewesen war.

Sie erzählte ausführlich von einem schrecklichen Streit, der Michaels Vater letztlich aus dem Haus getrieben hatte.

„Das war das letzte Mal, dass ich ihn lebend gesehen habe. Der Motor hat wütend aufgeheult und die Reifen quietschten, als er davonfuhr. Am frühen Morgen dann übermannte mich nach einer schlaflosen Nacht die Meldung zweier Polizisten, dass dein Vater wegen überhöhter Geschwindigkeit von der Fahrbahn abgekommen und gegen die Leitplanken der gegenüberliegenden Straßenseite geprallt war. Er überschlug sich mehrfach und ist am Unfallort verstorben.“

Michael schüttelte den Kopf und war zunächst nicht fähig, irgendetwas von dem zu realisieren, was seine Mutter ihm erzählt hatte. Die Tragweite ihrer Pein wurde ihm dabei nur ganz allmählich bewusst.

„Mutter, du hast doch den Wagen nicht gesteuert“, durchbrach er die Stille.

„Verstehst du denn nicht? Er war nicht mehr Herr seiner Sinne. Ich habe ihn wütend gemacht, so zornig, dass er überstürzt davon gerast ist.“

„Du trägst aber keine Schuld an diesem Unfall. Hör endlich auf, dich dafür verantwortlich zu machen. Ich höre seit Jahren, was du hier in deinem Zimmer machst, habe aber nie verstanden, warum.“

Dieses Bekenntnis verblüffte Sarah. Hatte sie doch geglaubt, nichts darüber preisgegeben zu haben, so wurde sie nun eines Besseren belehrt.

***

Vor seiner Abreise ersuchte Michael den Gemeindepfarrer um ein Gespräch und verdeutlichte dem Gottesmann, wie groß seine Sorge um Sarah war.

Pater McDonnally versprach ihm, sie im Auge zu behalten, sie des Öfteren zu besuchen und beim kleinsten Anzeichen von Selbstgefährdung ihn, den Sohn, zu benachrichtigen.

Auch Butch rang er das Versprechen ab, sich um Sarah zu kümmern.

***

Wir zogen uns ein wenig zurück, als sich Michael auf die Arbeit seines Studiums konzentrierte.

Die ersten beiden Semester hatte er inzwischen gemeistert und mit jedem Weiteren festigte sich sein Entschluss, nach dem Abschluss Gottes Wort zu verkünden. Je mehr er sich in all seine Bücher vergrub, desto näher kam er dem Herrn und unleugbar uns.

Obwohl wir derzeit kaum noch in Erscheinung traten und zunehmend in Vergessenheit gerieten, oberflächlich zumindest wussten wir, dass unsere Zeit kurz bevor stand, um in ihm aufzublühen und zu einem festen Teil seiner Seele werden zu dürfen. Eines Tages, in nicht allzu weiter Ferne.

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Kurz vor Thanksgiving ereilte Michael die knappe Nachricht seines Freundes:

Sie ist tot. Komm schnell nach Hause.

B.

Butch hatte bereits die Bestattungsvorbereitungen für Sarah getroffen und nahm den Freund mit offenen Armen bei sich auf, als dieser zwei Tage später anreiste. Geduldig tröstete er Michael, als er verstört und von Selbstvorwürfen gepeinigt zusammenbrach.

Die Wochen vergingen und der Schmerz ließ in Michaels Brust allmählich nach.

Allabendlich waren er und Butch zusammen gesessen und sprachen bis zu dieser Nacht über alles Redenswerte, nicht jedoch über Sarah. Ohne Vorwarnung brach es nun jedoch aus Butch hervor und seine Stimme klang dumpf, fast leer. „Sie hat sich stranguliert Michael.“

Unser Wirt zeigte sich wenig überrascht.

„Ich wollte nach ihr sehen, wie ich es seit Monaten gemacht habe. Alle drei Tage war ich dort, und wenn sie nicht aufgemacht hat, habe ich mir immer den Schlüssel aus dem Frosch neben der Tür geholt.“ Sekunden vergingen ehe Butch bereit war weiter zu erzählen. „Inzwischen war es wieder an der Zeit für einen kleinen Besuch. Ich dachte, deine Mutter wäre nicht zu Hause. Also ging ich einfach rein, um nach Allem zu sehen. Es hat so furchtbar gestunken. Darum schaute ich in der Küche nach, ob sie vielleicht den Müll vergessen hatte raus zu bringen. Da war aber nichts. Ich rief nach ihr. Keine Antwort.

Also bin ich die Stufen hoch gegangen, eine nach der anderen, weil ich ein schreckliches Gefühl hatte und nicht wirklich herausfinden wollte, warum. Der Gestank wurde schlimmer.“ Butch strich sich über das dunkle Haar und starrte auf den Teppichboden.

Wir betrachteten ihn durch Michaels Augen, schweigend verharrten wir hinter unserem Wirt und erkannten, dass sich die entsetzlichen Bilder dieses Erlebnisses in Butchs Geist eingebrannt haben mussten.

„Ich war so panisch, Michael, hatte Angst, dass jetzt echt etwas Schlimmes passiert ist. Vor ihrem Schlafzimmer bin ich stehen geblieben, habe gewartet. Ich weiß nicht auf was oder wie lange ich da rumgestanden bin. Dann schob ich die angelehnte Tür auf und habe sie gesehen ...“

Butch weinte auf eine Weise, wie wir ihn nie zuvor hatten weinen sehen. Seine Schultern hingen herab, bebten, das Kinn drückte er auf die Brust und sein Gesicht wirkte verzerrt, unmenschlich und voller Schmerz.

„Ständig träume ich davon... Ihr Zimmer war abgedunkelt und wie einen Schatten habe ich sie zuerst nur gesehen, bis sich meine Augen an das komische Licht gewöhnt haben. Ich weiß noch, wie sie an diesem Lederriemen vom Haken an der Decke gebaumelt hat. Sie war blau, die Zunge hing raus. Ich habe die Flecken an ihren Beinen gesehen und den Gestank nach Scheiße gerochen. Ewig stand ich an der Tür, konnte nicht reingehen. Ich weiß dann nur noch, dass ich auf den Boden gekotzt und geschrien habe. Und ich wollte nicht mehr aufhören damit.“

An diesem einen Tag war es Michael, der sich vor den Freund kniete und in die Arme zog. Ein mehr als befremdliches Gefühl war dies für uns, sonst war er es, der von uns und von Butch oft Trost erfahren hatte.

„Ich habe sie doch so geliebt. Sie war meine Mutter. Mehr als meine eigene.“ Butch schluchzte.

Uns war seit jeher bekannt, zu welchen Taten Sarah in ihrer selbstzerstörerischen Ader fähig gewesen war. Diesem großen, kräftigen Mann jedoch lagen diese Gedanken offensichtlich fern, zumindest bis zu diesem Tag.

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Nachdem alles geregelt war und die Welt ihren natürlichen Lauf aufnehmen sollte, setzte Michael sein Studium fort. Das Haus seiner Mutter, nunmehr das Seine, wusste er in der Obhut seines Freundes wohl beaufsichtigt. Er kehrte der Heimat den Rücken, um dann als gereifter Mann das ihm vorbestimmte Leben zu Hause in Connecticut wieder aufzunehmen.

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