Wirbel - Elisabeth Heidenreich - E-Book

Wirbel E-Book

Elisabeth Heidenreich

5,0

Beschreibung

Das, was nicht in unserer Macht steht Die Novelle "Wirbel" erzählt die Liebesgeschichte zweier Menschen im Dritten Lebensalter – und von den plötzlich in den Alltag einbrechenden Kräften einer "dunklen", unvorhersehbaren, bedrohlichen und zugleich verlockenden Natur. Alles beginnt mit außergewöhnlich starken Turbulenzen auf dem Nachtflug nach Athen. Sie erschüttern den allein reisenden Juraprofessor, einen überzeugten Stoiker, den hauptsächlich Vernunft durchs Leben und durch Krankheit und Tod seiner geliebten Frau getragen hat. Jetzt brechen Trauer und auch Zweifel an seinen bisherigen Einstellungen auf, eine schüchterne Zuneigung zu seiner Sitznachbarin entsteht. Doch was geschah mit ihnen dort oben in der Luft, wem waren sie da ausgesetzt? Eine ähnliche Frage beschäftigt auch drei befreundete Ärzte. Sie kümmern sich um Flüchtlinge, die in ihren Schlauchbooten Wellengang und Wetter preisgegeben sind. Gezeichnet von der lebensgefährlichen Überfahrt, deuten sie die furchterregende und abgründige Natur auf ihre eigene Weise. Stringent erzählt die Novelle "Wirbel" vom Verlassen der Schutzräume, von verlorenen Gewissheiten und unkontrollierbaren Gefühlen, von dem, was nicht mehr in unserer Macht steht.

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WIRBEL

ELISABETH HEIDENREICH

W I R B E L

Novelle

Elisabeth Heidenreich: Wirbel

Novelle

Hollitzer Verlag, Wien 2022

Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović

Satz: Daniela Seiler

Hergestellt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

© Hollitzer Verlag, 2022

www.hollitzer.at

ISBN Druckausgabe 978-3-99012-978-4

ISBN epub 978-3-99012-979-1

FürNikos Tzavaras

Dieses Wachträumen ist Denken im nebulösen Zustand am Rand des Schlafes und spintisiert in dessen Grenzbereich herum. Die von lebendigen, transparenten Wesen bevölkerte Luft, das wäre erst der Anfang einer unbekannten Welt (…)

Victor HugoDie Arbeiter des Meeres (1866)

Aber wenn einem das Herz nun ganz von selber klopft, grundlos und sinnlos und sozusagen auf eigene Hand, das finde ich geradezu unheimlich, versteh mich recht, es ist ja so, als ob der Körper seine eigenen Wege ginge und keinen Zusammenhang mit der Seele mehr hätte (…)

Thomas MannDer Zauberberg

1

Schon zwei Jahrzehnte hatte er auf dem Balkon mit der niedrigen Balustrade gestanden, ohne unsicher oder schwindlig zu werden, sei es während einer Arbeitspause, sei es zusammen mit seiner Frau. En passant hatte er von hoch oben verfolgt, wie auf der gegenüberliegenden Seite die Bäume wuchsen, die jetzt fast ganz die Wohnhäuser verdeckten und mit ihren himmelwärts strebenden Zweigen den Blick weit über die Stadt hinaus lenkten. Genauso wie er stillschweigend damit gerechnet hatte, dass die Bäume wuchsen, ging er die ganze Zeit auch davon aus, dass seine noch junge, ganz persönliche Sonne für immer über ihm leuchten würde. Das erkannte er aber erst, als es dunkel geworden war. Da stand ihr liebes Gesicht schon zwischen Blumen und Kerzen auf der Kommode hinter ihm.

Die ersten Jahre nach ihrem Verschwinden hatte er allen verkündet, dass er zu alt sei, um noch einmal zu heiraten. Er war Realist. Doch da nach seiner Pensionierung die Kontakte zu Kollegen, Doktoranden und befreundeten Wissenschaftlern immer seltener wurden, hatten nicht viele dieses scheinbar unerschütterliche Statement vernommen. Und als man ihn zu seinem siebzigsten Geburtstag feierte und beglückwünschte, rutschte es ihm selbst an den Rand seines vernünftigen Bewusstseins. Zu einsam war er. Und noch zu lebendig. Er spürte dumpf, wie Sehnsucht in sein Zeichnen eindrang, das neben der nach wie vor strengen wissenschaftlichen Arbeit die Tage füllte. Seit seiner Studienzeit zeichnete er nach der Natur. Was ihn besonders faszinierte, waren Berg- und Felsstrukturen, das nackte alpine Hochgebirge. Dessen Schluchten, Höhlen und Moränen gerieten ihm nun immer öfters zu leicht gewellten, in sich noch einmal vertieften Spalten, in denen die wenigen Betrachter seiner Zeichnungen, vor allem die Frauen, ein weibliches Organ und den Ausdruck eines Herzenswunsches zu erkennen meinten. Mit Unverständnis, fast Unwillen nahm er solche, meist schüchtern geäußerten Vermutungen als abwegig zur Kenntnis.

Zuletzt hatte er im Karwendelgebirge gezeichnet, auf den Hängen und Almen des Achentals. Immer wieder ging ihm die Redewendung vom Ach und Krach durch den Kopf und schlug den Takt für seine wie eh und je konzentrierten Schritte. Dass die Sonne tagelang nicht schien, obwohl es fast schon Mai war, beeinträchtigte nicht so sehr sein Zeichnen, sondern vielmehr sein Gemüt, das sich dieses Mal nicht wie sonst in den Bergen aufhellen wollte. Nach seiner Rückkehr besserten sich weder die Wetter- noch die Gemütslage. Fast jeden Tag beschwerten dunkle Wolken die Stadt, blieb die Temperatur unter dem jahreszeitlichen Mittel und regnete es oft und beharrlich, was zwar Blätter und Blüten kräftig sprießen ließ, den Genuss des Frühlings aber verdarb, genauso wie die Pfingstrosen, die er regelmäßig auf ihr Grab stellte. Wie hatte sie immer auf diese Blumen gewartet, wie waren alle Vasen mit ihnen gefüllt und wie versuchte er auch jetzt, sie in Gärtnereien und auf dem Markt zu besorgen.

In diesen Wochen und Monaten hatten sie auch ihren ersten Urlaub gemacht, meistens im Süden. Am glücklichsten waren sie auf einer Insel gewesen, deren weitläufige Strände und schroffe Gebirge er während schier unendlicher, aus der Zeit herausgefallener Tage eines Morgens zu zeichnen begonnen hatte, mit zarten, überaus vorsichtig tastenden Linien, die auf dem Papier kaum zu erkennen waren, so als ginge es um alles und müsste jeder falsch gesetzte Strich in eine Katastrophe führen. Und es ging auch bald um alles. Die langen Jahre der Krankheit begannen, der in alle Glieder fahrenden Schrecken, der aufkeimenden Hoffnungen, der herzzerreißenden Liebe. Seitdem beschäftigte er sich zunehmend und, wie es seine Art war, gewissenhaft mit Krankheit und Tod, suchte Rat und Trost vor allem in stoischen Lehren. Doch hatte das wirklich geholfen? Noch immer konnte er nicht zu dieser Insel fahren, das ging einfach nicht, war völlig ausgeschlossen. Aber wenigstens in die Nähe, das wäre schon zu schaffen, auch dort würde es jetzt hell und warm sein. Außerdem gab es da noch die große Säulenhalle. Sie war zwar nur nachgebaut, aber man war am richtigen Ort, auf der Agora, hatte das echte Ambiente, konnte da entlanggehen, wo der Hagere, dem er sich insgeheim ähnlich fühlte, mit seinen Schülern entlanggegangen ist. Nach einem weiteren Regentag beschloss er, wieder dicht an der Balustrade ins Leere blickend, zu fliegen.

Es dauerte eine geraume Weile, bis sich das Flugzeug rüttelnd und schüttelnd durch die dicke Wolkendecke gearbeitet hatte und kurz darauf im letzten Zwielicht frei und ruhig über die ersten Gipfel flog. Die Sonne war längst untergegangen. Im schattenlosen Kosmos hoben sich vereinzelt weiße Spitzen aus einer Fläche heraus, die wie ein gefrorener Milchsee aussah, auf dem der Wind flache Wellen geformt hatte. Schnell vermehrten sich die bestäubten Zinnen, um die sich der See als schmales, bald versickerndes Rinnsal wand, wurden immer erhabener, herausragender, ausgreifender und traten schließlich zu aus sich selbst leuchtenden, sich selbst organisierenden Gipfelzügen, ja Gipfelauftürmungen zusammen, um dann als schrumpfende, kaum noch unterscheidbare Felsformationen in der Dunkelheit unterzugehen. Zuletzt gab es im finsteren Universum nur noch das schummrige Licht der Kabine. Um zu zeichnen, machte er über seinem Kopf die Leselampe an, die direkt auf seinen Block schien, und vergegenwärtigte sich noch einmal das Bild jenes Urwalds aus gleißenden Spitzen. Nein, das waren keine Zuckerhüte, verwarf er eine weit verbreitete Vorstellung, das waren dicht an dicht stehende, angenagte, fast schon angefräste Zacken, nein Zackenhaufen, spitze, zersplitterte, schneidende Zinken. Das war lebensgefährlich. Das war die Eiswüste eines fremden Planeten, kaum zu glauben, dass auf dem Grund des Milchsees Menschen wohnten und atmeten … Wie immer wollte er die grundlegenden Linien der eindrucksvollen Gebirgsformationen in einer ersten Skizze festhalten. Dazu rückte er den Zeichenblock auf seinen Knien hin und her, versuchte, im engen Geviert zwischen Kabinenwand, Vorder- und Nebensitz seinen langen Beinen eine bessere Position zu geben, hob auch ein wenig den rechten Arm, um das eingeklemmte Jackett zu befreien, und stieß dabei an seine Nachbarin.

Sie war relativ spät gekommen. Da war er schon ungehalten gewesen über das lange Warten auf den Abflug. Doch erfreulich schnell hatte sie sich, ohne mit Reisetaschen, Schals und Tüten herumzufuchteln, in ihren mittleren Platz eingefügt. Sie schien, soweit er es erkennen konnte, recht ansehnlich zu sein. Und glücklicherweise nicht dick. Und anscheinend auch eine geübte Fliegerin. Natürlich jünger als er, aber nicht zu jung. Gerade las sie in einer Zeitung, die sie raschelnd, zusammen mit ihren Armen und Beinen, an sich zog, als sie sich berührt fühlte.

„Mille pardon, je suis désolé“, und dann kam, wie zur Bekräftigung, noch einmal ein leises Pardon über seine Lippen. Besonders in unangenehmen Situationen sprang ihm seine Zweitsprache hilfreich zur Seite, machte ihn fühlbar gewandter und freier und auch galanter, trug ihn sekundenlang wieder in das Paris seiner frühen Jahre. Die Frau neben ihm schien zu verstehen und nickte beruhigend mit dem Kopf, kein Problem. Dabei sah sie dezent hinüber auf seinen Block.

„Vous peindre?“

„Nein, ich zeichne“, antwortete er sofort auf Deutsch, auch um ihr weitere Fehler zu ersparen.

Sie hat eine angenehme Stimme, dachte er noch, konnte sich aber nicht entschließen, die Konversation fortzusetzen. Auch sie fragte nicht weiter, entfaltete nur wieder vorsichtig ihre Zeitung. Da bemerkte er einen großen Siegelring an ihrem linken Mittelfinger, von dem aus sein Blick weiter nach unten glitt und plötzlich auf derart wohlbekannte Oberschenkel fiel, dass ihn ein heißer Blitz durchfuhr. Dieses Muster, das er überwältigend klar wie durch ein Vergrößerungsglas vor sich sah, war das Muster ihrer Hose, Pepita genannt. In der ausufernden Akkuratesse dieses Musters saß sie für einen kurzen Moment, der ihm den Atem benahm, neben ihm. Sie trug Pepita, damals, als sie sich kennenlernten, und auch noch später, diese winzigen, meist schwarz-weißen Karos. Obwohl es ihn nicht sonderlich interessierte, hatte sie ihm einmal diese Webart erklärt, bei der verschiedenfarbige Quadrate ineinander verzahnt werden. Davon flimmerte es ihm manchmal vor den Augen und dann suchte er Rettung in den ihren. Jetzt schickte er seinen Blick hinaus in die Nacht hinter dem fetten Bullauge. Anscheinend war Pepita wieder modern. Das musste er sich merken, um nicht noch einmal so überrumpelt zu werden.

In die mondlose Finsternis schauend versuchte er, die Schatten zu verscheuchen und sich wieder auf die schneebestäubten Zackenhaufen zu konzentrieren. Probeweise pendelte er mit dem Stift über dem weißen Blatt hin und her. Er hatte lange genug gezeichnet, um zu wissen, dass man nicht jeden Strich auf die Goldwaage legen musste, doch nun war etwas blockiert. Er lehnte sich zurück. Wie war er doch eingezwängt im Sitz, im engen Spalt für die Beine, in der Reihe, obwohl oder vielleicht gerade weil er einen Fensterplatz hatte, und überhaupt in der zu niedrigen Kabine, in der zu viele Menschen zu dicht beieinander saßen. Früher, als er noch Zug fuhr, weite Strecken durch ganz Europa, da konnte er atmen, da gab es Platz für die Arme, die Beine, die eigenen Sachen. Alle konnten sich vergleichsweise gut ausbreiten. Die Fenster waren groß und ließen sich öffnen. Man saß sich gegenüber, kam miteinander ins Gespräch, konnte auf dem Gang hin und her laufen. Auch das Rattern des Zuges war schön, beruhigend, besonders in der Nacht. Laut war es natürlich gewesen, vielleicht sogar lauter als hier im Flugzeug. Trotzdem konnte man die anderen gut verstehen, fühlte sich nicht so allein. Die vielen Leute im Zug gingen einen zwar nichts an, aber im Abteil, da bildete sich so etwas wie eine kleine Gemeinschaft heraus mit manchmal wechselnden Personen. Da erfuhr man immer das Wichtigste, das Woher und das Wohin und vielleicht auch das Warum. Das war interessant gewesen. Oft waren ihm die Geschichten der Leute noch lange nachgegangen und irgendwann wollte er sie sogar aufschreiben. Warum hatte er das eigentlich nicht getan? Vielleicht wäre er dann doch Anthropologe geworden und hätte mit einem Vergleich zwischen Zug und Flugzeug promovieren können. Hier oben ist man sich ja so viel ferner, obwohl man sich körperlich so viel näher ist. Trotzdem sind auch wir eine Gemeinschaft, denn wir werden, wie immer es ausfällt, das gleiche Schicksal haben. Das weiß der Pilot. Deswegen spricht er in Wir-Sätzen, informiert uns darüber, in welcher Himmelsrichtung wir gestartet sind, wo wir uns gerade befinden und wie unser künftiger Flugverlauf sein wird. Wir sind geflogen, wir fliegen, wir werden fliegen. Wir, hier an Bord ist das die einzig richtige Anrede. Und jetzt werden wir gefüttert wie Tiere in ihren Boxen und nach dem Landen werden wir schweigend auseinandergehen, es wird keine fahrlässigen oder ernstgemeinten Versprechen geben, so wie früher manchmal beim Zugfahren.

Sie reichte ihm den Becher mit dem von ihm gewünschten Tomatensaft und das Tablett weiter, auf dem zwei winzige Brötchen gerade von einer abgedeckten Schale herunterzufallen drohten. Wir bekommen alle das gleiche Essen, dachte er in Fortsetzung des gerade Gedachten, trank seinen Saft aus und entfernte die Aluminiumfolie von der Schale. Als er den ersten Bissen zu sich nehmen wollte, sackte er plötzlich mit der Plastikgabel in der Hand so tief ab, dass ihm der Atem stockte, kurz wegblieb, schnellte sofort wieder empor und wurde von allen Seiten schwer geschüttelt. Gleichzeitig fühlte er seine Hose nass werden und spürte fast schmerzhaft die von unten kommenden Schläge, so als ob er in einem alten Bus über eine Dschungelpiste mit sehr tiefen Schlaglöchern rasen würde. Überall rappelte und klapperte es. Die Kabinenwände knirschten, das Gepäck stieß gegen die leichten Boxen, die über den Köpfen schlingerten, die Sitze zogen an ihren Verankerungen, lose Gegenstände klackerten auf den aufgeklappten Tischen oder fielen herunter. In all dem Knirschen, Klappern und Rappeln waren kurze Schreckens- und Schmerzensschreie zu hören, in seinem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus und ohne es zu merken, umklammerte er die beiden Seitenlehnen. Dann lag auf einmal eine Hand auf seinem rechten Unterarm, die ihn fest umklammerte. So schnell, wie sie gekommen war, verschwand sie auch wieder. In all dem Lärm meinte er dennoch eine leise, zittrige Stimme zu hören, die so etwas wie Entschuldigung sagte. Jetzt gingen auch die Anschnallzeichen an.

Und wieder hörte er die Stimme neben sich.

„Was ist los? Was machst du denn?“, rief sie erschrocken und kurz danach, noch lauter und strenger, fast kreischend, „was ist bloß los mit dir?“

So sprach man mit unartigen Kindern. Aber ich habe doch gar nichts gemacht, mit wem redet sie bloß? Vielleicht, er nahm sich zusammen, meint sie das Flugzeug, das sich in der Tat sehr ungehorsam gebärdete. Gleich darauf waren da wieder Schreie um ihn herum, sie stürzten abermals, sackten ab, fielen wie ein riesiger Felsbrocken, fielen und fielen, wobei ein starkes Beben durch den Rumpf ging. Sie war nicht die Einzige, die nicht an sich halten konnte. Trotzdem musste es sein. Wir müssen uns zusammennehmen, dachte er verwirrt, die Angst beherrschen, damit keine Panik entsteht, keine Zustände um sich greifen, Zusammenbrüche, Kontrollverluste, Entgleisungen, das ist gefährlich auf kleinstem Raum, bei voller Fahrt, in der Kabine, bei Turbulenzen … Dann war es nur noch trüb vor seinen Augen, so als ob sich das flaue Gefühl vom Magen bis in den Kopf hinein ausgebreitet hätte.

Nach den letzten spitzen Schreckens- und Schmerzensschreien, als der irre Flug endlich eine gewisse Regelmäßigkeit annahm, wurde es in der Kabine ungewöhnlich still. Auch das Wimmern hörte auf. Erst in dieser Stille, die sich unüberhörbar in all dem Lärm, dem Geschüttel und Geschepper ausbreitete und das Flugzeug in eine leere, sturmumtoste Hütte auf der äußersten Klippe einer Steilwand verwandelte, kam er wieder zu sich. Draußen pfiff der Sturm, drückte gegen die Wände, zerrte an den Flügeln, schlug von unten gegen die Sitze, riss sie hoch und drückte sie wieder hinunter, doch er spürte, wie das Flugzeug endlich an Geschwindigkeit verlor, dann aber plötzlich in einen kurzen, steilen Sinkflug überging, der wie ein verzückter, wie ein verzweifelter Sturz in den Abgrund war.

Das gehört zu den Dingen, gegen die man nichts machen kann, versuchte er, allmählich wieder hellsichtiger werdend, sich zu erinnern. Zwar haben die Stoiker Turbulenzen nicht zu denjenigen Wechselfällen des Lebens gerechnet, die zu erdulden sind, aber zweifellos gehören auch sie dazu. Sie sind Teil der Natur. Hatte Seneca nicht in seinem Traktat über die Kürze des Lebens geschrieben, dass man sie studieren soll? Und hatte er sie nicht zeichnend erkundet, sich auch schon immer für Physik interessiert? Man soll die Natur studieren und ertragen, fasste er zusammen, ertragen so wie die Krankheiten und den Tod. Man muss sie gleichmütig hinnehmen, die eigenen Affekte kontrollieren, sich nicht von ihnen beherrschen lassen, ihnen mit Vernunft begegnen. Meine Ruhe nicht verlieren, schärfte er sich ein, so wie der mexikanische Kinderchirurg, der nicht aufhörte, ein Neugeborenes am offenen Herzen zu operieren, als plötzlich ein Erdbeben die Stadt erschütterte. Panik kann einen umbringen, hatte er hinterher gesagt. Viele Menschen starben bei diesem Beben, aber das Baby überlebte. Er wiederholte sich diese Geschichte, die neulich in der Zeitung stand, noch einmal Punkt für Punkt. Sogar an die Überschrift konnte er sich noch erinnern: „Die Wände wackeln – doch Kinderchirurg behält die Nerven“. Sich auf etwas zu konzentrieren, war ihm nie besonders schwer gefallen, doch jetzt, da er rabiat herumgeworfen wurde und der Lärm ihn ängstigte, verlor er immer wieder den Faden.

Dann erlosch auch noch die Leselampe, diese kleine Oase auf seinem Schoß, und das sowieso schon schwache Licht in der Kabine wurde noch schwächer. Um sich zu sammeln, schloss er die Augen und bemerkte erst jetzt, wie sein immer noch an die Armlehnen gekrallter Körper wohl schon seit längerem dem Übel entgegensteuerte, das seitliche Wanken und die harten Stöße von unten und oben auszugleichen, das schwankende Schiff im Gleichgewicht zu halten versuchte. Er lehnte sich nach links, wenn es sich nach rechts neigte und umgekehrt, drückte sich in den Rücksitz, wenn es seine Nase senkte, und lehnte sich nach vorne, wenn es sie hob. Der Kahn aber wollte ihm nicht gehorchen, seine Muskeln hatten sich schon verkrampft. Wo war bloß der Steuermann? Und wo war die Mannschaft? Mit ihren schweren Servierwagen waren die Stewardessen längst hinter einem schlingernden Vorhang verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Seltsam, wie still es war in all dem Geschepper. Niemand schrie mehr auf, niemand stöhnte, niemand murmelte mehr unverständliche Sätze. Schlagartig war das hemmungslose Spektakel vorbei. Nur noch ein menschenleeres Gehäuse schlingerte im Sturm, angefüllt mit einem aschfahlen Rauschen.

Da drang ein greller Schein durch seine Lider. Als er die Augen öffnete, huschte abermals ein Licht über die Rückenlehnen der Vorderreihe und blieb zitternd in seinem Netz für Zeitungen und Zeitschriften hängen. Das war ein kaltes, scharfes, ein in den Augen schmerzendes Licht. In ihm blinkte ein schwächeres auf, blinkte und blinkte in regelmäßigen Abständen. Woher beide kamen, verstand er nicht. Dann tauchte noch ein drittes auf, von rechts unten, wieder aus einer unbekannten Quelle, dieses Mal aber so rotglühend wie der Widerschein eines Feuers. Brannte es an Bord? Er starrte auf den feuerroten Schein. Der wackelte zwar mit den allgemeinen Erschütterungen, blieb sich ansonsten aber gleich, nichts flackerte oder glomm in seinem Inneren. Das musste wohl etwas Gutes bedeuten, doch gleichzeitig beunruhigten, ja entsetzten ihn die unversehens aufgetauchten Lichter. Er suchte krampfhaft nach einer Erklärung. Dabei verwirrten sich seine Sinne wieder und so zeigte er nur stumm auf die leuchtenden Stellen, dergestalt seine Nachbarin nach ihnen fragend. Aber die sah seinen ausgestreckten Arm nicht, der, wie von ihm abgetrennt, auf und ab ruckelte. Ihre Augen waren geschlossen. Also war auch sie so gut wie nicht da, wie all die anderen, die so unheimlich still waren. Wir sind ein Geisterschiff, ging es ihm durch den Kopf, mit Untoten an Bord, wir strahlen schon dieses überirdische Leuchten aus, von dem die Seeleute berichtet haben, wir treiben steuerlos im Ozean, werden nie irgendwo ankommen, sind für ewig verdammt. Und sind selbst schuld daran, genauso wie der Kapitän, der bei starkem Sturm mit seinem läppischen Gerät ums Kap segeln wollte. Man hatte ihm noch zugerufen, in einer Bucht vor Anker zu gehen. Doch er hatte nur gelacht, wollte die Weiterfahrt erzwingen. Trotz war das, starrsinniger Trotz gegen die Natur, eine Anmaßung sondergleichen. Wieder verlor er den Faden. Was haben die Stoiker dazu gesagt? Er kehrte erneut zu ihnen zurück. Haben sie etwas dazu gesagt? Sie mussten etwas dazu gesagt haben. Erschöpft wie er war, fand er keine Antwort, starrte nur auf die geisterhaften Lichter. Dann, nach längerer Zeit, nahm er dankbar das Geschenk der jetzt immer regelmäßiger werdenden Stöße entgegen. Wir sind wieder auf einer gewöhnlichen Piste mit wenn auch tiefen Schlaglöchern, sagte er sich gerührt, oder donnern mit hoher Geschwindigkeit über uraltes Kopfsteinpflaster.

So schienen auch die anderen Passagiere zu empfinden. Einige begannen, sich zu regen, ihr Gewicht zu verlagern, sogar zu hüsteln. Vereinzelt war ein leises Wort in der umtosten Stille zu hören. Wieder drehte er sich zu seiner Nachbarin um und jetzt nickte sie ihm zu, die Erleichterung mit ihm teilend und, wie er, Tränen in den Augen. Obwohl sie weiterhin noch kräftig geschüttelt wurden, waren diese Turbulenzen wenigstens einigermaßen vertraut. Abermals nickten sie einander zu und dieses Mal war es, als ob sie sich grüßten. Dann lehnten sich beide in den Sitzen zurück und ließen, soweit möglich, das Geschüttel über sich ergehen. Man musste warten, die Zeit vorübergehen lassen.

Sie verging außergewöhnlich langsam. Immer dann, wenn ein größeres Stück bewältigt schien, schauten sie, in unterschiedlichen Abständen, auf ihre Armbanduhren. Doch meistens waren noch nicht einmal zwei oder höchstens drei Minuten vergangen. Kaum etwas hatte sich an der Stellung des Zeigers geändert, gar nichts am Scheppern über ihren Köpfen, am Knirschen der Kabinenwände, am Rappeln unzähliger Gegenstände, am Schütteln und Schwanken und am Schweigen der Passagiere. Außer vielleicht, dass die Stille jetzt nicht mehr so undurchdringlich und eisesstarr war, sondern eher einer großen Benommenheit glich. Und in diese Benommenheit, in der ab und zu ein Seufzer zu hören war, ein Rascheln von Kleidungsstücken oder Papier, drang mühsam, zäh tröpfelnd, die Ansage aus dem längst vergessenen Cockpit. Sich räuspernd begann der Pilot zu erklären, dass sie in den Randbereich einer sogenannten Clear Air Turbulence geraten seien, dass man diese nicht vorhersehen könne, dass man sie so schnell wie möglich verlassen habe, trotzdem aber noch für ungefähr zehn bis fünfzehn Minuten mit relativ starken Turbulenzen rechnen müsse. Danach würde der Rest des Fluges ruhig sein. An dieser Stelle vibrierte seine ein wenig angespannte, ansonsten sympathische Stimme, da sie gerade wieder durch heftige Böen flogen. Gleichwohl ging ein Aufatmen durch die Kabine. Dass sie am Zielflughafen gutes Wetter erwarten würde, mit einer leichten Brise aus Nordost, klarem Himmel und achtzehn Grad Bodentemperatur, nahmen die Passagiere schon mit einer etwas geringschätzigen Erleichterung zur Kenntnis, die in ironische oder sogar höhnische Zwischenrufe umschlug, als sich der Pilot im Namen der Fluggesellschaft dafür entschuldigte, dass der Service hatte eingestellt werden müssen. Niemand wollte mit solchen Nichtigkeiten behelligt werden. Doch da der da vorne nichts von der Stimmung in der Kabine mitbekam, setzte er seine Ansageroutine fort und kündigte an, dass die Flugbegleiter alles dafür tun würden, den Service so bald wie möglich wieder aufzunehmen. Darauf reagierte niemand mehr, so als ob schon alle Kräfte verbraucht wären. Zum Schluss informierte er die Passagiere mit Anschlussflügen noch darüber, dass es keine Verspätung geben und man planmäßig landen würde.

In diesem Moment wurde es in der Kabine wieder heller, die grausigen Irrlichter erloschen und die näher wirkende Stimme des Chefstewards bat sie, weiterhin angeschnallt sitzen zu bleiben. Außerdem wiederholte er noch einmal, dass man so bald wie möglich den Service wieder aufnehmen werde und die weiterreisenden Passagiere ihre Anschlussflüge erreichen würden.

„Müssen Sie noch weiter?“, fragte er, ohne sich besonnen zu haben, seine Nachbarin, nicht ohne Mitgefühl in der brüchigen Stimme.

„Nein, ich bleibe vorerst in der Stadt.“

„Machen Sie Urlaub?“

„Na ja, schon ein bisschen, so etwas wie Urlaub. Ich besuche eine Freundin, mit der ich dann vielleicht noch einmal weiterfliege, aber erst in einigen Tagen.“

Beiden fiel das Sprechen während der immer noch starken Turbulenzen schwer. Auf Nachfrage berichtete er kurz, dass er bleiben und einen vierzehntägigen Studienurlaub machen werde.

„Woanders fahre ich nicht hin, höchstens noch ein bisschen ins Umland, dafür werde ich mir ein Auto mieten.“

Bereits das war zu viel. Die Übelkeit im Magen verbot jedes weitere Wort, genauso wie das Schwindelgefühl im Kopf. Er lehnte sich zurück und machte eine Geste des Abwartens. Es war eindeutig zu früh für eine Unterhaltung. Doch die wenigen Worte riefen in ihr schon Bilder der sich nähernden Stadt hervor, Bilder vom hellen Häusermeer, von der Wohnung ihrer Freundin mit der großen Veranda und vom nahe gelegenen Park auf der Höhe. Vor allem Menschen aus den Nachbarvierteln fanden hier hinauf, Familien, Jogger und kleine Gruppen älterer Herren, die, bewehrt mit Stöcken oder Knüppeln, zügigen Schritts die befestigten Wege abliefen. Aber wozu hatten sie die Knüppel? Das müsste sie mal fragen. Da oben war es doch ruhig und beschaulich, gab es nichts Bedrohliches. Abgesehen von den Stellen, von denen aus man auf die Millionenstadt sehen konnte, war das ein ganz gewöhnlicher Park. Es gab Oliven- und Johannisbrotbäume, große Rosmarinbüsche und Oleander. Daran konnte sie sich noch erinnern. Von unten kam gedämpftes Rauschen, ab und zu war auch eine Polizeisirene zu hören. Doch oben war es friedlich. Ja, das war es, es war in jeder Hinsicht friedlich dort oben.