Wo dein sanfter Flügel weilt - Sebastian Themessl - E-Book

Wo dein sanfter Flügel weilt E-Book

Sebastian Themessl

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Beschreibung

Der junge amerikanische Musikwissenschaftler Philip Mason ist Stipendiat in Wien. Das Thema seiner Forschungsarbeit lautet "Die Verbindungen zwischen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 und der Wiener Klassik". Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Schuberts letzter Symphonie findet er darin Chiffren und Bezüge auf Beethovens 9. Symphonie, die bislang der Öffentlichkeit vorenthalten worden sind. Um die Hintergründe dieser geheimnisvollen Umstände zu recherchieren, begibt sich Mason weit in die Geschichte Europas zurück, in das legendäre "Sonderarchiv Moskau". Auf einer fact finding mission in Südamerika verstrickt er sich schließlich immer mehr in krude politische Verschwörungstheorien, bis er begreift, dass seine wissenschaftliche Neugier lebensgefährlich geworden ist.

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SEBASTIAN THEMESSL

WO DEIN SANFTERFLÜGEL WEILTSCHUBERTS LETZTE SYMPHONIE

Ein musikgeschichtlicher Kriminalroman

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von:MA 7 – Kulturabteilung der Stadt Wien

Amt der Tiroler Landesregierung, Abteilung Kultur

Sebastian Themessl: Wo dein sanfter Flügel weilt – Schuberts letzte Symphonie

Ein musikgeschichtlicher Kriminalroman

Lektorat: Teresa Profanter

Umschlaggestaltung und Satz: Daniela Seiler

Coverbild: „Writing on the Wall III/IX“, anonym, Foto: Sebastian Themessl

Hergestellt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

© HOLLITZER Verlag, Wien 2020

www.hollitzer.at

ISBN 978-3-99012-807-7

EINE UNGEWÖHNLICHE KORRESPONDENZ

Chevalier Jacques de Valette

134 Cour Delepine, 75011 Paris

St. Margarethen an der Raab, im November 2019

Verehrter Chevalier de Valette,

wie bei unserer letzten Zusammenkunft vereinbart, übermittle ich Dir anbei jenes Manuskript, das mir von Adam Mason im April 2015 aus Havanna zugesandt wurde. Du kannst Dir meine Verwunderung vorstellen, als ich mich darin als Romanfigur selbst wiederfand! Und dies nicht gerade schmeichelhaft gezeichnet! Als ich Deinen unsäglichen Vorgänger mit diesem – man muss es als solchen bezeichnen – Skandal konfrontierte, teilte er mir damals dazu lediglich mit, dass Mason nach seiner Rückkehr nach New York sofort eliminiert worden sei und keine weiteren Fassungen des Buches existierten; darüber hinaus solle ich mich als Pensionist gefälligst nicht in die Agenden seiner Abteilung einmischen! Aber das ist völlig ausgeschlossen! Der Mann hat nicht die geringste Ahnung von Musiktheorie. Es ist von fundamentaler Bedeutung, dass eine reibungslose Zusammenarbeit aller Abteilungen in jedem Moment gewährleistet ist! Davon abgesehen halte ich es für eine ungeheure Entgleisung, junge Menschen einfach über den Haufen schießen zu lassen, wenn nicht musiktheoretisch die absolute Notwendigkeit dazu besteht.

Da die Leitung der Abteilung nun Deiner geschätzten Fürsorge übertragen wurde, ersuche ich Dich dringend um Aufklärung, was in dem betreffenden Zeitraum tatsächlich geschehen ist. Dieses Morden muss ein Ende finden, das Unheil gehört an der Wurzel ausgemerzt! Diese unglückselige Schubert-Symphonie!

Dein Franz-Egon

ADAM MASONTHE HOUSE OF DENMARK

Die Welt wird von ganz anderen Persönlichkeiten regiert,als diejenigen glauben, die nicht hinter die Kulissen blicken.

Benjamin DisraeliBritischer Premier-Minister (1874–1880)

Du darfst wählen, aber du zahlst dafür.

Aldous Huxley„Brave New World“

ERSTER TEIL: WIEN

EINE VERHÄNGNISVOLLE ENTSCHEIDUNG

In jenem Oktober zeigte sich New York in seinen buntesten Farben. Die Tage waren mild und angenehm, und jene bizarren Erscheinungen im Gefolge des sogenannten „Crash“, welche die Stadt einige Jahre in Atem gehalten hatten, waren vorüber. Eine gewisse Normalität war zurückgekehrt, wenn auch die Normalität – sofern von so etwas nach den Ereignissen im September 2001 überhaupt die Rede sein konnte – eine andere geworden war. Neuerdings gab es Leute, die im Zucotti-Park ihre Zelte aufschlugen und unter dem Namen Occupy Wall Street von sich reden machten. Unter dem Motto „We are the 99 percent!“ wollten sie wohl eine Art Revolte gegen das internationale Kartellsystem des Großkapitals in Gang setzen, und tatsächlich gelang es ihnen, einige Monate lang ziemliches Aufsehen zu erregen. Aber die Sache musste scheitern: zu zersplittert war die Bewegung in sich, zu konfus die Forderungen nach Gerechtigkeit und zu wenige Leute gab es in all diesen Diskussionen auf den Straßen und im Internet, die mit den Grundlagen der Problematik vertraut waren.

Philip Mason war nie ein großer Freund des big apple gewesen und verbrachte seine freie Zeit lieber in dem Landhaus in Stafford, New Jersey, das er von seinen Eltern geerbt hatte. In jenen Tagen jedoch schlenderte er mit einer gewissen Schwermut die Straßen entlang. Es hieß Abschied nehmen von Amerika, Abschied von New York. Doch Abschied nehmen bedeutet zumeist, dass sich die Dinge in einem anderen Licht zeigen. Menschen, an denen man jahrelang schweigend vorübergegangen ist, beginnen plötzlich zu sprechen. Das ist vielleicht das Beste an den fare-wells, dachte Phil, das neue Licht. Im Grunde kam ihm aber die bevorstehende Reise recht entgegen. Was ließ er denn schon zurück? – Sein Liebesleben war auf einem Tiefpunkt, New York war seine Sache sowieso nicht und die Universität in Princeton langweilte ihn zu Tode. Die Assistentenstelle am musikwissenschaftlichen Institut überließ er gerne anderen: Nachdem schon so vieles erforscht war, liefen die neuesten Arbeiten letztlich darauf hinaus, an welchem Tag ein Schoenberg oder Glenn Miller welche Socken angehabt hatte. Dazu hatte Phil doch nicht Musikwissenschaft studiert.

Als sich eines Tages die Gelegenheit ergab, hatte er sich daher für das neu angelegte Trans-Atlantic-Scholarship beworben. Der Titel der geplanten Arbeit lautete: „Mozart in Paris. Die Verbindungen zwischen der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 und der Wiener Klassik“. Das war natürlich nur halb im Ernst gedacht. Phil war über das Thema so bewandert, dass er eine Arbeit darüber innerhalb von zwei Monaten in seinem Haus in Stafford hätte schreiben können. Aber die Vergabekommission war überzeugt. Dass er Französisch und Deutsch sprach, kam der Sache sehr entgegen, und nun sandte man den jungen Mann also nach Europa. Hatte sich Phils Bewerbung ursprünglich auf die Sorbonne in Paris bezogen, so lief es bei der Vergabe der Stipendien indes darauf hinaus, dass nur die Universität Wien in Frage kam.

Philip Mason kannte Wien ein wenig aus Kindheitstagen. Seine Mutter, ursprünglich aus Schlesien, war nach dem Krieg in München aufgewachsen, hatte Klavier in Wien studiert und seinen Vater dort in den Siebzigerjahren kennengelernt. Eine lukrative Stelle ließ die Familie schließlich in die Vereinigten Staaten umziehen, wo Phil und sein Bruder auf die Welt kamen. Doch Mutter flog regelmäßig nach Europa und nahm von Zeit zu Zeit die Kinder auf ihre ausgedehnten Reisen mit.

Als Phil nun im Zug von Manhattan zum J. F. Kennedy Airport saß, dachte er gern an diese längst vergangenen Kindheitstage zurück. Jene Reisen schienen dem jungen Mann heute wie eine Erinnerung ans Paradies. Weltgewandt und elegant war seine Mutter durch die Alte Welt geflattert – oder besser: geschwebt. Die großen Hotels von Paris, Rom und Wien, die Opernhäuser in Mailand, Venedig oder London schienen wie für sie gemacht, waren für sie eine Form von Heimat. Die schillernden Stars der Musikwelt jener Zeit, ein Luciano Pavarotti, ein José Carreras oder ein Leonard Bernstein hatten den Rang von Hausfreunden, die nur gerade wie zufällig auf der Bühne standen und dort mit Leichtigkeit das Unwahrscheinlichste und zugleich Selbstverständlichste der Welt vollbrachten: den Zauber der Auflösung von Raum und Zeit.

Doch wie sehr war die Wirklichkeit andere Wege gegangen, dachte Phil nun. Seinen Eltern waren im Senegal tödlich verunglückt, und mit dem Tod seiner Mutter schien ihm nun auch die farbenprächtige Welt der Oper seit langer Zeit gestorben zu sein; hatten die südeuropäischen Länder und ihre Kultur der „Oper als das Leben und das Leben als Schauspiel“ doch schon vor zweihundert Jahren den Anschluss an die rasanten Entwicklungen der nördlichen Länder verpasst. Mit den Weltkriegen wurden die Machtverhältnisse zementiert, und mit dem Niedergang Russlands 1991 war weit mehr verbunden, als sich denken lässt. In diesem Oktober 2011, als Philip Mason das Flugzeug nach Wien bestieg, waren in Amerika kaum noch Menschen denkbar, die gewusst hätten, was es hieß, dass die Welt als Bühne möglich war, dass es diese Welt gegeben hatte und dass sie eine freiere und sogar komfortablere Welt war als jene der sogenannten freien Demokraten Amerikas, denn sie war eine, die sprichwörtlich „nicht von dieser Welt“ war. Hatten die USA den Planeten mit ihrem Geld scheinbar endgültig und für alle Zeiten besiegt, so war der Preis indes hoch, denn diese Welt der Verwandlung hatte das Land verloren. Spätestens als Phil die Sicherheitsvorkehrungen am Flughafen über sich ergehen ließ, kam es ihm wieder schmerzlich zu Bewusstsein: Aus dem Land der Freiheit war ein paranoides Gefängnis geworden.

ANKUNFT IN WIEN

Die Maschine der Air France landete mit einiger Verspätung in Wien. Als Philip Mason sein Mobiltelefon am Flughafen aktivierte, hatte er bereits drei verpasste Anrufe einer Wiener Nummer. Seine künftige Vermieterin hatte ihm jedes Mal eine Nachricht hinterlassen und gefragt, wo er denn bleibe. Sie habe übrigens kein Handy, hatte sie hinzugefügt, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass sie so etwas auch auf keinen Fall wolle. Sie müsse abends aber ins Konzert, weshalb er bis spätestens fünf Uhr in der Wohnung erwartet würde.

Tatsächlich war das Treffen für drei Uhr vereinbart gewesen, und nun war er es fast vier. Phil entschloss sich, ein Taxi in die Stadt zu nehmen, und gab dem Fahrer die Adresse im siebten Bezirk.

Der Kontrast zu Manhattan konnte größer kaum sein. Die prächtigen Häuser des Stadtteils stammten großteils aus der sogenannten „Gründerzeit“, als die Stadt Wien noch lange vor dem Ersten Weltkrieg einen regelrechten Bauboom erlebt hatte. Zwischen diesen Häusern standen ältere und wesentlich niedrigere Gebäude, die im 17. und 18. Jahrhundert noch als „Häuser am Land“ bezeichnet wurden. Vor so einem Barock-Häuschen ließ der Fahrer Phil nun aussteigen.

Er klingelte beim Namen seiner Vermieterin – Witting – und arbeitete sich dann durch eine dunkle Wendeltreppe die zwei Stockwerke hinauf bis zur Wohnung. Und da stand sie jetzt auch, die alte Dame, und hielt ihm die Tür auf.

– Na, da sind S’ ja endlich, der Herr; nur herein, herein mit ihm.

– Guten Tag, mein Name ist Mason, Philip Mason, ich …

– Ja, ja, ist schon gut, der Herr, ich weiß ja, wer Sie sind. Und mich nennen S’ einfach Tante Sophie. Glauben S’, ich würd’ da irgendwen in Miete nehmen, von dem ich nix wüsst’? Sie sind der Sohn von der Frau Marianne Dornbach, eine fesche Pianistin war das. Mein Gott, was für ein Unglück, der Unfall. Aber! Jetzt legen S’ einmal Ihren Mantel ab und trinken S’ einen Kaffee mit mir. Ich muss dann nur gleich in den Musikverein, der Wallisch gibt ein Konzert mit Schubert!

Phil war ziemlich überrascht, den Namen seiner Mutter zu hören.

– Dornbach, aber woher kennen Sie …?

Sie ließ ihn nicht ausreden. Während sie sich in der uralten Küche zu schaffen machte, holte sie weit aus.

– Mein junger Freund, die Welt ist klein. Ihr in Amerika glaubts’ immer noch, ihr habts’ das Radl neu erfunden. Wenn ihr nur ein bisschen zurückschauen würdets’, dann wäre eure Politik vielleicht auch vernünftiger. Weil dann wüsste der Herr Präsident, dass seine Großeltern aus Schlesien, Galizien und Mähren kommen …

Tante Sophie zwinkerte ihm zu.

– Und der Urgroßvater is’ a behmischer Jud’ …!

Phil war etwas verwirrt.

– Ahm, Madame, unser Präsident ist der … erste afro-amerikanische …

Sophie blickte ihn mitleidig an und brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.

– Junger Mann, Sie müssen noch sehr viel lernen. – Aber! Wissen Sie, Wiener Schmäh und solche Sachen … mein Großvater war auch ein böhmischer Jud’, umgebracht haben ihn die Nazis, wie die Mutter auch, da war der Vater zum Glück schon tot. Aber jetzt lassen wir das!

Sie stellte Phil eine Tasse Kaffee auf den Tisch, dazu eine Süßspeise, die er nicht kannte.

– Nehmen S’ nur! Buchteln! Frisch gemacht für den besonderen Tag. Wissen Sie, Ihre Frau Mutter hat ja in Wien studiert, seinerzeit, und da hab’ ich sie gut gekannt. Das war Ende der Sechziger. In jedes Konzert sind wir gegangen, sonst haben wir ja nichts gehabt damals. Und wenn dann der Karajan dirigiert hat, das war ein G’stritt um die Karten … Aber! Tempi passati! Na, jetzt erzählen S’ einmal, wie war Ihre Reise?

Phil brachte nur ein paar Sätze zustande und kämpfte noch mit seiner deutschen Aussprache. Sicherheitsvorkehrungen, Gewehre, eine unerlaubte Zigarette auf einer Toilette am Pariser Flughafen … und Tante Sophie übernahm wieder das Gespräch.

– Ja, das Reisen heute ist ein Tschach. Wenn Sie früher mit dem Nachtzug nach Rom gefahren sind, sind S’ wie ein König behandelt worden. Wie ein König! Gutes Abendessen, frischer Kaffee und feine Brioches zum Frühstück. Heute werden S’ verladen wie Schlachtvieh, alles abgeriegelt wegen den Räubern. In den Siebzigern bin ich nach Afrika gefahren, ohne einen Knopf in der Tasche – und nicht ein Mal hätt’ ich mich gefürchtet!

Phil verstand nicht.

– Knopf?

– Ja, Knopf; also Geld, mein ich. Das Leben ist eine Frage der Courage, junger Mann, und nicht eine vom Geld, verstehen Sie? Ein bissl Chuzpe gehört freilich auch dazu.

– Chu…?

– Na, powidl.

Tante Sophie lachte und machte sich nun einen kleinen Spaß daraus, den jugendlichen Gast mit Wienerischen Ausdrücken zu verwirren. Sie zeigte ihm sein geräumiges Zimmer im gegenüberliegenden Flügel der Wohnung, übergab ihm seine Schlüssel und hastete dann eilends aus dem Haus und ins Konzert.

– Stellen Sie sich vor: Der Wallisch spielt Schubert!

Phil war müde und ließ sich auf einem der mächtigen Fauteuils nieder. Ein hübscher Wirbelwind, die alte Dame, dachte er und musterte den ungewöhnlichen Raum, der nun für ein Jahr sein Zuhause werden sollte. An den hohen Wänden hingen zahlreiche Bilder, teils alte Niederländer, teils wildromantische Jagd- und Wandermotive. Die Mitte dominierte eine düster-monumentale Golgota-Darstellung, die aber den Raum nicht unangenehm beherrschte. Das Biedermeier-Ensemble davor aus Sofa, Tisch, Stühlen und Luster gab der Szene einen theatralischen Anstrich. Erst jetzt bemerkte Phil eine Flasche Wein, ein Glas, Aschenbecher und die Tageszeitung am Tisch. Auf einer winzigen Karte war zu lesen: „Willkommen!“

Er öffnete eines der Fenster, die zur Straße hinausgingen, und beobachtete das belebte Treiben auf der Gasse. Von Westen her tauchten die letzten Sonnenstrahlen die Konturen in leuchtendes Gold, und auf der anderen Seite bemerkte er das Schild eines Gasthauses: „Zum linden Wirt“.

Auf seinem Bett fand Phil Handtücher und Toiletteartikel und daneben lagen zwei Eintrittskarten für die Oper: 12. Oktober 2011 – Don Giovanni von W. A. Mozart – Beginn: 19.00 Uhr.

Die Alte lässt nichts anbrennen, dachte Phil, und machte sich auf die Suche nach dem Bad.

DER STEINERNE GAST

In den nächsten Tagen war Philip mit allerlei Formalitäten beschäftigt. An der Universität begann gerade das Wintersemester und die riesigen Gänge und Hallen der verschiedenen Universitätsgebäude waren überfüllt mit Studienanfängern, die ihre ersten blutigen Erfahrungen mit der Bürokratie, dem Verwaltungsapparat der Universität, mit Lehrplänen und der verwirrenden Anordnung der Vorlesungssäle machten. Phil erging es nicht viel besser, und dennoch genoss er die lebhafte Stimmung in jenen Tagen.

Er schlenderte täglich stundenlang durch die Straßen der Inneren Stadt, besuchte zunächst die berühmtesten Touristenattraktionen und lernte bald eine der wichtigsten Einrichtungen dieser Stadt kennen: das Kaffeehaus. Sogar sein Professor, der ihm für die Dauer des Stipendiums zugeteilt, jedoch am Institut nur selten anzutreffen war, schrieb ihm gleich zu Beginn in einer E-Mail: „Treffen wir uns doch im Café Schwarzenberg.“

Wenn auch vieles neu und anders war als auf den Universitäten in Amerika, so beschlich Phil in jenen Tagen doch ein sonderbares Gefühl – nämlich das einer gewissen Vertrautheit. Er hätte es nicht näher bestimmen und noch weniger erklären können; wenn er jedoch die Rauhensteingasse entlangging und am ihrem Ende rechts hinunter abbog, dann kannte er diesen besonderen Platz, der nach den Franziskanern benannt ist, wie aus weiter Ferne, wie von einem anderen Leben her, und die kleine Bar am Eck dort lud ihn zum Bleiben ein wie ein alter Freund.

Professor Kolschitzky erwies sich als ein sehr umgänglicher alter Herr, der seine Kämpfe schon lange hinter sich hatte. Sein musikwissenschaftlicher Forschungsschwerpunkt war die armenische und russische Musik gewesen. Jetzt im Alter konzentrierte er sich aber mehr auf seine Bienenzucht in der Steiermark, ein Hobby, das er zur Hauptbeschäftigung für seine kommende Pension auserkoren hatte. Sein Lieblingswort, das als Refrain alle Gespräche begleitete, war „lausig“. Die Politik war „lausig“, der Staat, die Universität, die Einwanderungspolitik der Europäischen Union, alles war „lausig“. Und doch blitzte zuweilen hinter den oft müden Augen plötzlich ein Lächeln hervor. Die Institutsleitung hatte „dem alten Grantscherben“ – wie man ihn in Abwesenheit nannte – wohl nicht von ungefähr den jungen amerikanischen Stipendiaten zur Betreuung zugeteilt.

– Übrigens ein recht interessantes Thema, das Sie sich da ausgesucht haben, bemerkte er; ich fürchte nur, allzu viel Neues werden Sie nicht finden, die Geschichte ist ja abgenagt bis zum letzten Knochen.

– Ich nehme an, das Thema hat der Kommission in ihrer Eitelkeit geschmeichelt, lächelte Phil.

Der Professor blickte ihn misstrauisch über seinen Brillenrand hinweg an. Er zögerte.

– Na, wie auch immer …

Phil bemerkte, dass er zu offen gesprochen hatte, und machte es mit seiner nächsten Bemerkung nicht besser.

– Wissen Sie, ich wollte vor allem eine Zeit lang aus Amerika weg, und da kam die Möglichkeit mit dem Stipendium.

– Ja, ist schon gut, junger Mann, ich verstehe Sie schon, wie mir scheint. Aber zurück zur Sache: Von Mozart kennen wir praktisch fast jeden Schritt, wie Sie wissen. Natürlich war die Unabhängigkeitserklärung 1776 ein Thema, als er sich in Paris versuchte, aber zu den fraglichen Einflüssen gibt es eingehende Untersuchungen. Sie wissen, diese ganzen Ideen zu den Staatsreformen waren zu der betreffenden Zeit in aller Munde. Kaiser Joseph II. wollte die Aufklärung quasi von oben verordnen – er ist natürlich lausig gescheitert daran –, und sein Bruder Leopold wollte aus dem Heiligen Reich überhaupt eine konstitutionelle Monarchie machen … das wär’ etwas gewesen!

– Was ist passiert?

Kolschitzky fuhr sich durch den Bart.

– Plötzlicher Tod über Nacht.

– Ja, richtig. Ich erinnere mich wieder, das war jener Kaiser, für dessen Krönung Mozart den „Titus“ geschrieben hat, nicht?

– Na, soweit kennen Sie sich wenigstens aus, versetzte der Professor, während er dem Kellner zum Zahlen winkte. Er murmelte dann halb in seinen Bart hinein.

– Das einzige Unklare zu Mozart sind einfach die Umstände seines Todes. Hier gibt es eine bleibende Lücke, aber es besteht keine Hoffnung, dass sich daran jemals etwas ändert. Es wurde alles, einfach alles Material hundertmal untersucht. Das Sonderbarste daran ist freilich, dass es so viel Material gar nicht gibt, aber was soll man machen?

Der Kellner erschien zum Zahlen, und Professor Kolschitzky lud Phil ein. Er gab ihm noch die wichtigsten Adressen für seine Forschungen, dies betraf vor allem die weniger bekannten Archive, erklärte ihm einige Tricks und lokale Besonderheiten im Umgang mit dem Personal der Archive und am Schluss vereinbarte man, sich nach Weihnachten wieder im Café zu treffen.

Tante Sophie hingegen schleppte Phil von einem Ort zum anderen: Theater, Ausstellungen, Museen, Konzerte, besondere Plätze, deren Geschichte sie ihm eingehend erklärte. Die Premiere des „Don Giovanni“, zu dem sie ihm die Karten hinterlegt hatte, wurde in den Zeitungen ausführlich zu einem ersten Höhepunkt der Saison erklärt, und tatsächlich war Sophies Nervosität an diesem Tag erheblich. Sie unterzog Phils Anzug einer minuziösen Prüfung. Die Krawatte fehlte! Phil trug aber nie Krawatte und wollte sein Hemd offenlassen.

– In eine solche Premiere kann man nicht ohne Krawatte, junger Mann! Wie stellst du dir das vor?

Sie waren mittlerweile per du. Sophie schüttelte den Kopf und holte aus einem Schrank im Gang eine Reihe verschiedenster Krawatten hervor.

– Die haben einem großen Burg-Schauspieler gehört, Berndorf hat er geheißen, und als es mit ihm zu Ende gegangen ist, hat er begonnen, seine Sachen zu verteilen; an Freunde und so, du verstehst schon … Na, such dir eine aus!

Phil wusste nicht recht, wie er damit umgehen sollte. Er hätte nie gedacht, jemals die Krawatte eines verstorbenen Schauspielers, noch dazu eines Burg-Schauspielers zu tragen. Als er sich die Sammlung näher ansah, bemerkte er jedoch die feine Qualität der italienischen Handarbeit und willigte ohne Weiteres ein.

Die Premiere geriet zu einem Triumph für das Orchester. Die Regie wurde erbarmungslos ausgebuht, Dirigent und Sänger wurden stürmisch gefeiert. Phil hatte eine solche Mischung von Reserviertheit und Anteilnahme des Publikums am Geschehen noch nie erlebt. Sophie war noch Tage danach wie elektrisiert, wenn man auf die Premiere zu sprechen kam. Als er einmal zu Mittag in den Salon kam, war sie mit Reinigungsarbeiten beschäftigt und sang staubsaugend vor sich hin.

– Là ci darem la mano, là mi direte sì …

Als sie Phil bemerkte, stellte sie das Gerät ab.

– Ich hätte ja nicht gedacht, dass sich die Melínkowa so entwickeln würde! – Und erst der Voiticek als Leporello … sagenhaft. Wie er den Steinernen Gast ankündigt, da hat man ihn richtig vor Augen gehabt: ta, ta, ta, ta … Aber diese Szene ist freilich immer umwerfend.

Sophie schüttelte den Kopf.

– Aus diesem Finale haben fünfzig andere Komponisten ihr Lebenswerk bezogen. Was für eine Idee! Die Steinbüste eines Ermordeten hinter der Bühne in Bewegung zu setzen, und das auch noch mit solchen Schritten: ta, ta, ta, ta … einfach unglaublich; Mozart, du Wüstling! Surreal ist das!

Sie imitierte die Szene, indem sie nun selbst schwere und doch rasche Schritte zu ihren Worten machte und bizarr mit der Staubsaugerstange in der Hand dazu tanzte.

– Ta, ta, ta, ta …

Phil hatte seine „Tante“ in den vergangenen Tagen liebgewonnen und freute sich, dass sie lebendig war wie ein junges Mädchen. Er wollte nun auch ein wenig an der Komödie teilnehmen.

– Wie die Musikanten ihre Instrumente auf der Bühne gepackt haben und vor Entsetzen davongelaufen sind, als der Komtur die Wand aufbricht, das war auch gut!

Sophie blickte ihn plötzlich ernst an.

– Na, was glaubst du, wie du dreinschaust, wenn ein Toter, dessen Mörder du bist, mit so einem Höllentempo daherkommt und an deine Tür hämmert, während du gerade beim noblen Speisen bist? Da zeigen sich die Dinge von einer anderen Seite, mein Freund!

Sie sang aus voller Kehle und ihr tiefer Alt vibrierte.

– Don Giovanni, a cenar teco m’invitasti, e son venuto. – Für den einen Satz, lieber Freund, und wenn er nur den einen geschrieben hätt’, gehört dem Lorenzo da Ponte noch heute der Nobelpreis; der Nobelpreis!

Sie hob das Rohr des Staubsaugers wie einen Zeigefinger und kollidierte an der Decke mit einigen Steinen des Lusters.

– Verstehst du den Satz? Ein Geniegriff: Der Sensenmann kommt dich zu holen und donnert: Zum Essen hast du mich geladen, ich bin gekommen. – Und damit beginnt dein letztes Stündchen … urkomisch ist das!

Phil hatte sich noch nicht so wörtlich mit dem Text befasst, aber er begriff an diesem Tag, warum es in der deutschen Literatur jenen Spruch gab: Der Tod, das ist ein Wiener.

EIN KONZERT MIT FOLGEN

Im Leben eines jeden Menschen gibt es Wendungen, die auf alle Zeit unerklärlich bleiben. Begegnungen, Zufälle, Koinzidenzen verändern den Rahmen aller Geschehnisse und rücken die Wirklichkeit in ein neues Licht.

Im Laufe des Oktobers lebte sich Phil in Wien langsam ein, und die Stadt begann ihm wirklich zu gefallen. Sophie war ihm eine hervorragende Fremdenführerin, und doch war genügend Platz in der Wohnung, sodass er, wenn er wollte, ein ganz unabhängiges Leben führen konnte. Umso angenehmer waren ihm ihre regelmäßigen Zusammenkünfte manchmal zu Mittag in der Küche oder abends im Salon auf einige Gläser Wein. Phil lernte die wichtigsten Archive der Stadt kennen und er bemerkte den ungeheuren Umfang und die noch seltsamere Menge kleinerer Archive, die über die Keller der ganzen Stadt verteilt lagen. Man sagt, die Geschichte des untergehenden Österreichs im 19. Jahrhundert sei zur Gänze Kulturgeschichte, und tatsächlich hatte dieses Reich, das über Jahrhunderte die Geschicke Europas mitbestimmte, zu dieser Zeit ein ganz eigenartiges Stadium erreicht, das, von seiner besten geisteshistorischen Seite aus gesehen, kaum mit etwas zu vergleichen wäre. Die einfache Wahrheit, dass der Mensch auf dieser Welt nichts gewinnen kann, war dieser untergehenden Kultur in ihren prägnantesten Vertretern nicht mehr ein weiser Spruch, sondern in Fleisch und Blut übergegangene Selbstverständlichkeit. Ein Reich, das einen solchen Zustand erreicht hatte, welches sich sein Militär mehr aus modischen und musikalischen Gründen denn aus militärischen hielt, war in der Moderne nicht mehr lebensfähig, und schon gar nicht als Zentrum in einem Zeitalter des Nationalismus.

Die Archive der Stadt Wien nun waren zum Bersten voll mit den Zeugnissen aus allen Zeitaltern, insbesondere aus dem 19. Jahrhundert aber war die Fülle unüberblickbar. Jeder vornehme Bürger dieser Stadt hatte eine stattliche Bibliothek besessen, hatte Umgang mit Künstlern, Musikern und Schriftstellern gepflegt, und all diese Verlassenschaften lagerten, sofern sie nicht in den Kriegszeiten geplündert worden waren, in den genannten Archiven. Allein das Haus-, Hof- und Staatsarchiv, 1749 von Kaiserin Maria Theresia als zentrales Archiv des Hauses Habsburg gegründet, umfasste laut Mitteilung auf 16.000 Laufmetern 130.000 Geschäftsbücher und Aktenkartons, 75.000 Urkunden, 15.000 Karten und Pläne und etwa 3000 Handschriften.

Was Phil zu Beginn aber am meisten lockte, war die Sammlung der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, jenes privaten Vereins, der von 1812 an so Hervorragendes auf dem Gebiet der Musikförderung vollbracht hatte. Ehrfürchtig betrat er das Gebäude, das den „Goldenen Saal“ beherbergt, und erkundigte sich nach den Nutzungsbedingungen für die Bibliothek. Als er am Rückweg am Kartenbüro vorbeikam, bemerkte er das Plakat für ein Konzert am Abend: Haydn, Symphonie Nr. 37, Tschaikowski, Klavierkonzert Nr. 1 und Schuberts Große Symphonie in C-Dur wurden von den Wiener Philharmonikern gegeben, und das Programm lockte ihn in das Büro.

Es wurde freundlich telefoniert und Karten für allerlei Veranstaltungen gehandelt. Phil musste warten, und als er endlich an die Reihe kam, war das Konzert ausverkauft.

– Sie können freilich am Abend versuchen, ob Sie noch etwas bekommen, riet ihm die Dame am Schalter, aber das schien ihm doch zu unwahrscheinlich.

– Suchen Sie vielleicht noch eine Karte für heute?

Phil blickte um sich. Ein zartes Geschöpf lächelte ihn an.

– Habe ich recht verstanden, dass Sie eine Karte für das Konzert heute Abend brauchen?

– Ja, ich … Ja, das wäre fein.

– Ich versuche, diese hier loszuwerden. Wenn Sie wollen, können Sie sie gerne haben.

Phil wurde ein wenig verlegen, denn das Mädchen gefiel ihm ziemlich gut. Sie machte den Handel aber ganz ohne Umstände.

– Hier, der Preis steht ja auf der Karte.

Er händigte ihr die Summe aus.

– Also, gute Unterhaltung, sagte sie noch, lächelte breit mit geschlossenem Mund und verließ das Büro.

Erst als er später im Café saß, fiel Phil ein, dass er sich nicht einmal bedankt hatte.

Natalja Levedkova studierte im fünften Semester Komposition und Klavier an der Musikuniversität in Wien. Sie hatte ihr Studium in Kiew schon vor Jahren begonnen, als jedoch die politische Situation in der Ukraine immer unerträglicher und schließlich aussichtslos wurde, beschloss die Familie, mit den letzten finanziellen Ressourcen die einzige Tochter in den Westen zu schicken. Sie wohnte in dieser Zeit nicht weit von der Musikuniversität entfernt in einer Studentenwohnung, die sie sich mit drei Kollegen teilte. Das Haus lag am Heumarkt, auf der Rückseite des Konzerthauses mit einem weiten Ausblick auf den Stadtpark. Als sie an jenem Nachmittag in die Wohnung zurückkehrte, war sie erleichtert, ihre zweite Konzertkarte angebracht zu haben. Azmir, ein Studienkollege, hatte ihr im letzten Moment abgesagt. Sie liebte Tschaikowskis Klavierkonzert und freute sich auf den Abend.

Als Philip Mason den Goldenen Saal des Musikvereins betrat, erschauderte er über der Geschichte jenes Raumes, mit dem Namen wie Brahms, Bruckner oder Mahler so untrennlich verbunden sind und dessen Akustik mit Recht als ein einzigartiges Vorbild des philharmonischen Klangs gilt. Die Stimmung war hitzig erregt, der Raum mit den Stehplätzen dicht gedrängt mit Menschen aus aller Welt. Als Phil seinen Platz einnehmen wollte, saß wie selbstverständlich Natalja neben ihm.

– Guten Abend!, sagte sie freundlich, und hielt ihm höflich die Hand zum Gruß hin.

– Guten Abend, das ist aber eine originelle Überraschung! Ich dachte mir vorhin, dass ich mich gar nicht bei Ihnen bedankt habe.

Natalja hielt kurz inne.

– Das ist ja auch nicht nötig …

– … Mason, mein Name ist Philip Mason, ich bin Amerikaner … oder Engländer, wenn Sie so wollen. Ich bin mit einem Stipendium hier für ein Jahr zu Studienzwecken.

– Sehr erfreut, mein Name ist Natalja.

Das Orchester hatte das Einstimmen beendet. Der Raum wurde abgedunkelt, und in die gleißende Erwartung des Saales trat der Dirigent.

Die Haydn-Symphonie war frisch und heiter, ein frühes Werk, das heutzutage eher unter dem theoretischen Aspekt beleuchtet wird, dass es in die Entstehungszeit des Klassischen Stils gehört. Als Vorbereitung auf das gewaltige Klavierkonzert Tschaikowskis aber wirkte es prickelnd wie Champagner und ideal gewählt. Die ungeheuren Abgründe des Konzerts, seine tiefe Zerrissenheit kamen im Kontrast zum Werk des jungen Haydn zur stärksten Geltung.

Natalja war in der Pause tief gerührt und nicht sehr gesprächig. Phil erinnerte sich, einmal in einem Gastvortrag in Princeton davon gehört zu haben, dass der Amerikaner sich nicht vorstellen könne, welche Bedeutung und Wirkung Musik auf die Menschen in anderen Ländern hatte. Er sah es nun lebhaft vor sich. Die für die feinsten Regungen empfängliche Fantasie Nataljas webte ein Netz von Erinnerungen und Bildern, die das Konzert Tschaikowskis in ihr erregt hatte. Sie erlebte die feinsten Nuancen der Interpretation immer wieder von Neuem in ihrer Vorstellung.

– Finden Sie auch, dass Tschaikowski etwas Provinzielles an sich hat?, fragte sie Phil plötzlich. Es gibt heute nämlich Menschen in Russland, die das behaupten. Ich finde das gar nicht.

Phil hatte bisher mit russischer Musik nicht allzu viel zu tun gehabt.

– Ich habe mir das noch nie überlegt, ehrlich gesagt. Wie kommen Sie darauf? Ich meine, Tschaikowski gehört doch einfach zu den Klassikern … sozusagen.

Natalja war scheinbar mit der Antwort zufrieden, insgeheim störte sie aber die Oberflächlichkeit der Antwort. Phil bemerkte das, weshalb er sofort ergänzte.

– Natürlich ist er einmalig … und außerdem ein unvergleichlicher Meister der Instrumentation!

Das hatte er aus dem Schulbuch. Und doch hellte sich Nataljas Miene jetzt deutlich auf. Sie hängte sich bei ihm ein und zog ihn mit sich.

– Kommen Sie, der zweite Teil beginnt gleich!

Die Symphonie von Schubert schlug wie Blitz und Donner in den Saal ein. Majestätisch vom ersten Ton an, schritt die Symphonie folgerichtig und kristallklar in atemberaubenden Phrasen fort, die jene großen Bögen Anton Bruckners ankündigen. Obgleich eine Art menschlicher Landschaft sich in all ihrer Vielseitigkeit vor dem Hörer ausbreitete, hielt doch ein unsichtbares Band alles zusammen und trieb die Entwicklung unaufhaltsam und streng voran. Als nun der vierte Satz ins Finale ging und ein entsetzliches Stampfen den Schluss ankündigte, war Phil seltsam berührt. Einen solch offensichtlichen Gewaltausbruch hatte die Musik vor dieser Symphonie nicht erlebt. Das Programmheft sprach von einem „Triumph der Natur“, doch Phil konnte einen solchen nirgends hören. Hier wurde verhandelt, empört protestiert, Krieg geführt und auf schrecklichste Weise gerichtet. Es war der jüngste Tag, unerbittlich und kompromisslos, gegossen in das Gewand einer klassischen Symphonie.

Als der letzte Donnerschlag vorüber war, strömte frenetischer Jubel in den Saal. Mit jeder Verbeugung des Maestros und des Orchesters steigerte sich die Begeisterung. Natalja strahlte über und über, und die beiden überboten sich lachend in der Kunst des Pfeifens.

Als sie den Saal verließen, einigten sie sich schnell darauf, noch auf einen Drink zu gehen. Sie fanden ein Irish Pub in der Nähe und ließen sich in einer ruhigen Ecke nieder. Natalja blickte Phil gelassen an und schwieg. Das machte es ihm nicht leichter. Unter dem Vorwand, an die Bar bestellen zu gehen, verschaffte er sich ein wenig Zeit: Verdammt nochmal, Phil, russische Frauen … Was hast du darüber gelernt? Wie war das noch einmal in den Büchern? – Aber es fiel ihm nicht eines ein. Sein Kopf war verwirrt, benebelt, leer, und er konnte sich nur auf seinen Instinkt verlassen.

– Hier, das gewünschte Guinness, schwarz und tief wie die russische Seele! Guinness is good for you!, rief er überschwänglich beim Zurückkommen. Dann erst hörte er sich selbst, und was er da gesagt hatte. Natalja sah ihn belustigt an.

– Wie kommen Sie darauf, dass die russische Seele schwarz sei? Man sagt doch, sie sei weit. Oder ist das eine amerikanische Metapher?

Phil saß schon in der Patsche.

– Es ist wahrscheinlich gar keine Metapher, aber es reimt sich sonst nicht auf Guinness; Sie wissen, ich meine das nicht so.

– Ich weiß, erwiderte Natalja, und ich bin ja im Übrigen auch keine Russin; also keine Sorge. Ich bin Ukrainerin, wenn auch mein Großvater Russe war. Cheers!

– Cheers!

Sie tauchten ihre Lippen in den cremigen Schaum des schwarzen Bieres.

– Ich dachte … wegen Tschaikowski.

– In der Zeit der Sowjetunion spielte das alles keine Rolle. Sonderbar, sich vorzustellen, dass diese Dinge erst zwanzig Jahre her sind. Heute ist es furchtbar in der Ukraine. Korruption und Armut.

Sie blickte Phil kurz an und hob die Augenbrauen. Dann hellte sich ihr Blick plötzlich auf.

– Aber sprechen wir von etwas anderem! – Sie finden also, dass Tschaikowski ein Klassiker ist. Wie nennen Sie dann dieses Ungetüm von Schubert-Symphonie? Ich fand das Stück sehr sonderbar. Nicht romantisch im eigentlichen Sinn, aber auch nicht klassisch. Es hat doch fast eher etwas Klassizistisches an sich; so streng und gerade, ganz anders als die „Unvollendete“.

Für gewöhnlich versuchte Phil das Reden über Musik in dieser Weise zu vermeiden, doch aus dem Mund Nataljas, mit ihrem eigentümlichen Akzent, hatte es einen verspielt-formalen Ernst, der ihm Freude machte.

– Finden Sie „klassizistisch“ das richtige Wort für einen solchen Gewaltausbruch? Ich meine, der Schluss ist doch unbeschreiblich. Diese Explosionen …

– Es hat dennoch etwas Rhetorisches. Und deshalb komme ich auf „klassizistisch“. Es ist, wie wenn Schubert noch einmal zurückgekehrt wäre, gerade vor den romantischen Gestus, der ja schon entwickelt war. Als wäre noch ein Letztes zu sagen in der alten Rhetorik.

– Eine sonderbare Rhetorik wäre das, Natalja.

Er hatte ihren Namen zum ersten Mal ausgesprochen und sie bemerkten es beide. Er fuhr schnell fort.

– Aber es erinnert mich an irgendetwas; etwas, das ich in letzter Zeit gehört habe. Wissen Sie, meine Tante, die eigentlich gar nicht meine Tante ist, sondern meine Vermieterin, hat mich in den letzten Wochen kreuz und quer durch die Stadt geschleppt! Opern, Konzerte, Heurige; und die halbe Geschichte hat sie mir schon erklärt. Es ist ja seltsam, auf wie engem Raum sich alles abspielt in dieser Stadt. Hier war Adolf Loos, da Freud, dort Beethovens Wohnung, alles einen Steinwurf voneinander entfernt!

– Schön, sich das vorzustellen, nicht? Ich denke immer daran, wenn ich am Morgen durch die Annagasse zur Theoriestunde gehe.

An der Bar brach plötzlicher Jubel aus, in einem Fußballspiel in England, das auf Bildschirmen übertragen wurde, war ein Tor gefallen.

– Sehen Sie, aber das ist den Menschen heute wichtiger; wie Kinder …

– Seien Sie nicht zu streng mit uns, Natalja; Engländer lieben nun einmal Fußball und ihr bitter beer.

Natalja lächelte.

– Schön!

– Wie meinen Sie: schön?

– Ihre Hände, Phil, Sie können nicht lügen. Ihre Hände sprechen wie Ihr Herz; das ist etwas sehr Seltenes geworden heutzutage.

Phil musterte seine Hände, hob sie halb in die Höhe und begann sie zu drehen. Er wusste nichts Besseres damit zu tun, aber er bemerkte, dass Natalja das Gespräch virtuos zu lenken verstand.

– Seien Sie nicht albern, Phil. Ich habe das Gefühl, die Welt ist ein Kessel vor einer Explosion, und was machen die Menschen? Taub und blind laufen sie verloren durch die Tage, stecken ihre Köpfe ins Fernsehen, Telefon und Internet!

– In Amerika nennen wir das tittytainment; die neue Form von Brot und Spielen, um die Masse ruhig zu halten, während die Elite ihre Geschäfte macht.

– Und die Welt ist auf diesem Weg zur Hölle geworden! Machen Sie die Augen auf: überall nur mehr Krieg! Und ihr Amerikaner habt überall die Finger mit im Spiel. Neunhundert Milliarden lasst ihr euch euer Heer jedes Jahr kosten, während Millionen Menschen hungern!

– Ich weiß, Natalja, ich bin der Letzte, der die amerikanische Politik verteidigen würde.

Sie blickte mit düsterer Miene aus dem Fenster in Richtung der hellen Lichter des Schwarzenbergplatzes. Sie sah wunderbar in ihrer Verärgerung aus, und Phil konnte seinen Blick nicht von ihr lassen. Welten trennen uns, dachte er. Da lächelte Natalja ihn aber unerwartet wieder an.

– Lassen Sie uns noch einen Wodka trinken und dann aufbrechen. Ich habe sehr früh ein Seminar morgen …

Als sie den Pub verließen, blies ihnen ein heftiger, nasser Wind ins Gesicht und der Autoverkehr klang bedrohlich krachend in der Gischt.

– Der Wiener Wind, Phil! Der hält die Leute jung hier!

Er stellte rasch den Kragen seines Mantels hoch.

– In welche Richtung müssen Sie?

– Wollen Sie mich nicht nach Hause bringen? Die feinen Herren hier in der Stadt halten das noch immer so. Kommen Sie!

Schon war sie losgelaufen, den Kopf tief im Mantelkragen vergraben. An jeder Ecke blies der Wind aus einer anderen Richtung. Manchmal trieb er die beiden vor sich her, dann wieder kam er wie eine Mauer auf sie zu. Als sie das Palais am Heumarkt erreicht hatten, waren sie durchnässt. Phil staunte angesichts des vornehmen Gebäudes.

– In so einem Haus gibt es Studentenwohnungen?, rief er verblüfft, als sie das Portal erreicht hatten.

– Der Besitzer ist ein komischer alter Kautz. Er sagt, sein Urgroßvater, Freiherr von Soundso, war mit Brahms befreundet. Deshalb ist eine der Wohnungen immer für Musikstudenten reserviert. Sonderbar, nicht?

Phil fragte sich, wie es nun weitergehen würde, aber da hatte er sich getäuscht. Als sie die nächste Windbö erfasste, öffnete Natalja das mächtige Tor, strich sich die feuchten schwarzen Haare aus dem Gesicht und blickte ihn noch einmal kurz aus dem Torbogen an.

– Rufen Sie mich bald an, Phil, gute Nacht.

Und schwer fiel die Tür ins Schloss.

Der Regen hatte die Luft merklich abgekühlt, Vorbote des Winters, der in der Stadt sehr kalt sein konnte. Phil genoss aber die Kühle, als er den Park in Richtung Innere Stadt durchquerte. Er beschloss, noch auf einen Drink in jenes Lokal zu gehen, das ihm schon manchmal untertags beim Vorbeigehen aufgefallen war: Lenny’s Bar.

Sondern die – mächtige Kraft des

   – lodernden Feuers vernichtet

      Alles, sobald – der Geist die bleichen

         – Gebeine verlassen (220)

Es gab keine Worte, um diesen Ort angemessen zu beschreiben: Spelunke, Schenke, Pub, Bar – all dies war es und war es doch auch nicht. Die Wirtin gab ihm Bier und er hätte unmöglich sagen können, wie alt sie war: eine in die Jahre gekommene Rock-Sängerin? Eine jung gebliebene Alt-Aristokratin? Das Lokal war überdies bevölkert von solch sonderbaren Gestalten, die untertags in der Stadt nicht zu sehen waren. Die Luft war zum Schneiden. An den vom Tabak dunkelbraunen Wänden hingen Dutzende Plakate von Ausstellungen und Konzerten, die teilweise vor mehr als dreißig Jahren stattgefunden hatten, und rundum an den schwarzen Holzvertäfelungen waren mit weißer Kreide in großen Abständen Gedichtverse notiert, die Phil von irgendwoher kannte.

Die Verse begannen links über der Bar: Sondern die – und über dem Durchgang zum hinteren Bereich folgte die Forstsetzung: mächtige Kraft des –. Auf diese Weise waren die Verse rund um den Raum verteilt, gerade so, wie es sich vom Platz ausging.

Phil versank in Erinnerungen an den vergangenen Abend und er bemerkte zu seiner Freude das starke Parfum Nataljas an seinem Rock. Und wieder und wieder ging ihm die Schubert-Symphonie durch den Kopf.

– Du bist wohl Skorpion?

Phil blickte auf. Die jung gebliebene Alt-Aristokratin lehnte hinter der Theke lässig mit einem Arm auf dem hoch aufragenden Zapfhahn. In der linken Hand hielt sie eine Zigarette.

– Wie meinen?

– Na, Skorpion, das Sternzeichen. Nur Skorpione stochern so fanatisch in ihrem Aschenbecher herum, dass man glauben könnt’, sie bohren Löcher hinein.

Phil betrachtete den Aschenbecher und musste lachen.

– Ich hab’ noch nie gehört, dass das mit dem Sternzeichen zusammenhängt.

– Irgendwie hängt immer alles zusammen; also: Skorpion?

– Nein, Waage.

– Dann aber im Aszendenten?

– Den kenne ich nicht.

– Siehst, ich hab’s gewusst, du bist sicher im Aszendenten Skorpion.

– Und du wahrscheinlich Stier.

Sie kam näher zu ihm her.

– Gar nicht schlecht, Alter. Wie kommt denn jemand wie du in so ein Lokal?

– Ich war auf der Suche nach einem Gedicht – er wies auf die Kreideschrift – und hab’ es gefunden.

Sie fand den Jungen jetzt ganz charmant und lächelte.

– Homer; ein Spleen von Lenny ist das. Er schreibt jede Woche einige Verse aus der „Odyssee“ rund ums Lokal. In vierunddreißig Jahren hat er auf die Art das Buch durch, dann beginnt es wieder von vorn.

Von der anderen Seite des Tresens wurde laut nach ihr gerufen.

– Elsa!

Phil betrachtete nochmals die Schriftzeichen an der Wand und las den Satz zu Ende: „des – lodernden Feuers vernichtet – Alles, sobald – der Geist die bleichen – Gebeine verlassen (220)“

In jenem Moment, war es eine Bewegung, war es der Song von The Clash, der leise in der Bar lief – Should I stay or should I go –, war es ein Wort, das in der Ferne gesprochen wurde, in jenem Moment erfasste Phil plötzlich, woran die Symphonie Schuberts ihn erinnert hatte: an das Finale des „Don Giovanni“.

AUS DEN AUFZEICHNUNGEN PHILIP MASONS (I)

17. Oktober 2011, Wiener Nachtszenen

Nach dem Konzert in Lenny’s Bar. Stickige Luft wie früher in den alten Bars in New York, die es nicht mehr gibt. Elsa – die Chefin des Lokals – macht einen widersprüchlichen Eindruck; sensibel, doch abgehärtet, viel Abgrund umher. Alkohol und tief gespaltene Persönlichkeiten. Ein Vorstadt-Casanova mit schrägem Gesicht pendelt zwischen deutschen Touristinnen, denen er unzweideutige Angebote macht, und einigen dubiosen Gestalten. Eine Gruppe matronenhafter Emanzen: Künstlerinnen? Am Eck sitzt ein Betrunkener, der im Refrain alle fünf Minuten durch das Lokal grölt:

– Seid’s ned so fertig!

Doch unterirdisch stehen auf rätselhafte Weise alle miteinander in Verbindung. Elsa führt mich in die Runde ein, als einen „Amerikaner, der sonderbarerweise nicht vollkommen vertrottelt“ sei. Sie hebt das mit äußerster Würde hervor. Der Betrunkene erweist sich als ein Museumsdirektor einer Abteilung, die alte Instrumente verwahrt.

– Ein amerikanischer Musikwissenschaftler san Sie also, dass es sowas gibt!

Er brüllt zum anderen Ende der Bar.

– Christian! Schau, ein amerikanischer Musikus-Kollege!

Der Angesprochene ist im Gespräch und dreht sich nur langsam um.

– Na, cheers!

Er hält sein Bierglas hoch, prostet mir zu und wendet sich wieder seinem Gesprächspartner zu. Der Museumsdirektor bläst dicken Rauch in die Luft.

– Jetzt sei ned so apart, du Arschloch.

– Brenner!

Elsa ist wütend.

– Wenn du dich nicht benehmen kannst, schmeiß ich dich raus, das hab’ ich dir schon hundertmal gesagt!

– Ist schon gut, schon gut.

Brenner windet seinen aufgedunsenen Körper und nimmt einen Schluck aus seinem Weinglas.

– Wissen Sie, der Herr da drüben ist ein exzellenter Theoretiker, aber er glaubt immer weiß Gott, was er ist. Künstler! Wissen Sie, dass die deutsche Sprache die einzige ist, in der das Wort Künstler auch ein Schimpfwort ist?

Er spricht nicht direkt zu mir. Es ist eher wie auf einer Bühne, und der Hauptdarsteller gibt gemächlich den Monolog eines Lears in den letzten Zügen.

– Wann ma’ sich das Leben heute anschaut, wie es ist …

Brenner schüttelt den Kopf.

– Ihr jungen Leut’ werdets’ ja so was von verarscht. Unwahrscheinlich ist das! Christian! Sagst du das deinen Studenten? Dass sie nach Strich und Faden verarscht werden! Diese ganzen G’fraster auf den Unis, eine feige Bagage, nichts als Karriere im Kopf.

Christian Dietrich wendet sich wieder Brenner zu.

– Klar sagen wir das den Leuten, was glaubst’? Kommen ja auch ned auf der Nudelsuppen daher … von der Verarsche gehen wir aus: Der Ciarlatano ist unser Geschäftsmodell, der Trottel unser Kunde.

Sein Begleiter lacht. Brenner ist zufrieden, dass man ihn ernst genommen hat.

– Es ist alles hoffnungslos. Was für eine Katastrophe … Meine Herren! – Da sitzt ein junger, hoffnungsfroher Amerikaner, und was bietets’ ihr ihm für ein Bild? – Ein heruntergekommenes, ein fertiges!

– Der Einzige, der hier heruntergekommen und fertig ist, das bist du, Brenner! Jetzt lass endlich meine Gäste zufrieden.

Elsa lehnt wieder an ihrem Zapfhahn und raucht. Ich betrachte die Plakate an der Decke: Pasolini-Variations – Oktober 1987; Qualtinger liest im Audi-Max: 27.5. 1983.

Dietrich beugt sich vor.

– Kommen S’ doch einmal herüber, wenn Sie wollen.

Er stellt sich und seinen Begleiter, Dr. Paul Weidlinger vor, Sektionsleiter eines Ministeriums. Dietrich selbst unterrichtet Musiktheorie an der Universität.

– Sehen Sie, mit dem Herrn Brenner geht das leider so. Dabei ist er ungemein gebildet.

– Eine bizarre Person, scheint mir.

Weidlinger grinst.

– Er ist „bildungsbizarr“.

– Und was treibt Sie nach Wien?

Dietrich erscheint mir jetzt ganz nüchtern.

– Ein Stipendium. Ich schreibe eine Arbeit über Mozart und die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung.

Die Wirkung dieser Worte war bemerkenswert. Dietrich sagt knapp „Na servas …“, Weidlinger mustert mich über seine Brille hinweg und Elsa stützt sich auf den Tresen.

– Das ist ja sehr interessant.

Weidlinger langt etwas umständlich nach seinem Glas.

– Glauben Sie, dass es hier noch unerforschte Aspekte zu finden gibt? Das Thema dürfte ja nicht gerade neu sein.

– Ich wollte ursprünglich Mozarts Beziehungen in Paris nachgehen, aber das Stipendium gab es nur für Wien.

Brenner braucht wieder Aufmerksamkeit und singt gräulich:

– Wien, Wien, nur du allein … wie es weint, wie es lacht, da kenn ich mich aus, ja da bin ich halt z’haus, bei Tag und noch mehr bei der Nacht.

Er inszeniert gegen Ende ein großes Crescendo, das Elsa ruhig quittiert.

– Brenner, halt die Goschen!

Weidlinger prustet laut auf und Dietrich grinst.

– Aber da muss ich euch eine Geschichte erzählen.

Elsa setzt eine ernste Miene auf.

– Ihr kennts’ ja den Pianisten Buchreiner, ja der Fritz Buchreiner; der ist ja berühmt.

Alle kennen ihn selbstverständlich und Elsa holt mit weiter Geste aus.

– Also: Der Buchreiner hat ja eine große Sammlung von Klavieren, Flügel aus allen Zeiten, ich weiß nicht: vierzig, oder so. Und jetzt hat sich die Gelegenheit ergeben, dass er gegenüber von seiner Wohnung in Döbling noch eine andere Wohnung kaufen konnte, wo er seine Masse von Klavieren unterbringen wollt’. Was macht der Buchreiner? Er mietet sich einen Kran, um die Klaviere über die Straße in die andere Wohnung hinüberzuhieven und vergisst aber dabei – pass auf, jetzt kommt’s! – die Straße absperren zu lassen.

Allgemeines Gelächter.

– Der Kran steht sinnlos herum, von Westen kündigt sich aber Regen an, ja? Was glaubst, dem geht der Reis! Der Kran kostet ein Vermögen!

– Na servas.

– Was macht der Buchreiner? Der Buchreiner ruft bei der Polizei an! Sagt: „Ja, hier ist der Fritz Buchreiner!“ Und erklärt dem Polizisten die Situation. Darauf sagt der Polizist: „Des kon a jeder behaupten, dass er der Buchreiner ist; wer sagt mir, dass des stimmt?“ Pass auf, jetzt kommt’s! Sagt der Polizist: „Wissen S’ was, singen S’ mir KV 415 vor!“ Das ist ein Mozart-Klavierkonzert, nicht?

Allgemeines Nicken.

– Ja, klar.

– Was macht der Buchreiner? Der Buchreiner in seiner totalen Verzweiflung fangt an zum Singen! In das Telefon hinein! Das KV 415!

Allgemeines Gelächter.

– Pass auf, jetzt kommt’s! Sagt der Polizist: „Mir san unterwegs, Herr Buchreiner!“

Elsa triumphiert.

– Na bitte, so was gibt’s nur in Wien.

Weidlinger amüsiert die Geschichte.

– Köstlich!

Dietrich ist ungläubig.

– Die Geschichte ist auf jeden Fall gut erfunden.

– Nein, Tatsache; es gibt einen Haufen Zeugen dafür!

Weidlinger nickt zustimmend.

– Nein, nein, so was gibt’s wirklich nur in Wien.