Wo die Fahrt zu Ende geht - Christian Schacherreiter - E-Book

Wo die Fahrt zu Ende geht E-Book

Christian Schacherreiter

4,7

Beschreibung

Dora und Hannes lernen einander kennen, als sie noch an die Utopie der klassenlosen Gesellschaft glauben. Im studentischen Umfeld der 70er Jahre bahnt sich eine verquere Liebesbeziehung mit Komplikationen an. Die unerwartete Wiederbegegnung nach mehr als dreißig Jahren schwemmt viele Erinnerungen an die Oberfläche, und beide sehen sich mit den ramponierten Idealen ihrer Vergangenheit konfrontiert. Einem sanften Aufglühen ihrer gemeinsamen Geschichte im "Nachsommer der Revolution" stehen abermals Hindernisse, Verwirrungen und offene Fragen über bislang unbekannte Bedürfnisse entgegen. Sie stören jene Lebensruhe, die Hannes mittlerweile so sehr schätzt. Auf pointierte, unterhaltsame Weise erzählt Christian Schacherreiter Lebensgeschichten, die geprägt sind von der Suche nach Sinnstiftung und Zugehörigkeit.

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Christian SchacherreiterWo die Fahrt zu Ende geht

Christian Schacherreiter

Wo die Fahrt zu Ende geht

Roman

OTTO MÜLLER VERLAG

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1231-3

© 2015 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIENAlle Rechte vorbehaltenSatz: Media Design: Rizner.at

Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. StefanCoverbild: Walter E. Blumberger

FRISCHE FAHRT

Laue Luft kommt blau geflossen,Frühling, Frühling soll es sein!Waldwärts Hörnerklang geschossen,Mutger Augen lichter Schein;Und das Wirren bunt und bunterWird ein magisch wilder Fluß,In die schöne Welt hinunterLockt dich dieses Stromes Gruß.

Und ich mag mich nicht bewahren!Weit von euch treibt mich der Wind,Auf dem Strome will ich fahren,Von dem Glanze selig blind!Tausend Stimmen lockend schlagen,Hoch Aurora flammend weht,Fahre zu! Ich mag nicht fragen,Wo die Fahrt zu Ende geht!

Joseph von Eichendorff

INHALT

I:    Dora

Chapter 1

Chapter 2

Chapter 3

Chapter 4

Chapter 5

Chapter 6

Chapter 7

Chapter 8

II:   Lisa

Chapter 1

Chapter 2

Chapter 3

Chapter 4

Chapter 5

Chapter 6

Chapter 7

Chapter 8

Chapter 9

Chapter 10

III: Monika

Chapter 1

Chapter 2

Chapter 3

Chapter 4

Chapter 5

Chapter 6

Chapter 7

I

DORA

1

Weiche dieser Begegnung aus! Das war mein erster Gedanke, als ich sie wiedererkannte. Noch war die Gelegenheit günstig, denn Dora hatte mich nicht gesehen. Sie wartete auf den Linienbus. Ich kam soeben aus der Bäckerei, wo ich Salzgebäck für den Abend gekauft hatte. Ich stand im Türrahmen, ich hätte umkehren können, hätte mich unter dem Vorwand, auf einen Einkauf vergessen zu haben, an die Verkäuferin wenden und mit ihr plaudern können. Ich bin Stammkunde seit mehr als zwanzig Jahren. In der Zwischenzeit wäre der Bus gekommen, Dora wäre eingestiegen, und ich wäre wieder frei gewesen vom Vergangenheitsgespenst, das ich gerne auf dem Dachboden verstauben lasse oder im Keller vor dem Tageslicht schütze. Ich brauche keine Vergangenheit, die Gegenwart genügt mir, und die Zukunft überlasse ich den Fortschrittsfuchtlern. Eine merkwürdige Haltung für einen Historiker? Nein. Ich spreche nicht von den Gegenständen der Wissen schaft, ich spreche vom Privaten. Ich bin Experte für regionale Kulturgeschichte, aber nicht für meine Bio grafie. Niemand ist Experte für seine eigene Biografie.

Weil ich nicht meinem ersten Schreckgedanken folgte, sondern einer stärkeren, möglicherweise verlockenderen Kraft, überquerte ich trotz des starken Frühabendverkehrs die Straße und sagte: „Hallo, Dora“. Hallo ist eine sehr dumme Grußformel. Trotzdem verwende ich sie immer öfter. Hallo geht mir mit ärgerlicher Selbstverständlichkeit über die Lippen, während ich mich für ein Grüß dich oder Servus sehr bewusst entscheiden muss. Meiner Erinnerung zufolge antwortete Dora auf mein „Hallo“ auch mit „Hallo“, beziehungsweise mit „Ja, hallo!“, auf diese Weise Überraschung signalisierend. Ihre Überraschung war für mich keine Überraschung, denn wir hatten uns seit dem 1. Mai 1977, 23.23 Uhr, nicht mehr gesehen, also seit dreiunddreißig Jahren, fünfundzwanzig Tagen, siebzehn Stunden und dreiundfünfzig Minuten.

Trotz dieser langen Zeitspanne, in der sich Menschen naturgemäß verändern, nüchtern gesagt: in der sie altern, hatte ich Dora sofort wiedererkannt. Ihr Gesicht war nicht das übliche Gesicht einer Vierundfünfzigjährigen, eher das einer Fünfundvierzigjährigen – biologischer Ziffernsturz sozusagen – und es war schön. Als wir damals, am 1. Mai 1977, im Streit auseinandergegangen waren, war Dora mit ihrem schönen Gesicht einundzwanzig Jahre jung gewesen. Verzichten will ich jetzt auf Betrachtungen darüber, dass ein an sich schönes, also mehr oder weniger zeitlos schönes Gesicht im Alter von einundzwanzig Jahren eine andere Art Schönheit zeigt als im Alter von vierundfünfzig Jahren, und zwar unter besonderer Berücksichtigung des Umstands, dass – wie in Doras Fall – dieses vierundfünfzigjährige Gesicht eher einem fünfundvierzigjährigen ähnelt. Verlieren wir uns nicht in Details. Es geht um Varianten des Schönen.

Dora und ich wechselten einige Sätze, wie sie üblicherweise von Menschen gesprochen werden, die einander sehr lange nicht gesehen und kaum etwas voneinander erfahren haben: Dass man überrascht sei, einander sofort erkannt zu haben, obwohl man doch so lange … Dass es gut und gern dreißig Jahre her sei, als man … Ob das denn die Stadt sei, wo man jetzt lebe … Und überhaupt: Was man denn so anstelle mit seinem Leben … „Wie geht es dir?“ Diese banale Frage nach dem Allgemeinbefinden ist, wenn die letzte Begegnung so weit zurückliegt, monströs. Eine Bushaltestelle an einer stark frequentierten Kreuzung ist nicht der geeignete Ort, um vom eigenen Leben in drei Jahrzehnten zu erzählen, und so war meine Frage, ob Dora Zeit und Lust hätte, in einem Café weiterzureden, naheliegend. Dora bedauerte – und ihr Bedauern war keine höfliche Ausrede –, sie habe heute noch eine berufliche Verpflichtung, sei schon etwas in Eile, aber sie würde gerne ohne Zeitdruck und in ruhigerem Ambiente mit mir reden, sie wisse ja fast gar nichts von meinem Leben. Der Linienbus näherte sich. Wir tauschten unsere Handynummern aus und nahmen Abschied, mit flüchtig angedeuteten Küssen auf beide Wangen. Der Bus war da. Dora stieg ein. Wir winkten einander zu. Ich ging nachhause, füllte mein Salzgebäck mit Schinken, Frischkäse und Tomaten und öffnete eine Flasche Weißwein. Ach, Dora …

Am 1. Mai des Jahres 1977 saß ich in Salzburg in meiner gemieteten Garçonnière und schrieb an meiner Doktorarbeit über die katholische Soziallehre. Ich kam gut voran, ich war zufrieden. Das Thema hatte ich nicht gewählt, weil ich der katholischen Kirche besonders nahe gestanden wäre oder starke religiöse Gefühle verspürt hätte. Meinem Selbstverständnis zufolge gehörte ich damals immer noch zur politischen Linken, was bei Studierenden der Geisteswissenschaften in den Siebzigern eher die Regel als die Ausnahme war. Tatsächlich war es meine linke Orientierung, die mein Inter esse an der katholischen Soziallehre des 19. Jahrhunderts geweckt hatte, denn ich hatte zu meiner Überraschung bemerkt, dass ihre Vertreter antikapitalistische Thesen und Analysen erstellt hatten und sich gelegentlich sogar explizit auf Marx und Engels beriefen, wenn sie die sozialen Auswirkungen des Kapita lismus kritisierten. Armut und Elend des Proletariats, die Überlebensprobleme des Kleingewerbes und des Handwerks im Konkurrenzkampf gegen die Großindustrie wurden von den katholischen Sozialtheoretikern keineswegs beschönigt oder geleugnet oder – was zu befürchten wäre – Gottes unerforschlichem Ratschluss angelastet. In ihrer radikalen Kritik des Kapitalismus kamen sie Marx und Engels erstaunlich nahe. Dennoch gab es einen entscheidenden Unter schied. Während sich Marx’ Kritik der Ökonomie geschichtsphilosophisch aus dem historischen Mate rialismus nährte, griff die katholische Soziallehre auf die göttliche Offenbarung zurück, insbesondere auf die jesuanische Botschaft der Nächstenliebe. Der Mensch ist vom Schöpfer gewollt, jeder einzelne, also darf er nicht ins Elend geraten. Das Leid kann nach katholischer Welterklärung dem Menschen auf Erden zwar nie ganz erspart bleiben, aber strukturelles Elend sollte nicht damit gerechtfertigt werden, dass Adam und Eva aus dem Paradies hinausgeworfen worden sind. Anders als Marx sahen die antikapitalistischen Katho liken die Lösung des sozialen Übels nicht in proletarischer Revolution und klassenloser Gesellschaft, sondern in Nächsten liebe und Ständeordnung. Naja, und so weiter … Mit solchen Dingen beschäftigte ich mich im Jahr 1977 und insbesondere auch an jenem 1. Mai, an dem mir Dora mitteilte, dass sie ihre Affäre mit mir beende, weil sie sich endgültig für Konrad entschieden habe.

Mein Tag hatte schlecht begonnen und schlechter sollte er zu Ende gehen. Dora hatte die Nacht bei mir verbracht. Ihren Konrad hatte sie angelogen. Sie besuche ihre Tante am Wolfgangsee und komme erst am Morgen des 1. Mai zurück. Bei der Mai-Demonstration werde sie ihn treffen. Die Mai-Demonstration der Salzburger Kommunisten und ihre welthistorische Bedeutung! Das war ihr erster und einziger Gedanke nach dem Aufwachen. Ich hingegen wäre in Laune gewesen, noch einmal mit ihr zu schlafen, auf diese langsame, sanfte, morgenmüde Weise.

„Komm doch mit, Hannes, bitte! Tu es für mich.“

„Ich kann doch nicht zu einer kommunistischen Mai-Demonstration gehen, um einer Frau meine Liebe zu beweisen. Die KPÖ ist eine moskauhörige Sekte. Meine Vorstellungen von Sozialismus haben mit denen so viel gemeinsam wie Marx mit Stalin.“

„Über die politische Rolle der KP kann man bei aller Kritik auch anderer Meinung sein. Im historischen Prozess ist die Sowjetunion …“

„Bitte, Dora, bitte! Ich will nicht mit dir im Bett die historische Rolle der Sowjetunion diskutieren. Aber wenn dir dieser stalinistische Pensionistenaufmarsch so wichtig ist, dann reih dich meinetwegen ein. Dora hört die Signale! Ich höre sie leider nicht, ich bleibe daheim und arbeite.“

„Ja, eben. Was hätten wir denn davon, wenn ich nicht zur Demo ginge. Du willst arbeiten. Da setzt du mich sowieso immer vor die Tür.“

„Ich habe dir das erklärt. Ich kann nicht konzentriert arbeiten, wenn jemand anderer im Zimmer herumhängt und die Internationale summt.“

„He, heute ist der 1. Mai, der Kampftag der Arbeiterklasse. Als Linker kann man da vielleicht Relevanteres tun als die reaktionären Bücher katholischer Faschisten lesen.“

Schon damals ärgerte es mich, dieses Agitprop-Vokabular: fortschrittlich, reaktionär, faschistisch, anti-kapitalistisch, bürgerlich. Und wie unangenehm mich Doras Gesichtsausdruck berührte, wenn sie dieses Vokabular mit ihrem Wir-sind-das-Bauvolk-der-kommenden-Welt-Habitus hinausposaunte. Ich wurde deutlicher. Ich wurde lauter.

„Weißt du, was ich glaube, Dora, es geht dir nicht um Politik. Du möchtest, dass ich zur Demo gehe, weil auch Konrad dort ist. Das gibt dir doch sicher ein ziemlich geiles Gefühl, wenn der offizielle Freund und der heimliche Liebhaber gleichzeitig um dich herumschwirren. Tut deiner Eitelkeit gut, versteh ich ja, aber stilisiere das bitte nicht zur großen politischen Mission.“

So, das war es vorläufig. Dora verschwand im Badezimmer und nach wenigen Minuten verließ sie kommentarlos meine Wohnung. Ich hielt sie nicht auf und blieb zurück mit dem Gefühl, dass soeben eine bizarre Affäre zu Ende gegangen war. Ich war erleichtert. Dora war schön, Dora war sinnlich, Dora konnte eine anregende Gesprächspartnerin sein, aber sie war eine Naturgewalt, oft von Affekten gesteuert, irrational, schwer berechenbar, schwankend in ihren Stimmungen und gnadenlos, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollte. In mir hatte sie starke, aber widersprüchliche Gefühle ausgelöst. Bewunderung und Abneigung, Leidenschaft und Ernüchterung, starkes Begehren, aber ebenso starke Fluchtreflexe. Am Vorabend hatte ich – zugegeben, in etwas erregtem Zustand – noch an sie appelliert, ihre Beziehung mit Konrad endlich aufzugeben, sich endlich für mich zu entscheiden, und sie schien auf meine Seite zu kippen, als ich ihr Konrad anschaulich als den schilderte, der er in den Augen vieler war: der rote Ritter von der traurigen Gestalt. Diese Spottformel hatte ich vom Genossen Wolfi Pohl-Steinitz übernommen. Dora schwieg dazu, lächelte, und wir liebten uns leidenschaftlich.

Das war vor acht Stunden gewesen, und jetzt war ich erleichtert, dass Dora aus dem Haus war, vielleicht für immer. Heiß und kalt, Himmel und Hölle, das war Dora. Ich wurde mir durch sie zum Rätsel, und das mag ich gar nicht. Ich ging in die Küche und nahm ein kleines Frühstück zu mir. Der heiße Kaffee machte mich fröhlich, ich legte die Schallplatte mit den Brandenburgischen Konzerten auf und öffnete das Fenster. Ich war wieder bei mir und setzte mich an den Schreibtisch: die katholische Soziallehre im 19. Jahrhundert …

Bis zum frühen Nachmittag blieb ich in der heitersten Stimmung. Dann bekamen meine rundum guten Stunden eine ärgerliche Delle. Ich dachte an Dora, schob die Schreibmaschine beiseite und hörte Mozarts Klavierphantasie in d-Moll, was in dieser Situation unvorsichtig war. Ich hätte bei den Brandenburgischen Konzerten bleiben sollen. Ich rauchte und versuchte mich sogar an einem Sonett, denn ich vermisste Dora, aber ich kam über den ersten Vers nicht hinaus: Nimm meine Liebe mit in deine Nacht … Das war sehr schön gesagt, aber ein solistischer Vers ergibt kein Quartett, und ein ganzes Sonett schon gar nicht. Ich versuchte weiterzuarbeiten, fand aber an den Schriften des Freiherrn von Vogelsang kein Interesse mehr. Ich verließ meine Wohnung, aß im Bahnhofsrestaurant einen Toast, trank ein Bier, vermisste Dora immer noch und vermisste sie immer heftiger und sehnte mich nach ihren Küssen und ihrem Körper und trank einen Schnaps und verfluchte die KPÖ und ihre beschissene Mai-Demonstration!

Irgendwann zwischen zweiundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr stand Dora vor der Tür. Ich wollte sie umarmen, mich mit ihr versöhnen und dorthin zurückfinden, wo wir gestern Abend zueinander gefunden hatten. Sie ließ meine Annäherung zu, erwiderte sie aber nicht.

„Ich möchte dir etwas erklären“, sagte sie. Wir saßen einander gegenüber, jeder nippte am Wein, als wäre Vorsicht anzuraten.

„Ich glaube, das war heute einer der schönsten Tage in meinem Leben“, sagte Dora.

„Kann sein, du bist aber erst einundzwanzig“, antwortete ich und bemühte mich um wohlwollende Überlegenheit. „Da kann noch viel Schönes kommen.“

„Du bist dir hoffentlich bewusst, welche Gemeinheiten du mir heute zugemutet hast. Meine Wut über deine machistische Äußerung ist aber längst verflogen, sie war sofort weg, als ich Konrad wiedergesehen habe.“

Konrad! Dora zeichnete ein berührendes Bild, ein „sozialistisches Andachtsbild“, wie ich anmerkte: Ihr Konrad im Gespräch mit seinen Genossinnen und Genossen, so fröhlich, so positiv, so erfüllt von revolutionärem Optimismus. Und dann der Demonstrationszug über den Mirabellplatz unter roten Fahnen, begleitet von Revolutionsliedern und zukunftsweisenden Parolen: Hoch die internationale Solidarität! Die Reden bei der Schlusskundgebung hätten allen so viel Mut gemacht. „Allen, die reinen Herzens sind“, warf ich ein, aber Dora ignorierte meine Fußnote. Nach der Kundgebung hätten einige Jungkommunisten beschlos sen, diesen schönen Tag mit einem Ausflug fortzusetzen. Dieser lange Marsch salzachaufwärts habe im Gasthof Überfuhr geendet, wo die junge Garde des Proletariats einen Schweinsbraten eingenommen habe, „das kanonisierte Mittagsmahl der österreichischen Arbeiterklasse“, wie ich lachend hinzufügte. Drei Stunden lang habe man diskutiert, „irrsinnig engagiert“ diskutiert, wie Dora formulierte, und man habe ziemlich gute Strategien entwickelt. Konrad sei so glücklich gewesen, sagte Dora, und Dora selbst sei auch sehr glücklich gewesen.

„Wie viel hat er getrunken?“, fragte ich, „seine Glückskurve steigt bis zum vierten Bier, geht dann in Sentimentalität über, mutiert während der fünften Halbe zur Weinerlichkeit und kann nach der sechsten in lautstarke Aggression umschlagen, wenn irgendein Untermensch es wagt, den Endsieg des Weltkommunismus in Zweifel zu ziehen.“

„Mein Gott, bist du zynisch, Hannes!“

„Humor war noch nie die Stärke der Ideologen.“

„Du kannst dich für nichts begeistern. Darum musst du alles heruntermachen. Ich verstehe gar nicht, wie ich mich auf dich einlassen konnte. Ich habe heute ganz klar gefühlt …“

„Man kann nicht klar fühlen, denken kann man klar.“

„Ich habe klar gefühlt, dass ich zu Konrad gehöre.“

„So niedrig setzt du deinen Wert an?“

„Wir haben dieselben Ideale, dieselbe Utopie. Konrad ist ein wertvoller, weitherziger, liebenswerter Mensch. Du hast deinen Intellekt und deine Sprache. Das war irgendwie faszinierend für mich, aber du bist nicht liebesfähig, Hannes. Ich bin froh, dass ich das jetzt klar erkannt habe.“

„Klar gefühlt.“

Damit war das Wesentliche gesagt. Dora stand so abrupt auf, dass sie das Weinglas umwarf. „Tut mir leid“, sagte sie nervös. „Schon gut“, murmelte ich. Sie ging grußlos. Ich stand ratlos im atmosphärischen Hohl raum, den Doras Abgang hinterlassen hatte. Die Uhr zeigte 23.23.

2

Ich stamme aus einer Kleinstadt in Oberösterreich. Meine Kindheit war so belanglos wie die Stadtgeschichte. Das sage ich nicht in kritischer Absicht, sondern aus Dankbarkeit. Die belanglosen Kindheiten, unauffällig und ereignisarm, sind die gesündesten. Meine Eltern waren einfache Menschen, wenn man einräumt, dass es überhaupt einfache Menschen gibt, denn nur der oberflächliche Beobachter kann darüber hinwegsehen, dass der Mensch als solcher eine komplizierte Hervorbringung des Lebens ist, durchaus würdig, von einer Gottheit geschaffen worden zu sein. Man muss nicht Medizin studiert haben, um das Funktionsnetz unserer Physis bewundernswert zu finden. Die Lunge, die Nieren, das Herz, der Stoffwechsel, der Blutkreislauf – und vor allem: das Gehirn, das ist doch eine ungeheure Attraktion. Denke ich mittels meines Gehirns über mein Gehirn nach, bin ich fasziniert. Es befähigt mich Tag für Tag dazu, beim Läuten des Weckers aufzustehen, zu duschen, den Elektroherd zu bedienen, einige Lebensmittel aus dem Kühlschrank zu holen, Tee zu kochen, meine Wohnung in die richtige Richtung zu verlassen und pünktlich an meinem Arbeitsplatz im Landesarchiv zu erscheinen. Und wenn ich bedenke, dass solche oder zumindest ähnliche Gehirne wie meines die Warmwasserdusche, den Elektroherd, den Kühlschrank und die Verarbeitung der Teepflanze erdacht haben, komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Aus den täglichen Nachrichten erfahren wir meistens, dass etwas nicht funktioniert. Ein Geisterfahrer ist knapp vor Mitternacht betrunken gegen einen ihm mit überhöhter Geschwindigkeit entgegenbrausenden Sattelschlepper gerast und daran umgehend verstorben. Das ist zweifellos bedauerlich, aber für die Erfolgsbilanz unseres Gehirns ist es statistisch unerheblich. Man müsste täglich in der Zeitung lesen, dass Tausende Autofahrer völlig korrekt ihre Fahrzeuge lenken und ebenso nüchtern wie unversehrt an ihrem Bestimmungsort ankommen. Wöchentlich lesen wir, dass das Budgetdefizit steigt. Man sollte lieber berichten, dass Hunderttausende Pensionisten pünktlich ihre Pensionen erhalten, dass die überwältigende Mehrheit der Frauen abends ihre Wohnungen erreicht, ohne vergewaltigt oder ausgeraubt worden zu sein. Wieder kein Raubüberfall im Wasserwald! Das wäre eine Schlagzeile, die der Realität sehr nahe kommt und obendrein ein optimistisches Menschenbild fördert. Würde ein Außerirdischer erstmals unseren Planeten betreten und nicht mit dem Alltag der Menschen, sondern mit den Medienberichten konfrontiert werden, müsste er den Eindruck gewinnen, das Leben der Erdbewohner bestünde aus einer verheerenden Kette von Pannen, Unglücksfällen, Fehlentscheidungen und moralischen Debakeln. Tatsächlich ist aber das Gegenteil der Fall. Tatsächlich funktioniert sehr viel sehr gut, sofern man nicht absurde Vollkommenheitsansprüche stellt. Die Vorstellung von Vollkommenheit ist eine problematische Hervorbringung unseres Gehirns, da sie in der Natur keine Entsprechung findet, noch weniger in der Gesellschaft. Die zyklische Abfolge der Jahreszeiten ist etwas sehr Schönes, aber ist sie vollkommen? Sie ist weder vollkommen noch unvollkommen, sie ist, was sie ist. Die Natur kennt weder das Vollkommene noch das Dürftige, sie kennt nur das Faktische, der Mensch hingegen urteilt, unterscheidet, wertet und richtet. Vielleicht gibt es ein Dutzend Gedichte, die wir als vollkommen bezeichnen würden, aber nach welchen Maßstäben? Vielleicht ist der zweite Satz aus Mozarts Klarinettenkonzert vollkommene Musik. Vielleicht ist der Flachbildschirm ein Beispiel vollkommener Technik. Vielleicht hat aber die Menschheit in hundert Jahren ganz andere Vorstellungen von Vollkommenheit. Und was wäre eine vollkommene Liebe? Selbstaufgabe für andere? Liebestod? Kreuzestod? Oder doch eher die schlichte, aber wirksame Gewohnheit der Natur, Weib und Mann zusammenzuführen, um so die Fortpflanzung zu ermöglichen? Ob Kunst, Liebe oder Politik, ich plädiere dafür, die Idee der Vollkommenheit aufzugeben. Tun wir das Mögliche und messen wir das Leben nicht an utopischen Flausen. Sie machen unzufrieden, ungerecht und im Extremfall gewalttätig. Kein Wunder, dass wir oft so strapaziert aussehen.

Wenn man, was ich hier zum Thema Komplexität und Vollkommenheit ausgeführt habe, bedenkt, hat der Satz Meine Eltern waren einfache Menschen etwas grob Vereinfachendes. Dennoch glaube ich, dass ich diesen Satz verantworten kann. Meine Eltern nahmen keine herausragenden Positionen in der Gesellschaft ein, sieht man davon ab, dass Vater achtzehn Jahre lang Kassier des Schrebergartenvereins war; sie bewohnten eine Gemeindebauwohnung von achtundsechzig Quadratmetern, waren nur in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld bekannt, verfügten bestenfalls über ein durchschnittliches Einkommen, fielen nicht durch Verbrechen auf und produzierten, soweit ich das beurteilen kann, sehr wenig utopischen Überschuss. Sie gingen ihrer Arbeit nach, nahmen ihre Mahlzeiten zu sich, hatten vermutlich einen gesunden Schlaf, fuhren mit uns Kindern jedes Jahr für eine Woche auf Urlaub in das Salzkammergut und wohnten dort in einem Ferien haus, das Vorkriegsstandard hatte und von jenem See, an dem es laut Werbeprospekt lag, ungefähr zehn Kilometer entfernt war. Um zum öffentlichen Badestrand zu kommen, mussten wir täglich ins Auto steigen. Ach ja, das Auto, es war das einzige Ding, an dem sich die utopischen Phantasien meines Vaters entzünden konnten. Gemessen an den pekuniären Verhältnissen eines kleinen Beamten fuhr Vater ein großes Auto, einen Ford, den er alle fünf Jahre gegen einen neuen eintauschte. Ich vermute, dass der eiserne Sparwille meiner Eltern etwas mit der Auto-Leidenschaft meines Vaters zu tun hatte. Die Mutter, die selbst keinen Führerschein hatte, tolerierte diese kostspielige Schrulle, möglicherweise auch deshalb, weil sie die einzige Spielart gelebter Romantik blieb, von der mein Vater heimgesucht wurde. Ansonsten war er bescheiden, zuverlässig und – soweit ich das beurteilen kann – treu. Er trank zum Abendessen ein Märzenbier, eines, nicht mehr und nicht weniger. Dann saß er vor dem Fernsehgerät, vor dem auch Mutter saß, die Heimatfilme und Monarchie-Kitsch aller Art bevorzugte. Vater überließ ihr die Wahl des Programms, denn er schlief ohnedies gegen neun Uhr vor laufendem Gerät ein. So hatte ein jedes Spielfeld und Obsession: Vater den glänzenden Ford, Mutter den strahlenden Förster vom Silberwald. Ich idealisiere die Ehe meiner Eltern nicht, zweifellos fehlten Ereignisse und Abwechslung, aber ich bin auch weit entfernt davon, mich über diesen kommoden partnerschaftlichen Ausgleich lustig zu machen. Er funktionierte. Als Vater starb, hielt diese Ehe bereits seit dreiundvierzig Jahren. Romantiker bringen es oft nur auf wenige Monate.

Zu meiner um drei Jahre älteren Schwester Monika hatte ich bis vor kurzem nur wenig Kontakt. Sie ist die Witwe eines Landarztes, Mutter von vier erwachsenen Kindern und Großmutter von drei Enkelkindern. In ihrer Jugend galt Monika als schwierig. Die Hauptschule brachte sie eher schlecht als recht hinter sich. Wenig Interesse zeigte sie an einer beruflichen Karriere, deutlich mehr an der männlichen Jugend. Als Siebzehnjährige verliebte sie sich in einen fünfundzwanzigjährigen Popmusiker. Gegen den verzweifelten, aber zu kraftlosen Widerstand meiner Eltern gab sie ihre Anstellung als Schreibkraft auf und folgte ihrem Bandleader nach Wien. Über die folgenden sechzehn Monate in Wien schwieg Monika, als sie kurz vor ihrem neunzehnten Geburtstag in die Normalität der Provinz zurückkehrte. Während einer Urlaubsreise nach Südtirol lernte sie einen aus unserer Gegend stammenden Medizinstudenten kennen. Eine Urlaubsaffäre? Nein. Die Beziehung hielt, obwohl Monika und Kurt einander nur zum Wochenende und während seiner Ferien sahen. Zwei Jahre später schloss Kurt Schusterbauer sein Studium ab, nach einem weiteren Jahr heirateten er und Monika, kurz darauf übernahm er die Arztpraxis seines Vaters, und ein Jahr später wurde ich zum ersten Mal Onkel, ohne diese Rolle erkennbar zu spielen. Maximilian wurde geboren. In den nächsten zehn Jahren folgten Sandra und Robert. 1988 brachte die zweite Tochter Maria den Kindersegen zum Erliegen. Monika war siebenunddreißig. An jedem ersten Sonntag im Monat kamen Eltern und Schwiegereltern zum Mittagessen zum Doktor Schuster bauer und seiner Frau und blieben bis zum späten Nachmittag. Ich war auch eingeladen, kam im ersten Jahr noch jedes zweite Mal, dann nur mehr zweimal im Jahr – und irgendwann gar nicht mehr.

Meine Schullaufbahn im Bezirksgymnasium verlief nicht glanzvoll, aber problemlos. Wäre es nach dem Willen meiner Eltern gegangen, hätte ich eine Pädagogische Akademie besucht, um mich zum Lehrer an einer Volks- oder Hauptschule ausbilden zu lassen. Ich selbst hatte von meiner beruflichen Zukunft nur vage Bilder, aber eines wusste ich: Zum Lehrberuf taugte ich nicht. Mir fehlte gänzlich, was man in aller Unschuld pädagogischen Eros nennt. Ich hatte nie das Verlangen, Kindern das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen oder einer jährlich wechselnden Schülerpopulation immer wieder dieselben Grundlagen der Physik zu erklären. Kinder sind unumgänglich, wenn man das Projekt Menschheit weiterverfolgen will, aber ich selbst wollte nie etwas mit ihnen zu tun haben. Was mich interessierte, war die Physik als Disziplin, die Geschichte als Disziplin, die Philosophie, die Philologie. Ich wollte vieles erfahren und lernen, aber ich wollte es nicht im pädagogisch zurechtgestutzten Kleinformat an desinteressierte Halbwüchsige weiterreichen. Und noch weniger als die didaktische Aufbereitung von Wissen interessierte mich die allgemeine Pädagogik, weder als Theorie noch als Praxis. Die Vorstellung eines Wandertags mit Dreizehnjährigen ängstigte mich, und das Bild eines Schulleiters, der bei einer Konferenz von einem sogenannten engagierten Kollegium die Hausordnung diskutierten lässt, verursacht bis heute in mir eine kaum erklärbare Nervosität, ja sogar Ansätze von Übelkeit. Um meine Eltern zu beruhigen, entschied ich mich für die Geschichte und die Philosophie. Bis zum Abschluss meines Studiums lebten sie in der Einbildung, es handle sich um ein Lehramtsstudium, das mich für die Unterrichtstätigkeit an höheren Schulen qualifizieren sollte. Tatsächlich konzentrierte ich mich von Anfang an auf die wissenschaftliche Laufbahn.

Die Ferien nach der Matura waren die längsten meines Lebens und, gemessen an den Möglichkeiten, wahrscheinlich auch die glücklichsten. Wir hatten brav gelernt und es hatte sich gelohnt. Wir waren fröhlich und vor uns lag das neue Leben. Vorher genossen wir noch diesen Sommer zwischen Schulabschluss und Studienbeginn – das schöne Niemandsland der Zeit, wo das Bestimmt-Sein Pause macht und man so stark, wie nie mehr sonst, erleben kann, was Freiheit ist. Mit drei Freunden campierte ich zwei Wochen lang an einem See, wo die Sonnentage und Sternennächte konturenlos ineinandergriffen mit ihrem Gemenge aus Kartenspiel und Bootsfahrten und Schwimmen und Bier trinken und Smart Export rauchen und Flirts in einer Strandbar mit Musik. Mehr als der eine oder andere Kuss ereignete sich für uns nicht, sieht man vom weizenblonden, langen Dieter ab, den eine deutsche Urlauberin mit in den Wohnwagen nahm, wenn ihr kleiner, dicker Gatte segeln ging. Wir erwarteten mit Spannung Dieters Berichte und beneideten ihn vielleicht doch ein wenig, obwohl uns diese etwa vierzigjährige Frau mit Oberlippenbart und auffallend breitem Gesäß nicht gar so begehrenswert erschien. Im August fuhren wir zweimal zu Bergtouren in die Alpen, die Freunde fuhren noch ein drittes Mal, ich hatte aber ein für alle Mal genug von diesem anstrengenden Freizeitvergnügen. Viele Menschen finden die Berge schön, manche besteigen sie sogar und sprechen dann von majestätischen Gipfeln und einer Naturgewalt, die uns ehrfürchtig und demütig mache, weil sie den Menschen ganz klein erscheinen lasse. Diese Empfindungen teile ich nicht. Eine bizarre Form natürlicher Schönheit spreche ich den Alpen nicht ab, wenn ich sie von oben betrachte, aber ich fühle mich in einem Gebirgstal nicht wohl, ich fühle mich wie abgeschlossen von der Welt und neige dort zum Trübsinn.

So gingen sie hin, die glücklichsten Sommertage meines Lebens, und dann kam der September und wenige Tage vor Studienbeginn wusste ich noch nicht, wo ich wohnen würde. Ich hatte mich in drei Studentenheimen angemeldet und stand auf drei Wartelisten. Ich wurde nervös, und als ich zufällig den roten Wolfi traf, einen ehemaligen Schulkollegen aus der Parallelklasse, erzählte ich ihm von meinen Wohnungssorgen. Wolfi, zu dem ich während meiner Schulzeit wenig Kontakt gehabt hatte, beruhigte mich und lud mich ein, vorübergehend in seine Wohngemeinschaft zu ziehen. Eine Matratze zum Schlafen fände sich dort allemal. Ich war erleichtert und drei Tage später hob ich eine mit dem Notwendigsten gefüllte, nougatbraune Reisetasche in Vaters neuen Ford. Wolfi hatte mir erklärt, wie ich in die Wohnung käme, wenn er selbst und seine beiden Mitbewohner nicht zuhause seien. Vater und ich standen im südlichen Salzburg vor einem mehrgeschossigen Wohnblock. Erst nach langem Suchen fand ich den Klingelknopf. In sehr blasser Handschrift standen da die Worte La Commune. Mein Vater starrte irritiert auf die Schrift. „Komischer Familienname“, sagte er und schüttelte zum ersten Mal den Kopf. „Ja, schon“, sagte ich, weil es mir in dieser Situation zu umständlich erschien, ihm die Bedeutung zu erklären. Ich klingelte zweimal – keine Reaktion. Wenn niemand zuhause ist, hatte Wolfi gesagt, dann läute irgendwo, damit du ins Haus kommst. Die Wohnung ist im Erdgeschoss, auf dem Türschild steht Michail Bakunin. Die Tür ist immer offen. Vater und ich kamen ins Haus und standen bald vor der gesuchten Wohnungstür. Tatsächlich: Michail Bakunin.

„Da wohnt ja nicht dieser Lakomül“, sagte Vater.

„Nein, aber das ist schon richtig.“

„Warum schreibt der einen anderen Namen an die Tür?“

„Weiß ich nicht, aber es ist richtig.“

„Und wie kommen wir jetzt hinein?“

„Der Wolfi hat gesagt, die Tür ist offen.“

„Wieso ist die offen, wenn niemand daheim ist?“

Vater schüttelte zum zweiten Mal den Kopf. Und dann standen wir in einer Zweizimmerwohnung mit Kochnische und Bad, die allem widersprach, was Vater für normales Wohnen hielt. Anstelle von üblichem Wohnzimmermobiliar gab es einige Matratzen, die ungeordnet neben- und übereinanderlagen, darauf die eine oder andere zerwühlte Decke und zwei große Pölster mit Blümchenmuster und Spuren von eingetrocknetem Rotwein oder Kaffee oder beidem. In der Zimmermitte wackelte ein Tischchen, auf dem ein halb geleerter Plastikkübel mit billiger Marillenmarmelade stand, daneben, unbedeckt und unverpackt, ein Stück Butter auf Zeitungspapier, das in der Nachmittagssonne glänzte. Im Nebenraum lag auch eine Matratze. Ein unaufgeräumter Schreibtisch, dem ein Bein fehlte, wurde durch zwei Bierkisten im Gleichgewicht gehalten. Drei hohe Regale waren zur Hälfte mit Büchern gefüllt, das Spülbecken zur Gänze mit gebrauchtem Geschirr. An den Wänden hingen einige rote und schwarze Plakate, Che Guevara, Mao, Marx und Engels. Die Tür zum Badezimmer öffnete ich vorsichtshalber nicht. Inmitten dieser unbeschwerten Anarchie nahm sich mein Vater im gebügelten Trachtenanzug etwas fremd aus, und er fühlte sich auch so. Vater schüttelte zum dritten Mal den Kopf.

„Da bleibst du aber nicht“, sagte er. „Das sind ja Wilde, die hier hausen, oder Spinner.“

„Ich kenne nur den Wolfi.“

„Der hat eh keinen guten Ruf.“

„Ich finde ihn ganz nett.“

„Das schaut ja aus wie eine kommunistische

Haschhöhle. Willst du da wirklich bleiben, Hansi?“

„Ach ja, ist ja nur für ein paar Tage.“

Als Vater die Wohngemeinschaft La Commune vulgo Michail Bakunin verließ, schüttelte er zum vierten und letzten Mal den Kopf. Ich dankte ihm für die Fahrt, die er auf sich genommen hatte, und verabschiedete mich schnell. Als der Ford um die Ecke bog, kämpften widersprüchliche Gefühle in mir: die Lust auf diese neue Welt, was immer sie bringen würde, und die Unsicherheit – vielleicht hätte ich doch mit dem Vater zurückfahren sollen, heim in das Innviertel und seine bürgerlichen Wohnverhältnisse.

Bis zum späten Abend blieb ich allein. Ich aß die beiden Wurstsemmeln, die mir meine Mutter mitgegeben hatte, und stöberte in den Bücherregalen. Die meisten Autorennamen kannte ich nicht. Ein Buch, auf dem der Name Michail Bakunin stand, nahm ich aus dem Regal. Hatte der Wohnungsmieter Bücher veröffentlicht? Ich las darin und schämte mich vor mir selbst. Michail Bakunin war ein längst verstorbener russischer Anarchist. Mein Gott, ich hatte noch so viel zu lernen …

Und dann kam ein zarter Junge in die Wohnung, etwas jünger als ich, blasses, aber hübsches Milchgesicht, dünner Ziegenbart, langes, glattes Haar, Nickelbrille, Jeans und Ami-Jacke. Ich stand ihm unsicher gegenüber in meiner Cordhose und meinem karierten Hemd mit Kragen. Er gab mir die Hand, die sich verschwitzt anfühlte, mit unangenehm leichtem Druck. „Ich bin der Heini“, sagte er mit sanfter Stimme. „Hans“, sagte ich und bemühte mich um Unbeschwertheit. Das war alles. Heini ging ins Bad, ließ die Tür offen, pinkelte, kam zurück, bemerkte Bakunins Werkauswahl in meiner Hand und sagte: „Aha, bist ein Genosse!“ Ich lächelte unverbindlich. Heini holte aus der Küche ein Stück Brot, roch an der Butter, die auf dem Tischchen stand, stellte sie mit angewidertem Gesichtsausdruck zurück, fuhr mit dem Buttermesser tief in den Marmeladekübel, bestrich sein Brot, ging zum Plattenspieler, legte eine LP von den Rolling Stones auf, verschlang das Marme ladebrot, drehte eine Zigarette, sackte auf eine Matratze, rauchte, schloss die Augen, hörte seine Musik, sang manchmal mit. Ich fühlte mich orientierungslos und tat so, als vertiefte ich mich in Bakunins Schriften. Glück licher weise tauchte Wolfi auf, bevor die LP zu Ende war. Er hatte Bier mitgebracht.

„Der Hans ist ein Kumpel von daheim“, sagte er zu Heini. „Der wohnt bei uns, bis er ein Zimmer im Heim kriegt. Ist Walter nicht da?“

„Nein, den hab ich schon drei Tage nicht mehr gesehen.“

„Das ist so was von fein in einer WG“, sagte Wolfi zu mir, „dass du kommen und gehen kannst, wann immer du willst.“

„Ja, toll“, sagte ich und war vom Gegenteil überzeugt.

Dieser Heini hatte also nicht gewusst, wer ich bin und warum ich in seiner Wohnung herumstehe. Er hatte mich nicht nach meinem Namen gefragt und nicht nach dem Grund meines Hierseins. Ich war natürlich davon ausgegangen, dass Wolfi seine Mitbewohner auf meinen Besuch vorbereitet, dass er ihr Einverständnis eingeholt hatte. Konnte hier immer jeder hereinkommen und sein Nachtlager aufschlagen? Musste da nicht manchmal wegen Überfüllung geschlossen werden? Kurz darauf war es fast so weit. Dieser Walter kam nach drei Tagen Abwesenheit nun doch wieder einmal nachhause, er brachte ein Mädchen und eine Flasche Gin mit.

Kurz nach Mitternacht schien der Abend erst anzufangen. Wir ließen die Gin-Flasche kreisen, Walter und Wolfi redeten ununterbrochen, Heini lieferte manchmal ein Stichwort, das Mädchen schlief irgendwann in Walters Schoß ein, ich schwieg und schämte mich, denn ich hätte auch gerne etwas zum Gespräch beigetragen, aber die Menschen, über die geredet wurde, waren mir unbekannt, die Themen waren mir fremd. Nach einer Stunde wurde ich sehr müde, aber Walter und Wolfi dachten noch lange nicht ans Schlafen. Erst gegen drei Uhr verebbte ihr Redefluss. „Ich schlaf mit der Irmi im Nebenzimmer“, sagte Walter. Wolfi lag schon auf seiner Matratze. Für den betrunkenen Heini und mich blieben drei kleine Matratzen, die wir zu einer sehr schmalen Doppelliege zusammenschoben. Ich war unglücklich, so richtig unglücklich und verfluchte den Augenblick, in dem ich diese Wohnung betreten hatte. Stünden doch jetzt mein Vater und sein frisch gewaschener Ford vor dem Haus!

Der zarte Heini entkleidete sich und schlüpfte nackt unter die Decke. Ich hatte einen frisch gewaschenen Pyjama in meiner Tasche, wagte aber nicht, ihn auszupacken. Das hätte nicht zum Stil des Hauses gepasst. Die Unterhose behielt ich an. Endlich, gegen halb vier, löschte Wolfi das Licht. Schon kurz darauf hörte ich aus dem Nebenzimmer die Beischlafgeräusche von Irmi und Walter. Und dann spürte ich Heinis Hand, die meinen Rücken streichelte. Ich fühlte mich unglücklich und wehrlos. Natürlich dachte ich an Flucht, aber wohin. Wohin sollte ich fliehen um diese Zeit in einer fremden Stadt? In meiner Verzweiflung stellte ich mich tot. Unbeweglich lag ich im Zigarettenqualm der Wohngemeinschaft La Com mune vulgo Michail Bakunin und war den Zudring lichkeiten eines betrunkenen, schwulen Gymnasiasten ausgeliefert. Der Totstellreflex wirkte aber. Heini zog seine Hand von mir ab und schlief bald ein. Ich hörte sein leises, regelmäßiges Schnarchen. Irgendwie musste ich diese Stunden überstehen. Kurz nach sechs wälzte ich mich vorsichtig, um nur ja niemanden zu wecken, von der Matratze, zog mich nahezu geräuschlos an, griff nach meiner Tasche und verließ unbemerkt das Haus. Ich war ungewaschen und hatte meine Zähne nicht geputzt. Mein Mundinnenraum, ein fragwürdiges Gemenge aus Gin-Geschmack und Zigarettenrauch, widerte mich an. Da ich mich mit den Buslinien nicht auskannte, ging ich zu Fuß zum Bahnhof. Der Fußmarsch tat mir gut, ich wurde wieder ich selbst und stieg in den nächsten Zug Richtung Innviertel. Als ich nachhause kam, liebte ich meine Eltern, ihre gebügelte Trachtenkleidung und sogar den Schrebergarten.

3

Dora war es, die zuerst anrief, gleich am Tag nach unserem unerwarteten Wiedersehen. Und weil auch ich ungeduldig war, ungeduldig auf eine mir unverständliche Weise, schlug ich ein gemeinsames Abendessen vor, noch heute, wenn’s ginge. Ja, heute. Dora war sofort einverstanden, und als wir wenige Stunden später, aus entgegengesetzten Richtungen kommend, in derselben Minute bei der von ihr vorgeschlagenen Osteria eintrafen, umarmten wir einander so selbstverständlich, als lägen zwischen unserer letzten Umarmung und dieser nicht mehr als dreißig Jahre, sondern weniger als drei Tage. Dora fühlte sich gut an. Sie war, wie es mir schien, etwas kräftiger als damals, aus ihrem nach wie vor braunen Haar strömte ein Duft wie von frisch angeschnittenen Äpfeln. Ihre tiefbraunen Augen leuchteten fröhlich, sie trug ein eng anliegendes, weißes Shirt, und ich übersah nicht, dass ihre Brustwarzen während unserer Umarmung hart geworden waren. Darüber freute ich mich.