Wolfszone - Christian Endres - E-Book

Wolfszone E-Book

Christian Endres

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Beschreibung

Deutschland in der nahen Zukunft. Ein heikler Auftrag führt den Berliner Privatdetektiv Joe Denzinger in die brandenburgische Provinz. Direkt hinter dem Dorf Dölmow hat die Bundeswehr einen Wald abgeriegelt, in dem sich ein Rudel Wölfe durch Nanobots und künstliche Intelligenz massiv verändert hat. Und genau hier soll Joe die Erbin eines mächtigen Rüstungsunternehmens finden, die seit Tagen spurlos verschwunden ist. Zwischen Cyborg-Wölfen, Soldaten, Gangstern, Umwelt-Aktivisten und Einheimischen beginnt für Joe eine atemlose Jagd mit ungewissem Ausgang …

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Seitenzahl: 480

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Das Buch

Deutschland in der nahen Zukunft. Pandemien und Extremwetter gehören zum Alltag. Ein heikler Auftrag führt den Berliner Privatdetektiv Joe Denzinger in die brandenburgische Provinz. Nachdem Hightech-Müll aus einer Forschungseinrichtung illegal in einen Wald nahe der polnischen Grenze gekippt wurde, haben experimentelle Nanobots mit den Überwachungs-Implantaten der heimischen Wölfe interagiert und die Raubtiere in riesige Cyborgs verwandelt. Die Bundeswehr hat in der Nähe des Dorfes Dölmow eine Sperrzone um den Wald eingerichtet, Drohnen und Soldaten patrouillieren überall. Im Ort selbst tummeln sich Journalisten, Umweltaktivisten und Kriminelle. Und genau hierher führt Joes Spur. Denn er soll die Tochter von Sylvia Kraupen finden, der Chefin des mächtigsten Rüstungskonzerns in Europa, die seit Tagen spurlos verschwunden ist. Ist die Kraupen-Erbin in Dölmow abgetaucht, oder hat sie sich im Wald verirrt? Wurde sie gekidnappt? Zwischen Cyborg-Wölfen, Soldaten, Gangstern, Umwelt-Aktivisten und Einheimischen beginnt für Joe eine atemlose Jagd mit ungewissem Ausgang.

Der Autor

Christian Endres lebt als freier Autor in der Nähe von Würzburg. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten, Essays, Kritiken und Comic-Editorials. Seine Storys erscheinen regelmäßig in c’t-magazin für Computertechnik, Spektrum der Wissenschaft, phantastisch! und Exodus. Als Journalist schreibt er seit Jahren für den Tagesspiegel, Tip Berlin, Das Science Fiction Jahr, Geek!, diezukunft.de und viele mehr. Für seine Arbeit wurde er bereits mit dem Deutschen Phantastik Preis, dem Kurd Laßwitz Preis und dem Literaturpreis Klimazukünfte 2050 ausgezeichnet.

Mehr über Christian Endres und sein Werk erfahren Sie auf christianendres.de und auf

diezukunft.de

CHRISTIANENDRES

WOLFSZONE

Cyberthriller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 05/2024

Copyright © 2024 by Christian Endres

Copyright © dieser Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München,unter Verwendung von Motivenvon Shutterstock (molaruso und Great Bergens)

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-31656-3V002

diezukunft.de

Joe

Die Wölfe beherrschen Berlin.

Dafür bräuchte Joe keinen weiteren Beweis.

Gerade sind die mutierten Bestien sogar vor dem Brandenburger Tor zu sehen, wie sie schwer bewaffnete Menschen und spinnenbeinige Bots attackieren. Zwar nur in einem Video auf drei riesigen Bühnen-Bildschirmen, aber trotzdem.

Es ist heftig.

Massige Schemen aus Fell und Metall. Zurückgezogene Lefzen. Gelb leuchtende Augen. Lautes Knurren. Ratternde Gewehre und Geschütztürme. Sprühende Funken. Zorniges Heulen. Brutales Reißen. Spritzendes Blut. Dichter Rauch. Verzweifelte, abrupt endende Schreie.

Heftig, wie gesagt.

Trotzdem ignoriert Joe das Video über den Angriff der Cyborg-Wölfe, das schon vor Monaten in der Sperrzone nahe der deutsch-polnischen Grenze aufgenommen wurde, in den Anfangstagen des Konflikts. Wahrscheinlich haben die Wolfsgegner das Bühnensystem der ProW@lf-Demo gehackt, um die Aufnahmen der Auswüchse dieser Symbiose von tierischem Instinkt und künstlicher Intelligenz abspielen zu können – und vermutlich gehen beide Parteien deswegen noch hasserfüllter aufeinander los.

Wie bei einem Derby.

Maximale Rudelbildung.

Die Berliner Polizei hat längst alle Kontrolle über das Geschehen verloren, da helfen auch die fliegenden Kameradrohnen nichts, die emsig Gesichter scannen, Personaldaten auslesen.

Joe, der mit seiner Kombination aus weißem Hemd, grauem Anzug und schwarzer Krawatte sowieso aus der bunten Menge heraussticht, hat dabei nur Augen für seine Beute. Gerade schiebt er eine Aktivistin im geblümten Sommerkleid und mit einer Cartoon-Wolf-Pappmaske zur Seite, nur um im nächsten Moment einen Typen mit Muskelshirt und Bandana vor Mund und Nase abzuwehren, der Joe an den Kragen will. Das Gerangel genügt beinahe, damit Joes Zielperson im allgemeinen Chaos verschwinden kann. Zum Glück fällt auch die modisch auf, dank eines ärmellosen roten Hoodies.

Als würde man Rotkäppchen verfolgen.

Eigentlich wäre die Idee, Joe nach der Hatz durch den Tiergarten im Gewimmel der Demo abzuhängen, gar nicht mal schlecht gewesen. Aber so, mit der Kapuze vor Augen, bleibt Joe dran, und schließlich schlägt er zu, als der Verfolgte von einem Knäuel aus gewaltbereiten Demonstrierenden und gepanzerten Polizeieinsatzkräften aufgehalten wird.

Ein harter, in der Menge kaum wahrzunehmender Magenschwinger, und die Jagd ist vorbei. Joe packt den sich krümmenden Marius, einen überraschend laufstarken Tech-Hehler um die dreißig, und zerrt ihn am Hoodie mit sich zum Rand des Pulks.

»Braucht ihr Hilfe?«, fragt eine bereitstehende Sanitäterin.

»Ich kümmer’ mich um ihn«, wiegelt Joe ab. »Helft lieber dem da.«

Mit dem Kinn deutet er auf einen weinenden, blutüberströmten Demonstranten, der direkt neben ihnen aus dem Gedränge stolpert.

Joe zieht Marius von der wölfischen Zerstörungswut auf den Bildschirmen sowie den wutentbrannten Menschen auf dem Pflaster fort, in Richtung Potsdamer Platz.

»Irrsinn«, murmelt Joe und meint damit keineswegs bloß die eskalierende Demo.

Sondern die ganze Situation.

Dass da in einem Wald am Arsch von Brandenburg Wölfe durch Nanobots und Elektroschrott mutiert sind. Dass die Bundeswehr eine Sperrzone um den gesamten Wald herum errichtet hat, samt eigenem Stützpunkt. Dass im Parlament schon bald über das weitere Vorgehen des Militärs abgestimmt wird. Dass die ganze Welt seit Monaten auf Deutschland schaut.

Während Joe im Grunde nur seinen Job erledigen will. Einen weiteren Ermittlungserfolg für die Ein-Mann-Detektei Joe Denzinger verbuchen möchte.

Dafür muss er Marius erst einmal abliefern, damit Joes Klienten den Mann zum Verbleib ihres gestohlenen 3-D-Drucker-Prototypen für Organtransplantationen befragen können.

Er verfrachtet Rotkäppchen in den Kofferraum seines silbernen Audis und macht sich auf den Weg. Eine Dreiviertelstunde später erreichen sie ein Parkhaus, das sie vor neugierigen Blicken ebenso schützt wie vor der knallenden Sonne, die Anfang Mai schon einen auf Hochsommer macht.

»Die werden mir wehtun, Mann!«, kreischt Marius, als Joe die Heckklappe öffnet, damit sein Auftraggeber Friedrich sowie drei andere Männer den Hehler aus Joes Wagen herauszerren können. Sie schleifen ihn fort. Eine schwere Stahltür fällt ins Schloss und schluckt Marius’ panische Schreie und sein Flehen.

Joe und Friedrich erledigen die Bezahlung von Smartphone zu Smartphone.

»Sie bringen ihn aber nicht um, oder?«, fragt Joe.

»Je früher er redet, desto weniger Schmerzen wird er haben«, antwortet Friedrich. Er ist einer der Erfinder des Druckers und wirkt eher wie ein Uniprofessor als ein Foltermeister.

Manchmal sind die Übergänge fließend.

»Danke«, sagt er nach der Transaktion. Früher, vor den Pandemien, hätten sie einander die Hand gegeben. »Damit haben Sie Leben gerettet. Und die Zukunft.«

»Stets zu Diensten.« Joe tippt sich mit zwei Fingern an die Schläfe und steigt wieder in seine Karre.

Erst jetzt fällt ihm das Graffiti an der Betonwand auf: ein stilisierter Cyborg-Wolfskopf.

»Nett«, kommentiert Joe, schnallt sich an und startet den Elektromotor. Gerade als er losfahren will, um sich seinen traditionellen Veggie-Siegesdöner zu holen, vibriert sein Smartphone.

Unbekannte Nummer.

Er geht ran und meldet sich knapp.

»Guten Tag, Herr Denzinger.« Die Stimme einer Frau, kühl und mächtig, allein dadurch ziemlich sexy, wie Joe gestehen muss. »Hier spricht Sylvia Kraupen.«

»Klar«, sagt er sarkastisch und fragt sich, wer ihn da verarschen will und wieso.

Als ob Deutschlands reichste Waffen- und Drohnenfabrikantin, deren Name im hitzigen Diskurs um die Sperrzone und die Abstimmung zurzeit ständig fällt, ausgerechnet ihn anrufen würde.

Um dann auch noch so etwas zu sagen: »Ich habe einen Auftrag für Sie.«

»Klar«, erwidert Joe erneut.

Sein Sarkasmus kommt nicht an, oder wird einfach ignoriert.

»Ich erwarte Sie um vier Uhr heute Nachmittag bei mir zu Hause in Potsdam.«

»So, so. Und bekomme ich Ihre Adresse, Frau Kraupen?«

»Wenn Sie so gut sind, wie man sagt, finden Sie die auch selbst heraus.«

Womit das Gespräch beendet ist.

Verärgert wischt Joe über sein Smartphone – er hat ein paar Apps, mit denen er unterdrückte Nummern zurückverfolgen kann.

Diesmal klappt das jedoch nicht.

Der Anruf ist nirgends protokolliert.

Als hätte es ihn nie gegeben.

Das ist der Moment, in dem Joe begreift, dass das womöglich doch kein schlechter Scherz gewesen ist.

Bleibt natürlich noch immer die Frage, was die Fürstin der Drohnen von ihm wollen könnte.

Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.

Zurück in seiner Wohnung in Neukölln, duscht er hastig im Wassersparintervall, zieht frische Sachen an. Die Datenbankabfrage bringt ihn nicht weiter, also kontaktiert er eine Maklerin, die ihm einen Gefallen schuldet, und zwanzig Minuten später hat er eine Adresse in Potsdam.

Auf seinem Weg durch Berlin fährt Joe an ein paar leuchtenden Werbetafeln mit dem Konterfei von Sylvia Kraupen vorbei, das diese Woche die Titelseite des Spiegel ziert.

Sehr passend.

Denn wenn der Krieg gegen die Wölfe ein Gesicht hat, dann das von Sylvia Kraupen. Immerhin produziert ihr Rüstungsunternehmen die meisten der Gerätschaften, die von der Bundeswehr gerade in Brandenburg eingesetzt werden.

Keine Frage: Kraupen ist eine der reichsten und mächtigsten Frauen des Landes, der Welt. Joe hätte bis zu ihrem mysteriösen Anruf deshalb nie und nimmer erwartet, dass sie ausgerechnet ihn zu sich bestellen würde. Und das nicht über einen Assistenten oder eine Assistentin, wohlgemerkt, und auch nicht in die Firmenzentrale, sondern in ihre Villa.

Als Joe das feudale Anwesen durch die Autoscheibe erblickt, ist er gebührend beeindruckt.

Hinter einer hohen Mauer sowie einer massiven Sicherheitsschleuse mit allen möglichen Scannern erstreckt sich ein riesiger Park, der die Royals neidisch machen könnte. Es ist zu heiß für einen Nachmittag im Wonnemonat, wie schon seit Jahren, überall vertrocknet und verbrennt der Rasen, aber in der Gartenanlage der Kraupen-Residenz protzt das gewässerte Gras saftig und grün, gleiten sogar mehrere diensteifrige Mähroboter umher. Joe steuert seinen Audi über den Kiesweg, der sich zwischen den Grünflächen, dem Lavendel, den Buchsbaumhecken und den Rosen windet. Gelegentlich schweben runde Wachdrohnen an ihm vorbei und starren ihn kalt aus ihrem Zyklopenauge an.

Nach einer gefühlt endlosen Fahrt durch das Gartenlabyrinth kommt Joe vor der Front der Villa Kraupen an. Er parkt und steigt aus. Steinstufen führen zu einer wuchtigen Metalltür hinauf, die jedem Tresor einen Minderwertigkeitskomplex bescheren würde.

Joe fummelt an seinem Anzug herum, streicht die Krawatte glatt.

Bevor sein Fuß die oberste Stufe der Treppe berührt, geht die schwere Haustür wie von Zauberhand langsam nach innen auf. Kalte Luft schlägt ihm entgegen.

Joe betritt eine weitläufige, klimatisierte Eingangshalle. Die Proportionen, der Marmor und die gegenläufig geschwungene Doppeltreppe im hinteren Teil kommen nicht unerwartet, erzielen aber ihre Wirkung. Umso mehr, da keine Menschenseele Joe in Empfang nimmt. Das lässt die Halle nur noch größer und leerer erscheinen.

Joe ist enttäuscht. Er hat mit einem altmodischen Butler gerechnet, der weiße Handschuhe und einen Frack aus Herablassung trägt. Stattdessen schwirrt eine kleine, an einen schwarzen Kolibri erinnernde Drohne heran und bleibt vor ihm in der Luft stehen.

Joe blickt das Ding skeptisch an. »Hallo?«

»Herr Denzinger«, erklingt Sylvia Kraupens kultivierte Stimme aus offenbar überall im Foyer verteilten Speakern. »Meine Video-Konferenz dauert länger als gedacht. Ich muss Sie um ein paar Minuten Geduld bitten. Im Salon steht etwas zu trinken bereit. Danke für Ihr Verständnis.«

»M-hm«, macht Joe und folgt dem mechanischen Kolibri die Treppe hinauf, durch eine Reihe langer Korridore und großer Räume. Helles Echtholzparkett, weiche Teppiche, moderne Möbel und jede Menge Kunst an den Wänden oder auf Sockeln.

Schließlich erreichen sie ein lichtdurchflutetes Zimmer, wo die Drohne über einem von zwei cremefarbenen Sofas kreist – Joe interpretiert es dahingehend, dass er sich dort setzen soll. Zwischen den Sofas steht ein Glastisch, dessen Umriss an einen Kontinent erinnert, darauf eine Flasche Wasser. Gletscherwasser, klar.

Es ist ganz ruhig im Salon. Die Fensterfront hinter Joe, wahrscheinlich Panzer- bis Bunkerqualität, filtert alle unerwünschten Geräusche, Strahlen und Signale. Der Blick geht auf den Park. Am anderen Ende des Zimmers erspäht Joe eine üppige Bücherwand, die er gern genauer betrachten würde, doch will er sich ungern von Sylvia Kraupen beim Rumschnüffeln überraschen lassen. Außerdem schwebt die Drohne nach wie vor über ihm, als würde sie ihn bewachen. Sie hat sicher einige fiese Überraschungen in petto, sollte Joe es drauf anlegen.

Also sitzt er da und denkt über das Zustandekommen dieses Besuchs nach.

Dass die Dienerschaft vermutlich früher fortgeschickt wurde oder frei bekommen hat, multipliziert sowohl die Fragezeichen wie auch die Ausrufezeichen in seinem Kopf. Mehr noch als der verschlüsselte, verschwundene Anruf.

Wenn Kraupen sich so viel Mühe gibt, den Besuch eines Privatdetektivs sogar vor ihrem engsten Kreis geheim zu halten, dann hat das etwas zu bedeuten.

Joe fragt sich zum hundertsten Mal, wie er auf ihrem elitären Radar gelandet sein mag. Ob ihn vielleicht Dr. Venalkis empfohlen hat? Wenn Joe sich das alterslose Gesicht der vierundfünfzigjährigen Industrie-Powerfrau in Erinnerung ruft, könnte Sylvia Kraupen ohne Weiteres zu seinen Kundinnen gehören.

Letztes Jahr hat Joe dem Beauty-Guru der unendlich Reichen und ewig Schönen den Arsch gerettet. Joe war es gelungen, ein unschönes Video trotz Erpresser-Message und Cloud-Kollektivbewusstsein rechtzeitig aus der Welt zu schaffen. Es ging wie üblich um Ruten, die waren, wo sie nicht hingehörten – um Dr. Venalkis, der mit ein paar Freunden einen der letzten Blauflossen-Thunfische aus dem Mittelmeer holte und dabei wie ein Gewinner grinste. Die Drohnenaufnahmen der Motorjacht und der Angler gelangten dank Joe in keinen Stream, keinen Feed, keinen Blog, kein Forum und kein gar nichts.

Perfekte Werbung für Joes Dienste.

Denn es ist so: Wer nicht zur Polizei geht, sondern zu einem Privatermittler, will in erster Linie Aufsehen vermeiden. Joes erwiesene Diskretion, von einem Mitglied der High Society verifiziert, kann ihn daher sehr wohl hierher geführt haben.

Vielleicht braucht die Herrin der modernen Kriegsführung aber auch nur ein williges, billiges Bauernopfer für einen ihrer Schachzüge.

Plötzlich zischt der Kolibri davon, und Sylvia Kraupen betritt den Salon mit der Haltung einer Schneekönigin. Nichts lässt vermuten, dass sie einen Konferenzmarathon hinter sich hat, wo gerade eben das Schicksal einer Rebellion in Südasien oder sonst wo besiegelt wurde, währenddessen mitten in Deutschland ein anderer Krieg tobt, den sie als eine Strippenzieherin lenkt.

Joe erhebt sich ohne Bedauern. Das Sofa ist zu hart, soll Besuchende nicht zum langen Verweilen einladen.

»Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten«, sagt Sylvia Kraupen noch einmal.

»Kein Problem.« Joe versucht, hinter ihre Aura aus Reichtum, Macht und Selbstbewusstsein zu blicken – oder sich wenigstens nicht davon einschüchtern zu lassen. »Den Trick mit dem Geister-Anruf müssen Sie mir bei Gelegenheit zeigen.«

Kraupen zeigt ein schmales Lächeln, an dem man sich schneiden könnte.

Sie setzen sich.

»Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten und dass wir uns hier treffen können. Ich möchte in Ruhe eine Angelegenheit mit Ihnen besprechen, die mit äußerster Diskretion behandelt werden muss.«

»Soll ich mein Telefon ausschalten?«, fragt Joe pflichtschuldig. »Oder in ein anderes Zimmer legen?«

Wieder das rasiermesserscharfe Halblächeln. »Denken Sie wirklich, dieses Haus verlässt auch nur ein Bit, ohne dass ich es weiß – oder will?«

Joe muss der Versuchung widerstehen, sein Smartphone aus dem Anzug zu kramen und nachzusehen, ob es offline ist, das Display womöglich schwarz bleibt, wenn er es berührt.

Kraupen gibt ihm drei Sekunden, um diese Blöße zu zeigen, dann war’s das mit dem Vorgeplänkel. »Meine Tochter ist verschwunden«, erklärt die Milliardärin, die sonst mit demokratisch gewählten Präsidenten und tyrannischen Diktatoren diniert. Jetzt zögert sie kurz, schiebt sich mit der rechten Hand eine imaginäre Strähne ihrer blonden Kurzhaarfrisur aus der Stirn. »Lisa.«

Joe bewegt unverbindlich den Kopf. Das hat er perfektioniert. In der Regel reden die Leute von allein weiter, wenn man ihnen das Gefühl gibt, konzentriert dabei zu sein, ihren Gedanken oder Geschichten überallhin zu folgen.

»Als Lisa und ich das letzte Mal Kontakt hatten, war sie in der Nähe von Dölmow«, fährt sie fort.

»Okay.« Joe hebt eine Augenbraue. Das berüchtigte Dölmow, zu unerwarteter Berühmtheit gelangt als das letzte Dorf vor dem Grenzstreifen und der Sperrzone – dem Revier der Cyborg-Wölfe. »Liefert sie ein paar Waffen fürs Familienunternehmen aus, oder …«

Kraupens Blick durchbohrt ihn. »Sie hat sich dort den ProW@lf-Aktivisten angeschlossen. In diesem Hippie-Camp am Rand der Zone.«

»Autsch.«

»Eloquenter hätte ich es nicht ausdrücken können, Herr Denzinger.«

»Sie können ruhig Joe sagen.«

»Lieber nicht.«

»Auch gut.«

Kraupen sieht ihn an, und er blickt geduldig zurück.

»Ich hätte sie nie gehen lassen dürfen«, gesteht sie dann. »Aber so ist das mit Kindern. Je mehr man dagegen ist, desto mehr wollen sie. Lisa wäre so oder so gegangen. Ich habe sie unterstützt, um wenigstens ein bisschen Einfluss zu behalten, ein paar Regeln festlegen zu können. Jeden Tag morgens und abends texten. Sonntags ein Videoanruf. Nicht ihren echten Namen verwenden. Keine Interviews. Keine Postings online. Nichts, das sie mit mir und der Firma in Verbindung bringen könnte.« Kraupen tastet wieder nach der eingebildeten Strähne. »Sie hat sich sogar die Haare gefärbt und trägt eine spezielle Brille aus unserer Entwicklungsabteilung, die ihr Gesicht bei biometrischer Erfassung verzerrt und zu einem Fake-Profil führt.«

Joe nickt.

Lisa Kraupen als Umweltschützerin quasi direkt in der Zone und somit im Brennpunkt des Konflikts, der die Republik und die Welt beschäftigt, die Schlagzeilen beherrscht? An der Front, die Deutschland noch mehr gespalten hat? Ausgerechnet die Tochter und Erbin jener Frau, die Kampfdrohnen, Panzer, Granaten, Laser und Schnellfeuergewehre für den Krieg gegen die mutierten Wölfe produziert?

Sollte das rauskommen, wäre es ein PR-Albtraum.

Für Kraupens Imperium.

Für ihre Aktionäre.

Für die Regierung.

Kurzum: für zu viele Menschen mit zu viel Macht.

Kein Wunder, dass Lisas Mutter niemandem in ihrem Umfeld trauen kann, niemanden in Versuchung führen will, zum Leak und zum Whistleblower zu werden.

»Ich habe Lisa immer ermutigt, für das einzutreten, woran sie glaubt«, redet Sylvia Kraupen weiter. »Auch öffentlich. In diesem Fall jedoch …« Sie blickt Joe herausfordernd an. »Und denken Sie nicht, dass es mir dabei bloß um den Aktienkurs oder die anstehende Abstimmung im Bundestag geht. Ich denke vor allem an Lisa. Sie wäre im Auge des Shitstorms, wenn uns die Sache um die Ohren fliegt.«

Zweifellos. »Wann haben Sie das letzte Mal von ihr gehört?«

»Vor einer Woche. Sie hat vom Waldrand hinter dem Camp angerufen. Und bevor Sie fragen: Nein, ihre Geräte lassen sich nicht orten, und sie hat keinen Chip und keine Nano-Tracker im Körper. Ein Teil unserer Abmachung, leider.«

»Denken Sie, Ihre Tochter wurde entführt?«

»Ich weiß es nicht. Möglicherweise. Obwohl sich dann schon jemand mit einer Forderung bei mir gemeldet haben müsste, oder? Bitcoins im Wert einer tropischen Insel. Meine Drohnen einschmelzen. Den Wölfen den Schlüssel zu diesem Haus oder zur Hauptstadt aushändigen. Was auch immer. Und wir dürfen nicht vergessen: Lisa ist achtzehn. Vielleicht hat sie auch nur jemanden kennengelernt, und sie haben die Welt ausgesperrt. Wenn dem so ist, freue ich mich für sie. Aber ich muss es trotzdem sicher wissen. Ich mache mir Sorgen.« Die glatte Fassade bröckelt, wenngleich nur kurz. »Ein Freund sagte mir vor einiger Zeit, dass Sie diskret sind und alles finden können. Sachen. Daten. Personen.« Kraupen beugt sich zur Seite und hebt einen kleinen schwarzen Kulturbeutel vom Boden auf, der neben dem Sofa auf seinen Einsatz gewartet hat. »Für Sie. Ein sauberes Smartphone mit unserer aktuellsten Verschlüsselung, über das Sie vor Ort recherchieren, kommunizieren und mich auf dem Laufenden halten können. Dazu Ausweise und Dokumente, laut denen Sie ein Berater von Kraupen sind und weitreichende Befugnisse haben.« Sie spricht den Namen ihrer Familie-Schrägstrich-Firma wie den einer Entität aus, der Joe fortan dient. »Jemand, der mein vollstes Vertrauen genießt und sich als Beobachter einen Überblick der Lage vor und in der Zone verschaffen soll. So können Sie sich frei bewegen. Und seien Sie sicher, die Leute werden Ihre Fragen beantworten. Sonst müssen deren Vorgesetzte mir Rede und Antwort stehen.«

Joe nimmt den Kulturbeutel entgegen und späht kurz hinein.

»Ich habe Ihr Standardhonorar für eine Woche verfünffacht und bereits durch Strohfirmen überwiesen«, informiert ihn seine Gastgeberin. »Sie erstatten mir täglich Bericht über die Fortschritte Ihrer Ermittlungen. Wenn Sie Lisa aufspüren, gibt es einen Abschlussbonus. Und meine Dankbarkeit.« Was, daran lässt sie keinen Zweifel, der ultimative Chip im Spiel des Lebens ist. »Ein Spesenkonto wurde in der Bezahl-App auf dem Telefon für Sie eingerichtet. In Dölmow ist ein Zimmer für Sie reserviert.«

Damit erhebt sich Sylvia Kraupen.

Die Audienz ist vorbei.

Sie geleitet Joe durch ihr prächtiges, aber einsames Schloss, das mit mehr Krieg denn Frieden erbaut wurde. Und nun ist die Prinzessin an der Frontlinie eines Krieges verschwunden, den ihre Mutter mit Waffen beliefert.

Bewusst befeuert, wie manche sagen.

»Sie haben mich gar nicht gefragt, ob ich den Auftrag überhaupt annehme«, sagt Joe, als sie die Eingangshalle über die Treppe erreichen.

»Sie haben das Telefon genommen.«

»Ein Reflex.«

»Natürlich.« Sylvia Kraupen, das Lächeln dünner und schärfer denn je, blickt Joe in die Augen und lässt die massive Sicherheitstür mit einer komplizierten beidhändigen Geste aufgehen. »Manchmal hat man keine Wahl«, sagt sie, und Joe kann nicht bestimmen, ob sie damit sich, ihn, sie beide oder die ganze Menschheit meint. »Finden Sie meine Tochter. Bitte.«

Kraupens Blick und Tonfall sind auf einmal weicher, machen aus der Rüstungsunternehmerin eine Mutter.

Ob das echt ist, kann Joe nicht sagen.

»Ich werde mein Bestes geben«, verspricht er.

»Das reicht nicht«, versetzt sie, nun wieder ganz Stahl und Eis. »In der Sperrzone gibt es zu viele Monster und Verrückte. Tun sie alles, um meine Tochter zu finden. Alles.«

Monster und Verrückte.

Joe wird noch an Sylvia Kraupens Worte denken.

Tariq

Egal, was seine Eltern denken: Der Marsch durch einen Wald voller Monster hat nie zu Tariqs großem Plan gehört.

Dennoch dringen Tariq und die anderen aus seiner Einheit jetzt direkt ins Revier der Cyborg-Wölfe vor, von Drohnen flankiert und umschwirrt, die Gewehre im Anschlag, die Nerven zum Zerreißen gespannt – wie bei jedem Einsatz, der aus der Basis am Grenzzaun in den kühleren, schattigen Wald führt.

Zwar hat es seit zwei Wochen keinen direkten Zusammenstoß mit den Wölfen gegeben. Trotzdem beschleicht Tariq jedes Mal ein mulmiges Gefühl in den von Extremwetter und Schädlingen gelichteten Überresten des ostdeutschen Märchenwalds, dessen Ungeheuer, anders als in den Sagen und Legenden, ebenso surreal wie real sind.

Auf dem Stützpunkt zwischen Dorf und Wald sagen sie immer, dass es zu spät ist, wenn man die Wölfe erst mal sieht. Dennoch achtet Tariq auf alle Bewegungen und Geräusche, von denen es mehr als genug gibt, und wenn es nur tanzende Schattenmuster im Unterholz sind.

Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, verscheucht eine riesige Tigermücke, kratzt sich unter dem Rand seines Helms und steigt über ein verwittertes Stück Elektroschrott hinweg, das halb in der Erde eingegraben ist.

Kaum vorstellbar, dass damit alles angefangen hat.

Mit im Wald abgeladenem Schrott und sogar Müll aus einer Forschungseinrichtung – darunter experimentelle Nanobots, die ein Rudel Wölfe in riesige Maschinenmonster verwandelt haben.

In Cyborgs, von denen einige kaum noch etwas mit normalen Wölfen gemein haben, was die körperlichen, die psychischen und die darüber hinausgehenden Attribute angeht.

Tariq schaudert.

Kein Wolf – gar kein Geschöpf – sollte sich dermaßen verändern in seiner Größe, seiner Gestalt, seinen Bewegungen, seiner Kraft, seinem Intellekt.

In seinen Möglichkeiten, seiner Ausstrahlung und seinem Wesen.

So tief im Wald sind seit Jahresanfang sonst nur laufende oder fliegende Drohnen unterwegs, die selbstständig patrouillieren und die Umgebung scannen. Um die Bewegungen der Wölfe zu verfolgen und um Presse, ProW@lf und andere Zivilpersonen daran zu hindern, sich in Gefahr zu begeben.

Vor der Abstimmung im Parlament sollten sich eigentlich keine menschlichen Militärangehörigen mehr so tief im Revier der Wölfe aufhalten. Aber nun ist einer der Kampfläufer, die an einen SUV-großen Tintenfisch mit Spinnenbeinen erinnern, aus unerklärlichen Gründen mitten im Wald offline gegangen. Erst haben sich von einer Sekunde auf die nächste die optischen Feeds verabschiedet, dann die übrigen Signale, und am Ende wollten nicht mal die Übernahme der manuellen Steuerung oder ein Reboot aus der Basis am Zaun funktionieren.

Alles schwarz, alles tot.

Womöglich stören die Wölfe das Netzwerk oder nutzen einen Hack – nicht nur ihr physisches Leistungsvermögen wurde massiv gesteigert. Also hat man einen Trupp losgeschickt, um der Sache auf den Grund zu gehen: Zwei staksende Kraupen-Kampfdrohnen derselben Baureihe, dazu ein Schwarm Kolibri-Spähdrohnen, und ein halbes Dutzend Soldatinnen und Soldaten.

Tariqs Gruppe passiert ein von Blumen, Unkraut und Rost überwuchertes Autowrack und nähert sich der letzten übermittelten Position der verschwundenen Drohne. Tariq wurde eigens dafür ausgebildet, die schweren, trittsicheren Kampfläufer und ihre mit Maschinengewehren und Granatwerfern bestückten Geschütztürme zu warten oder im Fall der Fälle zu reparieren. Die in Deutschland entwickelten und gebauten Drohnen haben sich im Mittleren Osten und in Afrika bewährt, jedoch hätte niemand geglaubt, dass sie auch einmal hierzulande eingesetzt werden würden.

So kann man sich täuschen.

Wie Tariqs Eltern. Die konnten schon vor seiner Versetzung nach Brandenburg nie verstehen, wieso er sich als Berufssoldat verpflichtet hat. Er, dessen Eltern ihr Leben riskiert haben, um vor dem Krieg in Syrien zu fliehen. Die das Unleben auf einer griechischen Insel überstanden und dann in Deutschland ein neues Dasein begannen. Und was macht ihr Sohn, kaum dass er volljährig ist? Meldet sich freiwillig bei der Bundeswehr, wo er alles über den Krieg und das Töten lernt.

Dabei ging und geht es Tariq um etwas völlig anderes.

Darum, sich beim Bund zu einem erstklassigen Drohnen-Mechaniker ausbilden zu lassen, ein Ingenieurstudium zu machen und später, nach seinem Abschluss und seiner Dienstzeit, irgendwo in der freien Wirtschaft, vielleicht sogar mit einer eigenen Firma, richtig Kohle zu scheffeln.

Das ist der Plan.

Gerade, das muss Tariq zugeben, hegt er allerdings selbst so einige Zweifel, wie er dahin kommen soll.

Tariqs Kopf ruckt aufgrund eines verdächtigen Knacksens zur Seite. Er stolpert über eine Baumwurzel, rempelt seinen Vordermann an. Zum Glück ist sein Gewehr gesichert.

»Pass auf, Laffel«, murrt Schröder vor ihm.

Noch mehr als der Spitzname, den sie von Falafel abgeleitet haben, nervt Tariq, dass dieser rassistische Scheiß schlimmer wird, je mehr er sich davon triggern lässt.

Darum schweigt er auch, als die attraktive, aber giftige Gefreite Brückner ihm von hinten an den Kopf wirft, dass Trampeltiere eben in die Wüste gehören.

Tariqs Kumpel Andreas meint immer, er soll sich den Quatsch nicht so zu Herzen nehmen.

Aber das ist leichter gesagt als getan.

Die Familie von Andreas, der auf der Basis zu einer Heli-Bodenmannschaft gehört, kommt aus Schleswig-Holstein. Nicht aus Syrien. Ihn machen die anderen nicht pausenlos an.

Kurz darauf erreichen sie eine Senke vom Ausmaß eines Swimmingpools, in der die offline gegangene Kampfdrohne reglos auf der Seite liegt. Das Ding wurde böse in die Mangel genommen: zerkratzte und verbogene Außenhülle, abgebrochene Elemente, ein verdrehtes Bein.

Tariq und die anderen bleiben bleiben am Rand der Senke stehen und starren hinein, als wäre da etwas Außerirdisches abgestürzt. Selbst ihre beiden Kampfbots verharren regungslos, als hätte sie der Anblick eines geschlagenen Artgenossen tief in ihrem Inneren erschüttert.

»Scans negativ«, sagt Roos schließlich Kaugummi kauend, der die Feeds der fliegenden, in alle Richtungen schwirrenden Kolibris auf einem extra-robusten Kraupen-Tablet überwacht. »Bis auf ein Eichhörnchen in der Tanne da drüben ist die Luft rein.«

Niemand lacht. Dafür ist die Anspannung zu groß.

Tariq hat das Gefühl, von kybernetisch nochmals verbesserten Wolfsaugen beobachtet zu werden. Wer weiß schon, aus wie großer Entfernung sie einen Menschen mit ihren erweiterten Sinnen beobachten, wie gut sie sich tarnen, welche neuen, beängstigenden Evolutionen sie gerade hinter sich gebracht haben mögen?

Tariqs Blick springt von Baum zu Baum, Gebüsch zu Gebüsch, Stein zu Stein, Mulde zu Mulde. Fast überhört er den Befehl von Hauptfeldwebel Peters, endlich die Drohne zu untersuchen.

»Wir wollen hier kein Picknick machen, Zidan«, fügt Peters hinzu. »Und immer schön die Augen offen halten«, ermahnt er den Rest.

Vorsichtig schlittert Tariq die relativ steilen Wände aus nackter Erde, knolligen Wurzeln und scharfkantigem Gestein in die Senke hinab. Während die anderen ihm Deckung geben, stapft eine der großen Drohnen um die Grube herum und bezieht dort mit auf den Wald gerichteten Geschützen Position.

Tariq versucht, sich ein Bild vom Schaden an der Kampfmaschine hier unten zu machen. Er streckt den Arm aus, doch seine Hand ist nicht groß genug, um die tiefen Krallenspuren im Metall abzudecken und auf einmal nachzufahren.

Einen Kraupen-Läufer ohne Schusswaffen oder Sprengstoff so zuzurichten erfordert viel Kraft und Energie, die aus einem perfekten Hinterhalt heraus explosionsartig entfesselt werden müssen.

Tariq geht zwischen den teils ausgestreckten, teils angewinkelten Beinen der lädierten Drohne hindurch. Er lehnt sein Gewehr an das verdreckte, verbeulte Metall und öffnet mit einem elektrischen Schraubendreher eine kleine Luke an der Unterseite, die er ironischerweise besser erreicht, weil die Drohne so daliegt. Er kramt kurz in seinem Rucksack und verbindet den gefällten Bot altmodisch über ein Strom- und Datenkabel mit seinem Tablet, kann aber nur den totalen Systemausfall feststellen. Wahrscheinlich müssen sie im Lager die Black Box auslesen, um zu erfahren, was genau hier vorgefallen, wie genau es abgelaufen ist.

»Die geht von allein nirgendwo mehr hin, Hauptfeldwebel«, ruft Tariq und blickt zu Peters empor. »Bergen wir sie? Mit den beiden anderen und ein paar Seilen müsste es gehen.«

»Negativ«, sagt der Hauptfeldwebel. Tariq sieht ihn verwundert an, und Peters erklärt: »Morgen kommt ein Nachrichtenteam von Amazon Prime News. Die haben die Erlaubnis, im Wald zu filmen. Als erste Mediencrew seit Weihnachten. Das da unten hilft, die Gefahr zu verdeutlichen, die diese Biester darstellen.«

Tariq begreift sofort. PR ist wichtig, gerade jetzt, wo die Entscheidung in Berlin näher rückt, die über den weiteren Verlauf dieses Krieges bestimmen wird.

Vermutlich geben sie deshalb nicht einfach die Aufnahmen ihrer eigenen Drohnen frei und lassen stattdessen die Stimmung im Wald und das eindrucksvolle Bild des außer Gefecht gesetzten Läufers auf Berichterstattende und Zuschauende wirken.

Tariq kann den Zoom auf die Krallenspuren schon sehen, den dramatischen Kommentar dazu bereits hören.

Er verstaut Tablet und Kabel wieder und baut nur die Black Box aus, die nicht größer ist als ein Päckchen Butter. Anschließend schnappt er sich sein Gewehr und schultert den Rucksack. Im Vorbeigehen streicht er noch einmal flüchtig über die Furchen im von der Hitze aufgewärmten Leib der Drohne.

Zwei Kameraden strecken ihm die Hände entgegen, helfen ihm auf den Rand der Senke. »Mach hin, Laffel«, sagt Schröder. »Müsstest du nicht längst auf deinem Teppich liegen?«

Tariq beachtet ihn nicht, konzentriert sich auf den Wald.

Irgendwas haben sie hier gestört, und das war garantiert kein Eichhörnchen.

Das Gefühl, beobachtet zu werden, begleitet Tariq noch auf dem Rückweg.

Joe

Nach seinem Abstecher in die Sphäre von Macht und Moneten fährt Joe wieder durch das ihm vertraute Berlin, wird erneut Teil des Stroms aus Menschen, Autos, Rädern, Bahnen und Lieferdrohnen.

Aber seine Gedanken sind schon im Revier der Wölfe.

In der Sperrzone.

Dabei waren Joe die kybernetisch veränderten Raubtiere in den letzten Monaten gar nicht so wichtig, während er betrügenden Ehemännern, veruntreuenden Geschäftspartnerinnen, geklauten Dingen oder verschwundenen Personen nachspürte – die Maschinenwölfe im hintersten Brandenburg hatten mit seinem Alltag schlichtweg nichts zu tun. Bis jetzt.

Aber so ist es ja oft mit großen Ereignissen. Sie ziehen ihre Kreise, bis die Wellen bei einem ankommen.

Und natürlich hat Joe damals, wie alle anderen, fasziniert und gebannt die ersten Schlagzeilen verfolgt. Denen konnte man sich kaum entziehen: Zähnefletschende Wölfe starrten, sprangen einen quasi von allen Titel- oder Startseiten an, groß und böse, wild und gefährlich. Jede Redaktion rechnete genüsslich aus, wie lange so ein Cyborg-Wolf von Dölmow bis nach Berlin, Hamburg, Köln, Stuttgart, Warschau, Budapest, Zürich, Amsterdam, Paris, Mailand bräuchte – und wie viele Menschen er am Tag fressen müsste, um seinen Energiebedarf zu decken.

Oder ein ganzes Rudel.

Das Geschäft mit der Panik eben.

Joe erinnert sich noch gut an die Diagramme und Tabellen.

Gerade zu Beginn, nach den ersten Sichtungen und Aufnahmen, trieben es die Medien bunt – und noch bunter, als nach und nach klar wurde, was wirklich geschehen war.

Ein Stück weit konnte Joe das verstehen.

Die Wölfe von Dölmow, eine schrecklich-schöne Verbindung aus Tier und Tech, waren die größte Neuigkeit, die größte Sensation der modernen Wissenschaft. Das nächste Kapitel in der Geschichte der künstlichen Intelligenz, die bekanntlich in Echtzeit geschrieben wird.

Joe überholt einen der vielen Busse, die Klimageflüchtete nach Berlin bringen – das fröhliche Gesicht und der nach oben gereckte Daumen im Shuttledienst-Logo kommen ihm seltsam vor.

Ist am Ende aber vermutlich auch nicht seltsamer als der ganze Rest. Als mutierte Wölfe im Osten Deutschlands, zum Beispiel.

Und alles bloß wegen ein paar gierigen, faulen Idioten.

Weil die Mega-Deponien in Afrika und Asien voll waren und vorübergehend keine Schiffe mit Müll aus Europa mehr annahmen, lud eine Firma nicht nur ausrangierte Kühlschränke, Autos mit Verbrennungsmotor oder kaputte Landwirtschaftsdrohnen kurzerhand im Wald bei Dölmow ab, sondern eines Tages auch eine Fuhre Spezialabfall aus einem Forschungslabor.

Der für die Evolution seit jeher so wichtige Zufall wollte es, dass mit dem Sondermüll ein Schwarm Nanobots aus dem Forschungsinstitut entkommen war und so im Wald landete.

Dort gingen die hoch adaptiven, hoch intelligenten Nanos eine Symbiose mit den Wölfen ein – Implantate, die man den Tieren schon früher zur Kontrolle von Bewegung und Fortpflanzung eingesetzt hatte, boten den winzigen Maschinen perfekte Voraussetzungen. Die Nanos durchdrangen die Wölfe, veränderten sie, erweiterten ihren Körper und ihren Verstand, und schließlich verschmolzen die mutierten Tiere mit Elektroschrott und anderem zu riesigen, unglaublichen Schimären.

Zu Monstern, wie die einen meinen.

Zu Wundern, wie die anderen sagen.

Joe vermutet, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt, wie meistens.

Die Leute haben nach den ersten Begegnungen und Zusammenstößen reagiert, wie sie es oft tun, wenn sie mit etwas Fremdem konfrontiert werden.

Im Fall der Cyborg-Ungeheuer bestand die Antwort auf die ursprüngliche Hysterie aus Jagdgruppen, Bürgerwehren und sogar Söldnern, die die Wölfe für ein international agierendes Unternehmen einfangen sollten. Es kam zum Krieg zwischen Mensch und Tier, der eindeutig nicht zugunsten der menschlichen Häscher ausging und zur Einrichtung der Sperrzone führte. Wo die Cyborgs sich weiterentwickelten, weiter aufrüsteten.

Joe fragt sich, welche Vorstellung die Massen mehr beunruhigt oder erzürnt: Dass die Wölfe aus der Zone gelangen, oder dass künstliche Intelligenz die Menschheit zugunsten einer anderen Spezies aufgegeben haben könnte.

Auf der anderen Straßenseite kommt ihm stadtauswärts ein Konvoi schwer beladener Bundeswehr-Transporter entgegen, die wahrscheinlich Ausrüstung und Verpflegung nach Dölmow bringen. Unter den Planen könnten auch Kraupen-Kampfläufer sein.

Die Lastwagen in Joes Rückspiegel werden kleiner. Ihr Ziel dagegen, die Zone, wird von Tag zu Tag größer, zumindest in den Medien, wo die Cyborg-Wölfe alle anderen Themen verdrängen. Nach gut einem halben Jahr haben sich die Linien und Grenzen um das, was normal ist, verschoben, so wie bei allen anderen Kriegen und Katastrophen. Die Wölfe wurden zur nächsten akzeptierten Eskalationsstufe dieser in Flammen stehenden Welt.

Dass es auf der Demo vor dem Brandenburger Tor heute so heiß hergegangen ist, hat mit der bevorstehenden Parlamentsabstimmung zu tun. Im Bundestag soll entschieden werden, ob der umzäunte Wald bei Dölmow zum Reservat für die Cyborg-Wölfe erklärt wird – oder das Rudel ausgerottet.

Joe wartet, bis ein Lastenradfahrer auf seiner eigenen Spur vorbei ist, damit er links abbiegen kann.

Erst heute Morgen hat er in einem Stream von Prime News einen kurzen Clip mit dem US-Präsidenten gesehen, der wieder einmal angeboten hat, seinen German friends mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, und liebend gern Fachleute und Militär entsenden würde, man bräuchte es bloß zu sagen. Russland, China und Nordkorea haben daraufhin prompt ihre üblichen Drohungen vom Stapel gelassen, sollte Deutschland das wirklich in Erwägung ziehen.

Polen, Tschechien und andere Länder, die sich vor einer Ausbreitung der mutierten Wölfe und frei drehenden Nanos fürchten, verstärken unterdessen weiter ihre Grenzen und verlegen präventiv ganze Truppenverbände für den Fall, dass die Tiere gen Osten wandern.

Inzwischen steht Joe an einer roten Ampel und betrachtet die Passanten, die vor seinem Audi die Straße überqueren. Ein kleines Mädchen hat ein Cap mit lustigen Wolfsohren auf und lacht ihren Vater unbeschwert an, der einen wolfsförmigen Plüsch-Rucksack trägt.

Das ringt Joe ein gar nicht mal so zynisches Schmunzeln ab.

Im Grunde seines Herzens ist er eigentlich für leben und leben lassen.

Schwer zu sagen, ob das auch auf Maschinenwölfe anwendbar ist, aber es wäre sicher besser als die meisten Alternativen.

Die Ampel springt wieder auf Grün, Joe gibt Gas.

Morgen früh wird er nach Brandenburg in die Zone fahren, und ob große Schlacht am Horizont oder nicht, sein Fokus ist klar.

Die verschwundene Tochter der Waffenkönigin.

Joe wird alles dafür tun, Lisa Kraupen zu finden.

Das ist der Krieg, den er in der Wolfszone gewinnen muss.

Dazu gibt es keine Alternative.

Kira

Gleich wird der Wolf Kira anspringen.

Obwohl vier massige Kraupen-Kampfbots und eine Handvoll Soldaten in der Nähe sind, zucken weder Mensch noch Maschine, als das Tier über die vertrocknete Wiese rennt, zielstrebig auf Kira zuhält.

Sie prallen zusammen.

Die Schnauze des Wolfes öffnet sich.

Mit seiner rosaroten Zunge schleckt er Kira übers Gesicht.

»Lass das, Winslow!« Lachend wehrt Kira den jungen Wolf ab, der sich erst durch energisches Kraulen beruhigen und zu Boden ringen lässt. »Lass!«

Winslow liebt dieses Spiel, bei dem er nie verliert.

Kira weiß genau, welchen Kontrast sie bieten: die schwarze Frau und der weiße Wolf, Mensch und Tier, Wissenschaftlerin und Forschungsobjekt.

Das hält sie aber nicht davon ab, mit Winslow im strohigen Gras vor dem alten Bauernhof herumzutoben.

Nach einer Weile gehen sie wieder nach drinnen – in der prallen Sonne ist es auf Dauer zu heiß.

Der Hof im Grenzstreifen zwischen dem Dorf, dem Wald und der Sperrzone darin wurde zur hochmodernen Forschungsstätte umgerüstet, die Kira als Evolutionsbiologin mit zwanzig Jahren Erfahrung leitet. Man sieht dem Bauernhaus aus Stein, Holz und bröckelndem Putz sein Alter und die jahrelange Verwahrlosung an. Aber diverse Firmen haben wahre Wunder gewirkt, Labore und Konferenzräume eingerichtet, Kabel und Leitungen verlegt, Server installiert und so in Rekordzeit eine Umgebung entstehen lassen, die seriöse Forschungsarbeit erlaubt.

Kira weiß von Bildern, wie es früher ausgesehen hat, jetzt würde man die Räume nicht wiedererkennen, höchstens die Küche.

Weil sie die Klassiker liebt, witzelt Kira gerne, dass der Bauernhof innen viel größer ist, als man von außen erwartet, und sie ihn blau anstreichen sollten.

»Frau Dr. Jansen?«, fragt Carlos und tritt an Kira heran, als hätte er drinnen neben der Haustür auf sie gewartet. Der blasse grauhaarige Verhaltensforscher aus Münster ist erst seit anderthalb Wochen hier, weshalb er Winslow an Kiras Seite noch skeptisch beäugt. An einen frei laufenden Wolf als Maskottchen der Abteilung muss man sich gewöhnen.

»Kira«, sagt sie automatisch und überfliegt die extrapolierten Bewegungsmuster des Rudels im Wald, die Carlos ihr auf dem Tablet hinhält und die sie später in ihr neuestes Dossier für die Bundeswehr aufnehmen wird.

Seitenstarke Verträge und Verschwiegenheitserklärungen binden Kira und die anderen Forschenden an die Regierung und die Streitkräfte. Allein deshalb dürfen sie die unfassbare Evolution der Wölfe im Wald in der ersten Reihe begleiten. Dafür müssen sie ihr Wissen und ihre Erkenntnisse regelmäßig mit dem Militär teilen und dessen Operationen in der Zone durch fachlichen Input unterstützen, selbst wenn es um strategische Überlegungen oder explizit um Kampfhandlungen geht.

Ein leider notwendiges Übel.

»Ich hätte es ja gemailt«, entschuldigt sich Carlos. »Aber mein Account zickt noch immer.«

»Oh. Doof. Aber das sieht gut aus. Danke, Carlos.«

»Freut mich zu hören. Bis heute Abend?« Er bemerkt ihren verwirrten Blick. »Der Geburtstags-Umtrunk für Dr. Wegmann? Ähm. Gabriele?«

»Ach, ja.« Das hat Kira glatt vergessen. Ihr geht zurzeit eine Menge durch den Kopf, beruflich wie privat. »Natürlich, bis heute Abend!«

Sie und Winslow schlendern weiter und kommen unter anderem an der Küche vorbei, die sie zu Winslows Verdruss aber nicht betreten. Kira und ihr Team benutzen einen Großteil des Erdgeschosses zur Auswertung aller Daten und Objekte aus der Sperrzone.

»Hey, Winslow«, sagt Agnes, eine vielfach gepiercte und tätowierte Biologin aus Augsburg, die breit lächelnd aus einem Zimmer voller Messgeräte und Mikroskope kommt.

Winslow bleibt sofort stehen, um sich von ihr kraulen zu lassen. Er liebt Aufmerksamkeit. Und Streicheleinheiten.

Der junge Wolf stammt aus einem Rudel bei Hannover und ist kein bisschen kybernetisch. Seine Familie wurde von Wolfshassern getötet, die nicht einsehen wollten, dass die Rückkehr der Raubtiere nach Deutschland längst vollzogen war.

Bevor Kira das Angebot erhielt, die Leitung der Einrichtung am Rand der Zone zu übernehmen, hatte sie just ein Forschungsprojekt bewilligt bekommen, für das sie einen nicht in Gefangenschaft geborenen Wolfswelpen zum Studieren brauchte. So trat Winslow in ihr Leben. Und als sich die Chance mit Dölmow auftat, kam Winslow mit, weil er bereits ihr Herz erobert hatte und Kira sich nicht vorstellen konnte, ihn in einer Auffangstation abzugeben.

»Braver Junge«, sagt Agnes, und falls es Winslow stört, wie ein Hund behandelt zu werden, zeigt er es nicht.

Wölfe haben Kira schon immer fasziniert. Darum hat sie ihre Doktorarbeit auch über die Anpassung der Tiere an das moderne, voll technisierte Deutschland geschrieben. Danach forschte sie weiter zu diesem Thema, beschäftigte sich auf der ganzen Welt mit der Wirkung von Technologie auf Wölfe, die in der Nähe zum Menschen leben, in Russland, Spanien, Indien, Mexiko, den USA. Doch sie hätte nie gedacht, einmal inmitten einer solchen Sensation zu landen.

Für viele scheinen die Vorgänge in der Sperrzone ein wahrer Albtraum zu sein.

Für Kira sind sie dagegen ein wahr gewordener Traum.

Sie muss an die kommende Bundestagssitzung in Berlin denken, deren Ausgang in ein paar Tagen die weitere Marschrichtung vorgibt.

Erforschen oder Eliminieren.

Wobei Kira bezweifelt, dass sich Letzteres so leicht bewerkstelligen lässt, wie Generalstab und Politik es sich vorstellen – egal, woran das andere Team hier im Bauernhof arbeitet.

Woran es codet, da unten in der gekühlten Dunkelheit des umgebauten Kellers, mit einer Legion Rechner, Laptops, Server.

Kira versucht, nicht allzu oft über Sinn und Zweck der digitalen Aktivität im Herzen ihrer hochgerüsteten Anlage nachzudenken.

»Ich hab übrigens die Studie über die Orcas gefunden, von der ich dir gestern erzählt hab«, sagt Agnes. »Müsstest eine Mail von mir haben. Du kommst doch nachher, oder? Gabis Geburtstag?«

»Ja, sicher. Und super. Danke.«

»Gern. Bis später, ihr zwei.«

Winslow blickt Agnes nach und wirkt enttäuscht.

»Das Leben ist nicht nur Spielen und Kraulen«, erklärt Kira ihm. »Morgen müssen wir beide auch mal wieder ins Labor. Ein paar deiner Gehirnströme messen. Damit wir wissen, was in deinem flauschigen Schädel vor sich geht.« Selbst einer Expertin wie Kira fällt es schwer zu bestimmen, ob bei den Cyborgs im Wald eher die Nanos oder die Wölfe das Sagen in der Beziehung haben, wie genau diese Verbindung von Wolfsnatur und Nano-KI hierarchisch geregelt ist. Kiras Arbeit mit Winslow soll da Aufschluss geben. »Schade, dass ihr nicht sprechen könnt. Na ja. Noch nicht, hm?«

Plötzlich verlagert sich Winslows Aufmerksamkeit auf etwas hinter Kira, und sie dreht sich um.

Nadine, eine der permanent auf dem Bauernhof stationierten Soldatinnen, nähert sich ihnen. Sie verschränkt die Hände hinter dem Rücken und steht kerzengerade da in ihrem grün-braunen Tarnanzug und mit ihrem kurzen roten Haar. »Es hat einen Vorfall gegeben«, sagt sie unaufgeregt. »Die Wölfe haben im Wald eine der Drohnen ausgeschaltet. Die Black Box wird gerade ausgewertet …«

Kira zerwuschelt Winslow, der Nadine neugierig beobachtet, das Nackenfell. »Großes Treffen auf dem Stützpunkt also?«

»Ja. Ich fahre in zehn Minuten den Jeep vor.«

Nadine verkneift sich im letzten Moment das Salutieren. Es hat gedauert, bis Kira das bei allen hier durchsetzen konnte.

Die Soldatin nickt also nur und geht zackig davon.

Kira sieht Winslow an, der belustigt wirkt.

»Das ist nicht witzig«, sagt Kira. »Deine Verwandtschaft macht mir Arbeit. Und Sorgen. Das gibt euren Fans noch mehr Wasser auf die Mühlen.« Sie seufzt. »Na komm. Mal sehen, wen wir überreden können, den Babysitter für dich zu spielen. Beiß nicht wieder ein Kabel durch, hörst du? Und der Schrank mit den Süßigkeiten ist tabu.«

Kiras Smartphone schrillt, und sie holt es aus der Tasche ihres Laborkittels.

Es ist Vicky, ihre Frau.

Kira war schon eine Weile nicht mehr zu Hause, obwohl es von Dölmow nach Hamburg nicht so weit ist wie von Nevada oder Sibirien aus. Ihre Geheimhaltungsstufe und das alles sind bloß halb so schlimme Hürden, wie Kira tut, wenn sie wieder ein Wochenende verstreichen lässt, an dem sie nicht zu Vicky fährt.

Sie atmet tief durch und geht ran. »Hi. Ich kann gerade nicht. Der Oberst und die anderen hohen Tiere erwarten mich. Ein Notfall.«

»Alles in Ordnung?« Kira hört Missmut, aber auch echte Besorgnis in Vickys Stimme.

»Das Übliche. Mach dir keine Sorgen.«

»Tu ich aber. Immer. Das ist ein Kriegsgebiet, Kira.« Vicky sammelt sich. »Können wir heute Abend mal etwas länger reden? Mit Video vielleicht?«

»Sorry, ich meld mich später«, sagt Kira und legt auf.

Sie weiß, dass sie Vicky nicht anrufen wird, weder mit noch ohne Video, und dass das nichts mit der Dauer des Meetings in der Zone zu tun hat.

»Schau mich nicht so vorwurfsvoll mit deinen Wolfsaugen an«, sagt Kira mürrisch zu Winslow.

Joe

Noch bevor Joe die Tür des Mietshauses erreicht, tritt ein junger Typ an ihn heran, hält ihm ein pinkfarbenes Flugblatt wie einen Gestalt gewordenen Vorwurf unter die Nase. Der Kerl mit dem Cowboy-Hut, der ein eng anliegendes ProW@lf-Shirt trägt, hat einen ganzen Papierstapel unter den Arm geklemmt.

»Hey. Wär cool, wenn du das durchliest und dann die Petition online unterschreibst, Mann. Am besten noch heute. Das könnte die Wölfe retten. Nicht noch ein Genozid durch abgefuckte menschliche Hybris. Jede Stimme zählt.«

»Okay«, sagt Joe und nimmt den altmodischen, auch nicht gerade umweltfreundlichen Zettel entgegen. »Mach ich.«

»Cool. Danke. Schönen Abend noch.« Der Aktivist trottet zur nächsten Person auf dem Bürgersteig.

Oben im Treppenhaus trifft Joe seinen Nachbarn Samad, einen 76-jährigen Witwer. »Joe!«, sagt der ehemalige Taxifahrer freudig, und in seinem schneeweißen Bart zeichnet sich ein warmherziges Lächeln ab. »Mein Freund!«

»Hallo, Samad. Wie geht’s?«

Sein Nachbar, dessen Frau noch vor dem Auftauchen der Cyborg-Wölfe in einem heißen Sommer an einem Herzinfarkt gestorben ist, winkt mit einer Hand ab. In der anderen hält er eine Tüte vom Späti und einen Zettel in grellem Pink. »Noch schaff ich die Treppen. Solang das geht, beklag ich mich nicht.« Samad ist stolz darauf, nie den Aufzug zu benutzen. »Aber lassen wir das. Erzähl mir lieber von dir! Hast du gerade einen aufregenden Fall?«

Joe will nicht unbedingt von dem Hehler erzählen, den er bei ein paar wütenden Klienten abgeliefert hat. »Vorm Brandenburger Tor war heute die Hölle los«, sagt er daher.

Samad nickt düster. »Kam in den Nachrichten. Sah übel aus. Warst du dort?« Er mustert Joe. »Hast du was abbekommen?«

»Mitten im Getümmel. Aber alles gut.« Joe schnippt mit den Fingern. »Weil wir uns gerade sehen, Samad … ich hab die nächsten Tage außerhalb zu tun. Wirfst du bitte wieder ein Auge auf meine Post unten? Viele Briefe kommen ja eh nicht mehr, und ich hab auch nichts bestellt, nur …«

»Du kannst dich auf mich verlassen«, erklärt Samad feierlich. »Bei der Hitze geh ich tagsüber nicht raus. Ich hab Zeit.«

Nickend kramt Joe seine Schlüssel aus der Hosentasche und macht den für seinen Briefkasten ab. »Danke dir.«

»Wo geht’s denn hin?«, fragt Samad.

Joe zögert. »Ich muss nach Dölmow.«

»In die Sperrzone? Zu den Monsterwölfen?« Samad pfeift durch die Zähne. Sein Bart wackelt. »Was willst du denn da?«

»Soll jemanden finden.« Joe bremst sich. »Ich erzähl dir hinterher, worum’s ging und wie’s gelaufen ist, okay?«

Samad lacht. »Bei mir musst du keinen auf geheimnisvoll machen. Reicht, wenn du’s bei den Ladys tust.« Dann wird der alte Mann auf einmal ganz ernst. »Pass auf dich auf, ja? Diese Dinger, die sind nicht natürlich. Hoffentlich werden sie bald erledigt. Bevor die Biester noch nach Berlin kommen. Die Schisser im Bundestag sollen einmal was richtig entscheiden. Für die Menschen. Nicht nur die Bonzen und die Industrie.«

»Hm.« Joe weiß nicht so recht, was er darauf erwidern soll, und sperrt seine Wohnungstür auf. »Ich muss noch packen, Samad …«

»Ein Reservat!« Sein Nachbar hustet und wedelt aufgeregt mit der Hand. »Die ganze Welt lacht doch über uns. Vor ein paar Tagen hab ich erst mit einem meiner Cousins in Iran telefoniert. Der kann das gar nicht verstehen, was wir hier machen, weißt du? Und soll ich dir was sagen, Joe? Ich auch nicht! Wir hätten die Viecher gleich plattmachen sollen.«

»Na ja.« Joe dreht sich noch mal zu Samad um. »Das mit dem Plattmachen hat ja nicht wirklich geklappt. Wie auch immer.« Er ringt sich ein Lächeln ab. »Danke schon mal wegen der Post. Bis dann.«

»Lass dich nicht fressen«, sagt Samad, und während er mit seiner raschelnden Tüte und seinem eigenen Schlüssel hantiert, hört Joe ihn noch brummen: »Drecksungeheuer. Was gibt’s da eigentlich zu diskutieren, frag ich mich …«

Marija

Marija fährt schnell und aggressiv durch den nächtlichen Wald.

Durch die gesperrte, verbotene Zone.

Den Kosmos von Militär, Drohnen und Scannern.

Das Revier der Monsterwölfe.

Tagsüber arbeitet Marija als Fahrradkurierin in Dölmow. Das Ausliefern von Klopapier, Kartoffelchips und Kondomen gibt ihr keinen Kick, bezahlt aber die Rechnungen.

Ist fast schon surreal: Vor drei Jahren war Marija noch eine der besten Mountainbike-Rennfahrerinnen der Welt und eine Ikone des Extremsports, fuhr sie noch MTB-Rennen in den Pyrenäen, den Rocky Mountains oder den Dolomiten.

Jetzt fährt sie nur noch durch ein Siebentausend-Seelen-Kaff in der brandenburgischen Provinz.

Wenn es wenigstens eine Stadt mit halbwegs messbarem Puls wäre. Aber nein, Dölmow.

Ihr Ex-Mann Thomas hat es Marija nicht noch schwerer machen wollen, doch der Job als Tierarzt auf dem Land war immer sein Traum gewesen, und er passte zu seinem Bemühen, sich und in erster Linie ihre Tochter Anna aus der Schusslinie zu nehmen nach dem, was Marija getan, was ihr gemeinsames Leben in München zerstört hat.

Marija liebt und hasst ihn dafür noch ein bisschen mehr.

Im Anschluss an die Scheidung gingen Thomas und Anna nach Gorach. Marija blieb keine andere Wahl, als in den Nachbarort Dölmow zu ziehen, nur durch sechs Kilometer Landstraße von ihrer Kleinen getrennt – nah genug, um Teil von Annas Leben zu bleiben, sie regelmäßig zu sehen und bei sich zu haben, und doch weit genug weg, um so wenig Probleme wie möglich zu bekommen beim Tanz auf dem Scherbenhaufen ihres Familienlebens. Außerdem ahnt Marija, dass sie allein in der Stadt abgestürzt wäre, weil sie versucht hätte, den Verlust von Anna und ja, auch Thomas, mit Partys zu kompensieren. Und das hätte sie eher früher als später ihre kostbaren Nachrichten, Videochats und Wochenenden mit Anna gekostet.

Trotzdem braucht Marija in ihrem Leben einen Kick.

Sonst könnte sie das alles nicht durchstehen.

Also brettert sie nachts als Drogenkurierin auf dem Mountainbike durch den Wald der Wölfe.

Marija hat keinen Schimmer, was für Stoff sie am anderen Ende der Sperrzone aufliest und auf ihrer Rückfahrt nach Dölmow schmuggelt. Die Gangster im Ort haben hin und wieder mal Andeutungen gemacht. Über einen Chemiker an der Grenze, der besser ist als alle anderen im ganzen Osten, jedoch eine Fußfessel trägt – oder seit der letzten Pandemie das Haus nicht mehr verlässt. Oder über seltene Pilze, die seit Jahren hier im Waldgebiet gezüchtet und als halluzinogene Trüffel verkauft werden.

Vielleicht waren das aber auch alles nur Jokes.

Marija hat noch nie in den Rucksack geschaut, und sie wird es nie tun. Zu viel Wissen bremst einen, lässt einen zögern.

Sie weiß auch nicht, wer das Paket von der gegenüberliegenden Seite aus in den Wald bringt. Die Köche, Erzeuger, Farmer? Andere Fahrradkuriere? Bestochene Soldatinnen und Soldaten? Bauarbeiter, die dabei helfen, die von Warschau in Auftrag gegebene Mauer als Upgrade für die Grenzzäune hochzuziehen, und die sich im Gewusel der Baustellenabschnitte mit Blick auf die Wolfszone leicht mal zwischen den Bäumen davonstehlen und etwas im Reich der Bestien deponieren können?

Es ist Marija wirklich einerlei.

Sie weiß nur: Liegt in ihrem Briefkasten morgens die Speisekarte der Eisbombe, Dölmows einziger Eisdiele, dann ist das ihr Signal, hat sie später eine Nachtfahrt.

Gegen zwei oder drei Uhr zieht Marija ihre Kluft an. Der Körperwärme abschirmende Anzug, aber auch ihr Helm und ihr zweites Mountainbike, die sie nur für die Sperrzone nutzt, sind schwarz grundiert und mit weißen Code-Zeilen, Zahlenkolonnen, AR-Feldern und psychedelischen Mustern bedruckt. Die irritieren die meisten Kameras und Scanner der Bundeswehr, verwirren die künstliche Intelligenz. Modernste Camouflage-Technik. Außerdem hat sie vorne nur einen energiesparenden LED-Clip als Lampe am Bike, der schwaches, notfalls sofort ausschaltbares Licht spendet. Das bisschen Wärme, Elektrizität und Dreidimensionalität, das Marija noch bietet, wird von den Ausschau haltenden Dingen ignoriert – oder anderen Tieren mit Nanos im Körper und ersten kybernetischen Mutationen zugeschrieben.

So hat man es ihr zumindest erklärt.

Die Nummern der Eissorten, die auf der Karte angekreuzt sind, legen Marijas Zutrittspunkt, ihre Route und ihr Ziel fest, die von Mal zu Mal variieren. Das System besteht aus einer wechselnden Reihe von Strecken samt toter Briefkästen im östlichen Teil des Waldes. Die können alles Mögliche sein: ein alter Hochsitz, eine zerfallene Hütte, ein markanter hohler Baum, eine Vertiefung unter einem rankenüberwucherten Steindenkmal, eine Futterkrippe.

In die Zone reinzukommen ist leichter, als Marija anfangs erwartet hat. Entweder nimmt sie den Bolzenschneider aus ihrem Rucksack, oder sie nutzt eine bereits seit Längerem vorhandene Öffnung im Zaun, die ihre unbekannten Verbündeten vom Militär bei ihren Kontrollgängen geflissentlich übersehen – so, wie sie den Dealern in Dölmow auch die Routen der Patrouillen durchgeben.

Früher wurde die Ware mit Autos auf der Landstraße, mit Elektro-Motorrädern auf Feldwegen oder mit fliegenden Drohnen transportiert. Doch aufgrund der Überwachung durch die Bundeswehr und die vielen militärischen und polizeilichen Straßensperren um die Zone ist das zu gefährlich geworden.

In diesem stark kontrollierten Teil von Brandenburg scheint der Wald der Monsterwölfe derzeit noch am geeignetsten, um den Stoff nach Dölmow zu bringen.

Deshalb der direkte Weg hin und zurück. Kurz, unauffällig und so schnell wie möglich.

Mit der Betonung auf schnell.

Also prescht Marija nun halsbrecherisch durch die Finsternis, das Hoheitsgebiet der Bestien.

An ihrem Bestimmungsort angekommen, lehnt sie das Bike an den krummen Baum. Sie sieht sich kurz um und späht in die Dunkelheit. Schließlich nimmt sie das Päckchen, das irgendjemand hier in das verwaiste Eulennest gelegt hat. Verstaut es im Rucksack, setzt ihn wieder auf, schnallt den Gurt fest, dreht ihr Rad in Richtung Dölmow, steigt auf und fährt los.

Nicht lange, und sie hat erneut die Geschwindigkeit erreicht, die dafür sorgt, dass auch auf ihrer Rückfahrt der Wald und die Nacht nur so an ihr vorbeifliegen.

Es ist wie ein Tunnel.

Geschwindigkeit. Freiheit. Gefahr. Rausch.

Darum macht sie das.

Nicht für die Kohle.

Für den Kick, den sie braucht.

Ein Echo ihres alten Lebens auf der Überholspur.

Joe

Nach einem Abendessen mit Pasta-Resten packt Joe seine Reisetasche: Klamotten, Zahnbürste, Rasierer, Waschzeug, Deo, MacBook, Kraupens Ausweise und das verschlüsselte State-of-the-Art-Smartphone, sein altmodisches Notizbuch.

Außerdem legt er seinen grauen Fedora bereit – Joe mag es nicht, das ewige Schnüffler-Klischee zu erfüllen, aber der Hut passt eben am besten zu seinem Kopf und seinem Gesicht, und ohne hält er es bei den Temperaturen in der Pampa garantiert nicht lange aus. Selbst in Berlin trägt er ihn immer öfter, und zwar keineswegs erst ab Juli.

Als er fertig gepackt hat, macht Joe es sich mit dem iPad auf dem Sofa bequem.

Eine Freundin bei der Kripo, die er noch vor seiner Rückfahrt aus Potsdam kontaktierte, hat Joe ein digitales Aktenpaket über das ProW@lf-Camp geschickt. Die Hintergrund-Checks der Leute dort sind die Reaktion der Behörden auf einige zu heftige Aktionen der Demonstrierenden vor der Sperrzone. Denkbar, dass in regelmäßigen Abständen immer mal eine Insektendrohne mit Gesichtserkennungssoftware durchs Lager fliegt.

In den nächsten zwei Stunden geht Joe das Dossier durch. Er ist auf der Suche nach einem notorischen Gewalttäter oder einem potenziellen Serienkiller, dessen Weg Lisa Kraupen im Zeltlager der Wolfsfans gekreuzt haben könnte. Sieht aber nicht danach aus. Ein paar Personen haben Vorstrafen, wenngleich nichts Wildes, meistens wegen Aktivismus oder Drogen. Vorbelastete Killer oder Psychos sind, zumindest laut diesen Aufzeichnungen, keine dabei.

Dafür das Fake-Profil von Sylvia Kraupens Tochter, das Joe jedoch auch keine neuen Hinweise zu Lisas Verbleib gibt.

Nachdem er mit den Akten fertig ist, recherchiert Joe noch etwas online zur Sperrzone.

Früh begegnet ihm das drastische Video aus dem Wald, das heute auch auf den gekaperten Bildschirmen der Demo am Brandenburger Tor lief.

Es hat Hunderte Millionen von Klicks.

Sowie er die Suche verfeinert, kommen aktuellere Clips.

Sie sind meistens aus einer gewissen Entfernung aufgenommen, von Smartphones, Drohnen oder Wildkameras, zeigen riesige Cyborg-Wolfskreaturen beim Überqueren einer Straße, auf einem Feld zwischen Solarmodulen, beim Trinken an einem so gut wie ausgetrockneten Bach, oder klar, am Rand von Wald und Zone.

Aber wer kann schon mit Sicherheit sagen, ob diese ganzen Videos echt oder KI-generiert sind, real oder Deepfake? Sehen alle Wölfe anders aus, liegt es an der Fantasie der Fälscher, oder verändern die Viecher sich dermaßen schnell und individuell?

Den Revolverblättern und Blogs ist es egal, da zählen sowieso nur Klicks, und den Verschwörungstheoretikern, Trollen, Aufwieglern, Politikern, Hatern liefern sie so oder so Munition.

Und warum scheinen sich Fans wie Gegner eigentlich zu wünschen, dass Wölfe und Nanos die Sperrzone schon verlassen haben? Das würde es für alle nur noch schlimmer machen, ökologisch, gesellschaftlich, politisch, militärisch.

Zwei Stunden lang sichtet Joe frisches Material aus Dölmow und Umgebung.

Ein junger Mann behauptet, ein Monsterwolf, mehr Maschine als Tier und so groß wie ein Auto, habe seinen Pudel Santagio auf einem Feldweg angefallen und mit drei Bissen verschlungen.

»Hätt’ gedacht, er schafft’s mit einem«, sagt Joe und klickt weiter.

Eine Frau aus Dölmow, deren Ehemann Joes Erfahrung nach einfach mit seiner oder seinem Geliebten durchgebrannt sein dürfte, kreidet den Bestien das Verschwinden ihres Gatten an. »Harald wäre nie ohne ein Wort gegangen«, heult sie im Brustton der Überzeugung. »Das ist nicht seine Art.«

»Vielleicht ja doch«, meint Joe zu seinem Tablet.

Danach stolpert er über ein Video, in dessen Kommentarspalte sich die Anhängerschaft von Verschwörungstheorien breitgemacht hat. Im Clip geht es um den überfüllten Regionalexpress Richtung Ostsee, der am Wochenende entgleist ist. Laut Comments kann das nur aufgrund eines Cyborg-Ungetüms passiert sein, das sich zum Zug verhielt wie der Eisberg zur Titanic, und nicht, wie es in den Nachrichten heißt, wegen eines Erdrutsches.

»Idioten«, murmelt Joe, und schon lädt das nächste, von einer anderen allgegenwärtigen KI vorgeschlagene Video.

Hinter einer Unterkunft für Klimageflüchtete, keine 20 Kilometer nördlich der Zone, soll ein mutierter Wolf auf spielende Kinder gelauert haben. Eine Politikerin stürmt im Rahmen des Beitrags rechts außen vor und fordert die konsequente Ausweisung aller eingeschleppten Unnatürlichkeiten und Gefahren.