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Ulrich Ott verbindet Weisheit, Wissenschaft und Praxis des Yoga zu einem kompakten Basiswissen. Er stellt den Yoga in der gesamten Bandbreite mit seinen acht verschiedenen Aspekten dar. Nach einer kurzen Darstellung des Welt- und Menschenbildes werden im Hauptteil diese acht Punkte von der Ethik über die Körper- und Atempraxis bis hin zu den Stufen der Meditation systematisch entfaltet. Auf jeder Ebene gibt es zahlreiche Übungen, die die Konzepte konkret und anwendbar werden lassen. Der Schlussteil beinhaltet eine Vertiefung zu den Themen "Reinkarnation", "Kundalini", "Yoga-Therapie" und "Wissenschaft und Spiritualität". Das Besondere sind hier vier sehr spannende Interviews mit Experten auf den jeweiligen Gebieten. Als Wissenschaftler bleibt Ulrich Ott immer kritisch, lässt nichts aus und zeigt, welche Anschauungen spekulativ und welche Übungen riskant sind. Auch die für den rationalen Verstand befremdlichen Aspekte wie sogenannte Kundalini-Erfahrungen werden hier nicht einfach umgangen, sondern sorgfältig beurteilt. Ein fundiertes und ausgewogenes Einsteigerbuch, das einen neuen Maßstab setzt.
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Seitenzahl: 304
Ulrich Ott
Yoga für Skeptiker
Ein Neurowissenschaftler erklärt die uralte Weisheitslehre
Knaur e-books
Gewidmet jenen, die auf der Suche nach Selbsterkenntnis die Grenzgebiete ihres Bewusstseins erforschen.
Antworten auf die Frage »Wer bin ich?«
Wer schaut?
Klärung der eigenen Motive
Keine/weniger Tiere töten (lassen)
Meine zehn liebsten Feinde …
Meditation liebevoller Güte (drei Schritte)
Experimentieren mit Aufrichtigkeit
Was ist unverzichtbar, was überflüssig?
Ein Tag ohne TV, Internet und Telefon
Nehmen und Geben
Stellenwert des eigenen Leibes
Begehren, das Leiden schafft
ntonation von A – U – M
Standfest wie ein Berg
Arme kreisen
Arme nach oben strecken
Arme hinter dem Rücken anheben
Der Baum
Der Held
Hand-Fuß-Stellung
Die Katze
Stellung des Kindes
Der Hase
Der Schmetterling
Mutter-Kind-Stellung
Drehsitz in drei Stufen
Dynamische Brücke
Windbefreiende Übung
Hüftöffner
Variationen des Krokodils
Toten-Stellung
Meditation auf einem Stuhl
Knien ohne/mit Hilfsmitteln
Sitzen mit gekreuzten Beinen
Yoga-Vollatmung
Atemphasen zählen
Wechselseitige Nasenatmung
Kontrollierte Hyperventilation
Reizvolle Stille – sensorische Deprivation
Das innere Chaos beobachten
Mit dem Atem den Geist anhalten?
Mit Denken verbundene Versenkung
Versenkung mit prüfender Überlegung
Versenkung mit innerer Freude
Versenkung in das reine »Ich bin«
Versenkung ohne Erkenntnis
Meditation mit einem Objekt
Reine Spiegelung des Objekts an sich
Das Objekt jenseits von Raum und Zeit
Erkenntnis durch Einssein
Der Berg (tāḍāsana)
Kreisen der Arme
Arme nach oben strecken
Arme hinter dem Rücken anheben
Der Baum (vṛkṣāsana) in drei Stufen
Variation des Helden (vīrabhadrāsana)
Hand-Fuß-Stellung (pādahastāsana)
Die Katze (mārjāriāsana)
Stellung des Kindes
Der Hase (śāśankāsana)
Der Schmetterling
Mutter-Kind-Stellung
Der halbe Drehsitz (ardhamatsyendrāsana)
Dynamische Brücke (setu-bandhāsana)
Windbefreiende Übung (pawanmuktāsana)
Hüftöffner
Variationen des Krokodils (makarāsana)
Toten-Stellung (śavāsana)
Optimale Sitzhaltung auf einem Stuhl
Fersensitz (vajrāsana)
Der halbe Lotossitz (ardhapadmāsana)
Vollkommener Sitz (siddhāsana)
Handhaltung zum Verschließen der Nasenlöcher
Entwicklung der Forschung zum Thema »Yoga«
Bücher haben in meinem Leben eine wichtige Rolle gespielt, und sie tun es noch. Ein Buch zu lesen bedeutet, einem Menschen zu begegnen, in seine Gedankenwelt einzutauchen und sich damit auseinanderzusetzen. Im besten Fall erweitert sich der geistige Horizont, und neue Perspektiven auf die Welt und die eigene Existenz mit ihren Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen sich. Eine solche Begegnung kann bisweilen auch zu einer tiefen Erschütterung führen und den eigenen Lebensweg nachhaltig beeinflussen.
Ein Buch, das genau diese Wirkung auf mich hatte, trägt den Titel Raja-Yoga und wurde von Swami Vivekananda 1895 geschrieben bzw. seiner Sekretärin diktiert. Als ich es zum ersten Mal las, hatte ich gerade mit dem Studium der Psychologie begonnen. Obwohl dies also nun schon fünfundzwanzig Jahre zurückliegt, kann ich mich noch gut daran erinnern, wie ich auf meinem Futonbett lag und beim Lesen den Eindruck hatte, die Stimme Vivekanandas regelrecht zu mir sprechen zu hören. So klar und eindringlich war seine Sprache und Argumentation, dass ich seine geistige Präsenz förmlich zu spüren vermeinte. Was ich da las, war spannender als alle Lehrbücher, die mir im Studium vorgesetzt wurden!
Was Vivekananda in seinem Buch beschrieb, war Psychologie vom Feinsten, aber eine, die in der akademischen Ausbildung damals nicht die geringste Rolle spielte. Denn es ging um die Erforschung der geistigen Vorgänge in der eigenen Psyche, und diese Art der Innenschau (»Introspektion«) galt als notorisch unzuverlässig und war daher verpönt. Dieses Problems war sich Vivekananda völlig bewusst, und er betont in seinem Buch nachdrücklich, dass die Beobachtung der inneren Vorgänge ein intensives Üben über einen langen Zeitraum erfordert.
Das Besondere an Vivekanandas Darstellung des Yoga war die starke empirische Ausrichtung, das heißt, die Erfahrung war für ihn entscheidend und nicht der Glaube oder theoretische Spekulationen. Er forderte seine Leser dazu auf, die Lehren des Yoga unvoreingenommen zu prüfen, die beschriebenen Methoden anzuwenden und die Resultate zu bewerten. Zu nichts anderem möchte ich auch Sie als Leser des vorliegenden Buches einladen.
Seit damals hat mich die Begeisterung für den Yoga nicht mehr verlassen, und ich hatte das Glück, nicht nur privat Erfahrungen sammeln zu dürfen, sondern auch beruflich mit den Instrumenten der modernen Hirnforschung das untersuchen zu können, was mich am meisten interessiert: veränderte Bewusstseinszustände und außergewöhnliche Erfahrungen, die durch psychologische Methoden – insbesondere Meditation – hervorgerufen werden.
Zu den Büchern, die eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen, gehört auch eines, das ich selbst geschrieben habe. Es erschien im Oktober 2010 und trägt den Titel Meditation für Skeptiker. In einem Vorgespräch mit Herrn Andreas Klaus vom O. W. Barth Verlag, der damals auf mich zugekommen war, hatte ich zunächst meine Bedenken geäußert, dass es doch bereits genug Bücher zum Thema »Meditation« gäbe – wozu also noch ein weiteres hinzufügen?
Dem hielt er entgegen, dass für die »kritischen Männer« das Angebot recht dürftig sei; ich als Wissenschaftler und Forscher auf diesem Gebiet könne eine betont rationale, auf Fakten basierende Anleitung für genau diese Zielgruppe schreiben. Zwar würden Männer nicht so viele Bücher kaufen, aber man könne darauf vertrauen, dass die offeneren Frauen so ein Buch willkommen heißen und verschenken würden, um ihre skeptischen männlichen Zeitgenossen vom Nutzen der Meditation zu überzeugen …
Zweieinhalb Jahre (und sieben Auflagen) später ist aus Meditation für Skeptiker tatsächlich ein sehr erfolgreiches Sachbuch geworden. Im Nachhinein hat sich seine damalige Einschätzung also als goldrichtig erwiesen, wobei ich aus zahlreichen Rückmeldungen schließen kann, dass es nicht nur männliche Skeptiker sind, sondern auch viele »kritische Frauen« und Anhänger der Meditation, die das Buch für sich genutzt und zu seinem Erfolg beigetragen haben.
Die positiven Rückmeldungen zu diesem ersten Buch waren und sind insofern wichtig, als sie mir gezeigt haben, wie groß das Bedürfnis nach sachlicher Information in diesem Bereich tatsächlich ist. Und sie haben mich darin bestärkt, in dem vorliegenden Buch Themen anzugehen, die im ersten Buch nicht oder nur in geringem Umfang behandelt wurden.
Dies sind zum einen die Übungen des Yoga, die die stille Meditation im Sitzen ideal ergänzen und vorbereiten, wie beispielsweise die bekannten Yoga-Stellungen und aktiven Atemübungen. Das erste Buch beschränkte sich auf die passive Wahrnehmung körperlicher Empfindungen beim systematischen Durchwandern des Körpers mit der Aufmerksamkeit oder bei der achtsamen Atmung.
Zum anderen geht es im vorliegenden Buch verstärkt um die »höheren« Zielsetzungen des Yoga, um Zustände der Versenkung während der Meditation und außergewöhnliche Erfahrungen, die im ersten Buch nur vergleichsweise kurz behandelt wurden. Existenzielle und mystische Erfahrungen, verbunden mit tiefer Selbsterkenntnis, und (scheinbar) übernatürliche Phänomene begegnen uns in der Yoga-Literatur an vielen Stellen. Was ist davon zu halten?
Ich wünsche Ihnen, dass Sie die Lektüre spannend finden und dazu angeregt werden, die beschriebenen Übungen zu praktizieren, um die Wirkungen des Yoga aus erster Hand zu erfahren.
Abschließend möchte ich noch denjenigen danken, die zu diesem Buch beigetragen haben. Allen voran sind hier meine Interviewpartner – Eberhard Bauer, Liane Hofmann, Imogen Dalmann und Martin Soder sowie Diego Hangartner – zu nennen, die sich ohne Zögern dazu bereit erklärten, meine Fragen zu ihren jeweiligen Fachgebieten zu beantworten, und dadurch die wissenschaftliche Vertiefung im dritten Teil des Buches enorm bereichert haben. Herrn Nishtha Müller danke ich für die Erlaubnis, seine Übersetzung einer vedischen Hymne zu verwenden.
Bei der Darstellung und Analyse der Lehrsätze des Yoga habe ich mich auf die Arbeit von Indologen gestützt, wobei die Bücher von Bettina Bäumer und Reinhard Palm als zuverlässige Referenz dienten. Besonders danken möchte ich in diesem Kontext Philipp André Maas, dessen Übersetzung des ersten Kapitels des Yogasūtra nebst Kommentar sowie Analyse der Grundlagen der Yoga-Psychologie in seiner Magisterarbeit und in mehreren Fachartikeln, die er mir zur Verfügung stellte, eine große Hilfe waren. Seine Arbeiten haben mir den Zugang zu dem herausragenden Werk von Gerhard Oberhammer zu den Strukturen yogischer Meditation eröffnet, die in den Lehrsätzen des Yogasūtra nur äußerst knapp skizziert werden.
Meinem Chef, Dieter Vaitl, danke ich herzlich für die Unterstützung dieses Buchprojekts durch die großzügige Gewährung von zeitlichen Freiräumen, um dieses spannende Grenzgebiet der Psychologie für die wissenschaftliche Forschung und Unterstützung von Ratsuchenden weiter zu erschließen. Meiner langjährigen Kollegin Britta Hölzel bin ich sehr dankbar dafür, dass sie sich trotz vollen Terminkalenders die Zeit genommen hat, für die Abbildungen der Yoga-Stellungen des Buches Modell zu stehen.
Zu guter Letzt möchte ich noch Herrn Andreas Klaus vom O. W. Barth Verlag und meiner Ehefrau Makrina Makridou für ihre große Geduld und Ausdauer beim Redigieren und Zuhören sehr herzlich danken – und für die gemeinsame Begeisterung für die weiten Perspektiven und konkreten Übungen, die die Lehren des Yoga bieten.
Die Auseinandersetzung mit der Weisheitslehre des Yoga ist nicht immer einfach, weil sie uns mit fundamentalen Fragen der eigenen Existenz konfrontiert und diszipliniertes Üben erfordert. Die Mühe, sich mit dem eigenen Geist zu beschäftigen, lohnt sich jedoch, weil sie uns zu uns selbst und zu größerer Freiheit führen kann. Ich wünsche Ihnen viele neue Erfahrungen und tiefe Einsichten auf Ihrem Weg entlang der Leitlinien, die in den Lehrsätzen des Yoga überliefert sind.
Wiesbaden, Mai 2013Ulrich Ott
In diesem Buch wird Yoga als ein Übungsweg vorgestellt, der zu tiefer Selbsterkenntnis und geistiger Freiheit führt. Diese Zielsetzung entspricht den überlieferten Lehrsätzen des Yoga. Dort heißt es, dass die eigene Identität erkannt wird, sobald alle seelisch-geistigen Vorgänge zur Ruhe gekommen sind. Wer diesem Übungsweg folgt und unterscheiden lernt, was er ist und was er nicht ist, erlangt ein hohes Maß an geistiger Unabhängigkeit und Freiheit.
Es wird also viel versprochen und – wie wir noch sehen werden – auch viel verlangt. Und wenn Sie angesichts solcher Versprechungen skeptisch werden und sich fragen, wie das denn genau funktionieren soll, dann sind Sie hier richtig. Denn in diesem Buch wird die »uralte Weisheitslehre«, von der im Untertitel die Rede ist, nicht einfach nur wiedergegeben, sondern kritisch überprüft.
Ein Teil dieser Überprüfung besteht darin, die Aussagen des Yoga auf der Grundlage dessen zu untersuchen, was wir heute über das Bewusstsein und das Gehirn wissen. Der zweite und wichtigere Teil dieser Überprüfung findet jedoch nicht in diesem Buch statt, sondern in Ihrer Psyche. Hierzu bietet Ihnen das Buch zahlreiche Anleitungen, um die Übungen, die den Weg des Yoga ausmachen, selbst zu praktizieren und ihre Wirkungen zu erforschen.
Diese Anleitungen für eine »wissenschaftlich fundierte Yoga-Praxis« finden Sie im zweiten Teil des Buches. Bevor wir dahin kommen, dienen die nachfolgenden Kapitel dazu, die geschichtliche Entwicklung des Yoga zu skizzieren und den grundlegenden Text mit den Lehrsätzen des Yoga vorzustellen. Im dritten Teil wird in einer »wissenschaftlichen Vertiefung« dann auf Forschungsfelder und Anwendungsbereiche eingegangen, in denen die Lehren, Methoden und Wirkungen des Yoga einen wichtigen Beitrag leisten können.
Die Schreibweise der Sanskrit-Begriffe im Text folgt der üblichen Transliteration in lateinische Zeichen, einschließlich der sogenannten diakritischen Aussprachezeichen. Linien über den Vokalen ā, ī, und ū bedeuten, dass diese lang und betont ausgesprochen werden, ohne Linie werden sie kurz ausgesprochen. Die Vokale e und o werden hingegen immer lang ausgesprochen. Die Konsonanten werden wie folgt ausgesprochen:
c → tsch (cakra → tschakra oder citta → tschitta)
j → dsch (raja → radscha oder Arjuna → Ardschuna)
ṃ innerhalb eines Worts → n (saṃsāra → sansāra)
ṛ → ri (prakṛti → prakriti)
s → stimmlos und scharf wie ß
ś und ṣ → sch (puruṣa → puruscha)
v → w (vṛitti → writti oder Vyāsa → Wiāsa)
y am Wortbeginn → j (Yoga → Joga)
y innerhalb eines Wortes → i (dhyana → d-hiana)
Bei den Konsonanten ḍ und ṭ wird die Zunge zum Gaumen gebogen. Sanskrit-Begriffe werden generell klein und kursiv geschrieben. Namen von Personen oder Bezeichnungen, die bekannt sind, werden jedoch groß geschrieben (z.B. Haṭha-Yoga).
Ergänzend zu diesem Buch wurde eine Website eingerichtet, die zusätzliche Informationen für Sie bereitstellt. Dort finden Sie ergänzende Hinweise und Materialien zu jedem Kapitel, und im Literaturverzeichnis sind alle Quellenangaben verlinkt. Im Fall von wissenschaftlichen Artikeln führen Sie die Hyperlinks zu (englischen) Zusammenfassungen in einer frei zugänglichen Datenbank.
Des Weiteren finden Sie auf der Website zum Buch Manuskripte des Autors, die Sie kostenlos herunterladen können. Als Leser können Sie Feedback und Fragen zum Buch per E-Mail an den Autor senden. Die entsprechende E-Mail-Adresse finden Sie ebenfalls auf der Website zum Buch: http://sites.google.com/site/yogafuerskeptiker.
Die Anfänge des Yoga liegen im Dunkeln, weil in Indien damals keine Geschichtsschreibung existierte wie in den Kulturen des Altertums im Mittelmeerraum und Vorderen Orient. Siegel aus Stein, die im Indus-Tal ausgegraben und auf ca. 3000 v.Chr. datiert wurden, werden oft als erste Belege angeführt, weil darauf Yoga-Positionen zu sehen seien. Daraus würde sich eine mindestens 5000-jährige Geschichte ergeben (Tietke, 2007). Solche Schlussfolgerungen werden von manchen Forschern als »hochspekulativ« (Singleton, 2010, S. 25) angesehen, weil diese archäologischen Funde keinen oder nur einen geringen Aufschluss über die tatsächlichen religiösen Praktiken dieser Zeit geben würden. Tietke weist jedoch darauf hin, dass das Einnehmen der dargestellten Sitzhaltung (eine Art Schneidersitz mit aneinandergelegten Fußsohlen) Übung erfordern würde. Feuerstein (2010) argumentiert, dass die Siegel alleine zwar kein hinreichendes Indiz wären, aber aufgrund von Bezügen zu überlieferten Texten als Hinweis auf Vorläufer des Yoga eingestuft werden könnten (S. 191).
Der älteste Text des sogenannten vedischen Zeitalters, für das Feuerstein (2010, S. 130) eine Spanne von 4500 bis 2500 v.Chr. angibt, ist der Rigveda. Darin taucht das Wort »Yoga« ebenso wenig auf wie in den anderen Texten dieser Periode. Die Hymnen des Rigveda stammen von hochverehrten sogenannten »Sehern«, denen in einer inneren Schau angeblich Wahrheiten über eine verborgene Realität und verschiedene Gottheiten offenbart worden waren. Durch die Rezitation der Hymnen im Rahmen von Opferritualen wurden Letztere angerufen und um günstige Einflussnahme gebeten. Nachfolgend ist exemplarisch die Hymne V.25 aus dem Rigveda wiedergegeben, die an das göttliche Feuer (»Agni«) gerichtet ist. Der Text wurde freundlicherweise von Nishtha Müller zur Verfügung gestellt, der sich seit vielen Jahren intensiv mit dem Rigveda befasst, die Hymnen übersetzt und sowohl auf Sanskrit wie auch auf Deutsch rezitiert (bei Interesse an Aufnahmen: [email protected]; Link zu Hörproben: siehe »Website zum Buch«).
Hymne V.25 aus dem Rigveda, übersetzt von Nishtha Müller (gekürzt)
»Zu eurer Entfaltung will ich zu Agni, dem Göttlichen, singen; er ist unser leuchtender Schatz (im Inneren). Möge er reich erstrahlen, der Sohn der nach dem Wissen Strebenden. Im Besitz der dynamischen Wahrheit, möge er uns jenseits der Einflüsse der Abspaltung (der Dualität und Getrenntheit vom Ursprung) bringen.« (1)
»Denn er ist das Wesen der höchsten Wahrheit des Seins, den schon die ursprünglichen Seher (…) entfacht haben – den Anrufer mit ganz verzückter Zunge, den mit vollkommenen Lichtern weit scheinenden Schatz (im Inneren).« (2)
»O Flamme, durch unsere höchste (intuitive) Intelligenz und unser glanzvollstes beseeltes, rechtes Denken, durch diese vollkommen läuternden Worte erleuchte für uns die Reichtümer (…).« (3)
»Agni strahlt herrlich in den Göttern, die Flamme geht ein in die Sterblichen (…).« (4)
»Agni gibt dem Geber des Opfers den Höchsten als den (inneren) Seelen-Sohn mit den reichsten Eingebungen und vielen schöpferischen Worten – den unüberwindbaren Herrn, der die Inspiration erschafft.« (5)
»Agni gibt uns den Herrn des höchsten Seins, der mit seinen Seelen-Kräften im Kampf (die Unbewusstheit) bezwingt (…).« (6)
»Was die beste Tragkraft (in uns) hat, das geben wir der Flamme. O weit scheinender Schatz (im Inneren), erleuchte singend die Weite (des Überbewussten) (…).« (7)
»Voll Glanz sind deine erleuchtenden Strahlen (…). Und ganz von selbst erhebt sich deine Stimme gleich dem Donner des Himmels.« (8)
»So haben wir Sucher des leuchtenden Schatzes Agni, den Bezwinger (der Unbewusstheit), geehrt. Mit seiner vollkommenen Willenskraft möge er uns, wie ein Boot (über das Wasser), jenseits aller Einflüsse der Abspaltung bringen.« (9)
Die poetische, emotional aufgeladene und an Symbolen reiche Sprache, in der die Hymnen verfasst sind, steht in starkem Kontrast zu dem nüchternen, ja geradezu technischen Stil der Lehrsätze des Yoga, die den Ausgangspunkt für unsere Analyse bilden werden (siehe nachfolgendes Kapitel). Trotz deutlicher Unterschiede in der Form klingt in den Hymnen bereits das Thema der Selbsterkenntnis an, das auch im Zentrum des Yoga steht. Das beim Opferritual angebetete Feuer strahlt nicht nur »herrlich in den Göttern«, sondern geht auch »in die Sterblichen« ein, als leuchtender Schatz im Inneren und Flamme, die es zu entfachen gilt, um die Unbewusstheit zu überwinden und die Weite des Bewusstseins zu realisieren, die über das persönliche Ich hinausgeht.
Der Brahmanischen Periode, die sich laut Feuerstein (2010) von ca. 2500 bis 1500 v.Chr. erstreckte, folgte die Periode der Upanishaden (1500 bis 1000 v.Chr.), wobei all diese Zeitangaben nur einer groben Orientierung dienen sollen, da die Datierung der Texte, wie eingangs erwähnt, mit einer sehr großen Unsicherheit belastet ist.
In den Upanishaden werden Techniken des klassischen Yoga, wie die Meditation mit dem Mantra OM, erstmals explizit angesprochen. Es wird auch bereits eine Unterteilung des Yoga in verschiedene »Glieder« vorgenommen. So heißt es in der Maitrāyaṇa-Upanishad6,18: »Folgendes ist die Ordnung zur Bewerkstelligung derselben [der Einheit]: Anhalten des Atems, Zurückziehung der Sinnesorgane, Meditation, Fixierung des Denkens, Kontrollierung derselben und Versenkung; dieses wird der sechsgliedrige Yoga genannt.« (Michel, 2007, S. 432)
Fünf dieser sechs Glieder sind auch in den klassischen Lehrsätzen des Yoga enthalten, der die folgenden acht Glieder nennt (eine ausführliche Erläuterung folgt in Teil II):
Äußere Disziplin (yama)
Innere Disziplin (niyama)
Sitzhaltung (āsana)
Atemregelung (prāṇāyāma)
Zurückziehen der Sinne (pratyāhāra)
Konzentration (dhāraṇā)
Meditation (dhyāna)
Versenkung (samādhi)
Die ersten drei Glieder tauchen im oben zitierten Text der Upanishad nicht auf. Die übrigen Glieder sind identisch, lediglich die Reihenfolge von Konzentration (oben »Fixierung des Denkens«) und Meditation ist vertauscht. Außerdem wird in der Upanishad die »Kontrollierung« (tarka) der Fixierung als eigenes Glied aufgeführt.
Anders als bei den Hymnen des Rigveda stehen in den Upanishaden innere Vorgänge im Mittelpunkt. In den Versen finden sich neben Göttern und einer bilderreichen Sprache auch ganz konkrete Anweisungen für bestimmte Übungen. Der nachfolgende Auszug aus der Amṛitabindu-Upanishad soll diese Entwicklung verdeutlichen.
Auszug aus der Amṛitabindu-Upanishad, übersetzt von Paul Deussen (Michel, 2007, S. 789–795), vollständiger Text inklusive Anmerkungen: siehe »Website zum Buch«
Vers 1–4. Erhabenheit des Brahman über die Schriftgelehrsamkeit und über die hörbaren Teile des Wortes Om.
[Die Verse benennen die Meditation mit OM als Methode, um zu einem »tonlosen, lautlosen, unsichtbaren Ort« zu gelangen.]
Vers 5–16. Die sechs Glieder des Yoga.
[Vers 5 erläutert das Glied der Zurückziehung.]
6. Zurückziehung und Nachsinnen,
Atemhemmung und Fesselung,
Reflexion und Einkehrung,
Die sechs Glieder des Yoga sind.
[Die Verse 7 bis 16 geben Erläuterungen zur Atemhemmung und den anderen Gliedern.]
Vers 17–27. Regeln für den Yoga.
[Vers 17 beschreibt einen für die Meditation geeigneten Platz.]
18. Den Lotossitz, den Kreuzformsitz,
Oder auch wohl den Glückessitz
Als Yogasitz richtig schlingend,
Bleibt er nach Norden zu gewandt.
19. Ein Nasloch schließt mit dem Finger,
Luft zieht ein durch das andre er,
Staut in sich auf das Kraftfeuer
Und überdenkt den heil’gen Laut.
20. Om! diese Silbe ist Brahman,
Mit Om allein er atme aus,
Mit diesem Himmelslaut oftmals
Wäscht er der Seele Flecken ab.
[Die Verse 21 bis 26 geben weitere Hinweise zur Durchführung der Meditation.]
27. Vor Furcht, vor Zorn und vor Schlaffheit,
Vor zu viel Wachen, zu viel Schlaf,
Vor zu viel Nahrung, Nichtnährung
Soll der Yogin sich hüten stets.
[Die Verse 28 bis 37 beschreiben Früchte des Yoga und verschiedene Formen der Lebensenergie (prāṇa) im Leib.]
Vers 38. Schlusswort.
38. Bei wem, durch diesen Ring brechend,
Der Lebenshauch zum Haupte steigt,
Wo der auch immer mag sterben,
Er wird nimmer geboren mehr,
– er wird nimmer geboren mehr.
Im letzten Vers wird eine Zielsetzung angesprochen, mit der wir uns noch beschäftigen werden: die Verhinderung einer Wiedergeburt. Die in Vers 6 genannten Glieder des Yoga sind identisch mit denen in der Maitrāyaṇa-Upanishad, wobei die Atemregelung hier nun nach dem Zurückziehen der Sinne und der Meditation genannt wird. Die Sitzhaltung wird bereits angesprochen, wird jedoch nicht in den Rang eines eigenständigen Gliedes erhoben. Wir haben hier die ersten schriftlichen Zeugnisse einer Systematisierung vor uns, die dann in den klassischen Lehrsätzen des Yoga ihren Höhepunkt fand.
Bevor wir zu diesem Punkt kommen, ist jedoch noch eine weitere wichtige Periode zu nennen, die Feuerstein (2010) als »Epische Periode« bezeichnet (1000 bis 100 v.Chr.). Prägend für sie ist das Mahābhārata-Epos. Die Bhagavad-Gītā ist ein Teil dieses umfangreichen Werkes und beschäftigt sich eingehend mit dem Yoga. Der Text gibt den Dialog zwischen Arjuna und dessen Wagenlenker Gott Krishna wieder, die kurz vor einer Schlacht stehen. Arjuna möchte nicht kämpfen, weil sich Verwandte in den feindlichen Reihen befinden. Dies ist die Ausgangssituation für die Belehrung Arjunas durch Krishna, in deren Verlauf verschiedene Wege des Yoga erläutert werden:
Yoga der Tat (karma), gekennzeichnet durch selbstloses Handeln, das in den Dienst Gottes und der Mitmenschen gestellt wird und keine Belohnung erwartet;
Yoga der Hingabe (bhakti), wobei die liebende Ausrichtung auf einen persönlichen Gott (oder Guru) sich ausdrückt in Mantra-Wiederholung, Gesang und religiösen Opfer-Zeremonien;
Yoga der Erkenntnis (jñāna), hier stehen die Auseinandersetzung mit dem in den heiligen Schriften überlieferten Wissen und dessen geistige Durchdringung im Mittelpunkt;
Yoga der Meditation (dhyāna), bei der die gesammelte Aufmerksamkeit nach innen gerichtet wird, um zu tiefer Ruhe, Versenkung und Selbsterkenntnis zu gelangen.
Nachfolgende kurze Passagen illustrieren den Stil, in dem die Unterweisungen von Krishna erfolgen.
Ausführungen zu den Yoga-Wegen in der Bhagavad-Gītā (Prabhavananda & Isherwood, 1989)
»Handeln ist besser als untätig sein. Handle, aber beherrsche dabei ständig dich selbst! (…) Die ganze Welt ist die Gefangene des eigenen Tuns, wenn die Tat nicht geschieht als Anbetung Gottes. Deshalb musst Du jegliche Tat vollziehn wie ein Sakrament und frei sein von aller Bindung an die Ergebnisse.« (S. 66)
»Die Herzen, die mir [Krishna] zugetan sind in getreuer Liebe und mich mit unbedingter Gläubigkeit verehren, erfassen inniger, was Yoga lehrt. (…) Rasch komm ich denen entgegen, die jegliches Wirken mir darbringen, und mit unverzagter Ergebung einzig mich anbeten als ihre köstlichste Wonne.« (S. 149f.)
»Andre, die um Vervollkommnung ernstlich bestrebt und Männer strenger Gelübde sind, erforschen und überdenken die Wahrheit der Heiligen Schriften.« (S. 79)
»Der Yogi soll in die Einsamkeit gehen und danach streben, Meisterschaft zu erlangen über Körper und Geist. Den Hoffnungen und Besitztümern dieser Welt muss er entsagen und pausenlos sich in den Atman versenken. (…) Wenn er dort sitzt, muss er in Schach halten Sinne und Phantasie und die Gedanken einzig auf ein Ziel zusammenziehen.« (S. 96f.)
Es handelt sich um die vier als »klassisch« geltenden Yoga-Wege, wobei der Weg der Kontrolle des Geistes durch Meditation heute üblicherweise als königlicher (rāja) Yoga bezeichnet wird. Dieser Begriff taucht jedoch erst in späteren Texten auf und etablierte sich durch das im Vorwort erwähnte Buch Vivekanandas (2011) für den achtgliedrigen Weg, der in den Lehrsätzen des Yoga beschrieben wird (eine Gleichsetzung, die nachträglich vorgenommen wurde und sich inzwischen durchgesetzt hat, aber eigentlich nicht zutreffend ist; siehe De Michelis, 2004, S. 178–180).
Die religiöse Prägung des Yoga, wie er in der Bhagavad-Gītā dargestellt wird, ist offenkundig. Und wenn Sie als skeptischer Mensch dem Religiösen kritisch gegenüberstehen, sehen Sie etwaige Vorbehalte bezüglich des Yoga nun vielleicht bestätigt. Möglicherweise kennen Sie Bilder von singenden Anhängern, die in Ergebenheit und Verzückung ihren Guru oder Gottheiten preisen, und möchten mit so etwas nun wirklich nichts zu tun haben!
Als aufgeklärter Zeitgenosse werden Sie erst recht den Kopf schütteln, wenn Krishna in der Gītā erklärt, dass er dem Karma entsprechend die vier gesellschaftlichen Kasten (Priester, Krieger, Händler, Handwerker) aufgestellt habe. Arjuna habe als Mitglied der Kriegerkaste seine Pflicht zu erfüllen: »denn für den Krieger gibt es nichts Edleres als den gerechten Krieg. Glücklich der Krieger, dem eine Schlacht wie diese hier winkt: sie öffnet ein Tor zum Himmel. Weigerst du dich jedoch, gerechten Krieg zu führen, so weichest weidlich von deinen Pflichten du ab. Schuldig machst du dich dann und gereichst dir selber zur Schande. Durch Jahrhunderte hin folgt dir der übelste Ruf. Wer noch auf Ehre hält, dem ist dies schlimmer als der Tod.« (Prabhavananda & Isherwood, 1989, S. 56f.)
Krishna weist Arjuna außerdem darauf hin, dass die Seele ewig und unzerstörbar sei und dass es daher sinnlos wäre, um ein Wesen zu trauern (gemeint sind die Verwandten, die in der Schlacht fallen werden). Am Ende gibt Arjuna schließlich seinen Widerstand auf und erklärt seine Bereitschaft zu kämpfen: »Durch deine Gnade, Herr, ward all mein Wahn zunichte. Mein Sinn ist nun gefestigt, seine Zweifel sind dahin. Ich will dein Gebot nun erfüllen.« (S. 197)
Yoga hauptsächlich als Religion und sogar als Rechtfertigung für den Krieg? Ja, das ist in der Tat der Eindruck, den der bisherige Gang durch die Geschichte des Yoga hinterlässt. Das Bild ändert sich jedoch, wenn wir uns nun der »klassischen Periode« und damit den Lehrsätzen des Yoga zuwenden. Nach Feuerstein (2010) umfasst sie den Zeitraum von 100 v.Chr. bis 500 n.Chr. Der für uns entscheidende Text ist das Yogasūtra, das einem Autor namens Patañjali zugeschrieben wird. Es herrscht heute Einigkeit darüber, dass dieser Autor nicht identisch mit einem berühmten Grammatiker gleichen Namens ist, der etwa 200 v.Chr. gelebt hat. Heute kann mit einiger Sicherheit davon ausgegangen werden, dass das Yogasūtra in einem Zeitraum von 325 bis 425 n.Chr. verfasst wurde (Maas, im Druck), wobei einige der Lehrsätze offenbar aus älteren Quellen übernommen wurden.
Selbstloses Handeln, Hingabe an Gott und das Studium der Schriften sind zwar im Yogasūtra enthalten, aber nicht im Sinne von religiösen Ritualen, sondern als Übungen, die der Vorbereitung auf die Meditation dienen oder selbst Formen der Meditation darstellen. Das nachfolgende Kapitel wird den Aufbau und die Inhalte des Yogasūtra noch ausführlich behandeln. Aus historischer Perspektive ist vor allem festzuhalten, dass es Patañjali gelang, die Quintessenz des Yoga in einer Weise zusammenzufassen, dass das Yogasūtra bis heute als authentische Referenz mit unbestrittener Autorität gilt.
Die nachfolgende »Tantrische Periode« (500 bis 1300 n.Chr.) und die »Periode der Sekten« (1300 bis 1700 n.Chr.) sind für die Entwicklung des Yoga insofern bedeutsam, als sich in diesem Zeitraum, in dem das europäische Mittelalter liegt, die Richtung des Haṭha-Yoga entwickelte. Im Sanskrit-Wörterbuch von Mylius (1992) findet sich zum Begriff haṭha folgender Eintrag: »1. Zwang, Gewalt; 2. Notwendigkeit; 3. mit großer Selbstpeinigung verbundene Yoga-Form.« Heutzutage wird auch gerne vom Yoga der »Kraft, Ausdauer, Energie« (Huchzermeyer, 2007) gesprochen oder das Wort in die Silben »ha« (Sonne) und »tha« (Mond) zerlegt, um die alte »harte Methode« von einer modernen »gemäßigten Methode« abzugrenzen, bei der es um den harmonischen Gleichklang der »Polaritäten« im Körper gehe, für die Sonne und Monde stünden (Wieland, 1992).
Es drängt sich hier allerdings der Verdacht einer gewissen verbalen Schönfärberei auf, denn einige der Reinigungsübungen, die in den grundlegenden Schriften des Haṭha-Yoga beschrieben werden, sind eher etwas für »Hartgesottene«, wenn beispielsweise bis zum Nabel im Wasser stehend der Darm gereinigt werden soll (Thomi, 2006, S. 13). Es handelt sich bei diesen Schriften um die Haṭha-Yoga-Pradīpikā, die aus dem 15. Jahrhundert stammt, die Geraṇḍha-Saṁhitā aus dem späten 17. Jahrhundert und die vermutlich etwa zeitgleiche Śiva-Saṁhitā.
Die Übungen des Haṭha-Yoga dienen vom Selbstverständnis her dazu, den Körper für den Raja-Yoga vorzubereiten. Dazu gehören Verfahren, um den physischen Leib zu säubern (Einläufe, Schlucken und wieder Herausziehen eines langen Stoffstreifens, Abschaben der Zunge und dergleichen). Eine Reihe von (teils akrobatischen) Stellungen soll eingenommen und gehalten werden, um den Körper zu kräftigen und für das Sitzen in der Meditation vorzubereiten.
Atemübungen kombiniert mit sogenannten Verschlüssen, bei denen bestimmte Muskelgruppen angespannt werden, dienen dazu, die Lebensenergie (prāṇa) im Körper zu lenken. Schließlich soll die sogenannte Schlangenkraft (kuṇḍalinī), die am Beckenboden unterhalb des Steißbeins ruhe, zum Aufstieg entlang der Wirbelsäule bis zur Schädeldecke bewegt werden und dabei sieben Energiezentren (cakra, wörtlich: Rad, rotierend) aktivieren.
Der Haṭha-Yoga entwickelte sich als asketische Reformbewegung aus dem mittelalterlichen Tantra heraus, in dem die Verehrung weiblicher Göttinnen und rituelle Sexualität von zentraler Bedeutung waren. Sexuelle Praktiken werden auch im Haṭha-Yoga beschrieben, dienen dort jedoch nicht der lustvollen Vereinigung, sondern primär der Kontrolle sexueller Energie (der Samen soll zurückgehalten werden; Svātmarāmā, 2009, S. 90).
Beim Übergang zur Moderne ab dem 17. Jahrhundert standen die Yogis in Indien in keinem guten Ruf, und auch die Berichte westlicher Besucher aus dieser Zeit zeichnen ein sehr negatives Bild, das sie mit »schwarzer Magie« und »perverser Sexualität« in Verbindung bringt (Singleton, 2010, S. 35). Die Briten, die alsbald begannen, Handel in Indien zu treiben, und ab der Mitte des 19. Jahrhunderts als Kolonialmacht bis 1947 den gesamten indischen Subkontinent beherrschten, begegneten den nackten oder mit Asche bedeckten Asketen in der Regel ebenfalls mit Feindseligkeit und Misstrauen.
Zu einer Wiederentdeckung und neuen Wertschätzung des Yoga in der indischen Gesellschaft und dann im Westen kam es erst Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Forschung zur Entwicklung der modernen Praxis der Yoga-Stellungen (āsana) hat ergeben, dass diese eine Innovation darstellt und keine durchgehende Traditionslinie mit dem Haṭha-Yoga der mittelalterlichen Asketen besteht (Singleton, 2010). Die moderne Āsana-Praxis ist vielmehr eine Synthese aus mehreren Elementen, zu denen auch Einflüsse einer damals neu entstehenden und weltumspannenden Körperkultur gehören. Ein Großteil der heute existierenden unterschiedlichen Yoga-Stile geht auf eine relativ kleine Gruppe von indischen Lehrern zurück, von denen Krishnamacharya (1888–1989) der bedeutendste sein dürfte, da seine Schüler einen großen Bekanntheitsgrad erlangt haben (unter anderem: K. Pattabhi Jois, B. K. S. Iyengar, Indra Devi und T. K. V. Desikachar).
Zur Verbreitung des Yoga im Westen haben noch viele weitere Persönlichkeiten beigetragen, von denen einige der Bekanntesten an dieser Stelle kurz erwähnt werden sollen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit, alphabetisch nach den Nachnamen sortiert):
Sri Aurobindo (1872–1950); schuf den »Integralen Yoga«, der die klassischen Wege des Yoga der Bhagavad-Gītā miteinander verbindet; nach ihm ist das Stadtprojekt »Auroville« (Indien) benannt.
Yogi Bhajan (1929–2004); Begründer des »Kuṇḍalinī-Yoga«; auf seine Initiative geht die Gründung der 3H-Organisation zurück (»healthy, happy, holy«), die auch in Deutschland tätig ist.
Swami Muktananda (1908–1982); machte den »Siddha-Yoga« im Westen bekannt, bei dem eine Erweckung der Kuṇḍalinī durch direkte Übertragung (Shaktipat) angestoßen werden soll; seine Schülerin Gurumayi Chidvilasananda setzt seine Arbeit fort.
Swami Rama (1925–1996); gründete das Himalayan Institute of Yoga Science and Philosophy, das auch in Deutschland eine Zweigstelle hat; einer der Schüler, die seine Arbeit fortführen, ist Veda Bharati.
Ramakrishna (1836–1886); war ein bedeutender indischer Mystiker. Dessen bekanntester Schüler Swami Vivekananda (1863–1902) erregte 1893 auf dem Weltparlament der Religionen als erster Hindu viel Aufsehen und gründete die »Ramakrishna-Mission«, die nicht nur die Lehre verbreitet, sondern sich auch sozial engagiert.
Swami Sivananda (1887–1963); sein Schüler Swami Vishnudevananda gründete die Sivananda Yoga Vedanta Organisation; dessen Schüler Sukadev Bretz wiederum gründete eine eigene Yoga-Bewegung namens Yoga Vidya.
Paramahansa Yogananda (1893–1952); wurde vor allem bekannt durch sein Werk Autobiographie eines Yogi; seine Organisation nennt sich Self-realization Fellowship und bietet auch Fernunterricht über sogenannte Lehrbriefe an.
Maharishi Mahesh Yogi (1918–2008); Begründer der Transzendentalen Meditation (TM), die in den 60er Jahren unter anderem durch die Beatles sehr bekannt wurde und sich rasant verbreitete; die Organisation zur Vermarktung der TM wird in dem Film David wants to fly von David Sieveking kritisch porträtiert.
Damit endet dieser kurze Blick auf die Geschichte des Yoga, der Ihnen die Orientierung in diesem weiten Feld erleichtern soll. Während des Booms der letzten Jahre sind viele weitere Yoga-Stile (Power-Yoga, Lach-Yoga etc.) entstanden, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll. Wenn Sie tiefer in die Geschichte des Yoga eindringen möchten, bietet Ihnen das Buch von Feuerstein (2010) eine umfassende Darstellung. Den gesamten »Stammbaum« des Yoga mit all seinen Verzweigungen und Blüten stellt Tietke (2007) vor. Vom selben Autor stammt ein Buch über »Yoga in seiner Vielfalt« (Tietke, 2008), das Interviews mit Lehrenden enthält und einen Eindruck von den verschiedenen Traditionslinien vermittelt, in denen diese jeweils stehen.
Auf der »Website zum Buch« finden Sie weitere Empfehlungen und Links zu Ressourcen, wie beispielsweise den sehenswerten Film Yoga unveiled oder die Leseprobe von Yoga für Dummies (Feuerstein, 2011), die unter anderem eine Kurzbeschreibung populärer Varianten des Haṭha-Yoga enthält.
Nach diesem Ausflug in die Geschichte kommen wir nun dazu, das vielfach erwähnte Yogasūtra genauer unter die Lupe zu nehmen. Das Sanskrit-Wort »sūtra« bedeutet »Faden«, »Kette« und bezeichnet eine spezielle Textform, bei der meist sehr kurze, einprägsame Lehrsätze bzw. Merksätze aneinandergereiht sind. Oft wird das Yogasūtra auch als »Leitfaden« des Patañjali bezeichnet. Die einzelnen Sätze sind auch deshalb so kurz, weil sie fast nur aus Nomen bestehen (Nominalstil). In den Übersetzungen werden die verbindenden Wörter üblicherweise in Klammern eingefügt, um das Verständnis zu erleichtern. Das Yogasūtra besteht aus insgesamt 195 Sätzen, in manchen Fassungen sind es auch 196, die auf vier Kapitel (pāda) verteilt sind:
I. Samādhipāda: Über die Versenkung (51 Sätze)
II. Sādhanapāda: Über die Übung (55 Sätze)
III. Vibhūtipāda: Über die übernatürlichen Kräfte (55 Sätze)
IV. Kaivalyapāda: Über die Freiheit (34 Sätze)
Das erste Kapitel definiert eine Reihe von Begriffen und gibt einen Überblick über den Weg des Yoga und sein Ziel: Selbsterkenntnis durch Versenkung. Auch der Begriff »Yoga« selbst wird definiert. Vielleicht haben Sie sich gewundert, dass bisher noch nicht erklärt wurde, was das Sanskrit-Wort »yoga« eigentlich bedeutet. Das ist bei einem Buch mit wissenschaftlichem Anspruch in der Regel doch immer der erste Schritt! In diesem Fall ist dieser Schritt bisher unterblieben, weil uns die technische »Arbeitsdefinition« Patañjali selbst liefert, und zwar – ganz im wissenschaftlichen Stil – gleich in den ersten Lehrsätzen.
Nachfolgend werden die ersten drei Lehrsätze des Yogasūtra zunächst in Sanskrit wiedergegeben (die römische Zahl gibt im Folgenden immer das Kapitel an, durch einen Punkt getrennt folgt dann die Nummer des Lehrsatzes innerhalb dieses Kapitels):
I.1 atha yoga-anuśāsanam.
I.2 yogaś citta-vṛtti-nirodhaḥ.
I.3 tadā draṣṭuḥ svarūpe’vasthānam.
Nun folgen verschiedene deutsche Übersetzungen, die die Variationsbreite verdeutlichen und die Frage nach der »richtigen« bzw. »besten« Übersetzung aufwerfen, auf die im Anschluss eingegangen wird.
Bäumer (Patañjali, 2010):
I.1 Nun (folgt) die Disziplin des Yoga.
I.2 Yoga ist jener innere Zustand, in dem die seelisch-geistigen Vorgänge zur Ruhe kommen.
I.3 Dann ruht der Sehende in seiner Wesensidentität.
Desikachar (2009):
I.1