Zabor - Kamel Daoud - E-Book

Zabor E-Book

Kamel Daoud

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Beschreibung

Ein Geschichtenerzähler, der Leben verlängern kann. In seinem zweiten Roman erforscht Kamel Daoud, der für sein Debüt »Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung« von Kritik und Publikum international gefeiert wurde, das menschliche Dasein mit den Methoden aus Tausendundeiner Nacht. Eine große Parabel über die Macht des Erzählens und des Erzählers. Ismaël, der sich selbst Zabor nennt, verliert früh seine Mutter. Der Vater verstößt ihn, Stiefmutter und Halbgeschwister wollen das Kind nicht im Haus haben. Zabor wächst bei seiner altjüngferlichen Tante und dem stummen Großvater auf. Trost und Zuflucht findet er in der Literatur, er verschlingt alles, was er in die Finger kriegen kann. Viel ist das jedoch nicht in einem algerischen Dorf, das im Süden bereits an die Sahara grenzt, und so beginnt Zabor, seine eigenen Geschichten zu schreiben und entdeckt dabei schon früh ein besonderes Talent: Er hat die Gabe, das Leben von Sterbenden zu verlängern. So lange er über die Leute schreibt, so lange hält er den Tod auf Abstand. Wenn der Arzt und das Heilige Buch nicht mehr helfen können, dann holt man Zabor. So auch, als eines Tages sein Vater im Sterben liegt. Kamel Daoud, der für sein Debüt »Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung« von Kritik und Publikum international gefeiert wurde, hat einen bildstarken und kraftvollen Roman geschrieben: Über Heimat und Familie, über die Macht der Religion und über die große Liebe zur Literatur, die alles sein kann, Unterdrückungsinstrument genauso wie Mittel zur Befreiung.

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Seitenzahl: 437

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Kamel Daoud

Zabor oder Die Psalmen

Roman

Aus dem Französischen von Claus Josten

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Kamel Daoud

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

HinweisWidmungMottoI Der Körper1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. KapitelII. Die Sprache11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. KapitelIII Ekstase33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. KapitelDank
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Der Übersetzer bedankt sich für die Förderungen aus dem Elmar-Tophoven-Mobilitätsfonds der Robert-Bosch-Stiftung und des Deutschen Übersetzerfonds für einen Arbeits- und Rechercheaufenthalt in Frankreich. Außerdem für die Unterstützung durch das französische Centre National du Livre (CNL)

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Meinem Vater Hamidou,

der mir sein Alphabet vererbt hat.

Er starb so würdevoll,

dass er seinen Tod besiegt hat.

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Mit diesen kleinen, gedrungenen Buchstaben beschreibst du, was du siehst und hörst, sie sind gedrungen wie Ameisen und gehen aus von deinem Herzen nach rechts zu deinem Stolz.

Die Araber haben liegende Buchstaben, die sich auch hinknien und aufrichten wie Lanzen: Das ist eine Schrift, die sich ausbreitet und wieder zusammenfaltet wie eine Luftspiegelung, und die alles weiß, wie die Zeit, und stolz ist wie der Kampf.

Und ihre Schrift geht geradewegs von ihrem Stolz aus, um links dort anzukommen, wo alles endet: im Herzen.

Unsere Schrift im Hoggar ist eine Schrift von Nomaden, weil sie vielbeinig wie die Herden aus ganz vielen Stöcken besteht. Alles, was die Wüste durchschweift, Menschenbeine, Beine von Meharas, von Zebus, von Gazellen.

Und die Kreuze sagen dir, ob es dann nach rechts oder links geht, und, schau mal, die Punkte, es gibt so viele Punkte. Das sind die Sterne, die uns in der Nacht leiten, weil wir Sahara-Menschen nur einen Weg kennen, diesen Weg, auf dem uns abwechselnd nur die Sonne und die Sterne den Weg weisen.

Und wir gehen aus von unserem Herzen und drehen und wenden uns in immer größer werdenden Kreisen darum herum, um dann die anderen Herzen im Kreislauf des Lebens zu umfangen, wie der Horizont deine Herde und Dich selbst umfängt.

DASSINE OULT YEMMA, Tuareg-Musikerin und Dichterin am Beginn des 20. Jahrhunderts

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IDer Körper

1

(Draußen krümmt sich der Mond wie ein heulender Hund vor Schmerz. Die Nacht ist in ihrer dunkelsten Tiefe und erlegt dem kleinen Dorf unbekannte, unermessliche Weiten auf. Jemand rüttelt heftig am Schnappschloss der alten Tür und andere Hunde antworten darauf. Ich weiß nicht, was ich machen soll, und auch nicht, ob ich aufhören muss. Das schwerfällige Atmen des Alten lässt die Zimmerecken näher rücken und liegt beklemmend in der Luft. Ich versuche mich abzulenken, indem ich woanders hinschaue. Auf die Wände des Zimmers, zwischen dem Schrank und dem Foto von Mekka, wo die abgeblätterte alte Wandfarbe Kontinente zeichnet. Alte ausgetrocknete und durchlöcherte Meere. Ausgetrocknete Flüsse, vom Himmel aus gesehen. »Nūn! Bei dem Griffel und wer ihn führt«, spricht das Heilige Buch in meinem Kopf. Aber das nutzt nichts. Der Alte hat keinen Körper mehr, nur noch ein Kleidungsstück. Er wird sterben, weil er im Buch seines Lebens keine Seiten mehr zu lesen hat.)[1]

 

Schreiben ist die einzig wirksame List gegen den Tod. Die Leute haben es mit dem Beten, den Medikamenten, der Magie, den Versen in endlosen Schleifen oder mit Bewegungslosigkeit versucht, aber ich bin wohl der Einzige, der die Lösung gefunden hat: Schreiben. Aber ich musste wirklich immer schreiben, mir nur kurz Zeit nehmen, um zu essen und um meine Notdurft zu verrichten, gerade zur Genüge kauen und den Rücken meiner Tante kratzen, während ich sehr frei die Dialoge der ausländischen Filme übersetze, um ihre Erinnerungen an all die Lebensgeschichten wiederzubeleben, die sie nie gelebt hat. Die arme Frau, die für sich allein schon ein Buch verdient, das sie hundert Jahre alt werden lassen würde.

 

Streng genommen durfte ich nie mehr den Kopf heben, sondern musste dableiben, fleißig und immer herabgebeugt, eingeschlossen wie ein Märtyrer in meine tiefen Gedanken, kritzelnd wie ein Epileptiker, und mit der mangelnden Disziplin der Worte hadern und deren Neigung, sich zu vermehren. Eine Frage von Leben und Tod, von vielen Toten im Grunde, und des ganzen Lebens. Alle, Alt und Jung, sind der Geschwindigkeit meines Schreibens ausgesetzt, dem Knirschen meiner Kalligrafie auf dem Papier und dieser lebenswichtigen Genauigkeit, die ich kultiviere, um genau das eine Wort zu finden, die eine Nuance, die jemanden vor dem Abgrund bewahrt, oder das Synonym, das in der Lage ist, das Ende der Welt hinauszuschieben. Wahnsinn. Die vielen Hefte, die ich vollschreiben musste. 120 weiße Seiten oder mehr, vorzugsweise ohne Linien, in einem Heftschoner, hart und glatt wie Stein, aber dabei ganz aufmerksam und von einer speckigen und lauwarmen Beschaffenheit, um die Oberfläche meines Handballens nicht zu reizen.

(Kurzes Hüsteln. Ein gutes Zeichen. Das Licht kehrt zurück ins Zimmer und der Körper des Sterbenden wirkt gleich weniger grau. Ein Rinnsal aus hellem Schleim fließt aus dem durch das Gebiss verzogenen Mund heraus und versiegt auf dem Kinn.)

Ich kaufte Unmengen dieser Hefte, sooft ich Begegnungen mit Leuten hatte, von denen das Gerücht umging, sie wären bereits im Begriff zu sterben, weil sie krank oder alt waren oder einen Unfall gehabt hatten: zwei am Tag, manchmal zehn oder mehr; einmal habe ich achtundsiebzig Hefte auf einmal gekauft, nachdem ich bei einer prunkvollen Hochzeit eines Nachbarn eingeladen war (ich saß allein auf dem Boden vor einer schrecklichen Platte mit Fleisch, die ich nicht angerührt habe, war völlig unberührt von der kreischenden Musik, mein Körper war gänzlich schalldicht, was aber allen egal war, außer dem Bräutigam in seinem lächerlichen Anzug, der herbeikam, um mir kurz die Hand zu schütteln) und nachdem ich die Unvorsichtigkeit begangen hatte, zu viele Leute anzusehen, für die ich, ohne dass sie es wussten, als Garant ihrer Langlebigkeit nun verantwortlich geworden war. Denn, oh mein Herrgott! Ich war der Ruderer und sie die Passagiere.

Der nächstgelegene »Buchhändler« – so nannte man bei uns die Läden für Tabakwaren, Umschläge, Briefmarken, Hefte und Zeitungen – kannte mich und stellte mir nie die Frage, was ich kaufen wollte: Im Dorf Aboukir (Zentrum der Welt, gelegen zwischen Bauchnabel und Herz, einige Kilometer entfernt vom Meer, das ein Wort ist, das keinerlei Beugung bedarf, um unendlich zu sein) bezeichnete man mich als den Sohn des Fleischers, »der niemals aufhörte zu lesen«, und man meinte damit, dass ich wie ein Besessener seit meiner Jugend die Hefte vollschmierte. Die Opulenz meines Vaters musste ein Gegenstück haben, und das war ich mit meinem langen und krummen Körper, mit meinem Blick wie ein Natursee und einer lächerlichen Stimme, wie der Hohn des Schicksals angesichts des Vermögens meines Erzeugers. Die höflichsten Leute im Dorf schickten mir die alten, in den Lagerhallen gefundenen Bücher, die vergilbten Seiten aus der Zeit der Kolonialherren, zerrissene Zeitschriften, Gebrauchsanweisungen über die Nutzung von längst verschwundenen oder gar nicht geborenen Maschinen und vor allem faszinierende Romane ohne Autorennamen, mit ausgerissenen ersten Seiten (verkrüppelte Körper, durch Inkohärenz verfälschte Geschichten, und echte Waisen, die ich sofort in meine Sammlung aufnehme). Ihre Unordnung war die Säule meiner Welt und der Rest wurde schriftlich in den Heften festgehalten. Ich war schweigsam und glänzte in der Schule, jedenfalls während der ersten Jahre. Ich hatte eine schöne Handschrift – sie erfüllte die Funktion von Adern unter der Haut des schönen Scheins. Und sie diente bestimmt auch dazu, eine Art von Blut zirkulieren zu lassen.

(Jetzt stecke ich mitten im Herzen des Rituals. Tief versunken und dem Kampf verschrieben. Ich glaube voll und ganz daran. Was ist mein Leben an diesem Ort sonst wert und was sollen diese ganzen Leben um mich herum? Stimmen. Eine Hand hat einen Kaffee hingestellt. Und Wasser. Das Gesicht ist das eines Ertrinkenden, der gerade wieder auftaucht. Der Mund fasziniert mich. Mit diesem heruntergefallenen Kinn. Als ob das Hinscheiden die Schwerkraft verstärken würde. Der alte Mann besteht nur noch aus dem Kopf und den schmalen Schultern über dem Betttuch, das ihn verbirgt. Der Rest seines Körpers ist nichts als eine Decke mit einem Tigermotiv, das den unmöglichsten Verbiegungen ausgesetzt ist. – »Geht’s gut?«, ich antworte nicht. Es wird der Tag kommen, denn die Lichter krümmen sich wie Blätter im Feuer.)

 

Es stimmt, dass man sich immer mehr darum bemühte, mir einen Dienst zu erweisen, um sich schon im Voraus meiner Dienste zu vergewissern; besonders ab dem Moment, als die Gerüchte über meine Gabe sich klammheimlich zu verbreiten begannen. Manche machten sich natürlich hinter vorgehaltener Hand über mich lustig und bedauerten meine Familie ob dieses unmöglichen Schandflecks von Holzknoten, den ich im Baum unserer Sippschaft darstellte. Aber in Wirklichkeit wusste man nicht, ob man mich einfach links liegen lassen oder vielmehr hochleben lassen sollte. Ich schrieb in einer fremden Sprache, sie ließ die mit dem Tod Ringenden wieder gesund werden und bewahrte das Ansehen der alten Kolonialherren. In dieser Sprache schrieben die Ärzte ihre Rezepte, aber auch die Machthaber, die neuen Herren des Landes, und die unsterblichen Filme benutzten sie. War sie vielleicht sogar heilig, als wäre sie vom Himmel herabgestiegen? Niemand hatte darauf eine Antwort und man schüttelte ungläubig den Kopf darüber, wie vor einem alten Götzenbild aus Marmor oder wenn man Richtung Osten am französischen Friedhof vorbeiging. Groß war das Dorf nicht und die Gespräche blieben selten ein Geheimnis.

Ich liebte diesen Stempel »der, der immer gelesen hat« oder »der stets Lesende«. Eine wirklich definitive Formulierung, die alles auf den Punkt bringt: und zwar ist es DAS BUCH oder DAS WISSEN – vom Heiligen. Man sprach es mit Ernst und übertrieben würdevoll aus, denn es ging darum, die Machtverhältnisse anzuerkennen. Bei uns versteht man das Lesen als Mittel zum Herrschen und nicht etwa, um die Welt zu entziffern, es bedeutet gleichermaßen Wissen, Gesetz und Besitz. Das erste Wort des Heiligen Buches ist »Lies!« – aber niemand fragt nach dem letzten, flüsterte mir die erschöpfte Stimme des Teufels zu. Ich habe mir eines Tages auferlegt, dieses Rätsel zu lösen: das letzte Wort Gottes, das Wort, welches er gewählt hatte, um seine unerhörte Gleichgültigkeit zu offenbaren. Die Exegesen sprachen nie davon. Man wartete immer auf das Jüngste Gericht, aber nicht auf das letzte Wort. Und ich habe mich immer gefragt, warum die Anordnung an den Leser erging und nicht an den Schreibenden. Warum hieß das erste Wort des Engels nicht »Schreib!«? Es war mysteriös: Was soll man denn lesen, wenn DAS BUCH noch nicht geschrieben war? Ging es darum, ein Buch zu lesen, das es schon längst gab? Und welches? Ich verliere den Faden.

Ich kaufte also die vielen Hefte und zählte mit ganz entspanntem Körper und mit geschlossenen Augen während der Zeit der Mittagsruhe unter den knorrigen Weinreben in unserem Hof die Leute ab, die ich am vorherigen Tag in unserem Dorf getroffen hatte. Es war für mich wie die Kartografie einer Insel. Einer nach dem anderen, akribisch wie Kleingeldzählen. Und dabei steckte ich sie nacheinander in die Regale in meinem Kopf – mit Ziffern und Buchstaben, Merkmalen und Vornamen und der Sippe, zu der sie gehörten. Und dabei ließ ich mich weder von den Wolken noch von der sanften Hitze dieser Jahreszeit ablenken, die das Blut unter meiner Haut in Zucker verwandelte, und auch nicht von den wenigen Flugzeugen, die das Schweigen des Himmels noch verstärkten. Ich liebte diese Übung, der ich ein paar Streckübungen vorausgehen ließ, um gleichzeitig meinen Körper zu vergrößern und mit meinen Armen das Firmament zu weiten. Polls Flügel entfalten, wie er da oben auf der Kokospalme thront. Denn in manchen, besonders inspirierten Stunden versetzte ich mich in meiner Vorstellung in die Gestalt des Papageis Poll, des Veranstalters dieses hochherrschaftlichen Höllenspektakels in den Tropen, des Vogels mit dem außergewöhnlichen Schicksal, der eine unbekannte Insel zivilisierte. Den Namen hatte ich aus einem Buch des 18. Jahrhunderts gefischt, das einen Schiffsuntergang, die Begegnung mit einem vermeintlichen Kannibalen und die Geschichte der Einsamkeit erzählt. (Die Erinnerung an Sommertage, die ich als Momente köstlicher Erholung mit meinem endgültig verstummten Großvater erlebte. Die Rückkehr zu den wirklichen Dingen des Lebens und zum Geschmack der Dinge nach einem heftigen Migräneanfall. Ich werfe gerade mal einen kurzen Blick auf ihn, um abzuschätzen, wie viel Leben in den Kieselstein seines Körpers zurückgekehrt ist. Das Gesicht ist noch ausdruckslos, der Mund geöffnet, aber ich habe dabei eine Träne entdeckt. Er weint nicht etwa, es ist nur die Mechanik des Auges, das sich befeuchtet. Lange Zeit habe ich das Wort Retina geliebt, weil es einem Schmelztiegel ähnelt, dem Ort aller möglichen Sonnenaufgänge.)

Aber es war ein wenig lästig, immer eine Nummer mit einem Gesicht verbinden zu müssen. Anfangs fiel es meinem Gedächtnis ziemlich schwer. Manchmal löschten die altbekannten Gesichter die der neu hinzugekommenen aus, oder stahlen ihnen die Gesichtszüge, die Haare oder die Augenform, und ließen die Erfassung damit willkürlich und meine Gabe kurzsichtig werden. Wenn ich dann versuchte, mir ein Gesicht einzuprägen und es festzuhalten wie einen Vogel, verformte es sich schadenfroh. Denn nichts ist anonymer als ein Gesicht, das man zu lange anstarrt, selbst das vertrauteste. Aber mit den Jahren wurde ich agiler: Ich wiederholte den Film in meinem Kopf, nahm die Details unter die Lupe, rezitierte die Namen, um den gegenseitigen Rempeleien Einhalt zu gebieten, und ordnete mit Entschiedenheit die Genealogien, Herkunftslinien und Verwandtschaften. Wie der gestrenge Chef einer in alle Winde verstreuten Sippe. Dann dachte ich mir entsprechend einer langen Liste von Büchern Geschichten aus, die ich im Laufe meines Daseins als Jugendlicher hätte lesen wollen, um die ausgewählten Lebensgeschichten weiterzuspinnen. Dies war das einzige Rezept, das ich gefunden hatte, um den Mangel an Büchern und die Langeweile im Dorf zu überwinden und meinen Heften etwas Feierliches zu verleihen. Warum ich das alles machte? Ganz einfach: wenn ich jemanden vergessen hätte, wäre die Person am Tag darauf gestorben.

Ich habe es oft ausprobiert. Das war mein stummer Fluch. Das Gesetz meines Lebens, das niemand erraten würde. Ich sage (schreibe) es hiermit: Wen ich vergesse, an den erinnert sich der Tod. Undeutlich, aber jäh. Ich könnte das nicht erklären, aber ich fühle mich dem »Mann mit der Sense« ganz nahe, sein und mein Gedächtnis sind wie zwei Vasen miteinander verbunden: Wenn die eine sich leert, füllt sich die andere. Nein, die Formulierung stimmt nicht, vielmehr: wenn mein Gedächtnis sich leert oder stockt, dann zeigt sich der Tod umso entschlossener, findet sein Ziel wie ein Raubvogel und erlaubt sich diese Sturzflüge, unter denen sich das Dorf vor meinen Augen entvölkert. Es ist eine Frage des Gleichgewichts der Kräfte und auch der Ausdruck einer Gesetzmäßigkeit, die ich nicht zufriedenstellend zu entschlüsseln vermag. Aber wenn ich mich exakt erinnere und genau die richtigen Worte benutze, wird der Tod wieder blind, dreht sich am Himmel im Kreis und entfernt sich. Er tötet dann ein Tier im Dorf, verbeißt sich bis auf den Knochen in einen Baum oder geht in einem angrenzenden Feld im Osten Insekten aufsammeln, um sie zu knabbern, bis er seine Klarsicht wiedererlangt hat. Ich liebe es, ihn in seiner Verwirrung zu beschreiben. Und damit auf einen Schlag meine Gabe und ihre Nützlichkeit zu bekräftigen.

Es geht dabei nicht etwa um Magie im herkömmlichen Sinne des Begriffs, sondern um die Entdeckung einer Gesetzmäßigkeit, eine Art von unmittelbarer Wiedererweckung zu neuem Leben. Das Schreiben wurde erfunden, um das Gedächtnis zu fixieren, es ist die Voraussetzung dieser Gabe: Nicht vergessen zu wollen ist gewissermaßen so, wie nicht sterben zu wollen oder um sich herum kein Sterben zuzulassen. Und wenn das Schreiben so allumfassend auf die Welt gekommen ist, dann weil es so ein mächtiges Mittel gegen den Tod war, und nicht nur ein Werkzeug der Buchhalter in Mesopotamien. Schreiben ist der erste Aufstand, das einzig wahre Feuer, das man gestohlen und dann in Tinte gehüllt hat, um zu vermeiden, dass man sich die Finger verbrennt.

Und was passiert, wenn ich schlafe? Vielleicht wacht dann Gott als Kampfrichter in diesem Spiel. Es ist gewissermaßen die tote Zeit des Todes. Ich weiß nur, dass ich die Leute gut durchzählen muss, die ich während des Tages oder der Nacht treffe, dass ich die Hefte entsprechend ihrer Anzahl kaufen und dann vor dem Schlafen schreiben muss, oder in der Dämmerung oder auch noch am folgenden Tag. Geschichten schreiben mit vielen Vornamen und Verrücktheiten oder bis zum Halluzinieren irgendeinen Ort des Dorfes beschreiben – Steine, rostiges Eisen, Dächer … Einfach drauflosschreiben ist an sich schon ein Teil des Verfahrens bei der Heilung und bietet den anderen um mich herum Schutz. Ein anderes Detail: Wenn ich einen Nahestehenden vergessen habe, bleibt mir bis zu seinem letzten Atemzug noch eine Gnadenfrist von drei Tagen. Ich glaube gern daran, um meine Disziplin zu wahren. Ich kann mich also genau drei Tage verspäten, um über jemanden zu schreiben, aber nicht mehr.

So geht das schon seit Jahren und allmählich habe ich die Spielregeln verstanden und Rituale und Listen eingebaut, um zu der wunderbaren Erkenntnis zu gelangen, dass meine Sprachbeherrschung, also die Sprache, die durch mein Bemühen erzeugt wird, nicht nur ein Abenteuer darstellt, sondern eine ethische Verantwortung. Sie nagelte mich fest am Boden des Dorfes und verbot mir, das Gebiet zu verlassen. Freudlos? Aber nein! In dieser Übung steckt natürlich eine Art Märtyrertum, aber auch ein Schauer stummer Befriedigung. Als Einziger von uns allen habe ich die Heilsmöglichkeit im Schreiben erkannt. Als Einziger ein Mittel gefunden zu haben, um die absolute Belanglosigkeit der Orte und örtlichen Geschichte zu ertragen, um der einzig denkbare Restaurator, der Kurator unserer Ausstellung vor den Augen Gottes oder unter der Sonne zu sein. Ohne es zu wissen, drehen sich alle meine Vettern und Cousinen, Verwandten und Nachbarn im Kreis, nutzen sich ab und werden dabei immer älter, heiraten irgendwann und fressen sich voll, bis sie krank werden. Ihren einzigen Trost finden sie in der Schläfrigkeit oder nach dem Tod im Paradies, das sie mit ihren Träumen bevölkern, indem sie ständig die Verse wiederholen, die es als lauschig grün und schlüpfrig beschreiben. Ich bin der Einzige, der eine Bresche in den Mauern unseres Glaubensgebäudes entdeckt hat. Darauf bin ich stolz, das muss ich sagen, aber auch wachsam angesichts der Eitelkeit, die mich bedroht, und guter Dinge, selbst wenn der Wind mir ins Gesicht bläst. Die Suche nach den richtigen Worten, zu schreiben, bis den Dingen ihr wahrer Gehalt abgenötigt ist, hat eine sanfte Magie, ist das Ergebnis einer innigen Liebe.

Ich bin fast dreißig Jahre alt, Junggeselle und noch Jungfrau, aber ich habe triumphiert über das Schicksal von Leuten wie mir an solch lächerlichen Orten. Ich bin als Einziger davongekommen, o ja. Natürlich habe ich für zwei oder drei junge Frauen so etwas wie Liebe empfunden, darunter die stumme Djemila, auf die ich immer noch warte, und zu der ich mit so ausgefallenen Worten spreche, dass sie nichts versteht. Aber meine Sexualität mausert sich langsam zu einer größeren Pflichtübung als nur dazu, der Fortpflanzung zu dienen. Wegen meines Körpers oder meines Rufes habe ich niemals die Gelegenheit gehabt, in diesem so kleinen Dorf meine Bedürfnisse zu befriedigen, und mein sexuelles Verlangen hat schon seit Langem das Ansinnen überwunden, in einem anderen Körper wieder aufzuleben. Es braucht keinen Vorwand oder einen kannibalischen Hintergrund für eine Umarmung. Als wahrhaft Liebender erstrahle ich jenseits der wenigen Sekunden des Vergessens, das ein Orgasmus üblicherweise verleiht, in einem immensen Ausdruck von Mitgefühl. Ich glaube, so ist mein Schicksal gut beschrieben. Mit meinen fast dreißig Jahren verschlinge ich nicht etwa meine Kinder, wie die Leute es nennen, sondern ich rette den Menschen das Leben und verlängere es bis zu allseitiger Zufriedenheit. Ich bin nicht zeugungsunfähig, aber die Gewöhnung an den einsamen Orgasmus hat mir eine gewisse Freiheit beschert und mir die Augen geöffnet. Ich weiß, dass es illusorisch ist zu denken, man könnte den anderen besitzen, und dass sich hinter diesem Bedürfnis ein Schwindel der Götter verbirgt. Ich ahne vor allem, dass der Körper eines anderen eine Veruntreuung bedeutet. Ich habe geliebt und begehrt, aber die Bücher haben mir andere Türen geöffnet. Ich meine, dass Iblis, der Teufel, nicht etwa das Begehren verursacht, sondern er macht ihm etwas vor, indem er ihm Ausflüchte bietet. Ich bin mir sicher, ein wirklicher Orgasmus ist für ihn eine Bedrohung, es ist seine Niederlage. Ich verirre mich.

Hier und heute, genau in diesem Moment wandern meine Augen die Wände entlang, und dann durch das Fenster hinaus über alle meine Besitztümer und die ganze Welt. Dort oben, wo der alte Mann im Todeskampf darniederliegt, kann der Hügel eine Frau sein, die ihren Kopf an meine Schulter lehnt. Meine Sinne geraten völlig durcheinander, wenn ich beim Spazierengehen in den Feldern die heiße Erde berühre. Ich schwöre es. Ich weiß Bescheid über die Mechanik des Orgasmus, aber als Kaltstart, als würde man nachts allein in ein Museum gehen, wenn die Türen schon geschlossen sind. Was mich angeht, so bin ich schon vor Jahren dort eingetreten und habe von jedem Winkel, von jedem Schatten Besitz ergriffen, von dem die Zeiger der Uhr unter den Schritten der Spaziergänger bewegt werden. Selbst die tiefste Nacht gehorcht den ein oder zwei Worten, die sie in meine prächtigen Definitionen einzuschließen vermögen. Ich kann das Wort »gestirnt« schreiben und schon befleckt die ganze Tusche des Himmels meine Hand, steigt hinauf zu meinen Schultern und meinen Augen. Der nächtliche Himmel ist ein schimmerndes Vlies. Gott hat mir eine unheimliche Macht verliehen. Oder ich habe ihm die seine aus dem Hinterhalt des kleinen Dorfes heraus geraubt, von dem er nicht einmal weiß, dass es existiert. Gut, also ich wollte damit nur sagen, dass der Tod gleich um einige Meter zurückweicht, wenn ich schreibe, wie ein zaghafter Hund, der nur noch seine Reißzähne zeigt. Das Dorf mit seinen doch einigen Hundertjährigen bleibt gesund (dank mir), und man braucht an der Westseite unseres Weilers kein Grab auszuheben, solange ich mich der Synonymie und der Metaphorik befleißige. (Ausgrabung.) Es ist ein Wunder, das seit Langem, seit meiner stürmischen und lächerlichen Jugend, stattfindet, aber das ich geheim gehalten habe. Nicht etwa aus Scham oder Angst, sondern weil das Erzählen dieser Geschichte das Schreiben unterbrechen und den Tod herausfordern könnte. Und ich wäre schuld.

Ich wusste, dass ich die Einzelheiten des Kampfes zwischen mir und der Altersschwäche oder den Alterskrankheiten verschweigen und meine Kraft aus der Opferbereitschaft meiner Tante Hadjer schöpfen musste, zugunsten meines Vaters und der restlichen Dorfbewohner, die alle bereits den Durchlass zu unserem Friedhof in Bounouila, im Westen, umkreisten. Und ich wollte mir auch nicht die Wut und die Eifersüchteleien aufhalsen, die jede besondere Gabe auf sich zieht. (Ich habe Hunger, schickt es sich überhaupt, in Gegenwart eines Sterbenden zu essen? Und ich bin mir sicher, sie würden sie mir hier Fleisch anbieten, das noch stöhnt.) Die Gendarmen des Dorfes könnten für Anschuldigungen der Ketzerei oder der Hexereiempfänglich sein, die zu dieser Zeit immer mehr um sich griffen. Ich musste schreiben und nicht schwätzen. Schnell und gut. Verbindlich wie ein Reiseführer. Im Dorf konnten trotz der staatlichen Bemühungen nur wenige lesen. Es gab zahlreiche Schulen, aber die Schüler waren verglichen mit der alten, vor der Unabhängigkeit geborenen Generation noch jung. Bis zu einer gewissen Grenze war das Geheimnis sicher. In ein oder zwei Generationen würde man sicher der Bedeutung meines Verrats gewahr werden und mich verfolgen. Oder mich vergöttern. Die Einzigen, die ich fürchten musste, waren die Imame, die Rezitatoren »des« Buches und seine großen Getreuen, die sozusagen in der Moschee im Zentrum von Aboukir wohnten. Was sagte aber im Grunde Gott? »Und ihnen folgten die verführten Dichter / O siehst du nicht, wie sie in jedem Thale schwärmen / Und reden viel, was sie nicht thun?«[2]

 

Meine Sorge ist, dass ich in dieser Sprache nicht versiert genug war, um mich gegen Angriffe zu wehren. Ich war weder Arzt noch Absolvent des französischen Schulsystems oder ein Ingenieur der »Grande École« für Straßenbau. Ich war so etwas wie eine Anomalie, die mit einer Gottesgabe geschmückt war und sich jenseits der heiligen Sprache ausdrückte. Was sollte man nur mit mir machen? Entweder man ignorierte mich, oder man grüßte mich mit gesenktem Kopf. Mein Vater war zu reich, als dass man sich erlaubt hätte, mich zu verjagen, aber meine Geschichte störte zu sehr – und man konnte sie auch mit keinem Vers interpretieren –, als dass man mich für gebenedeit und nützlich gehalten hätte. Ich war nicht dumm, aber unscheinbar, ich wurde beneidet und an den Rand gedrängt. Sei’s drum.

Ein Mann, der sagt, dass er schreibt, um Leben zu retten, ist immer ein wenig krank, größenwahnsinnig oder an seiner eigenen Belanglosigkeit verrückt geworden, der er durch Geschwätzigkeit entgegenzuwirken versucht. Ich werde es nie beweisen können, aber ich kann wenigstens erzählen, wie ich zu dieser Überzeugung gelangt bin. (Ausgraben. Man sieht es mit bloßem Auge: ganze Stücke, ganze Hände voll von Nächten fallen auf das Fußende des Bettes, schaufelweise oder in Form von Maikäfern. Der Grabstein findet wieder zurück zur Form des Kopfkissens. All das Unkraut zieht sich wieder zurück und entpuppt sich als bedruckter Stoff, so wie die glatte Bettdecke mit ihrem Tigermotiv, das am Ende nur noch Gekritzel ist. In der Tiefe der Höhle hat der alte Mann den Körper eines Kindes und zusammengekrümmte Beine. Meine Hand rührt sich noch schneller auf dem Heft und so wird die Erde beim Graben noch mehr zur Seite geschoben, und die Steine werden zurückgedrängt. Das Papier ist fast feucht, vor Schweiß oder verdampfendem Regen. Es riecht wie Torf. Warum empfinde ich in Anwesenheit dieses Mannes denn nichts, obwohl ich seit Jahren jede Nacht in meinem Kopf mit ihm rede? Warum?) Ich weiß, dass ich der Grund für den Anstieg der Zahl an Hundertjährigen in unserem Dorf bin und nicht die Lebensmittel, die seit der Unabhängigkeit wieder verfügbar sind. Ich weiß, dass ich das Dahinscheiden mit meinem Schreiben zurückgedrängt habe, indem ich ausgiebig mächtige Eukalyptusbäume und die Geduldspiele der Störche auf unseren Minaretten und sogar Mauern beschrieben habe; ich weiß, dass meine Hefte unauffällige Gegengewichte sind und ich mit Gottes Werk verbunden bin. Man kann zu ihm beten und ihm dabei in die Augen sehen und muss dabei nicht unbedingt vor ihm katzbuckeln. Rätsel meines eigenen Lebens, geboren, um die älteste Macht in der schwarzen Werkstatt meines Kopfes zu bannen und zurückzudrängen. (Ich hätte mit seiner Geschichte, mit der Geschichte dieses Namens beginnen sollen): Zabor. Nicht etwa der Name, den mir mein Vater gegeben hat, und den er, da bin ich mir sicher, nur beiläufig hingeworfen hat, während er seine Messer wetzte und das hundertste Schaf der Woche zerlegte, sondern mein wahrer Name, der aus dem Klang entstand, den der Aufprall meines armen Kinderkopfes auf dem steinigen Boden hervorrief, als ich oben auf dem Hügel hinter unserem Haus von meinem Halbbruder heftig gestoßen wurde, bevor er seinerseits das Gleichgewicht verlor und in einen ausgetrockneten Brunnen fiel. Er gab später vor, dass ich ihn absichtlich umgeworfen hätte, um ihn zu töten, und diese Lüge veränderte mein Leben. Ich war vier Jahre alt und ich habe eine lange Narbe davon zurückbehalten, die von meiner rechten Augenbraue bis zur Spitze meines Schädels reicht. Die Erinnerung an den Himmel als ein weißes Loch, meine Schreie und das Seil, das mir meine Tante Hadjer zuwarf, um mich hochzuziehen, während sie alle Tränen ihres ausgetrockneten Körpers vergoss. Mein heimlicher Name klang lange Zeit wie ein Metall nach, dauerte im Echo noch weiter an und beugte sich (langsam) in der Wiederholung zweier Silben: »Za-booooooor«, während Blut aus meinen Augen und meiner Nase floss. Als ich ihn mit etwa fünf Jahren erstmals schrieb, habe ich die Knotenverbindung zwischen dem Klang und der Tusche entdeckt und diese fabelhafte Verwandtschaft, die mich später von einer Bestandsaufnahme aller Dinge in unserem Dorf träumen ließ. Ich kannte das Wort »Inhalt« nicht, aber ich glaube, es ist der wichtigste Kern der Sprache, die Buchhaltung des Möglichen. Ein merkwürdiger Spiegel übrigens, der eigene Vorname, das war so, wie sein tierisches Totem zu entdecken oder sich an den Ast eines ganz hohen Baumes zu klammern. Es glich einem alten Geldstück, wenn ich es in der Hand drehte. Das heißt, ich habe trotzdem Jahre gebraucht, um zu zwei großen Momenten meines Lebens zu gelangen: das Gesetz der Notwendigkeit zu entdecken und allein, ohne fremde Hilfe, meinen eigenen Vornamen zu schreiben, mit zitternder Hand ob der Verdrehungen der Vokale, knirschend im trockenen Schnee des Heftes. Nachdem das vollbracht war, habe ich mich schweigend in die Welt meines rosaroten Zimmers zurückgezogen und war wie vor den Kopf geschlagen von der unendlichen Perspektive, die sich mir bot.

Von da an wusste ich, dass ich mich ohne Sorge und zu jeder Tages- und Nachtzeit auch mal von meiner Tante entfernen konnte, um beispielsweise auf die Toilette zu gehen, oder dass ich mich waschen konnte, ohne gleich in der Abflussrinne zu verschwinden, und auch einmal einen Fremden lange betrachten konnte, ohne dass mir gleich schwindelig wurde. Meine Angst vor den Kakerlaken schwand und das beschämende Bettnässen hörte auf. »Zabor« war mein erstes Wort, es setzte dem Geschrei in meinem Kopf ein Ende, und von diesem Moment an begann ich, die Dinge um mich herum mit der Idee einer Bestandsaufnahme zu betrachten. Diese Erleuchtung ließ alle Grenzen explodieren und versprach, das Gefühl von Machtlosigkeit zu vermindern, das ich ständig empfand. Sie brachte mich dazu, über das Gedächtnis nachzudenken und darüber, wie man das Unsichtbare und die Schatten hervorrufen und zugleich beherrschen konnte. Meine zweite Entdeckung sollte später kommen, als ich von der Idee der Möglichkeit, alles schreiben zu können, dahin gelangte, dass es sich um eine geheime Mission, um eine Pflicht handelte. Aber als Kind bestand ich nur aus Vorahnungen und verstand noch nicht meine Bestimmung, nicht was sie mich kosten und auch nicht, dass sie sich einmal auszahlen würde. Ich sprach »Zabor« in meinem Kopf aus und wurde wieder zum Mittelpunkt und zu einer faszinierenden Besonderheit. Ich konnte mich selbst wieder benennen und mich schonungslos mir selbst offenbaren, mitten im unendlich großen Spiegel des Geschwätzes der Meinen. Ich weiß gar nicht, wie ich diese Freude ausdrücken soll, die mich mit so schmerzlicher Sinnlichkeit durchfuhr.

Von meinem dem Stumpfsinn und in ständige Kaubewegungen verfallenen Großvater bis hin zu meiner Tante Hadjer mit ihrer braunen Haut, die mich wie ihren eigenen Sohn großzog, konnte niemand in unserem Haus lesen oder schreiben, und es war einfach unmöglich, ihnen die Bedeutung meiner Entdeckung zu erklären. Ich war der Erste, der im Universum der Blutsverwandtschaft unserer Sippe mit einer wunderbaren, begeisternden Gabe ausgestattet war. Ich erinnere mich, dass ich das Schreiben, die ersten Buchstaben meines heimlichen Vornamens und das arabische Alphabet, schon von den ersten Schultagen an als eine großartige Gelegenheit zu Verschleierung und Träumereien wahrgenommen habe. Nur hatte ich mit fünf Jahren noch eine zu schmale Brust für diese Empfindung und kam schon bald mit den Grenzen der Sprache ins Gehege: hatte ich doch gerade etwas Lebenswichtiges entdeckt und konnte es paradoxerweise niemandem erzählen! Mein Lauf wurde unvermittelt von meiner Tante Hadjer gestoppt, die im anderen Zimmer ihren Mittagsschlaf hielt. Sie lag ausgestreckt auf den Fliesen, um am Ende dieses endlosen Sommers etwas Abkühlung zu finden. Es war etwa Ende September, wenn ich mich richtig erinnere.Hadjer (nur von folgender Geschichte am Leben erhalten: Eine Frau schafft es mithilfe von Liebesfilmen, die sie sich anschaut, alle möglichen Sprachen zu sprechen, allerdings ohne dabei auch nur ein einziges Wort zu verstehen und dies wiederum als einen Fluch zu erleben. Am Ende verliert sie ihre eigenen Worte und ihre Sprache und wird zu jenem Stummfilm, den sie vor vielen Jahren mal gesehen hat. Sprachlos vor ihrem Schicksal. Mehrere Hefte mit einem einzigen geklauten Titel: Das geschenkte Gesicht. Meine Tante ist klein und brünett, immer auf der Hut, wie gehetzt. Ich habe nie erlebt, dass sie krank, nachdenklich oder geschminkt war – bis auf ein Mal. Trotzdem ist sie es, die ganz unmerklich meine Sinne geweckt hat. Mit ihren langen und vollen Haaren, die sie kämmte, wie man einen Bach durchwandert, und mit ihren verschwitzten Achseln im Sommer. Alle Frauenkörper in den Büchern kamen mir vor, als hätten sie etwas von ihrem Körper gestohlen oder imitierten sie wie in einem Spiegelkabinett, was mich störte und betörte. Ich glaube, die jüngste meiner Tanten nannte man »Die Kleine«, sie mag seltsamerweise Fußballspiele, die ganz teuren, großen Filme und Bollywood, das Land der Lieder, der verhinderten Liebesgeschichten, der verrückten Busse und der unmotivierten Tänze) bewegte sich kaum, ihr Kleid war über die nackten Schenkel nach oben gerutscht und es sah aus, als würde sie aus lauter Wut sogar noch im Schlaf imaginäre Steine in ihren Fäusten zusammenpressen. Als ich, ein Blatt Papier mit dem ungelenken Gekrakel meines Vornamens schwenkend, versuchte, sie zu wecken, um ihr meine neue Meisterschaft zu präsentieren, diese verwirrende Möglichkeit, nicht zu sterben, brummte sie nur vor sich hin und drehte sich zur Wand. Und da stand ich nun, mitten in unserem Flur, im Eingang zu ihrem Zimmer, und betrachtete ihren von jeglichem Freier verschmähten Körper, wie er da halb am Boden und halb auf einem Schaffell lag, verbraucht von den häuslichen Pflichten und der Pflege ihres stummen und impotenten Vaters. Im Haus war alles wie zuvor, drohte aber unmittelbar in Unordnung zu verfallen, wenn ich mich nicht gleich an die Arbeit machte. Ich verstand allmählich, dass die Niederschrift eines Vornamens zwar wie ein Fenster war, dass aber die Mauer dadurch nicht verschwand. Jetzt werde ich zu schnell. (Der Atem des Alten geht schneller und er läuft Gefahr, sich meinetwegen zu erschöpfen. Ich mag es, die Nacht und ihren Klang hinter den Mauern zu erahnen, aber heute Abend wird mir dies von ungesundem Gemurmel vergällt. Die ganze Familie scheint aufgeboten zu sein, um mich vom kalten Firmament abzuschirmen. Der Geruch von Couscous – für mich der Geruch des Todes – dringt herein und fügt sich zu den Gerüchen der bitteren Agonie, der Medikamente und der ranzigen Schafe.)

Es stimmt, dass mein Vater mir tausend lächerliche Namen verpasst hatte, um sich über mich lustig zu machen und mich auf Distanz zu seinen Gefühlsregungen zu halten. Er nannte mich »krumme Wanze« wegen meines Knies und meiner Art zu laufen, oft der »Krumme« und die »Puppe« wegen meiner Ohnmachtsanfälle, und so weiter. Tausend Namen, denen ich als Kind abschwören musste, indem ich in meinem Kopf den einzig gültigen, nämlich meinen eigenen, vor mich hin sagte, jedes Mal, wenn er das Wort an mich richtete und mich lange anschaute oder seinen Freunden kundtun wollte, dass er von mir nichts Gutes erwartete und dass ich eher ein Schandfleck als sein Erbe war. Zabor! (Jemand hat, glaube ich, im Hof einen Teller zerschlagen. Eine Frau weint oder hustet. Es ist eine ihrer Töchter, die seit ihrer Kindheit mit Goldschmuck gefesselt wurde.) Jahre später – ich war schon alt und verschlossen geworden – (um genau zu sein, bin ich achtundzwanzig Jahre alt, kinderlos, und habe nur den Vornamen einer Nachbarin als Adressaten für Aufsätze über die Liebe) hat mich das an diesen kritischen, extremen Punkt gebracht, an einen Ort auf dem Gipfel mit dünner Luft, von dem aus ich schreibe (hoch oben auf der Kokospalme, während ein Unwetter über der ganzen Insel und ihrer fein säuberlich geordneten Sprache, über ihren minutiös erfassten Arten, und ihren geduldigen und von einem englischen Schiffbrüchigen gereinigten Werkzeugen niederzugehen drohte), immer den Kopf tief in mein Heft gebeugt und kaum den sterbend darniederliegenden Mann zu meiner Rechten ansehend. Ich brauchte Jahre, um dahin zu kommen, sitzend, schweigsam und umgeben vom misstrauischen Respekt der Söhne des Alten und ihrer Frauen, wie sie da alle fest zusammengerückt hinter der Tür darauf warteten, dass ich es vollbringe, den Großvater wie ein Rettungsschwimmer zu den Seinen zurückzubringen. Sie alle dort, auf einem Strand aus falschem Sand, Skeptiker und Gläubige vermischt und versammelt aus Angst vor dem Tod, hoffen trotz aller Eitelkeit, dass ich das Wunder zu wiederholen vermag, dessen Beherrschung das Gerede mir nachsagt. Das gilt selbst für den erstgeborenen Sohn Abdel, der, dazu erzogen, mich zu hassen wie einen Rivalen, schon seit seiner Kindheit die Kontrolle über die Herden des alten Mannes hat. Im Triumph der Virtuosität war Zabor bedacht auf die Worte, die ihm da kamen, kritzelte sie mit Begeisterung hin, um seinen Atem zu kräftigen, und bewahrte ihn damit vor der Versuchung zu sterben, um den Schmerzen zu entgehen. Ja.

(Es ist fast drei Uhr morgens, die Nacht ist heiß und bläst in den Nacken der triefenden schwarzen Eukalyptusbäume. Ein Geschaukel lässt die ERDE wie sinnliche Hüften schwanken, löst das Gleiten starker Düfte aus und bringt die Früchte zum Klingen. Aber ich bleibe diszipliniert und bedeutsam.) Es blieben noch zwölf schwarze Hefte mit je 120 Seiten, die ich links von mir nach einer geheimen Ordnung neben meiner schwarzen Tasche gestapelt hatte. Auch die Stifte, um dem Tod ins Wort zu fallen. Ich konnte den Heften jede Menge Titel geben. (Für das erste nehme ich Stürmische Ernte. Das ist angemessen. Wie die Form der Skulptur eines Mannes, der einen Löwen auf einem Hügel erwürgt. Mit breiter Brust und muskulös, schwitzend und knallhart. Der Löwe weiß, dass er sterben wird, aber das gibt ihm ewiges Leben. Wo habe ich das noch gesehen? Dann habe ich da noch den Titel Sternenkrieger oder Von einem Schloss zum anderen – die Biografie eines Fußgängers.) Die Hefte? Brachten mir von da an die Leute aus dem Dorf von überall mit, sie bereiteten die Stifte (spitze Mine, schwarze Tinte) schon vor, um die Ihren zu retten, nachdem sie von den Medikamenten, den Rezitatoren des Heiligen Buches und den Ärzten enttäuscht wurden, die kaum ein Wort mit ihnen wechselten. Aus Geringschätzung, weil sie zu viel zu tun hatten oder schlicht, weil sie die Umgangssprache nicht beherrschten. Also wandten die Leute sich wohl oder übel an mich. Obwohl es ihnen in ihrer Welt nicht leichtfiel zu glauben, dass ich ein Leben retten und den Tod herauskomplimentieren konnte, indem ich etwas anderes als ihre Verse und die neunundneunzig Namen Gottes schrieb.

Was sollten sie auch glauben, wenn das Leben nicht die Bewährungsprobe war, die ihnen von einem Gott auferlegt wurde, der nur unsere Sprache sprach, sondern die Beugung eines fremden Verbs, das übers Meer daherkam und dem es in den Händen eines Dorftrottels mit Ziegenstimme gelang, allen neuen Atem zu geben, den Verletzten, den kranken und von Fieber geschüttelten Kindern und den Hundertjährigen, die schon recht zahlreich wie Neugeborene mit ihrem seligen Lächeln die Straßen des Dorfes bevölkerten? Was sollte man von Gott halten, wenn er sich in einer fremden Sprache ausdrückte? Oder von einem Heiligen Buch, das nicht mehr einzigartig war? Ich konnte ihre widersprüchlichen Gefühle nachempfinden und mir selbst erklären, mit gedämpfter Stimme, aus Angst, mir zu widersprechen oder mich auf mein Zimmer zu flüchten, aus dem ich ohnehin nur selten herauskam. Nur in der Nacht, um etwas umherzulaufen, manchmal um zu rauchen und mich unter die Straßenlaternen zu setzen und seltsame Rechnungen mit meinen Fingern anzustellen. Welche Lehre sollte man daraus ableiten in dieser Welt, in der Glaube und Hoffnung miteinander konkurrierten, beide jeweils mit all ihren Idiomen und Kalligrafien? Ich musste Geduld und die nötige Zurückhaltung aufbringen, um genau hier den Triumph zu vollbringen, in exakt diesem Zimmer, auf dieser Holzbank mit dieser zerknirschten Haltung sitzend, immer über das Heft gebeugt, das schon grau wie eine Wolke geworden war, flauschig und faserig und mit einem schönen Titel, den ich aus einem Buch gestohlen hatte, das ich nicht hatte finden können. Fiebrig spann ich die immer gleiche grau-weiße, etwas trockene Wolle mit ihrem gewohnten, muffigen Duft weiter. Schon seit Jahren. Am Ende würde es ein Heft und keinen Teppich ergeben. Und doch ist es dasselbe tiefgründige Motiv.

2

Man hat abends nach dem Isha-Gebet nach mir verlangt und bei uns an die Tür geklopft. Die Nacht war noch jung und verstreute mit gespielter Nachlässigkeit die ersten Sterne über den kaum abgekühlten Bäumen. Von Weitem waren Motorengeräusche von Autos und auch Stimmen von Nachbarn zu hören. Abdel war da, Erstgeborener und Lieblingssohn des Alten, Sohn einer missgebildeten Liebe, mit gesenktem Kopf und etwas unsicher auf den Beinen, den hageren Körper eingemummelt in eine Djellaba. Ich kenne ihn besser, als er es erraten könnte: Er schöpft seine ganze Kraft aus seiner ständigen Wut auf die Leute aus dem Unterdorf. Warum diese Wut? Vielleicht weil er sich der Schuld bewusst ist, Thronräuber zu sein, etwas gestohlen zu haben, dessen Namen er vergessen hat. (Ich schweife ab.) Vielleicht weil es seine Mutter ihm von seiner Geburt an immer wieder gesagt hat. Abdel würde sein Leben lang die Herden hüten. Das wusste er schon von klein auf, angewiesen von seiner Mutter, die befürchtete, ansonsten die Kontrolle über das Vermögen zu verlieren, und getrieben von seinem Willen, der einzige Sohn des alten Mannes zu sein. Ich glaube, dass er im Grunde keine Kindheit gehabt hat, vor allem nicht, wenn man es mit meiner fast zwanzig Jahre währenden Trägheit vergleicht. Er wurde sehr früh erwachsen, ein Buchhalter für alles, pedantisch, kantig und unfähig zu lachen, so sehr fürchtete er sich vor den Krankheiten der Schafe, vor Unwettern oder Fehlern beim Rechnen. Seltsamerweise hatte er etwas von meinem Gesicht – dasselbe Alter, dieselbe Haut –, aber mit einem hervorstechenden, schwarzen Blick. Er war der Hüter der zahlreichen Herden des Alten und kannte die Umgebung des Dorfes und die Weideflächen, die Gräser und Entfernungen besser als irgendjemand sonst. Aber das ist eine andere Geschichte. (Ich halte ihn am Leben, ohne dass er es weiß, indem ich seine Geschichte in meinen Heften niedergeschrieben habe. Seine trägt einen Titel, über den ich sehr lange nachgedacht habe, als ich ihn am Ende eines Romans auf den »Demnächst erscheint«-Seiten entdeckte, die mich immer so faszinieren. Sein Heft heißt Chagrinleder oder die tödlichen Wünsche. Darin spielt er die Rolle eines Reisenden, der von seinen eigenen Schuhen besessen ist und nichts vom Rest der Welt bemerkt.) Wir teilen uns einen Vater und eine alte Geschichte, nach der ich ihn fast umgebracht hätte, als ich ihn in einen Brunnen schubste. Hadjer sagt, das sei falsch und skandalös, und sie erinnert sich an meine Wunde am Kopf: Er wurde von seiner Mutter dazu angestiftet, das zu behaupten, und das führte ein zweites und letztes Mal in meinem Leben dazu, mich aus Hadj Brahims Haus zu entfernen. Meine Stiefmutter drohte mit zerkratzten Wangen und völlig hysterisch mit dem Schlimmsten, wenn ich bleiben würde, und mein Vater löste das Problem, indem er ein Kolonialhaus unten im Dorf kaufte. So konnte er seine alte Jungfer von Schwester, den toten Ast von eigenem Vater und seinen Sohn mit der Stimme eines kleinen Ziegenbocks verstecken, den man mit einem einzigen bohrenden Blick abstechen konnte. Geht’s noch einfacher? Ich habe ihn nicht geschubst. Hadjer hat es mir so oft geschworen, dass ich es inzwischen auch glaube. Ich erinnere mich nur an das hämische Grinsen Abdels und seine Gewandtheit mit den Schafen, die ihm gehorchten, auch wenn er erst vier Jahre alt war. Wie ich. Nein, ich habe ihn niemals in einen ausgetrockneten Brunnen gestoßen. Gott hat mich nicht bestraft. Es gab Blut auf seinem Gesicht und auf einem Stein. Die Vögel im Eukalyptusbaum machten sich lustig und das Wetter war schön.

Ich wusste, dass er, aus falscher Scham und echter Verachtung, nie an unsere Tür klopfen würde, außer am Tag des Weltuntergangs. Und selbst dann würde er sich, genauso wie heute Nacht, damit begnügen, allenfalls unseren Familiennamen zu brüllen. Im alten Stil. Meine Stunde hat geschlagen! Die Schicksalsstunde. »In einem Tage, dessen Maß sind tausend Jahre, deren die ihr zählet«, sagt das Heilige Buch. Die Nacht, in der ein Gott vom Himmel heruntersteigt, erreichbar wie nie für Stimme und Gebet, der Einzige, den man vor dem Tod sehen kann und der manchmal Antwort gibt. Ich hatte diese Szene in Gedanken schon so oft durchgespielt, dass mich ihr unmittelbares Bevorstehen schwindeln ließ und die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft setzte. Nach all den Jahren des höhnischen Gelächters und des Ausspuckens, allein wenn nur mein Vorname zur Sprache kam, mussten Abdel und seine Brüder schon in äußerster Bedrängnis sein, wenn sie jetzt nach mir verlangten. Ich las gerade in meinem Zimmer ein altes Buch über die Bedeutung der Motive in unseren traditionellen Teppichen, als ich plötzlich eine Schwere in meiner Brust verspürte und Herzklopfen bekam, kurz nachdem ich mehrfach durch die Mauern meinen Vornamen vernommen hatte, wie Gebell. Es war nicht das erste Mal, dass man mitten in der Nacht nach mir fragte (seit jeher ist das Übel nächtlich, die Nacht ist ein Menschenfresser, der seine Kinder verschlingt und ihnen Märchen erzählt), aber dieses Mal war es die Stimme des Unglücks und die Lage so ernst, dass ich alle meine Kräfte aufbieten musste. Ja. Seit Jahren wartete ich darauf. »Schreib!«, donnerte der Engel in meinem rosa Zimmer.

Meine Tante Hadjer hatte sich hinter dem Türflügel versteckt und stellte sich dumm. »Wer? Wen wollen Sie sprechen? Warum kommen Sie in der Nacht?«, gab sie hinterlistig von sich. Sie hat ihre Rache gut mit den Riten schleimiger Heimtücke verbrämt: den Kunden warten lassen, ihn glauben zu lassen, dass ich seinem Gesuch nicht stattgeben würde, ihn in die Knie zu zwingen, zwei Schafe, zwölf Gänse und Honig versprechen zu lassen, dass er um Verzeihung bittet oder seine Verzweiflung bis hin zu völliger Demütigung zur Schau trägt. Das Dorf hat ein heuchlerisches Gesicht, es hat ihre Hand nicht gewollt, aber verlangt nach meinem Schreiben. Hadjer hat nie lesen können, aber sie hat sehr früh schon Partei für meine Gabe und gegen meinen Vater, die Halbbrüder und die Verleumdungen ergriffen. Ja, aus Rache, aber durchaus mit Berechnung, aus der dann Innigkeit und schließlich Liebe wurde. Ich ahne ihre Absichten, aber ich mag sie sehr. Als sie vor Jahren schon ihren Schleier fest zuband und die Ärmel hochkrempelte, hat sie entschieden, dass zwischen ihrem Schicksal und meinen Anfällen eine Verbindung existierte, und das hat sie mir nahegebracht. Ich denke, in ihrer Loyalität mischte sich der Wunsch nach einem eigenen Kind mit der Solidarität der Ausgeschlossenen, der Einsamkeit und, das habe ich erst später begriffen, dem Verlangen nach Emanzipation, das sie durch mein manisches Schreiben und Lesen glaubte stillen zu können. Sie hat nie Französisch gesprochen, aber es machte ihr Spaß, einige Worte zu lernen, die sie schwer wie Steine in ihrem Mund wendete, wenn sie mich neckisch und spöttisch imitieren wollte. Hinzu kam noch ihre Liebe für indische Filme, weil ich ihr ganze, auch unanständige, Teile der schwülstigen Dialoge übersetzte. Die Sarabande der Schauspielerkörper genügte ihrem Verständnis im Großen und Ganzen, aber es brauchte ab und zu noch Einzelheiten aus den Diskussionen, den Liebeserklärungen und den Geständnissen.

Hadjer hat also ganz plötzlich die Tür geöffnet und den Flehenden in der Dunkelheit mit bösem Blick angestarrt. Bevor sie sich entschlossen hat, mich zu rufen, hat sie ihn von oben bis unten gemustert. Ich verlasse selten mein Zimmer, das ich immer hinter mir abschließe. Hadjer würde zwar nie einen Fremden hineinlassen, aber so ist es besser. Der Weltuntergang wäre für mich der Tag, an dem man meine Hefte stehlen würde, um sie auf der Straße in alle Winde zu verstreuen, wie am letzten Schultag vor den Ferien. Die Namen würden öffentlich, die Genealogien zu Steinen reduziert, bedächtige und kraftvolle Beschreibungen der Welt zu kleinen Teezweigen auf den Feldern, verfangen in den Büschen. Eine verzettelte Enzyklopädie wie eine Welt-Naturkatastrophe. Mir graut vor dieser möglichen Auflösung meiner Sprache, sie würde tödliche Epidemien wieder einführen und alle Lebenden im Dorf bedrohen. Anmaßung? Aber nein! Schlicht offensichtlich.

Ab einem bestimmten Moment meines Lebens, als ich meiner Gabe sicher war, las ich fast nichts mehr. Ich las etwas noch einmal oder ich hielt mich damit auf, Titel von Romanen zu sammeln, die demnächst erscheinen würden. Ein wahres Einwohnerregister, dessen Sachbearbeiter und Wächter in einer Person ich war. Wenn ich es wollte, passte das ganze Dorf wie eine durchsichtige Murmel im Gegenlicht zwischen meinen Daumen und Zeigefinger. Einen Stift in der Hand und ich konnte Wunder bewirken und Kranke heilen mit Buchtiteln, die ich nie geschrieben hatte. (In der Nacht ist das Dorf leer und seine Mauern drängen sich um die Lichtmasten wie um ein kaltes Feuer. Alles ist gelb, mit Angriffen von leidenschaftlichen Insekten und Bäumen mit zerzausten Haaren, die in den endlich freien Himmel zu entkommen versuchen, der den Eindringlingen überlassen wird. Die Luft ist für die Jahreszeit ungewöhnlich kühl. Sie kommt wohl hinter dem Hügel her von Norden, wie die Störche, die Lastwagen und die Namen der anderen Städte und Dörfer. Hunde ziehen mit ihrem Gebell die Grenzen im Osten und belästigen die Frühaufsteher. Es ist die Zeit der dicken und staubigen Weintrauben. Im Westen beschließt der Friedhof die Welt mit seinen Steinen und Versen.)

Ich nahm mein Material gegen den Tod, ging hinaus und folgte den Schritten Abdels, ohne ein Wort zu sagen. Hadjers Augen folgten mir lange und unbeweglich von der Türschwelle her. Mir war klar, dass sie mich lieber begleitet hätte: Sie hatte Angst um mich, aber während ihrer Abwesenheit konnte niemand auf unser Haus und unseren kargen Besitz aufpassen. Vielleicht dachte sie auch, es würde meine Chancen schmälern, endlich von ihnen aufgenommen zu werden, wenn sie sich den Brüdern aufdrängen würde. Groll, aber auch Gereiztheit und Furcht lagen in der Luft.

Am Abend wirkte das Dorf mit den Auslagen seiner geschlossenen Geschäfte wie ein erblindetes Wesen. Es gab keine Häuser, nur Gesichter, und Fenster wurden zu Lidern. Ich ließ mich treiben. Der verschwommene und durchscheinende Himmel erschien wie eine offene Handfläche voll glänzender Steine. »Dann wende nochmals deinen Blick! Es kehrt dein Blick zu Dir zurück, erliegend also dass er müd’ hinfällt«, erzählt das Heilige Buch.

 

Sie waren schließlich alle da, die Halbbrüder. Am oberen Ende der Gasse lagen sie im Hinterhalt wie Viehdiebe, ihre Schatten vermischten sich untereinander. Ich verspürte in der Nacht ihren Geruch von Tierhaut und Herde. Düfte von Geld, sie bedeuten bei uns Reichtum und Verwurzelung. Ich habe sie nicht begrüßt und nur kurz mit dem Kopf genickt, denn hinter mir wies Djemilas halb geöffnetes Fenster in den dunklen Innenraum eines alten Kolonialhauses. Bestimmt wegen der Hitze. Oder aus Schlaflosigkeit. Meine aufdringliche Stimme ist bekannt und ich wollte mir das übliche Grimassenschneiden meiner Sippschaft ersparen. Ich kenne jedes Gesicht, habe alle ihre Züge, ihre Macken und Gewohnheiten in meinen Heften notiert. Sie folgten mir, um ihrem Misstrauen Ausdruck zu verleihen und deutlich zu machen, dass sie mit meinem Geschäft nichts zu tun hatten.

Allen voran der ungestüme und nervöse Abdel, der den Chef spielt, wie seine Mutter es ihn gelehrt hat. Ich erriet seine Gedanken: Diese Nacht sieht nach einer Gelegenheit für meine Rache aus, aber genauso gut birgt sie die Möglichkeit meiner endgültigen Demütigung. Er kann weder lesen noch schreiben, aber er hat die böswillige Intuition derer, die sich dieses Mangels bewusst sind.

»Wie geht es deinen Kindern?«, hat er mir flüsternd hingeworfen, ohne mich anzusehen, während wir die letzte Gasse den Hügel hinaufstiegen. Er weiß, dass ich keine habe. Seine Brüder haben auf die Spitze nicht reagiert. Ich habe ihnen allen vor Jahren, einem wie dem anderen, das Leben gerettet und sie wissen es nicht. (O Herr, verzeihe ihnen, denn sie wissen es nicht! Ihr Heft hieß Geschichte der dreizehn. Wegen ihrer finsteren Gemeinschaft, wie bei der Verschwörung in einem mittelalterlichen Gasthof. Die Geschichte spielt während einer Rast, ein Mann erzählt sie. Jeder der zwölf Brüder trägt den Namen eines Planeten, der untätig im Dorf kreist.) Müßiggänger, die am Ende des Tages in der Nähe der Moschee im Ortskern im Kreis herumsitzen und den schlechten Eindruck erwecken, dass die Schöpfung zu nichts nutze ist, nur ein Spiel mit Murmeln und Vornamen.