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Franka Potente

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Beschreibung

Was wird, wenn die schwangere Ikuko die Einzige in ihrer Familie ist, die sich eine Tochter wünscht? Warum gibt sich die Witwe Frau Nishki so oft der liebevollen Zubereitung ihres Lachs-Eintopfs hin? Wo endet es, wenn sich Miyu, die heimlich in einem Nachtclub tanzt, in einen schüchternen Polizisten verliebt? In ihren genauen, sensiblen Stories eröffnet uns Franka Potente den Blick auf die japanische Kultur und die Menschen, denen sie dort begegnet ist. Und wenn sie von dem Stolz einer Zeichnerin oder dem peinlichen Missgeschick eines jungen Ehepaars erzählt, lässt sie uns auf bestechende Weise an den Empfindungen und Gedanken ihrer unverwechselbaren Figuren teilhaben.

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2010 ISBN 978-3-492-95031-2 © Piper Verlag GmbH, München 2010 Umschlag und Illustration: R.M.E. Roland Eschlbeck und Kornelia Rumberg unter Verwendung eines Schriftzeichens von Nobuko Haeufl-Yasuda Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

GÖTTERWINDE

Vorsichtig setzte sie den feinen Pinsel an.

Sie war im Geiste die Linien durchgegangen und hatte das Bild vor ihrem inneren Auge geformt.

Die zarte geschwungene Linie zog sich elegant über das Reispapier, das sofort die Tusche aufsog. Die schwarze Kontur des Fujiyama erhob sich aus dem Nebel und thronte über Tokios Skyline. Sehr oft schon hatte sie dieses Motiv gemalt. Heute allerdings war es besonders gelungen.

Das Bild war fertig. Gerade als sie das Papier zum Trocknen aufhängen wollte, klingelte die Ladenglocke.

Ihr Arbeitsplatz war nur durch einen Vorhang vom Verkaufsraum getrennt. Es gab einen großen Tisch, voll mit Tuschfässchen und Mineralfarben in kleinen Glasbehältern und kostbaren Pinseln, die sie sorgfältig in einem verzierten Holzkästchen aufbewahrte. Eine kleine Lampe spendete Licht, Fenster gab es nicht.

Der Laden selbst war klein. Er war ihr sehr vertraut. Sie war praktisch hier aufgewachsen. Seit vierzig Jahren hatte sich kaum etwas geändert. Es gab einen Tresen aus Teakholz mit einer Glasvitrine. In einer großen Schublade darunter befanden sich die einfachen, schlichten Fächer, die sie zusammengefaltet in Stapeln aufbewahrte.

Im Schaufenster stellte sie die schönsten Originale aus der Edo-Zeit aus. Sie wechselte die Auslage wöchentlich. Die Fächer mussten dann sorgfältig gereinigt und entstaubt werden.

An der Wand hinter dem Tresen hingen gerahmte Kalligrafien ihres Vaters. Die Mutter hatte sie nach seinem Tod dort aufgehängt. Ein kleines gerahmtes Bild der Eltern stand seit dem Tod der Mutter in einer der Vitrinen, neben dem Päonienblütenfächer aus der Meiji-Zeit. Dieser Fächer war nur ein Ausstellungsstück, es war der Lieblingsfächer der Mutter gewesen. Das Foto der Eltern hatte sie selbst gemacht. Vater und Mutter stehen darauf lächelnd hinter dem Tresen. Ihre Schultern berühren sich leicht. Beide haben die Hände gefaltet. Sie trägt einen dunkelgrünen Kimono. Sie hatte immer einen Kimono im Laden getragen. Einen Baumwoll-Komon, mit kleinem Muster. Frau Michi selbst tat dies nur zu besonderen Feiertagen.

Dann gab es noch zwei Vitrinenschränke, in denen sowohl bunte Blattfächer als auch verschiedene Faltfächer ausgestellt waren.

Frau Michi schlüpfte in ihre Pantoffeln, die unter dem Tisch warteten, zog den Vorhang zur Seite und trat hinter den Tresen.

»Konnichi wa!« Ein Europäer um die Fünfzig verbeugte sich höflich. Ein »Gaijin«, ein »Außenmensch«.

»Das ist ein schöner Laden«, sagte er mit angenehm ruhiger Stimme. Oft waren die Ausländer sehr laut. Das fiel besonders in dem kleinen, stillen Laden auf. Das war einer der Gründe, warum Frau Michi sich oft schwertat mit den Gaijin. Sie waren zu laut, zu direkt. Ständig lag Konfrontation in der Luft. Dabei verkaufte sie nur Fächer.

Frau Michi verbeugte sich dankend. Der Mann hatte mittelbraunes, schütteres Haar. Er trug ein Jackett aus Tweed, darunter ein schlichtes dunkelblaues Hemd. Er hatte eine Art Aktentasche dabei, und an seiner Jacke fiel ihr nun ein Plastikschild auf: »Agricultural Congress, All Access, Schreiber«.

Der Mann schien kein typischer Tourist zu sein. Sein Blick war zu unaufgeregt, die Kleidung zu formell. Er sah sich aufmerksam im Laden um, trat an die Vitrinen heran und sah sich die darin ausgestellten Fächer aufmerksam an. Groß war die Auswahl nicht mehr.

Als ihr Vater noch selbst Fächer hergestellt hatte, war der Laden fast zu klein gewesen für das Sortiment. Damals hatten sowohl ihre Mutter als auch sie selbst mitgeholfen. Damals hatten sie zu zweit hinter dem Vorhang gesessen.

»Ein Fächermacher kann nicht alleine arbeiten, Fächer zu machen ist die Kunst guter Zusammenarbeit«, hatte ihr Vater immer gesagt. Oft stellte er noch zwei weitere Gehilfen an, um das Papier zu laminieren und zuzuschneiden. Damals mieteten sie im Kimonoladen nebenan noch einen der hinteren Räume an. Zu Mittag tischte die Mutter für fünf Personen auf. Sie räumten die Tusche und Pinsel beiseite und saßen still hinter dem Vorhang.

Herr Schreiber wandte sich ihr jetzt zu: »Entschuldigung, ich suche ein Geschenk für meine Tochter.«

Frau Michi lächelte: »Was für eine Art Fächer suchen Sie denn?«

Der Mann sah verloren aus.

»Ich kenne mich mit Fächern leider gar nicht aus.« Er klang beschämt.

Frau Michi verbeugte sich entschuldigend: »Das macht nichts. Die meisten Kunden kennen sich nicht mit Fächern aus. Ich zeige Ihnen gerne welche, wenn Sie möchten.«

Sie trat an die Vitrine und nahm einen steifen, runden Blattfächer heraus. »Wir führen sowohl Uchiwa als auch Ôgi.« Sie zeigte auf den Blattfächer: »Dies ist ein Uchiwa, und das …«, sie nahm einen hübsch bemalten Faltfächer heraus, der einen Kirschblütenzweig zeigte, »das ist ein Faltfächer, ein Ôgi oder Sensu.«

Herr Schreiber schien fasziniert: »Ôgi oder … Sensu … hmm …«

Er nahm den Fächer in die Hand, drehte ihn und sah sich die zarten Einlegearbeiten am Griff genau an. »Wie hübsch! Ist das alles Handarbeit?«

Frau Michi lächelte: »Ja. Wir führen nur handgearbeitete Ware. Es gibt natürlich auch fabrikgefertigte Fächer.« Sie sprach von ihrer größten Konkurrenz.

Die meisten Touristen kauften die billigere Massenware. Als ihr Vater krank wurde und sie die Fächermacherei einstellten, war es seine größte Sorge, dass das Handwerk aussterben würde.

Doch obwohl die Kundschaft kleiner geworden war, führte sie auch seit seinem Tod nur Handarbeiten. Sie bestellte die Modelle bei Fächermachern in Tokio und Kyoto.

Zweimal im Jahr nahm sie den Shinkansen nach Kyoto und besuchte die Familie Akira. Herr Akira war einer der bekanntesten Fächermacher Kyotos und führte das Geschäft zusammen mit seiner Frau und den drei Söhnen. Die Stammkundschaft bestand aus Schauspielern und Tänzern, vor allem vom Nô-Theater oder Kabuki. Außerdem wurden die Uchiwas noch von Schiedsrichtern beim Sumoringen verwendet, und die Älteren legten Wert auf Handarbeit.

Sie selbst fertigte Fächer nur noch als Hobby. Oft bemalte sie das Reispapier, ohne es auf einen Fächerrahmen aufzuziehen oder zu pressen. Sie liebte den Geruch des Laminats und des Leims, es erinnerte sie an ihre Kindheit. Wie sie zusammen mit ihrer Mutter das jungfräuliche Reispapier mit kostbaren Tuschepinseln bemalt oder beschrieben hatte.

Die Mutter hatte ihr immer gesagt: »Fächer bemalen ist Zen, es ist Meditation. Überstürze nichts. Überlege dir genau, was dein Fächer sagen soll. Stelle dir dein Bild vor, und erst wenn du es genau vor Augen hast, dann zeichnest du. Dann brauchst du nur einen Pinselstrich. Das Reispapier verzeiht nicht. Du kannst nichts korrigieren.«

Wenn ein Kunde kam und einen von ihr bemalten Fächer in Augenschein nahm, hatte sie vor Aufregung oft den Atem anhalten müssen. Stolz war sie gewesen, wenn einige Tage später der fertige Fächer in der hübschen Vitrine stand, und manchmal traurig, wenn ein Tourist kam und den Fächer kaufte und mitnahm in ein fernes Land, das sie sich damals nicht hatte vorstellen können.

Die Mutter hatte ihr alles über Tuschtechniken, Mineralfarben, Motive und die Geschichte des Fächers beigebracht.

Herr Schreiber wies auf einen Faltfächer aus der Meiji-Zeit. »Was ist dies hier?«

Es war selten, dass ein europäischer Kunde so viel Interesse zeigte. Es fiel ihr schwer, dem Gaijin gegenüber indifferent zu bleiben, so wie es sich gehörte. Sonst sprach sie mit Fremden nur das Nötigste, wenn sie sich im Laden aufhielten. Auf der Straße tat man im Allgemeinen so, als bemerke man die »Außenmenschen« nicht.

Andererseits hatte sie Ausländer schon als Kind spannend gefunden. Da sie fast ihre ganze Zeit im Laden verbrachte, sah sie regelmäßig Gaijin aus aller Herren Länder. Deren fremde Art, sich zu kleiden, zu sprechen, die großen Gesten oder deren seltsame Mimik hatten bereits im Kindesalter ihre Neugier geweckt. Normalerweise verhielt sie sich still und sprach nur, wenn man sie etwas fragte. Ihr Englisch war relativ gut, dennoch bevorzugte sie es, den zu zahlenden Betrag in den Taschenrechner zu tippen und dann dem Kunden das Display zu zeigen, statt mit ihnen zu sprechen. Dann beschwerte sich auch niemand über den Preis.

Der Herr, der dem Schild nach »Schreiber« hieß, schien allerdings sehr höflich zu sein.

Vorsichtig nahm sie den Fächer aus dem Regal. »Dieser Sensu zeigt einen Daikoku. Das ist der Gott des Reichtums und des Glücks.«

Der Fächer war aus dem 19. Jahrhundert und sehr gut erhalten. Sie führte neben neuen Fächern auch Originale aus der Edo- und Meiji-Epoche, die rar und schwer zu finden waren. Der Daikoku-Fächer war besonders schön. Sein Reispapier war zartrosa eingefärbt, und die Tuschezeichnung zeigte den Daikoku mit einem Sack auf dem Rücken, wie er drei Juwelen nacheilt.

»Was bedeutet der Sack?«, wollte Herr Schreiber jetzt wissen.

»Der Sage nach hat der Daikoku immer seinen Sack mit Schätzen dabei, außerdem trägt er einen Hammer mit sich.« Sie wies auf die Zeichnung, in der bei genauem Hinsehen ein Hammer in der Hand des Daikoku zu sehen war.

»Mit dem Hammer kann der Daikoku alles, was er damit berührt, verwandeln.« Herr Schreiber hörte aufmerksam zu. »Früher hatte der Daikoku die Aufgabe, die Tempelküche mit den Lebensmitteln zu bewachen.«

Herr Schreiber zog die Brauen hoch. »Aah, so etwas Ähnliches wie ein Bodyguard?« Er lachte. »Interessant. Was kostet der?«

Er hatte sich einen der teuersten Fächer ausgesucht. Sie sah nach. 27 500 Yen. Das waren etwa 220 Euro. Sie tippte den Betrag in den Taschenrechner und zeigte ihm das Display. Sie sah ihn nicht an.

»Dieser Fächer ist ein Original, er ist über hundert Jahre alt«, sagte sie leise. Wenn der Mann den Fächer kaufen würde, müsste sie sich weniger Sorgen machen diesen Monat. Meist wurden die günstigeren Fächer gekauft, und dann vor allem zu Neujahr. Jetzt, im September, ging das Geschäft schleppend. Erst letzte Woche hatte sie überlegt, den Laden ganz zu schließen, er brachte kaum noch Gewinn. Es hatte die ganze Woche geregnet, und Frau Kim aus dem Kimonoladen hatte auch über fehlende Kundschaft geklagt. »Warum schließen Sie den Laden nicht?«, hatte sie gefragt. »Wenn Sie sich die Ladenmiete sparen, sind Sie fein raus. Da reicht es bald für Satellitenfernsehen.«

Schon am nächsten Tag hatte sie sich geärgert über sich selbst. Der Laden war alles, was sie hatte, die Eltern hatten hart dafür gearbeitet. Und fernsehen tat sie wenig. Nur nebenbei, nach der Arbeit. Sie war in den Tempel gegangen und hatte für mehr Kundschaft gebetet. Danach fühlte sie sich besser und mied Frau Kim seither.

Herr Schreiber sah auf die Uhr. »Hmm, verzeihen Sie bitte. Ich muss zurück zum Kongress. Ich werde wiederkommen. Ich möchte mir noch Ihre anderen Fächer ansehen.«

Mit einer kleinen Verbeugung verließ er den Laden.

Das passierte oft. Die Kunden ließen sich von ihr beraten und kauften dann die billigen Fächer zwei Straßen weiter. Vorsichtig stellte sie den Uchiwa und den Daikoku-Sensu zurück in die Vitrine. Sie räumte die Tusche weg, säuberte die Pinsel, und nachdem sie das bemalte Reispapier zum Trocknen aufgehängt hatte, beschloss sie, den Laden heute früher zu schließen.

Draußen war es grau und windig. In der Nachbarschaft redete man davon, dass der Taifun kommen würde. Die Alten sprachen vom »Kamikaze«, dem »Götterwind«. Sie war froh, dass sie einen Schal mitgenommen hatte.

Allerdings hatte sie es nicht weit. Unterwegs kaufte sie ein paar Gyôza für das Abendessen. Sie war allein, da brauchte sie nicht viel. Gerne hätte sie für einen Mann gekocht, aber irgendwie hatte sie den Absprung nie geschafft. Als sie zwischen Zwanzig und Dreißig war, hatte sie sich um den Laden und ihre nacheinander erkrankten Eltern gekümmert. Jetzt war sie sechsundvierzig und anscheinend zu alt. Alle Männer ihres Alters waren verheiratet. Außerdem betrachtete man eine alleinstehende Frau ihres Alters argwöhnisch. Manchmal, so schien ihr, auch mitleidig.

Als sie nach Hause kam, heizte sie den Kotatsu ein. Dann schaute sie fern. In den Lokalnachrichten wurde von einer hochschwangeren Frau berichtet, die von sieben Krankenhäusern abgewiesen wurde, weil sie keine Krankenversicherung hatte. Mehr oder weniger auf den Treppenstufen des achten Hospitals brachte sie dann ihr Kind zur Welt. Die Frau verstarb, sie hatte einen Gehirntumor.

Frau Michi fragte sich, ob sie und die einsame Frau etwas gemeinsam hatten. Allerdings besaß sie selbst eine Krankenversicherung. Der Bericht war kurz. Als Nächstes wurde von den Einbußen beim Thunfischfang berichtet, worauf eine Reportage über wachsende Landwirtschaft östlich von Tokio gesendet wurde.

Plötzlich sah sie den Mann, der heute bei ihr im Geschäft gewesen war.

Der Europäer mit dem dunkelblauen Hemd saß neben anderen europäischen Herren mit Namensschildern an einem großen Tisch und diskutierte. Es war ein Bericht über einen Landwirtschaftskongress, der zurzeit in Tokio stattfand.

»Was für ein Zufall«, dachte Frau Michi. Fast hatte sie den einzigen Kunden dieses Tages schon wieder vergessen.

Der Wetterbericht schloss mit einer Sturmwarnung.

In der Nacht regnete es heftig. Wolkenbruchartiger Regen prasselte herunter, und Frau Michi stand mitten in der Nacht auf, um das Fenster zu schließen. War das der Kamikaze? Sie brauchte lange, um wieder einzuschlafen. Irgendwo schlug ein Fensterladen gegen die Häuserwand.

Am nächsten Morgen regnete es immer noch, aber der Wind hatte etwas nachgelassen. Sie zog ihre Gummistiefel an, als sie zum Geschäft ging, und setzte ein Kopftuch auf. Menschen mit Regenschirmen eilten die Straße entlang, Kinder spielten in Pfützen, und nasse Hunde suchten einen Unterstand.

Es war kalt im Laden. Und es tropfte von der Decke. Eilig holte sie einen Eimer aus der kleinen Abstellkammer. Es tropfte auf eine der beiden Vitrinen. Zum Glück war keiner der Fächer nass geworden. Sie borgte sich im Kimonoladen eine kleine Leiter. Frau Kim schaute vorwurfsvoll: »Ich habe Sie lange nicht gesehen. Wie gehen die Geschäfte?«

Sie unterhielten sich kurz über das Wetter, dann eilte Frau Michi mit der Leiter zurück in ihren Laden. Es stürmte und regnete jetzt wieder so heftig, dass sie schon nach wenigen Metern durchnässt war.

Vorsichtig schob sie einige Kartons beiseite und stellte die Leiter auf. Nun konnte sie die Pfütze aufwischen, die sich oben auf dem Vitrinenschrank gebildet hatte. Der Schrank war mindestens fünfzig Jahre alt, und das Holz war über Nacht aufgeweicht.

Die Glocke läutete, und ein Kunde mit Regenschirm trat ein.

»Konnichi wa!« Es war der Herr aus dem Fernsehen. Herr Schreiber. Sein Schirm hatte sich nach außen gestülpt.

Er verbeugte sich höflich. »Was für ein Wetter! Ich bin um ein Haar weggepustet worden.«

Fast wäre Frau Michi von der Leiter gefallen, als sie eine Verbeugung versuchte.

Er eilte zu ihr und reichte ihr seinen Arm: »Darf ich Ihnen helfen?«

Frau Michi erschrak, seine Geste kam überraschend. Sie hielt sich an der Leiter fest und stieg vorsichtig herunter. »Danke, es geht schon.«

Der Gaijin trug heute eine Windjacke über seinem Jackett. Seine Wangen waren gerötet. Frau Michi bemühte sich, ihn nicht zu offensichtlich anzusehen. Herr Schreiber stellte seinen Schirm ab und strich sich über das Haar. »Ich wollte mir noch in Ruhe Ihre Fächer ansehen. Gestern war leider nicht genug Zeit.« Gerade als Frau Michi ihn ermuntern wollte, sich umzusehen, gab es einen lauten Schlag.

Der Wind war stärker geworden, und ein aus der Verankerung gerissener Mülleimer war gegen das Schaufenster geschleudert worden. Frau Michi entfuhr ein kleiner Schrei. Auch Herr Schreiber erschrak. Die Fensterscheibe hatte einen kleinen Sprung.

Herr Schreiber hastete zur Tür, die sich kaum öffnen ließ, so stark drückte der Sturm dagegen. Der Metallmülleimer schlug gegen den Türrahmen.

Herr Schreiber musste die Tür ganz öffnen und einige Schritte auf die Straße hinaus tun, um ihn zu fassen zu kriegen. Frau Michi stand erstarrt im Laden und sah zu.

Der Wind heulte auf, als er die Tür hastig schloss. Den geretteten Mülleimer legte er in eine Ecke. »Puuh, das war knapp. Ich nehme an, das ist nun der ›Kamikaze‹, vor dem mich meine japanischen Kollegen gewarnt haben?«

Frau Michi brachte ihm ein kleines Handtuch. Sein Gesicht war nass vom Regen. Sie überlegte. »Ich muss die Rollläden herunterlassen, sonst gehen noch die Fenster kaputt!«

Herr Schreiber half ihr.

Der Sturm fegte durch die kleine Straße, man hörte laute Rufe, Türenschlagen und das Prasseln des Regens. Im Laden war es recht still. Und dunkel. Frau Michi zündete die kleine Öllampe an, es war eine Frage der Zeit, wann der Strom ausfallen würde. Herr Schreiber zog seine nasse Windjacke aus: »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich meine Jacke zum Trocknen aufhänge?«

Frau Michi nahm ihm die Jacke ab und hängte sie über einen Stuhl. Kurz war sie unschlüssig. »Möchten Sie einen Tee?«

Er nickte. »Gerne. Es scheint, als hätten wir ein bisschen Zeit, die Fächer anzusehen.«

Sie setzte Teewasser auf. Als sie sich ihm wieder zuwandte, hielt er den Spatzenfächer aus der Meiji-Zeit in den Händen, der drei Spatzen auf einem Bambuszweig zeigte.

Das Reispapier war cremefarben eingefärbt, die Tusche schon etwas verblasst. Der Kontrast des zarten Rosa mit dem Dunkelgrün des Bambuszweiges war wunderschön. Er gab ihr vorsichtig den Fächer zurück, und sie hielt ihn gegen das Licht der Lampe.

»Das ist mein Lieblingsfächer. Eigentlich war er immer nur ein Ausstellungsstück. Meine Mutter sagte immer: ›Die drei Spatzen, das sind wir. Und der dicke Spatz ganz rechts, das ist der Vater.‹« Sie musste lachen. Schnell drehte sie sich weg, um den Tee aufzugießen.

Er lachte mit. »Gab es Fächer schon … immer?«

Sie brachte Tee. »Ich glaube, seit dem 6. Jahrhundert. Aber zunächst kamen die Fächer aus China. Die waren noch nicht aus Papier, sondern häufig aus Fasanenfedern. Später gab es dann Hiôgi, Zypressenholzfächer für Hofdamen. Und Faltfächer wie diese dort gibt es seit dem 9. Jahrhundert.«

Herr Schreiber hörte aufmerksam zu. »Aber Fächer werden doch hauptsächlich im Sommer benutzt oder für Feste und Tänze, nicht wahr?«

»Ja, aber eigentlich symbolisiert ein Fächer Zurückhaltung.«

Sie hörte sich selbst reden und dachte, dass sie in den ganzen letzten Wochen nicht so viel gesprochen hatte wie heute. Und ihr eigener, unsichtbarer Fächer war heute noch unsichtbarer als sonst.

Herr Schreiber wartete auf weitere Ausführungen, also sprach sie weiter: »Nun, die Damen verbergen hinter dem Fächer ihr Gesicht, ihre Gefühle, zum Beispiel im Gespräch mit einem Herrn. Solche Situationen kommen heute natürlich nicht mehr so oft vor. Aber trotzdem trägt jede Frau in Japan ihren unsichtbaren Fächer.«

Herr Schreiber sah sie ruhig an. Dann nickte er leicht und nahm einen Schluck Tee.

Es war plötzlich sehr still. Frau Michi überlegte, ob sie zu viel gesagt hatte. »Und diesen schönen Fächer hier«, er zeigte auf den Spatzenfächer, »den verkaufen Sie auch, oder ist das nur ein Ausstellungsstück?«

Sie zögerte. Eigentlich hatte sie den Spatzenfächer nicht verkaufen wollen. Es hingen so viele Erinnerungen daran. Andererseits brauchte sie das Geld für den Laden.

»Der Fächer steht zum Verkauf.« Sie zögerte. »Er ist allerdings recht teuer.«

Der Gaijin wandte sich jetzt dem dunkelroten Päonienblüten-Sensu zu. Dieser Blattfächer zeigte eine zartrosa Päonienblüte auf dunkelrotem Grund. Die Ränder waren mit goldener Mineralfarbe verziert. »Der könnte meiner Tochter gefallen!«, sagte er begeistert. »Sie wird Zweiundzwanzig. Sie studiert Biologie, da dachte ich, die Blüte …«

Frau Michi nickte aufmunternd: »Sie sind sicher sehr stolz auf sie.«

Herr Schreiber fuhr sich durchs Haar und sah traurig aus. »Wissen Sie, seit dem Tod meiner Frau vor sechs Jahren haben wir uns zu zweit durchs Leben gekämpft. Jetzt ist Jessi seit einem Jahr auf der Universität in München, das ist in Süddeutschland. Kennen Sie München?« Frau Michi war sich nicht sicher. Von Deutschland hatte sie natürlich gehört. Es kamen viele deutsche Touristen in den Laden. Sie lächelte.

»Sie … sie ist ein tolles Mädchen.« Er starrte den Fächer an. »Und … ja. Ja, ich bin sehr stolz auf sie.« Er lächelte. »Haben Sie Kinder?«

Frau Michi schüttelte den Kopf. Einmal, vor vielen Jahren, da hätte sie ein Kind haben können. Aber sie war zu jung. Es hätte dem Vater das Herz gebrochen. Jetzt bemerkte sie, wie selten sie in den letzten Jahren daran gedacht hatte.

Herr Schreiber räusperte sich leise. »Verzeihen Sie, das war sehr neugierig von mir.« Er nahm ein zerknicktes Foto aus seiner Brieftasche und reichte es ihr. Die junge Frau darauf hatte eine Sonnenbrille im Haar und lachte. Im Hintergrund war ein großes Schild mit Micky Maus zu sehen. Sie hatte dasselbe Grübchen am Kinn wie ihr Vater. Er lächelte stolz. »Das Foto ist schon einige Jahre alt. Wir waren im Urlaub in Florida, in Orlando. Wir hatten uns den heißesten Tag ausgesucht, um nach Disneyworld zu fahren.« Er lachte. »Wir haben uns mit Eiswürfeln gefüllte Tücher um den Hals gebunden …« Er schien kurz in seinen Erinnerungen versunken.

Draußen heulte noch immer der Sturm.

Frau Michi goss Tee nach. Gerne würde sie sich dem Fremden anvertrauen.

Ende der Leseprobe