Zeit aus den Fugen - Philip K. Dick - E-Book

Zeit aus den Fugen E-Book

Philip K. Dick

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Beschreibung

Einer von Dicks großen Klassikern, der das Szenario einer gefälschten Wirklichkeit entwirft – lange Jahre vor Filmen wie «The Truman Show» oder «Matrix» Eine Kleinstadt wie jede andere, irgendwo im Amerika der späten Fünfziger. Ragle Gumm, sechundvierzig Jahre alt, ledig, verdient seinen Lebensunterhalt seit Jahren durch Preisausschreiben der Lokalzeitung. Als Dauergewinner und nationaler Champion im Wettbewerb "Wo taucht das grüne Männchen als nächstes auf?" ist er eine kleine Berühmtheit. Bis merkwürdige Entdeckungen ihn davon überzeugen, dass etwas nicht stimmt. Nicht mit den Menschen, nicht mit den Autos, den Häusern, der Stadt. Und nicht mit der Zeit.

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Seitenzahl: 351

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Philip K. Dick

Zeit aus den Fugen

Roman

Aus dem Amerikanischen von Barbara Krohn und Gerd Burger

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Victor Nielson karrte einen Einkaufswagen voll Winterkartoffeln aus dem Kühlraum im hinteren Teil des Ladens zum Gemüsestand der Frischwarenabteilung. Er ließ die neuen Kartoffeln in den beinahe leeren Kasten kullern und prüfte dabei jede zehnte auf faulige Stellen oder Einkerbungen. Eine dicke Kartoffel fiel auf den Boden, und er bückte sich, um sie aufzuheben; dabei schaute er an den Kassenböcken, den Registrierkassen und den Ständern mit Zigarren und Schokoriegeln vorbei durch die großen Glastüren hinaus auf die Straße. Auf dem Bürgersteig waren einige wenige Fußgänger zu sehen, und auf der Straße erhaschte er das Aufblitzen der Sonne auf dem Kotflügel eines Volkswagens, der vom Parkplatz des Ladens davonfuhr.

»War das meine Frau?«, fragte er Liz, das Prachtstück von einem Mädchen aus Texas, das gerade an der Kasse saß.

»Nicht dass ich wüsste«, sagte Liz, während sie zwei Milchtüten und eine Packung mageres Rinderhack eintippte. Der ältere Kunde an der Kasse griff in die Innentasche seines Mantels, um die Geldbörse hervorzuholen.

»Ich warte darauf, dass sie vorbeikommt«, sagte Vic. »Sag mir Bescheid, wenn sie da ist.« Margo sollte mit Sammy, ihrem zehnjährigen Sohn, wegen einer Röntgenaufnahme zum Zahnarzt. Weil es April war – Zeit für die Einkommenssteuererklärung –, herrschte auf dem Sparbuch ungewöhnliche Flaute, und Vic fürchtete das Ergebnis der Röntgenuntersuchung.

Weil er das Warten nicht länger aushielt, ging er zum Münztelefon neben dem Regal mit Dosensuppen, warf eine Zehncentmünze ein und wählte.

»Hallo«, hörte er Margos Stimme.

»Hast du ihn schon hingefahren?«

Margo antwortete hektisch: »Ich musste Dr. Miles anrufen und den Termin verschieben. Gegen Mittag ist mir eingefallen, dass Anne Rubenstein und ich ausgerechnet heute die Petition zum Gesundheitsamt bringen müssen; sie muss heute eingereicht werden, weil die Aufträge jetzt vergeben werden, wie wir gehört haben.«

»Welche Petition?«, fragte er.

»Wir wollen die Stadtverwaltung zwingen, endlich auf den drei unbebauten Grundstücken die alten Fundamente zu beseitigen«, antwortete Margo. »Wo die Kinder nach der Schule spielen. Es ist gefährlich. Da gibt’s rostige Drähte und zerbrochene Betonplatten und –«

»Hättet ihr das nicht mit der Post schicken können?«, unterbrach er sie. Aber insgeheim war er erleichtert. Sammys Zähne würden schon nicht nächsten Monat ausfallen; es hatte keine Eile mit dem Zahnarzt. »Wie lange brauchst du? Heißt das, dass du mich nicht mit dem Auto abholst?«

»Keine Ahnung«, sagte Margo. »Hör mal, mein Schatz; im Wohnzimmer hocken ein paar Damen – wir arbeiten gerade ein paar Punkte aus, die uns in letzter Minute noch eingefallen sind und die wir vorbringen wollen, wenn wir die Petition überreichen. Falls ich dich nicht abholen kann, ruf ich so um fünf an. Okay?«

Nachdem er den Hörer aufgehängt hatte, trottete er hinüber zu den Kassen. Es mussten keine Kunden bedient werden, und Liz hatte sich kurz eine Zigarette angezündet. Sie lächelte ihn mitfühlend an, ein Effekt, der dem Aufleuchten einer Laterne gleichkam. »Wie geht’s deinem Kleinen?«, fragte sie.

»Gut«, antwortete er. »Wahrscheinlich ist er froh, dass er nicht hinmuss.«

»Ich geh zu einem ganz süßen, kleinen, alten Zahnarzt«, zwitscherte Liz. »Der muss fast hundert Jahre alt sein. Er tut mir nie auch nur ’n bisschen weh; schabt einfach munter drauflos, und das war’s dann.« Sie zog mit dem rotlackierten Daumennagel die Lippe zur Seite und zeigte ihm eine Goldfüllung in einem der oberen Backenzähne. Ein Hauch von Zigarettenrauch und Zimt umstrich ihn, als er sich vorbeugte, um hinzusehen. »Siehst du?«, sagte sie. »Groß wie ’n Scheunentor, und hat überhaupt nicht weh getan! Nein, kein bisschen.«

Was Margo wohl sagen würde, dachte er. Wenn sie hereinspaziert käme durch die Glastür, die automatisch aufgeht, sobald man sich ihr nähert, und mich dabei sähe, wie ich Liz in den Mund starre. Ertappt bei einer neuen, schicken Erotikvariante, die noch nicht im Kinsey-Report verzeichnet ist.

Der Laden hatte sich im Lauf des Nachmittags beinahe vollständig geleert. Normalerweise schob sich ein steter Strom von Kunden durch die Kassen, aber heute nicht. Die Rezession, vermutete Vic. Fünf Millionen Arbeitslose im Februar dieses Jahres. Das macht sich jetzt auch bei uns bemerkbar. Er ging zu den Eingangstüren und beobachtete das Treiben auf dem Bürgersteig. Kein Zweifel. Weniger Leute als sonst. Alle hocken zu Hause und zählen ihre Ersparnisse.

»Das wird ein schlechtes Geschäftsjahr«, sagte er zu Liz.

»He, wozu machst du dir Sorgen?«, sagte Liz. »Ist ja nicht dein Laden; du arbeitest hier nur, wie alle anderen auch. Müssen wir eben nicht so viel arbeiten.« Eine Kundin hatte damit begonnen, verschiedene Lebensmittel auf das Laufband zu packen; Liz tippte die Sachen in die Kasse ein, während sie über die Schulter mit Vic weiterredete. »Ich glaub sowieso nicht, dass es wieder eine Wirtschaftskrise gibt; das ist bloß das Gerede der Demokraten. Ich hab diese alten Demokraten satt, die dauernd rumtönen, dass die Wirtschaft zusammenbricht oder so ähnlich.«

»Bist du keine Demokratin?«, fragte er. »Du aus dem Süden?«

»Nicht mehr. Nicht seit ich hierhergezogen bin. Das hier ist ein Staat, wo die Republikaner das Sagen haben, also bin ich Republikanerin.« Die Kasse klackerte und klingelte, und die Geldlade flog auf. Liz packte die Lebensmittel in eine Papiertüte.

Das Schild American Diner Café auf der anderen Straßenseite erinnerte Vic an den Nachmittagskaffee. Vielleicht war jetzt ein günstiger Zeitpunkt. Zu Liz sagte er: »Ich bin so in zehn Minuten wieder zurück. Meinst du, du kannst die Stellung alleine halten?«

»Na logo«, antwortete Liz fröhlich, während sie das Wechselgeld herausgab. »Geh du jetzt, dann kann ich später rausgehen und ein paar Einkäufe machen. Na, zieh schon ab.«

Die Hände in den Hosentaschen verließ er den Laden und blieb am Bordstein stehen, um eine Lücke im Verkehr abzupassen. Er ging nie zum Zebrastreifen an der Kreuzung; immer überquerte er die Straße auf dem kürzesten Weg des Blocks, steuerte direkt auf das Café zu, selbst wenn er minutenlang am Straßenrand warten musste. Es war auch ein Fünkchen Ehre im Spiel, ein Quäntchen Männlichkeit.

 

In der Sitznische im Café saß er vor seinem Becher Kaffee und rührte abwesend darin herum.

»Wenig los heute«, sagte Jack Barnes, der Schuhverkäufer aus Samuel’s Men’s Apparel, und setzte sich mit seinem Becher Kaffee zu ihm. Jack sah ausgebrannt wie immer aus, als ob er den ganzen Tag geschmort und gebraten hätte in seinem Nylonhemd und der schlackernden Hose. »Muss wohl das Wetter sein«, sagte er. »Kaum gibt’s ’n paar schöne Frühlingstage, schon kaufen alle Leute bloß noch Tennisschläger und Campingkocher.«

In Vics Tasche steckte die neueste Broschüre des Buchclubs. Er und Margo waren ihm vor mehreren Jahren beigetreten, damals, als sie die erste Anzahlung auf ihr Einfamilienhaus gemacht hatten und in die Sorte von Wohnviertel gezogen waren, wo großer Wert auf solche Dinge gelegt wurde. Er holte die Broschüre hervor, breitete sie auf dem Tisch aus und drehte sie um, damit Jack sie lesen konnte. Der Schuhverkäufer zeigte keinerlei Interesse.

»Werd Mitglied in einem Buchclub«, sagte Vic. »Bring dein Gehirn auf Trab.«

»Ich lese Bücher«, sagte Jack.

»Ja, ja. Diese Taschenbücher, die man bei Becker’s Drugs kriegt.«

Jack sagte: »Dieses Land braucht Naturwissenschaft und keine Romane. Du weißt verdammt gut, dass diese Buchclubs Sexgeschichten verhökern über Kleinstädte, wo Sexualverbrechen begangen werden und der ganze Dreck an die Oberfläche schwappt. Das trägt für mich nicht gerade zur Förderung der Forschung in Amerika bei.«

»Der Buchclub hat auch Toynbees History im Programm gehabt«, sagte Vic. »Das könntest du ohne Bauchschmerzen lesen.« Er hatte es als Treueprämie bekommen; obwohl er mit dem Buch noch nicht ganz durch war, war ihm klar, dass es sich um ein wichtiges literarisches und historisches Werk handelte, das es wert war, in seiner Hausbibliothek zu stehen. »Wie auch immer«, sagte er, »wie schlecht manche Bücher auch sein mögen, sie sind längst nicht so übel wie diese Teenager-Sexfilme, diese Filme mit den Autorennen, die James Dean und diese Typen drehen.«

Jacks Lippen bewegten sich, als er den Titel der aktuellen Auswahl des Buchclubs las. »Ein historischer Roman«, sagte er. »Über den Süden. Die Zeit des Bürgerkriegs. Solches Zeug finden sie immer prima. Ob diese alten Damen, die dort Mitglieder sind, es nicht mal satt haben, den Mist wieder und wieder zu lesen?«

Bisher hatte Vic noch keine Möglichkeit gefunden, die Broschüre durchzusehen. »Ich bestell nicht immer das, was es grad gibt«, erklärte er. Das aktuelle Buch hieß Onkel Toms Hütte. Von einer Autorin, deren Namen er noch nie gehört hatte: Harriet Beecher Stowe. Die Broschüre lobte das Buch als gewagte Bloßstellung des Sklavenhandels im Kentucky der Zeit vor dem Bürgerkrieg. Ein aufrichtiges Dokument der abscheulichen Verbrechen, die an unglücklichen Negermädchen begangen wurden.

»Wahnsinn«, sagte Jack. »He, das könnte mir gefallen.«

»Der Klappentext sagt gar nichts über ein Buch«, meinte Vic. »Für jedes Buch, das heutzutage geschrieben wird, machen sie solche Werbung.«

»Stimmt«, sagte Jack. »Auf nichts in der Welt ist heute mehr Verlass. Wenn man an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg denkt und das mit heute vergleicht. Was für ein Unterschied. Da gab es nicht diese Unaufrichtigkeit und diese Kriminalität und diesen Dreck und dieses Giftzeug, das sich jetzt überall breitmacht. Halbstarke, die Autos zu Schrott fahren, diese Schnellstraßen und Wasserstoffbomben … und die steigenden Preise. Wie der Preis, den ihr Lebensmittelhändler für Kaffee verlangt. Es ist fürchterlich. Wer kassiert eigentlich die ganze Kohle?«

Sie stritten darüber. Der Nachmittag schleppte sich dahin, langsam, schläfrig, und es passierte wenig oder nichts.

 

Um fünf, als Margo Nielson ihren Mantel und die Autoschlüssel schnappte und aus dem Haus wollte, war Sammy nirgendwo zu sehen. Draußen beim Spielen, kein Zweifel. Aber sie konnte sich nicht die Zeit nehmen, nach ihm zu suchen; sie musste Vic jetzt sofort abholen, oder er würde denken, dass sie nicht mehr käme, und mit dem Bus nach Hause fahren.

Sie eilte ins Haus zurück. Im Wohnzimmer nippte ihr Bruder an seiner Bierdose; er hob den Kopf und murmelte: »Schon zurück?«

»Ich bin noch gar nicht weg gewesen«, sagte sie. »Ich kann Sammy nicht finden. Würdest du wohl Ausschau nach ihm halten, solange ich weg bin?«

»Na sicher«, antwortete Ragle. Aber sein Gesicht sah so müde aus, dass sie sofort vergaß, dass sie eigentlich hatte wegfahren wollen. Seine rotgeränderten und geschwollenen Augen fixierten sie eindringlich; er hatte die Krawatte abgebunden, die Hemdsärmel hochgekrempelt, und als er sein Bier trank, zitterte sein Arm. Die Papiere und Notizen für seine Arbeit waren überall im Wohnzimmer verteilt und bildeten einen Kreis, dessen Mittelpunkt er war. Er konnte nicht einmal herauskommen; er war umzingelt. »Denk aber dran, dass ich das hier vor sechs zur Post bringen und abstempeln lassen muss«, sagte er.

Vor ihm waren seine Unterlagen zu einem schwankenden, knarrenden Stapel aufgetürmt. Er hatte jahrelang Material gesammelt. Nachschlagewerke, Diagramme, Schaubilder und alle Wettbewerbseinsendungen, die er bisher losgeschickt hatte, Monat für Monat … er hatte seine Einsendungen auf verschiedene Weise gebündelt, um sie durcharbeiten zu können. In diesem Augenblick benutzte er das, was er seinen ›Sequenz-Scanner‹ nannte; es handelte sich dabei um undurchsichtige Kopien der Einsendungen, bei denen an der angekreuzten Stelle ein fein gebündelter Punkt durchschien, sobald man Licht darauf warf. Wenn er die Einsendungen in der richtigen Reihenfolge durchrauschen ließ, konnte er den Lichtpunkt in Bewegung sehen. Der Lichtpunkt hüpfte herein und heraus, hinauf und hinunter, und in Ragles Augen bildeten die Bewegungen ein Muster. In Margos Augen bildeten sie nie ein Muster irgendeiner Art. Aber das war auch der Grund, weshalb er es schaffte zu gewinnen. Sie hatte einige Male am Wettbewerb teilgenommen und nichts gewonnen.

»Wie weit bist du?«, fragte sie.

Ragle sagte: »Naja, ich hab’s zeitlich errechnet. Vier Uhr nachmittags. Jetzt muss ich’s nur noch –« er zog eine Grimasse, »räumlich errechnen.«

Auf dem langen Sperrholzbrett war das offizielle Teilnahmeformular, das mit der Zeitung mitgeliefert wurde, festgeheftet; die heutige Einsendung. Hunderte von winzigen Quadraten, jedes von ihnen nach Zeile und Spalte nummeriert. Ragle hatte die Spalte, das Zeitelement, markiert. Es war Spalte 344; sie sah, dass die rote Nadel dort steckte. Aber der Ort. Das war offenbar schwieriger.

»Setz doch ein paar Tage aus«, drängte sie ihn. »Mach mal Pause. Du hast dich in den letzten Monaten zu sehr reingehängt.«

»Wenn ich aussetze«, sagte Ragle und kritzelte wie wild mit seinem Kugelschreiber, »muss ich ’ne ganze Ladung Punkte sausen lassen. Ich würde ’ne Menge verlieren –« Er zuckte mit den Achseln. »Würde alles verlieren, was ich seit dem fünfzehnten Januar gewonnen habe.« Er benutzte den Rechenschieber und ermittelte den Schnittpunkt mehrerer Linien.

Jede Einsendung, die er losschickte, wurde zu einer weiteren bekannten Größe in seinen Unterlagen. Und auf diese Weise, so hatte er ihr einmal erklärt, wuchsen seine Chancen, richtigzuliegen, von Mal zu Mal. Je mehr Vergleichsmaterial er zur Verfügung hatte, desto leichter wurde es für ihn. Aber stattdessen, so kam es ihr vor, wurde es für ihn immer schwerer. »Warum?«, hatte sie ihn eines Tages gefragt. »Weil ich’s mir nichtleisten kann zu verlieren«, hatte er erklärt. »Je häufiger ich richtigliege, desto mehr hab ich investiert.« Der Wettbewerb zog sich schier endlos hin. Vielleicht hatte er sogar schon den Überblick über seinen Einsatz, über das ständig steigende Niveau seiner Gewinne verloren. Er gewann immer. Es war eine besondere Begabung, und er hatte sie gut zu nutzen gewusst. Aber es war auch eine grausame Belastung für ihn, diese tägliche Mühe, die als Jux begonnen hatte oder allenfalls als Möglichkeit, einige Dollars für einen guten Tipp abzuzocken. Und jetzt konnte er nicht mehr aufhören.

Das ist es wahrscheinlich, was sie wollen, dachte sie. Sie ziehen dich da rein, und vielleicht lebst du nicht einmal lange genug, um abzukassieren. Aber er hatte abkassiert; die »Gazette« bezahlte ihm regelmäßig seine richtigen Einsendungen. Sie wusste nicht, wie viel dabei raussprang, aber offenbar lag die Summe bei fast hundert Dollar pro Woche. Auf jeden Fall konnte er davon leben. Aber er arbeitete genauso hart, als wenn er einen normalen Job gehabt hätte – sogar härter. Von acht Uhr früh, wenn die Zeitung auf die Veranda geworfen wurde, bis neun oder zehn Uhr abends. Die ständige Nachforscherei. Die Verfeinerung seiner Vorgehensweisen. Und – vor allem anderen – die ständige Angst, einen Fehler zu machen. Eine falsche Einsendung loszuschicken und disqualifiziert zu werden.

Früher oder später, das wussten sie beide, musste es passieren.

»Soll ich dir einen Kaffee bringen?«, fragte Margo. »Ich mach dir ein Sandwich oder so, bevor ich geh. Ich weiß doch, dass du nichts zu Mittag gegessen hast.«

Er nickte gedankenverloren.

Sie legte Mantel und Handtasche wieder ab, ging in die Küche und suchte im Kühlschrank nach etwas Essbarem für ihn. Während sie die Teller hinüber auf den Tisch trug, flog die Hintertür auf, und Sammy und ein Hund aus der Nachbarschaft tauchten auf, beide zerzaust und außer Atem.

»Du hast die Tür vom Kühlschrank gehört«, sagte sie, »stimmt’s?«

»Ich hab ’n Hunger«, sagte Sammy, während er nach Luft japste. »Kann ich einen von den gefrorenen Hamburgern haben? Du brauchst ihn nicht zu braten; ich verdrück ihn so, wie er ist. Das ist besser – hält länger vor!«

Sie sagte: »Du machst jetzt, dass du ins Auto kommst. Sobald ich Onkel Ragle ein Sandwich gemacht hab, fahren wir zum Laden und holen Dad ab. Und schaff diesen alten Köter raus; der hat hier nichts verloren.«

»Na gut«, sagte Sammy. »Ich krieg garantiert im Laden was zu futtern.« Die Hintertür knallte zu, als er und der Hund verschwanden.

»Ich hab ihn gefunden«, sagte sie zu Ragle, als sie ihm das Sandwich und ein Glas Apfelmost brachte. »Du brauchst dir also keine Gedanken zu machen, was er treibt; ich nehm ihn mit in die Stadt.«

Ragle nahm das Sandwich und sagte: »Weißt du, vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich mich aufs Pferdewetten verlegt hätte.«

Sie lachte. »Du hättest nichts gewonnen.«

»Vielleicht.« Er fing mechanisch an zu essen. Aber den Apfelmost rührte er nicht an; er bevorzugte das warme Bier aus der Dose, an dem er schon seit rund einer Stunde nuckelte. Wie kann er nur solche kniffligen Rechenaufgaben machen und warmes Bier trinken, fragte sie sich, als sie den Mantel und die Handtasche nahm und aus dem Haus zum Auto eilte. Man sollte meinen, dass es ihm den Grips vernebelt. Aber er ist es gewohnt. Während seiner Militärzeit hatte er es sich angewöhnt, tagaus, tagein warmes Bier zu süffeln. Zwei Jahre lang waren er und ein Kumpel auf einem winzigen Atoll im Pazifik stationiert gewesen, wo sie eine Wetterstation und einen Radiosender zu betreiben hatten.

Der Verkehr war am frühen Abend wie immer sehr dicht. Aber der Volkswagen schlängelte sich durch die Lücken, und sie kam zügig voran. Größere, schwerfälligere Autos schienen stecken geblieben zu sein wie gestrandete Landschildkröten.

Die vernünftigste Anschaffung, die wir je gemacht haben, sagte sie zu sich selbst. Einen ausländischen Kleinwagen zu kaufen. Und der fährt ewig; diese Deutschen bauen dermaßen präzise. Außer dass es geringfügigen Ärger mit der Kupplung gegeben hatte, und das nach nur fünfzehntausend Meilen … aber nichts ist vollkommen. Nichts auf der ganzen Welt. Ganz gewiss nicht heutzutage, in den Zeiten der Wasserstoffbomben und Russen und steigenden Preise.

Sammy, der sich die Nase am Fenster platt drückte, sagte: »Warum können wir nicht einen von den Mercurys da haben? Warum müssen wir so ein klitzekleines Auto haben, das wie ein Käfer aussieht?« Sein Abscheu war offenkundig.

Sie war verärgert – ihr Sohn, ihr Eigen Fleisch und Blut, ein Verräter – und sagte: »Hör mal, junger Mann; du hast keinen blassen Schimmer, was Autos angeht. Du musst weder Raten zahlen noch durch diesen verdammten Verkehr manövrieren, noch das Auto mit Hartwachs polieren. Also behalt deine Meinung für dich.«

Sammy gab mürrisch zurück: »Es sieht aus wie ein Spielzeugauto.«

»Sag das mal zu deinem Vater«, antwortete sie, »wenn wir beim Laden angekommen sind.«

»Trau ich mich nicht«, sagte Sammy.

Sie bog bei Gegenverkehr nach links ab und vergaß zu blinken; ein Bus hupte sie an. Diese verfluchten fetten Busse, dachte sie. Weiter vorn war die Einfahrt zum Parkplatz des Ladens; sie schaltete in den zweiten Gang und fuhr über den Bürgersteig auf den Parkplatz, an dem riesigen Neonschild vorbei, auf dem man lesen konnte:

Lucky Penny Supermarkt

»Da sind wir«, sagte sie zu Sammy. »Ich hoffe, wir haben ihn nicht verpasst.«

»Komm, wir gehen rein«, rief Sammy.

»Nein«, sagte sie. »Wir warten hier.«

Sie warteten. Im Innern des Ladens waren die Kassierer dabei, eine lange bunte Reihe von Leuten abzufertigen, von denen die meisten die rostfreien Einkaufskarren vor sich herschoben. Die automatischen Türen glitten auf und zu, auf und zu. Auf dem Parkplatz wurden Autos angelassen.

Eine entzückende blitzblanke rote Tucker-Limousine glitt majestätisch an Margo vorbei. Sie und Sammy starrten hinterher.

»Wie ich diese Frau beneide«, murmelte sie. Der Tucker war ein genauso kompromissloses Auto wie der VW und dabei wundervoll elegant. Aber natürlich war er zu groß, um praktisch zu sein. Und trotzdem …

Vielleicht nächstes Jahr, dachte sie, wenn es an der Zeit ist, dieses Auto für ein neues in Zahlung zu geben. Aber einen VW gibt man nicht in Zahlung; man behält ihn auf immer und ewig.

Wenigstens liegt der Marktwert für VWs hoch. Wir kriegen den Kaufpreis voll raus. Auf der Straße schleuste sich der rote Tucker in den Verkehr ein.

»Spitze!«, sagte Sammy.

Sie schwieg.

2

Am selben Abend um halb acht warf Ragle Gumm einen flüchtigen Blick durch das Wohnzimmerfenster nach draußen und sah, wie ihre Nachbarn, die Blacks, im Dunkeln den Weg entlangtappten, in der offenkundigen Absicht, sie zu besuchen. Das Licht der Straßenlaterne hinter den beiden zeigte die Umrisse irgendeines Gegenstandes, den Junie Black trug, eine Kiste oder einen Karton. Ragle stöhnte auf.

»Was ist los?«, fragte Margo. Sie und Vic sahen sich am anderen Ende des Zimmers im Fernsehen eine Sendung mit Sid Caesar an.

»Besuch«, sagte Ragle und stand auf. Im selben Moment läutete es an der Tür. »Unsere Nachbarn«, sagte er. »Ich schätze, wir können nicht so tun, als ob wir nicht zu Hause wären.«

Vic sagte: »Vielleicht gehen sie wieder, wenn sie sehen, dass der Fernseher läuft.«

Die Blacks, die den Ehrgeiz hatten, die nächste Sprosse der sozialen Leiter zu erklimmen, taten gerne so, als empfänden sie heftigen Widerwillen gegen das Fernsehen, ja gegen alles, was auf dem Bildschirm gezeigt werden mochte, von Clowns bis hin zur Übertragung von Beethovens Fidelio aus der Wiener Staatsoper. Vic hatte einmal gesagt, wenn die Niederkunft Christi in Form eines Fernsehspots angekündigt würde, würden die Blacks nichts damit zu tun haben wollen. Daraufhin hatte Ragle gesagt, wenn der Dritte Weltkrieg ausbricht und die Wasserstoffbomben fallen, wäre der allererste Alarm das Anpeilstörsignal im Fernsehen … was die Blacks mit Hohn und Gleichgültigkeit quittieren würden. Ein Gesetz des Überlebens, hatte Ragle gesagt. Diejenigen, die es ablehnten, auf neue Reizsignale zu reagieren, würden untergehen. Anpassung oder Untergang … die Wiederholung eines zeitlosen Gesetzes.

»Dann mach ich mal auf«, sagte Margo, »da es nicht so aussieht, als würde einer von euch zweien sich aufraffen.« Sie rappelte sich vom Sofa hoch, eilte zur Haustür und öffnete. »Hallo!«, hörte Ragle sie ausrufen. »Was ist das denn? Was ist das? Oh – heiß.«

Dann Bill Blacks jugendliche, selbstgefällige Stimme: »Lasagne. Setz mal gleich heißes Wasser auf –«

»Ich mach uns einen Espresso«, sagte Junie und ging mit dem Pappkarton mit italienischem Essen in die Küche.

Mist, dachte Ragle. Für heute ist es aus mit dem Arbeiten. Warum zum Teufel müssen die ihren neuesten Tick ausgerechnet zu uns rüberschleppen? Kennen die denn sonst niemanden?

Diese Woche ist es Espresso. Damit es zum Hit der letzten Woche passt: Lasagne. Egal, es passt jedenfalls zusammen. Wahrscheinlich schmeckt es wirklich prima … auch wenn er sich an den bitteren schwarzen italienischen Kaffee noch nicht gewöhnt hatte; er fand, dass er verbrannt schmeckte.

Als Bill Black im Wohnzimmer auftauchte, sagte er freundlich: »Hallo, Ragle. Hallo, Vic.« Er trug in letzter Zeit immer diese Klamotten wie frisch von der Elite-Uni. Hemden mit Button-down-Kragen, enge Hosen … und natürlich sein Haarschnitt. Dieser abgeschmackte Kurzhaarschnitt, der Ragle vor allem an kurz geschorene Soldatenköpfe erinnerte. Vielleicht war es genau das: ein Versuch dieser unermüdlichen, jungen Sprinter wie Bill Black, sich als Teil eines Regiments zu fühlen, Teil einer gigantischen Maschinerie. Und auf gewisse Weise waren sie das ja auch. Sie alle hatten kleinere Posten als Bürohengste in irgendwelchen Organisationen inne. Bill Black, der ein Paradebeispiel war, arbeitete für die Stadt, für die Wasserwerke. Sobald schönes Wetter war, marschierte er zu Fuß zur Arbeit, nahm nicht etwa das Auto, sondern eilte in seinem Einreiher optimistisch des Wegs und sah dabei aus wie eine Bohnenstange, weil das Jackett und die Hosen so unnatürlich und unsinnig eng waren. Und, dachte Ragle, so altmodisch. Die kurzlebige Renaissance eines veralteten Stils von Männerbekleidung … wenn er Bill Black morgens und abends am Haus vorbeipreschen sah, kam es ihm vor, als schaute er sich einen alten Film an. Und Blacks zackiger, allzu flotter Schritt unterstrich diesen Eindruck. Sogar seine Stimme, dachte Ragle. Einen Zacken zu schnell. Zu hoch. Schrill.

Aber er wird es zu was bringen, begriff er. Das Ulkige in dieser Welt ist ja, dass ein Arbeitstier ohne auch nur den Funken einer eigenen Idee, das seine Vorgesetzten nachäfft, und zwar bis zum letzten i-Tüpfelchen bei den Krawatten und der Rasur, immer mit Aufmerksamkeit rechnen kann. Ausgewählt wird. Nach oben klettert. Bei den Banken, bei den Versicherungsgesellschaften, den großen Elektro-Unternehmen, bei den Firmen, die Raketen herstellen, an den Universitäten. Ragle hatte solche Typen als wissenschaftliche Hilfskräfte erlebt, die irgendein abstruses Thema unterrichteten – der Abriss der häretischen Sekten der Christen im fünften Jahrhundert – und gleichzeitig ihren Weg nach oben bahnten, Zentimeter für Zentimeter und auf Teufel komm raus. Die alles machten, außer ihre Ehefrauen als Köder ins Verwaltungsgebäude rüberzuschicken …

Und trotzdem konnte Ragle Bill Black ziemlich gut leiden. Der Mann – er kam ihm jung vor, Ragle war sechsundvierzig, Black nicht älter als fünfundzwanzig – hatte eine rationale, lebenstaugliche Sichtweise. Er lernte, nahm neue Fakten auf und verarbeitete sie. Man konnte mit ihm reden; er hatte keine starren Moralvorstellungen oder letzten Wahrheiten. Er ließ sich durchaus von dem berühren, was so geschah.

Zum Beispiel, dachte Ragle, falls das Fernsehen bei den Leuten ganz oben gesellschaftsfähig werden sollte, hätte Bill Black am nächsten Morgen einen Farbfernseher im Haus. Und das war wieder nicht so übel. Wir sollten ihn nicht »anpassungsunfähig« nennen, nur weil er es ablehnt, sich Sid Caesar anzuschauen. Wenn die Wasserstoffbomben fallen, wird uns das Anpeilstörsignal auch nicht retten. Wir werden alle zusammen untergehen.

»Na, wie läuft’s, Ragle?«, fragte Black, während er ohne Umstände auf der Sofakante Platz nahm. Margo war mit Junie in der Küche verschwunden. Vor dem Fernseher saß Vic, wegen der unerwünschten Unterbrechung mit finsterem Blick, und versuchte, den Ausklang einer Szene mit Caesar und Carl Reiner mitzubekommen.

»Festgewachsen an der Idiotenkiste«, sagte Ragle zu Black und beabsichtigte damit eine Parodie von Blacks Äußerungen. Aber Black zog es vor, den Satz wortwörtlich zu nehmen.

»Der große Zeitvertreib der Nation«, murmelte er und setzte sich so hin, dass er nicht auf den Bildschirm sehen musste. »Ich könnte mir vorstellen, dass es dich bei deinen Sachen stört.«

»Ich krieg meine Arbeit schon hin«, sagte Ragle. Er hatte seine Einsendung pünktlich um sechs losgeschickt.

Die Szene im Fernseher war zu Ende; Werbung wurde eingeblendet. Vic schaltete das Gerät aus. Jetzt richtete sich sein Groll gegen die Werbefritzen. »Diese jämmerliche Werbung«, verkündete er. »Warum ist die Lautstärke bei der Werbung immer lauter als beim eigentlichen Programm? Jedes Mal muss man den Ton runterdrehen.«

Ragle sagte: »Die Werbung wird üblicherweise lokal ausgestrahlt. Das Programm wird per Antenne von der Ostküste gesendet.«

»Eine Lösung des Problems kennt man durchaus«, sagte Black.

Ragle sagte: »Black, warum trägst du bloß diese lächerlich engen Hosen? Du siehst aus wie ein Leichtmatrose.«

Black lächelte und erwiderte: »Werft ihr denn nie einen Blick in den ›New Yorker‹? Ich hab die schließlich nicht erfunden. Ich hab die Männermode nicht in der Hand; also schiebt nicht mir die Schuld in die Schuhe. Männermode war schon immer eine alberne Angelegenheit.«

»Aber du musst das doch nicht noch unterstützen«, sagte Ragle.

»Wenn du dich in der Öffentlichkeit bewegst«, entgegnete Black, »bist du nicht dein eigener Boss. Du ziehst eben an, was man gerade anzieht. Hab ich nicht recht, Victor? Du musst doch auch unter die Leute gehen; du wirst mir zustimmen.«

Vic sagte: »Ich zieh mir ein einfaches weißes Hemd an, wie ich es seit zehn Jahren mache, und dazu eine ganz normale Stoffhose. Das ist gut genug für den Einzelhandel.«

»Du trägst ja noch eine Schürze«, sagte Black.

»Nur wenn ich Salat putze«, erwiderte Vic.

»Übrigens«, sagte Black, »wie steht’s mit dem Einzelhandelsindex in diesem Monat? Läuft das Geschäft noch immer schlecht?«

»Ein bisschen schlechter«, sagte Vic, »aber kein Grund zur Aufregung. In ein oder zwei Monaten erwarten wir einen neuen Aufschwung. Das Ganze ist zyklisch. Saisonbedingt.«

Ragle war klar, warum sein Schwager den Tonfall gewechselt hatte; sobald es um die Branche ging – um seine Branche wurden seine Antworten routiniert, wortkarg, taktisch. Das Geschäft ging niemals wirklich schlecht und war immer kurz davor, wieder besser zu werden. Und unabhängig davon, wie niedrig der landesweite Index fallen mochte, das Geschäft des einzelnen Ladenbesitzers blieb davon unberührt. Wie wenn man jemanden fragt, wie es ihm geht, dachte Ragle. Er muss antworten, dass es ihm gutgeht. Frag ihn also, wie das Geschäft läuft, und er wird automatisch antworten, dass es entsetzlich ist oder wieder aufwärts geht. Und nichts von beidem besagt irgendwas; es ist nur eine Floskel.

Ragle sagte zu Black: »Wie steht es mit dem Einzelhandel beim Wasser? Ist der Markt stabil geblieben?«

Black lachte zustimmend. »Ja, nach wie vor nehmen die Leute ein Bad und spülen ihr Geschirr ab.«

Margo trat ins Wohnzimmer und sagte: »Ragle, möchtest du einen Espresso? Und du, Liebling?«

»Für mich nicht«, sagte Ragle. »Ich hab das Quantum Kaffee, das ich zum Abendessen abkann, schon intus. Das Zeug hält mich sowieso schon wach.«

Vic sagte: »Ich nehm einen.«

»Lasagne?«, fragte Margo die drei Männer.

»Nein, danke«, sagte Ragle.

»Ich probier was davon«, sagte Vic, und Bill Black nickte ebenfalls. »Braucht ihr Hilfe?«

»Nein«, sagte Margo und verschwand.

»Hau bei dem italienischen Zeug nicht zu kräftig rein«, sagte Ragle zu Vic. »Es hat reichlich Kalorien. Jede Menge Teig und Gewürze. Du weißt ja, was das heißt.«

Black pflichtete ihm bei: »Genau, du kriegst da in der Mitte ein paar Pölsterchen, Victor.«

Scherzhaft sagte Ragle: »Na, was erwartest du von einem Vogel, der in einem Lebensmittelladen arbeitet?«

Das schien Vic zu fuchsen. Er funkelte Ragle an und murmelte: »Wenigstens ist das ein richtiger Job.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Ragle. Aber er wusste, was Vic meinte. Wenigstens war es ein fest bezahlter Job, für den er jeden Morgen aus dem Haus ging und jeden Abend wieder nach Hause kam. Und nicht irgendwas, das er im Wohnzimmer machte. Nicht so ein Herumgefummel mit irgendwelchem Kram in der Tageszeitung … Wie ein kleiner Junge, hatte Vic ihm einmal während eines Streits an den Kopf geworfen. Die Kartondeckel von Cornflakes einzusenden und dazu noch zehn Cents für die Plakette, mit der man alle Geheimschriften entziffern konnte.

Achselzuckend sagte Vic: »Dass ich mich nicht dafür schäme, in einem Supermarkt zu arbeiten.«

»Das war’s nicht, was du damit sagen wolltest«, sagte Ragle. Aus irgendeinem dunklen Grund genoss er diese Beleidigungen, die der Tatsache galten, dass er sich hauptsächlich mit dem Wettbewerb der »Gazette« beschäftigte. Wahrscheinlich weil er ein inneres Schuldgefühl verspürte, dass er seine Zeit und Energien verplemperte, weil er sich nach Bestrafung sehnte. Damit er weitermachen konnte. Es war besser, eine äußere Quelle zu haben, die ihn ausschimpfte, als den tiefsitzenden, nagenden Schmerz von Zweifel und Selbstanklage im Inneren zu spüren.

Und außerdem machte ihm die Tatsache Spaß, dass ihm seine täglichen Einsendungen ein höheres Nettoeinkommen einbrachten als Vics Plackerei im Supermarkt. Und er musste keine Zeit damit verbringen, mit dem Bus in die Innenstadt zu fahren.

Bill Black kam herüber zu ihm und bückte sich, zog einen Stuhl heran und sagte: »Hast du das hier schon gesehen, Ragle?« Er faltete mit vertraulicher Geste eine Ausgabe der »Gazette« vom heutigen Tage auseinander. Beinahe ehrfurchtsvoll schlug er sie auf Seite vierzehn auf. Oben auf der Seite war eine Reihe von Fotos mit Männern und Frauen abgedruckt. Und in der Mitte ein Foto von Ragle Gumm und darunter folgende Bildunterschrift:

Ragle Gumm, der ungeschlagene Dauergewinner unseres Wettbewerbs »Wo taucht das grüne Männchen als Nächstes auf?«. Der nationale Champion steht seit zwei Jahren unbesiegt an der Spitze, ein noch nie dagewesener Rekord.

Die anderen abgebildeten Personen waren unbedeutendere Lichter. Es war ein landesweiter Wettbewerb, an dem die Zeitungen im Verbund teilnahmen. Keine Lokalzeitung konnte es sich leisten, die Preisgelder zu bezahlen. Die Kosten waren höher – so hatte er eines Tages ausgerechnet – als beim berühmten Wettbewerb »Altes Gold«, der Mitte der Dreißigerjahre gelaufen war, oder beim ewigalten Wettbewerb »Ich benutze Oxydol Seife, weil … mit fünfundzwanzig oder weniger Wörtern«. Aber offensichtlich steigerte das Ganze die Auflagezahlen, heutzutage, wo der Durchschnittsbürger Comics las und vor der Kiste …

Ich werde allmählich wie Bill Black, dachte Ragle bei sich. Mach das Fernsehen runter. Es ist ein nationaler Zeitvertreib eigener Sorte. Man stelle sich nur mal alle Wohnungen vor, wo die Leute rumsitzen und sagen: »Was ist eigentlich mit diesem Land passiert? Wo ist das Bildungsniveau geblieben? Die Moral? Warum Rock and Roll anstelle der entzückenden Maytime-Musik von Jeanette MacDonald und Nelson Eddy, die wir uns angehört haben, als wir in ihrem Alter waren?«

Dicht neben ihm sitzend, hielt Bill Black noch die Zeitung in der Hand und zeigte mit dem Finger auf das Foto. Der Anblick hatte ihn ganz offensichtlich aufgewühlt. Menschenskind, das Passfoto des alten Ragle Gumm war überall im ganzen Land in der Zeitung zu sehen! Welch eine Ehre! Eine Berühmtheit wohnte im Haus nebenan.

»Hör mal, Ragle«, sagte Black, »du holst echt ganz schön was raus aus diesem Wettbewerb mit dem ›Grünen Männchen‹, hab ich recht?« Der blanke Neid stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ein paar Stunden sitzt du dran, und schon liegt ein ganzer Wochenlohn auf dem Tisch.«

Ragle antwortete ironisch: »Ein reines Zuckerschlecken.«

»Nein, ich weiß, du steckst viel Arbeit in die Sache rein«, sagte Black. »Aber das ist kreative Arbeit; du bist dein eigener Boss. Das kannst du doch nicht Arbeit nennen wie die Arbeit, die man irgendwo an einem Schreibtisch tut.«

»Ich arbeite an einem Schreibtisch«, sagte Ragle.

»Aber«, Black blieb hartnäckig, »das ist doch mehr wie ein Hobby. Ich will es überhaupt nicht runtermachen. Man kann härter für ein Hobby arbeiten als im Büro. Ich weiß, wenn ich draußen in der Garage mit meiner elektrischen Säge zugange bin, dann komm ich richtig ins Schwitzen. Aber – es gibt einen Unterschied.« Er wandte sich Vic zu und sagte: »Du weißt, was ich meine. Es ist keine Schufterei. Es ist so, wie ich gesagt habe, es ist kreativ.«

»So habe ich die Sache noch nie betrachtet«, antwortete Vic.

»Findest du nicht, dass Ragle etwas Kreatives macht?«, fragte Black.

Vic sagte: »Nein. Nicht unbedingt.«

»Wie nennst du es denn, wenn jemand sich durch eigene Anstrengung die eigene Zukunft aufbaut?«

»Ich denke einfach«, sagte Vic, »dass Ragle die Fähigkeit besitzt, immer wieder das Richtige zu raten.«

»Raten!«, sagte Ragle beleidigt. »Und das sagst du, nachdem du gesehen hast, wie ich Nachforschungen anstelle? Wie ich frühere Einsendungen auswerte?« Was ihn betraf, wäre er nie auf die Idee gekommen, die Sache »raten« zu nennen. Wenn es simple Raterei wäre, würde er sich einfach vor das Einsendeformular setzen, die Augen zumachen, mit der Hand durch die Luft fuchteln und damit eines der vielen Quadrate bedecken. Würde es dann ankreuzen und das Formular wegschicken. Und auf das Ergebnis warten. »Ist es etwa Raterei, wenn du deine Einkommenssteuererklärung ausfüllst?« So lautete seine Lieblingsanalogie für die Arbeit am Wettbewerb. »Das musst du nur einmal im Jahr machen; ich mach das hier jeden Tag.« Und zu Bill Black sagte er: »Stell dir vor, du müsstest jeden Tag eine neue Steuererklärung abgeben. Das ist genau dieselbe Geschichte. Du arbeitest alle alten Formulare durch; du hortest Belege, tonnenweise – jeden Tag. Von wegen ›raten‹. Das ist Präzision. Zahlen, Addition und Subtraktion, Diagramme.«

Niemand sagte ein Wort.

»Aber es macht dir doch Spaß, oder?«, sagte Black schließlich.

»Ich denk schon«, sagte er.

»Was hältst du davon, mir die Sache beizubringen?«, sagte Black angespannt.

»Nein«, sagte er. Black hatte das bereits früher vorgeschlagen, viele Male.

»Natürlich nicht, um dir Konkurrenz zu machen«, sagte Black. Ragle lachte.

»Ich meine, nur so, um ab und zu ein paar Dollar abzukassieren. Ich würde zum Beispiel gern hinter dem Haus eine Mauer hochziehen, damit im Winter nicht ständig der Matsch in unseren Garten rüberschwappt. Das Material würde mich rund sechzig Dollar kosten. Nur mal angenommen, ich gewinne – wie oft? Viermal?«

»Viermal«, sagte Ragle. »Du würdest zwanzig Dollar auf die Hand kriegen. Und dein Name würde auf die Liste der Gewinner kommen. Du wärst beim Wettbewerb dabei.«

Vic erhob seine Stimme. »Als Konkurrent vom Charles van Doren der Zeitungswettbewerbe.«

»Ich fasse das als Kompliment auf«, sagte Ragle. Aber die Feindseligkeit behagte ihm nicht.

 

Die Lasagne war schnell weggeputzt. Alle langten herzhaft zu. Aufgrund der Bemerkungen von Bill Black und Ragle fühlte Vic sich genötigt, so viel wie möglich zu essen. Seine Frau sah ihn tadelnd an, als er fertig war.

»Wenn ich koche, isst du nicht mit so einem Appetit«, sagte Margo.

Jetzt wünschte er, er hätte nicht so viel gegessen. »Hat gut geschmeckt«, sagte er lahm.

Kichernd erwiderte Junie Black: »Vielleicht möchte er ja ein Weilchen bei uns einziehen.« Ihr vorlautes Gesichtchen nahm diesen vertrauten Ausdruck des Bescheidwissens an, der Margo unter Garantie ärgern würde. Für eine Frau mit Brille, dachte Vic, konnte Junie Black erstaunlich lasterhaft aussehen. Tatsächlich war sie nicht unattraktiv. Aber ihr schwarzes Haar hing in zwei dicken geflochtenen Zöpfen herunter, und das konnte er nicht leiden. Überhaupt fühlte er sich von ihr in keinster Weise angezogen. Er mochte keine zierlichen, dunkelhaarigen, aktiven Frauen, speziell nicht solche, die kicherten und – wie Junie – es unbedingt nötig hatten, sich an die Ehemänner anderer Frauen anzukuscheln, sobald sie einen einzigen Schluck Sherry zu sich genommen hatten.

Es war sein Schwager, der Gefallen an Junie Black fand, wenn man Margos Klatschereien glauben wollte. Ragle und Junie verfügten beide über eine Menge freier Zeit, weil sie den ganzen Tag zu Hause saßen. Das ist eine üble Sache, pflegte Margo hin und wieder anzumerken. Ein Mann sitzt den ganzen Tag zu Hause, in einer reinen Wohngegend, wo alle anderen Ehemänner im Büro sind und nur die Ehefrauen daheim auf ihrem Hintern hocken. Um es mal so auszudrücken.

Bill Black sagte: »Um die Wahrheit zu sagen, Margo – sie hat das Zeug gar nicht selbst gezaubert. Wir haben es auf dem Nachhauseweg besorgt. In einem Imbiss in der Plum Street.«

Junie Black lachte munter.

Nachdem die beiden Frauen den Tisch abgeräumt hatten, schlug Bill eine kurze Pokerrunde vor. Nach einigem Hin und Her wurden Spielmarken und Kartenspiel hervorgeholt, und im Nu spielten sie um einen Penny pro Spielmarke, wobei alle Farben denselben Wert hatten. Das ging zweimal pro Woche so bei ihnen. Keiner konnte sich mehr daran erinnern, wie es überhaupt begonnen hatte. Wahrscheinlich hatten die Frauen den Anfang gemacht; sowohl Junie wie Margo spielten leidenschaftlich gern Karten.

Während sie spielten, tauchte Sammy auf. »Dad«, sagte er, »kann ich dir mal was zeigen?«

»Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, wo du steckst«, sagte Vic. »Du bist heute Abend ziemlich still gewesen.« Er war bereits aus dieser Runde ausgestiegen und konnte einen Moment pausieren. »Was ist los?«, fragte er. Sein Sohn brauchte höchstwahrscheinlich irgendeinen Rat.

»Aber nicht so laut«, warnte Margo Sammy. »Wie du siehst, spielen wir gerade Karten.« Ihre konzentrierte Miene und das leichte Zittern in der Stimme ließen darauf schließen, dass sie ein ziemlich gutes Blatt auf der Hand hatte.

Sammy sagte: »Dad, ich krieg einfach nicht raus, wie man die Antenne anschließt.« Er packte einen Metallrahmen, auf dem Drähte und allerlei elektronisch aussehende Teilchen zu sehen waren, neben Vics Stapel von Spielmarken.

»Was ist das denn?«, fragte Vic verwirrt.

»Mein Kristalldetektor«, sagte Sammy.

»Was ist denn ein Kristalldetektor?«, fragte er.

Ragle erhob die Stimme. »Ich hab ihn auf die Idee gebracht, das Ding zu bauen«, erklärte er. »Eines Nachmittags hab ich ihm vom Zweiten Weltkrieg erzählt, und dabei kam ich auf den Radiosender zu sprechen, den wir in Betrieb hatten.«

»Radio«, sagte Margo. »Erinnert euch das nicht an früher?«

Junie Black sagte: »Ist das ein Radio, was er da hat?«

»Ein ganz simpler Typus von Radio«, sagte Ragle. »Der früheste.«

»Es besteht doch keine Gefahr, dass er einen Schlag kriegt, oder?«, fragte Margo.

»Ganz und gar nicht«, sagte Ragle. »Es funktioniert ohne Strom.«

»Na, dann wollen wir mal sehen«, sagte Vic. Er hob den Metallrahmen hoch und untersuchte ihn, wünschte sich, er würde genug davon verstehen, um seinem Sohn helfen zu können. Aber Tatsache war, dass er rein gar nichts von Elektronik verstand, und das war allemal offensichtlich. »Tja«, sagte er stockend, »vielleicht hast du da irgendwo einen Kurzschluss.«

Junie sagte: »Erinnert ihr euch noch an diese Radiosendungen, die wir uns vor dem Zweiten Weltkrieg angehört haben? Die Straße des Lebens. Diese rührseligen Endlos-Serien. Mary Martin.«

»Mary Marlin«, korrigierte Margo. »Das war doch – du lieber Gott. Vor zwanzig Jahren! Ich werd gleich rot.«

Clair de Lune summend, die Leitmelodie von Mary Marlin, ging Junie auch bei den letzten Erhöhungen mit. »Manchmal fehlt mir das Radio«, sagte sie.

»Du hast doch jetzt Radio plus Bild«, sagte Bill Black. »Das Radio war doch nur der Audioteil des Fernsehers.«

»Was würdest du auf deinem Kristalldetektor reinkriegen?«, fragte Vic seinen Sohn. »Gibt es denn überhaupt noch Sender, die in Betrieb sind?« Er hatte immer gedacht, dass die Radiosender bereits vor Jahren eingegangen seien.

Ragle sagte: »Er empfängt wahrscheinlich den Küstenfunk. Die Landeanweisungen für Flugzeuge.«

»Polizeifunk«, verkündete Sammy.

»Stimmt«, sagte Ragle. »Die Polizei benutzt in ihren Wagen noch immer Radios.« Er streckte die Hand aus und nahm den Kristalldetektor, den Vic ihm reichte. »Ich kann den Stromkreis später prüfen, Sammy«, sagte er. »Aber im Moment hab ich zu prächtige Karten auf der Hand. Wie ist es mit morgen?«

Junie sagte: »Vielleicht kann er ja fliegende Untertassen abhören.«

»Genau«, stimmte Margo zu. »Das solltest du dir vornehmen.«

»Daran hab ich noch gar nicht gedacht«, sagte Sammy.

»Es gibt überhaupt keine fliegenden Untertassen«, sagte Bill Black gereizt. Er fummelte nervös an seinen Karten herum.

»Ach nein?«, fragte Junie. »Mach dich nicht lächerlich. Zu viele Leute haben sie gesehen; das kannst du nicht einfach so abtun. Oder willst du etwa bestreiten, was diese Leute ausgesagt und bezeugt haben?«

»Wetterballons«, sagte Bill Black. Vic war geneigt, ihm zuzustimmen, und sah, dass Ragle nickte. »Meteore. Witterungsbedingte Phänomene.«

»Ganz genau«, sagte Ragle.

»Aber ich hab gelesen, dass verschiedene Leute wirklich mitgefahren sind«, sagte Margo.

Alle außer Junie lachten.

»Es ist wahr«, sagte Margo. »Ich hab’s im Fernsehen gehört.«

Vic sagte: »Ich geb immerhin zu, dass es ganz den Anschein hat, dass sich da oben irgendwelche komischen Geschichten abspielen.« Er erinnerte sich an ein eigenes Erlebnis. Im vorigen Sommer hatte er bei einem Campingausflug ein helles Objekt über den Himmel zischen sehen, mit derartiger Geschwindigkeit, dass kein Flugzeug, nicht einmal ein Düsenjäger, es damit aufnehmen konnte. Das Ding erinnerte eher an ein Projektil. Im Bruchteil eines Augenblicks war es am Horizont verschwunden. Und gelegentlich hatte er nachts ein Donnern gehört, als ob sich schwere Vehikel mit gedrosselter Geschwindigkeit am Himmel bewegten. Die Fenster hatten vibriert, also war es kein Pochen im eigenen Kopf gewesen, wie Margo es erklärt hatte. In einem Artikel in einer populär medizinischen Zeitschrift hatte sie gelesen, dass pochende Geräusche im Kopf ein Hinweis auf hohen Blutdruck seien, und daraufhin wollte sie ihn gleich zum Durchchecken zu ihrem Kassenarzt schicken.

Vic reichte seinem Sohn das halbfertige Radio zurück und widmete sich wieder dem Spiel; die nächste Runde war bereits ausgeteilt worden, und es war an der Zeit, dass er seinen Einsatz in den Topf legte.

»Wir werden den Kristalldetektor als offizielle Club-Ausstattung verwenden«, ließ Sammy ihn wissen. »Er wird im Clubhaus eingeschlossen, und nur autorisierte Personen dürfen ihn benutzen.« Im Garten hatten die Kinder der Nachbarschaft – die sich als Reaktion auf den Herdentrieb stets in Grüppchen zusammentaten – aus Brettern und Drahtgeflecht und Dachpappe ein stabiles, aber hässliches Häuschen zusammengezimmert. Gewaltige Dinge spielten sich dort mehrmals die Woche ab.

»Prima«, sagte Vic und sah seine Karten kritisch an.

»Wenn er prima