Zeit der Dämmerung - Wilfried Esch - E-Book

Zeit der Dämmerung E-Book

Wilfried Esch

4,8

Beschreibung

Deutschland brennt! Protestanten kämpfen gegen Katholiken, die europäischen Fürstenhäuser um die Vorherrschaft im Heiligen Römischen Reich. Mitten in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges hegt der Kölner Kurfürst, Erzbischof Ferdinand von Wittelsbach plötzlich ein großes Interesse, seinen 400 Jahre zuvor unter rätselhaften Umständen ermordeten Vorgänger Engelbert von Berg, unter allen Umständen heilig sprechen zu lassen. Als aus dem Bonner Cassiusstift das Tagebuch des Caesarius von Heisterbach gestohlen wird, beauftragt der Kurfürst den Anwalt und Ermittler Matthias Liebknecht mit der Wiederbeschaffung der wertvollen Schrift. Doch der Anwalt hat es mit einem Gegner zu tun, der vor nichts zurückschreckt. Eine mörderische Hetzjagd quer durch Europa und vier Jahrhunderte beginnt. Welches Geheimnis verbindet die beiden mächtigen Kurfürsten über 400 Jahre? Die Jagd nach dem Dieb und Mörder führt den Anwalt schließlich auf die Spur eines uralten Mysteriums, einer schier unglaublichen Wahrheit. Die kurfürstliche Residenzstadt Bonn wird zum Mittelpunkt eines todbringenden Geheimnisses, das Jahrhunderte ruhte und urplötzlich zu neuem Leben erwacht.

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Wilfried Esch

Das Geheimnis der Rosenlinie

Zeit der Dämmerung

Impressum

Math. Lempertz GmbH

Hauptstr. 354

53639 Königswinter

Tel.: 02223 / 90 00 36

Fax: 02223 / 90 00 38

[email protected]

www.edition-lempertz.de

© 2013 Mathias Lempertz GmbH

ISBN: 978-3-943883-31-2

INHALTSVERZEICHNIS

Prolog - Judäa vor 2000 Jahren

1. Teil Die dunkle Zeit

Die Hexe

Der Advocatus

Sturmnacht - Neuenburg a.d. 1185

Der Eid

Geheime Chroniken

Der Fluch der Hexe - Abtei Altenberg, Winter a.d. 1185 -

Geheime Chroniken – Rätsel der Vergangenheit

Tod in Korvin

Geheime Chroniken - Die Truhen von St. Gereon

2. Teil Das Böse

Die Rückkehr des Bösen

Geheime Chroniken – Gefangen in Maria ad Gradus

De occulta philosophia

Geheime Chroniken – Das Erbe des Münzmeisters

Das Böse - Die Gaukler

Geheime Chroniken – Christus factus est!

Das Böse – Weg der Verdammnis

Rom, Mai a.d. 1625

Geheime Chroniken – Abtei Altenberg

Vatikan - Archivum Secretum, Mai a.d. 1625

Der Hauch des Todes

Geheime Chroniken – Tabula Smaragdina

Geheime Chroniken – Das Tagebuch des C. v. H. -

Hexenwacht

Löwenherz – Engelbert

Wilfred vun de Lynde

3. Teil Dämonen der Vergangenheit

Das Vermächtnis der Fürstin – Die Suche

Das Böse – Der Tote in der Sieg

Geheime Chroniken - Geisternacht

Um jeden Preis

Abschied

Geheime Chroniken - Macht und Krone

Erbstreit

Königsmord

Das Kreuz im Süden

4. Teil Voie Lactée - Die Spur der Sterne

Vatikan, Juli a.d. 1625

Spur des Grauens

Die Weiße Frau – Agnes’ Visionen

Euskirchen 25. Juli a.d. 1625

Trier 28. Juli a.d. 1625

Der englische Doktor

Paris, Samstag 30. August a.d. 1625

Das Rätsel der Smaragdtafel, Der Heilige Gral und die Schuld der Hexen

Rätselhafter Jakobsweg

Theatrum Magicum

Die Rache des Bösen

Chartres, 2. September a.d. 1625

Das Labyrinth

Béziers, 21. Juli a.d. 1209

Carmen

Rennes le Château - Rhedae

A et Ω

Agnes Tod

Et in Arcadia Ego - Pech de Bugarach

San Juan de la Peña

Die Flucht

Abschied

5. Teil Zeit der Dämmerung

Vatikan, November a.d. 1625

Geheime Chroniken – 3 Gräber

Liebknecht kehrt zurück

20. Jänner a.d. 1626

Palanths Rache

Imbolc, 1. Februar a.d. 1626

In den Kerker mit ihm!

Geheime Chroniken - Liebknecht

Die Stunde der Gaukler

Hüter des Geheimnisses

Der Nuntius

Rosenmontag

Der Auftrag des Kurfürsten

De Secretum de Rosa Mystica

Unter dem Stern

Ein Brief aus London

Fraternitas equitati loannis de Colonia

Prolog - Judäa vor 2000 Jahren

Ein Mann ging durch die belebten Gassen einer kleinen Stadt in Kanaan. Grau von Staub sein weißer Rock, auch die langen, dunklen Haare. Es wimmelte von Kaufleuten in den Basaren und auf dem Marktplatz. Laut wurden die verschiedensten Waren feilgeboten. Feinste Stoffe aus Seide, kostbare Öle, Schmuck, Brot, Weine und vieles mehr. Doch das alles schien den Mann nicht zu interessieren. Er hatte eine lange Reise hinter sich und war müde, wollte nach Hause zu seiner Familie, die ihn bestimmt schon erwartete, wie immer, wenn er von seinen langen Wanderungen heimkehrte. Viele Menschen warfen ihm bewundernde Blicke zu, grüßten ihn freundlich oder versuchten einfach nur, ihn zu berühren. Man sah ihm an, dass er einen längeren Fußmarsch hinter sich hatte, die Sandalen waren aschgrau.

Lächelnd grüßte er zurück, obwohl er dabei eher gequält aussah als froh und glücklich. Hände, die ihn zu berühren suchten, wehrte er sanft und behutsam ab. Er wollte die Gefühle der Menschen nicht verletzen. Niemand hatte ihnen bisher Hoffnung gegeben und zu ihnen gesprochen, aber er hatte gewagt, im Tempel etwas zu sagen. Seitdem nannten sie ihn ehrfurchtsvoll Rabbi. Die Menschen achteten ihn und hörten ihm gerne zu. Das Volk sehnte sich nach einem Messias, um endlich das brutale Joch der Römer und des von ihnen eingesetzten, noch schlimmeren Königs Herodes abzuschütteln. Dabei war Herodes Antipas einer der ihren.

Schließlich hatte Jehoshua das Ziel seines Weges erreicht und verschwand in einem der unscheinbaren Stadthäuser, wie sie von einfachen Handwerkern oder Kaufleuten bewohnt wurden. Von seinem Vater hatte er das Zimmermannshandwerk erlernt, welchem er aber nicht nachging, da er als Rabbiner von den Menschen, die seinen Lehren lauschten, reichlich versorgt wurde. Man brachte ihm Früchte und Lebensmittel für seine Lehren. Das Volk lauschte seinen Worten und erhoffte täglich Wunder. Oft stand er fassungslos vor den Menschen, die Wunder von ihm erwarteten. Wunder, die er zu bewirken nicht in der Lage war. Oder doch? Schon oft hatte er sich diese Frage gestellt. Was wollte das Volk eigentlich? Was war seine, Jehoshuas, Berufung? War es überhaupt Berufung oder eher nur Zufall, weil er ihnen vom Reich Gottes auf Erden erzählt hatte? War es ein Wunder oder nur Zufall, dass er Lazarus gerettet hatte?

Er war kein Heilkundiger. Als ihn die Nachricht von Lazarus’ schwerer Krankheit erreichte, konnte er seinem Freund und Schwager mit einer Arznei helfen, die ihm zuvor ein befreundeter Essener gegeben hatte. Daraufhin fiel Lazarusin in einen todesähnlichen Schlaf. Nach drei Tagen erwachte er wieder und sogleich war die Kunde von Lazarus’ wundersamer Genesung nicht mehr aufzuhalten.

»Ein Wunder ist geschehen, ein Wunder! Jehoshua hat einen Toten zum Leben erweckt«, riefen sie. Die Nachricht von diesem Wunder verbreitete sich schneller als ein Lauffeuer.

Für ihn war es die Medizin, die Lazarus zurückgebracht hatte. Natürlich, ohne Gottes Hilfe hätte der Essener dieses Mittel nicht herstellen können, doch war es deswegen ein Wunder? Der Ruf des Volkes nach dem Messias wurde immer lauter.

Lazarus - bei dem Gedanken an den engen Freund und Schwager lächelte Jehoshua. Lazarus’ Schwester war seine Frau.

Er betrat den Wohnraum seines Hauses, Miriam saß am Tisch und nähte.

»Jeschu! War deine Reise erfolgreich?«, begrüßte sie ihn freudig. Miriam nannte ihren Mann Jeschu wie auch seine Freunde es taten.

»Komm, setz dich, ich hole dir Wein und etwas zu essen. Du siehst müde aus. « Als sie aufstand und an ihm vorbeizugehen versuchte, hielt er sie fest und umarmte sie zärtlich.

»Wie geht es dir und meiner Tochter?«

»Nun, mir geht es gut und deiner Tochter auch. Komm, lass mich los. Wir können uns gleich noch unterhalten. Erzähle, wie geht es meinem Bruder?«

Dankbar aß er Brot und Fisch und trank einen Becher Wein, den Miriam mit Wasser verdünnte. Er sprach nicht, während er die Speisen zu sich nahm. Miriam ließ ihn zufrieden, denn sie wusste, dass er Ruhe brauchte.

»Die Stimmung wird immer gereizter. Das Volk hält nicht mehr lange still. Es gibt viele, die inzwischen offen von Aufstand gegen Herodes und die Römer sprechen. Er lässt sich wohl kaum noch aufhalten. « sagte er nach dem Essen und warf Miriam einen ernsten Blick zu.

»Meinst du denn, die Römer schauen da lange zu?«

»Das glaube ich kaum. Schließlich ist Herodes dem Kaiser geneigt und hofft auf dessen Unterstützung. Man sagt, es soll ein neuer Statthalter in Jerusalem eingesetzt werden. Ein gewisser Pontius Pilatus.«

»Was meint mein Bruder dazu?«

»Lazarus? Nun, er glaubt, dass die Zeit günstiger denn je für einen Aufstand sei. Pilatus gilt als bestechlich. Man hat ihn wohl strafversetzt.«

»Und du, Jeschu? Was denkst du?«, fragte Miriam angstvoll.

»Dein Bruder meint, ich solle sie anführen. Es sei an der Zeit, die Stimmung des Volkes zu nutzen. Ich halte das nicht für richtig.«

»Das Volk würde aber auf dich hören, noch mehr als es das jetzt schon tut.«

»Dann kann ich gleich zu Herodes gehen und ihm sagen, dass ich seinen Thron beanspruche. Mir würde es gehen wie Johannes dem Täufer. Nein, das ist nicht der Weg.«

»Was ist dann der Weg?«, wollte Miriam wissen.

»Das weiß nur Gott. Ich weiß es nicht und ich wünschte, dieser Kelch würde an mir vorübergehen. Ich habe Angst, Angst um Euch, um dich und das Kind.«

Sie drückte ihn auf einen Stuhl nieder, holte Wasser und begann, seine staubigen Füße zu waschen.

»Du wirst es nicht aufhalten können. Du musst dich ihm stellen. Wenn nicht heute, dann später. Aber eines Tages musst du deinen Thron beanspruchen. Für das Volk, für unsere Kinder und für Gott.«

»Unsere Kinder?«

Lächelnd sah Miriam auf. »Ja, unsere Kinder. Ich bin wieder in guter Hoffnung, mein Geliebter.«

Freudig sprang er auf, nahm seine kleine, zierliche Frau in die Arme und wirbelte sie ausgelassen herum.

»Lass uns unsere Freunde einladen, denn ich möchte meine glückliche Heimkehr mit euch allen feiern. Ich werde Wein, Brot und Fische besorgen.«

Abends waren alle Freunde im Hause Jeschu versammelt. Die Frauen sprachen über die Schwangerschaft und die Männer diskutierten über die Römer und Herodes.

»Was sagt denn Lazarus?«, wollte einer der Älteren unter den Anwesenden wissen. Der Gastgeber sah auf und lächelte still. Er hatte schon auf diese Frage gewartet, denn alle wussten um die enge VerbundenheitJehoshuas zu Lazarus. Jehoshua blickte seinen alten Freund und Lehrmeister Joseph von Arimathea an.

»Ich liebe deine diplomatische Art des Fragens, Joseph. Doch um ehrlich zu sein, es gefällt mir gar nicht, was Lazarus zu mir gesagt hat. Die Menschen sind unzufrieden und zur Revolte bereit. Sie wollen Blut sehen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Aber sie vergessen, dass auch ihr Blut dabei vergossen wird.«

»Was meint er denn, wie viele sich beteiligen würden?«

»Nun, er glaubt, über hundert Bewaffnete stellen zu können. Aber soll das der Weg sein?«

»Über hundert?«, fuhr ein anderer dazwischen. »Aber dann sind wir bereits mehr als tausend. Wir sollten zuschlagen und Herodes festsetzen. Die Palastwache ist uns zahlenmäßig unterlegen.«

»Du sagst es, Petrus. Nach Zahlen. Doch hier zählt die militärische Ausbildung. Und die haben Herodes siebenhundert Wachen von den Römern erhalten. In diesem ungleichen Kampf gäbe es nur viele Tote auf unserer Seite.«

»Tote, ich höre immer nur Tote. Das Volk wird uns doch unterstützen!«

»Das Volk unterstützt den, der ihm Brot gibt. Kannst du dem Volk Brot geben?«

»Nein, aber Fische. Ich bin Fischer von Beruf und Joseph könnte als Kaufmann für Brot und Wein sorgen.«

»Doch ich bin nur ein einfacher Zimmermann«, meinte Jehoshua

»Und auch Rabbi. Du hast uns und viele Menschen gelehrt, dass mit Gottes Hilfe ein neues Königreich geschaffen wird«, widersprach ihm Petrus.

»Das ist wahr, doch wer soll König sein?«

Alle schwiegen betroffen einen Augenblick lang bis Joseph wieder das Wort erhob:

»Wer ist ein besserer König als der, der uns das gottgefällige Leben lehrt? Du wirst dich dem stellen müssen. Fordere Herodes heraus, brich seine Macht und nimm dir seinen Thron! Das Volk wird dich lieben. Wir werden für dich kämpfen.«

»Bravo, Joseph, das war gut gesprochen.«

Sie schüttelten ihrem Sprecher die Hand und sahen dabei gebannt auf die Reaktion ihres geliebten Rabbis. Jeschu sah nachdenklich und ernst in die Runde. Man wollte ihn zu einer Entscheidung zwingen. War es denn überhaupt noch seine Entscheidung, war sie nicht bereits gefallen? Gab es für ihn überhaupt noch ein zurück? Das Volk ersehnte einen Führer, einen Erlöser, der ihnen das Joch der Römer und des Herodes Antipas nehmen sollte. Er hatte jetzt eine große Verantwortung zu tragen. War er ihr auch gewachsen? Im Stillen betete er zu Gott um eine Antwort, doch Gott schwieg, es blieb allein seine Entscheidung. Eine einsame Entscheidung, das wusste Jehoshua.

»Ihr wollt, dass ich Euer König werde? Wer gibt Euch das Recht, das zu verlangen? Ich muss doch an Miriam und das ungeborene Leben, das sie trägt und meine Tochter denken. Wer soll sie denn versorgen?«

Verzweifelt suchte er Unterstützung, doch er erblickte nur fragende Gesichter, die zwar Betroffenheit ausstrahlten, jedoch mehr noch nach Hilfe suchten. Alle wichen seinem Blick aus. Nur Joseph hielt ihm stand und hatte eine Antwort bereit.

»Jeschu, niemand von uns kann das verlangen. Doch erforsche dein Herz und deinen Geist. Ich bin sicher, Gott wird dich lenken und dir deinen Weg zeigen. Du musst selbst erkennen, dass du unser Anführer und Erlöser bist.«

»Danke, Joseph, du bist ein wahrer Freund. Aber würdest du auch mitziehen, notfalls mit der Waffe in der Hand?«

»Du weißt, ich bin schon älter und außerdem nur ein Kaufmann. Ich verstehe mich nicht auf das Kriegshandwerk. Ich glaube, als Berater und Freund im Hintergrund würde ich dir und den Anderen eine wertvollere Hilfe sein.«

»Das war eine ehrliche Antwort. Aber jetzt kommt, wir wollen zum Tempel gehen und Gott um Hilfe bitten.«

Sie brachen auf und zogen zum Tempel. Schon von weitem war Lärm zu hören. Lautes Handeln und Feilschen um Preise. Als sie den großen Tempel erreichten, bot sich ihnen eine bunte Szenerie. Tierhändler und Geldwechsler hatten dort ihre Stände aufgebaut. Tauben und Opferlämmer wurden feilgeboten. In manchen Ecken saßen Männer und spielten um Geld. Am Tempeleingang boten Freudenmädchen ihre Dienste an und Musiker spielten fröhliche Musik. Als Jehoshua das sah, kam kalte Wut in ihm hoch. Er riss einem Pferdehändler die Gerte aus den Händen und begann, wild um sich zu schlagen, rannte durch die Reihen, stieß die Tische der Geldwechsler um und drosch mit der Gerte auf sie ein. Er trat nach den Händlern und schrie die Musiker an, dass sie doch religiöse Lieder spielen sollten. Im Nu war ein wildes Gerangel entstanden. Die überraschten Begleiter Jehoshuas begriffen die Situation erst langsam, doch dann griffen auch sie ein. Nachdem sie alle aus dem Tempel vertrieben hatten, ließ sich Jehoshua keuchend auf die Knie fallen. Er blickte nach oben und ging mit seinen Augen die Reihe seiner Begleiter durch. Dann schüttelte er heftig den Kopf.

»Gut, gut. Ich werde Euch führen, nach Jerusalem, denn das hier muss aufhören. Gottes Haus darf nicht weiter entweiht werden.«

Seine Freunde brachen in lauten Jubel aus. Nun hatten sie ihren Anführer. Auch die inzwischen herbeigeeilten Schaulustigen schlossen sich dem Jubel Jehoshuas’ Freunde an. Man ließ ihn hochleben und trug ihn auf den Händen in den Tempel, wo er gemeinsam mit der Menge betete. Sie baten Gott um Beistand in ihrem Kampf. Jehoshua hatte sich entschieden. Jetzt gab es keinen Weg mehr zurück. Die Entscheidung stimmte ihn froh, auch wenn er sich nicht freimachen konnte von seltsamen Ahnungen.

Nicht allen war es recht, was im Tempel geschehen war. Viele Pharisäer und Sadduzäer beobachteten die Ereignisse misstrauisch. Was war das für ein Mensch, der sich anmaß, die Tempelordnung anzugreifen? Schnell sprach es sich herum und machte Jehoshua, den Rabbi aus Kanaan, berühmt.

1. Teil

Die dunkle Zeit

Die Hexe

Scheel, ein kleines Dorf in der Grafschaft Berg um 1180.

Es war heiß und die Luft staubig und trocken. Büttel errichteten einen Pfahl als Pranger am Weg, direkt am Ortseingang, der einzigen Straße, die zum nahe gelegenen Weiher und zur Burg führte. Jeder, der nach Scheel kam, sollte sehen, wie man mit Quacksalbern verfuhr.

Jetzt schleiften zwei Wächter eine Frau, mit einem Strick gebunden zum Pfahl, um sie dort gemäß dem Urteil des Grafen für drei Tage anzubinden.

Der Frau waren die Spuren der erlittenen Folter deutlich anzusehen. Ihr grobes Leinenkleid war von Peitschenhieben zerrissen, der Rücken blutig. Ihr Gesicht war aufgequollen und ihre Haare, hingen strähnig herunter. In ihren Augen war nur das Weiße zu erkennen. Nahezu ohnmächtig vor Schmerzen ließ sie die Prozedur über sich ergehen. Dorfbewohner schauten ergriffen auf den schauerlichen Zug, der sich ihren Augen bot. Einige verfolgten ihn johlend und versuchten, die gequälte Frau gegen den schwachen Widerstand der Häscher zu schlagen.

„Hexe“ hatte man sie gescholten. Dabei hatte sie ihr ganzes Leben in den Dienst der Menschen im Dorf gestellt, ihnen mit ihrer Kräuterkunde stets geholfen und fast jedes Kind in Scheel auf die Welt geholt. Doch dann kam dieser Wandermönch und begann einen von ihr nicht gewollten Wettstreit in der Heilkunst.

Albruna konnte den Tod der armen Gräfin nicht mehr verhindern. Zu sehr war der Körper der schwerkranken Gemahlin des Burgherrn geschwächt, nachdem sie tagelang mit diesen nutzlosen Aderlassen und Wadenwickeln behandelt wurde. Man muss das Übel bei der Wurzel packen, hatte Albruna einst von ihrer Großmutter gelernt, als sie von ihr in die Kunst der Kräuterkunde eingeweiht worden war. Ein Absud aus Heilwurz, Efeu, Lungenkraut und Kastanienblättern von Beginn an gereicht, hätte der Kranken geholfen, Husten und Fieber zu überwinden. Stattdessen schwächte dieser teuflische Mönch die Gemahlin des Grafen weiter und Albrunas Hilfe kam zu spät.

Geschickt verdrehte der Mönch die Wahrheit und bezichtigte die Kräuterfrau der Hexerei. Der Mönch wollte sie gar der Inquisition überstellen. Nur dem Abt des Klosters Altenberg verdankte sie ihr Leben. Er hatte den Grafen mehr überredet denn überzeugt, ihr das Leben zu lassen und sie stattdessen nur für ihre Quacksalberei zu bestrafen. Dreißig Peitschenhiebe und drei Tage am Pranger lautete sodann das Urteil.

Man band Albruna an den Pfahl. Sie ließ es willenlos mit sich geschehen. Was hätte sie auch dagegen tun können?

Die Büttel rissen ihre Arme nach hinten und banden diese mit einem Strick um den Pranger. Dann zogen sie den Strick, von ihren Händen ausgehend, über ihre linke Schulter und legten ihn ihr um den Hals, um dann über die rechte Schulter wieder zu den Händen zurückzukehren. So fixierten sie ihren Kopf, um gleichzeitig ihre Qualen zu vergrößern. Schließlich wurde das Seil noch mehrfach um Bauch und Brust gezogen.

Das Mönchlein trat vor sie hin, grinste Albruna hämisch an und predigte:

»So spricht Johannes: Aber wer also Unrecht tut oder Bruder und Schwester nicht liebt, stammt nicht von Gott. Daran sind die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels zu erkennen.

Du hast gesündigt, Albruna, darum bist du in den Augen Gottes vom Teufel!«

Albruna blinzelte den Mönch an und versuchte zu lächeln.

»Wir sehen uns in der Hölle wieder, Mönchlein«, erwiderte sie und spuckte den Mönch mit letzter Kraft an: »Du aber wirst vor mir dort sein!«

Der Mönch wich zurück und drehte sich zur gaffenden Menge hin.

»Ihr Kinder Gottes, möge ihre letzte Stunde gekommen sein! Ihr habt gehört, dass der Antichrist kommen wird, doch er ist schon da: Viele Antichristen sind aufgetreten, so wie sie und daran erkennen wir, dass es die letzte Stunde ist. Diese Hexe war früher mit uns zusammen; aber sie gehört nicht wirklich zu uns, sonst wäre sie bei uns geblieben. Sie hat sich von uns getrennt, damit sie bloßgestellt würde als solche, die nie zu uns gehört hat! Dieses Weib ist ein Werkzeug des Teufels!«

Die Menschen johlten, Männer schlugen sie, die Kinder bewarfen Albruna mit Sand und Steinen, die Frauen spuckten sie an. Der Mönch und die Büttel lachten hämisch.

Das Kräuterweib verlor das Bewusstsein.

Als sie wieder erwachte, war es Nacht. Sie war allein. Immer noch am Schandpfahl angebunden. Die Wachen waren abgezogen. Albrunas Hals schmerzte und das Atmen bereitete ihr Schwierigkeiten. Mühsam kam sie wieder auf die Beine, die ihr durch die Ohnmacht weggesackt waren. Als sie endlich wieder richtig stand, konnte sie auch besser atmen. Sie versuchte alles, um sich wach zu halten. Doch ihre Wunden und Schmerzen hatten sie so sehr geschwächt, dass sie bald wieder zusammensank und einschlief.

Als dann der Tag kam, brannte die Sonne erbarmungslos. Albruna fieberte und hatte großen Durst.

»Wasser, bitte gebt mir Wasser.« flehte sie mit schwacher Stimme.

Die Büttel waren wieder da. Einer wollte ihr seinen Trinkbeutel reichen.

»Das wirst du nicht tun!« hörte sie wie durch einen Tunnel den Mönch. »Ich hole ihr Wasser.«

Der Mönch verschwand und kehrte nach kurzer Zeit mit einem Eimer voll Wasser und einer Schöpfkelle zurück. Den Eimer stellte er vor Albruna auf den Boden. Dann tauchte er die Kelle in das kühle Nass und führte sie genüsslich zu seinem Mund, dabei laut schlürfend. Dann ließ er die Schöpfkelle achtlos in den Eimer fallen.

»Bedien dich selbst, du Hexe«, lachte er höhnisch. Albruna blickte auf. Jetzt erst bemerkte sie den Grafen, der tatenlos dem schändlichen Treiben des Mönchs zusah.

»Hilf mir!« flüsterte sie kraftlos, doch der Graf blickte nur verlegen beiseite und verließ den Platz. Albruna ließ resignierend den Kopf sinken und fiel wieder in eine tiefe Bewusstlosigkeit.

Als sie abermals erwachte, pochte es schmerzhaft in ihrem Schädel. Sie glaubte, eine Stimme zu hören, die immer lauter werdend, ständig dasselbe sagte:

»Hexe! Du bist eine Hexe!«

Albruna versuchte, an etwas Anderes zu denken. Sie hatte Durst, ihr Hals war trocken und schmerzte. Die Zunge war angeschwollen. Sie dachte an Wasser, aber da war sie wieder, die Stimme: »Hexe! Du bist eine Hexe!« Albruna weinte still vor sich hin und ergab sich der Stimme in ihrem Kopf. Doch plötzlich keimte wieder Hoffnung auf. Wenn sie eine Hexe war, dann konnte ihr diese Tortur auch nichts anhaben. Sie würde es überleben, egal wie sehr man sie marterte. Schließlich würde sie ihnen zeigen, was es hieß, sich mit Albruna, der Hexe, anzulegen. Sie kicherte, dann lachte sie schrill, bis es nur noch ein Gedanke, ein Wort war, das sie am Leben hielt:

Rache!

Der Advocatus

Kurfürstliche Residenz zu Bonn, Sommer 1625

An seine Eminenz

Den Erzbischof von Köln

Meinen durchlauchtigsten Kurfürsten Ferdinand

Ob der mir übertragenen Amtsgewalt und Order, das Wirken der von Ihnen eingesetzten Commissarii genauestens zu beobachten und bei Beanstandungen zu untersuchen, erstatte ich aus gegebenem Anlass den nachfolgenden Bericht.

Es ist hinreichend bekannt und wohl auch durch Vorschriften klar geregelt, dass zur Wahrheitsfindung, insbesondere im Falle von Verbrechen der ketzerischen Zauberei, crimen atrocissimum et occultissimum, allein die Tortur als ein ideales Instrument zur Wahrheitsfindung dienlich ist und in mancherlei Fällen selbst die verstocktesten Beschuldigten zur Aussage und zum Schuldbekenntnis bewegen kann. Wegen der angewandten Methoden der Tortur und hochnotpeinlichen Befragung sind die Commissarii, wie mir wohl zu Ohren gekommen ist, in einem solchen Ruf, als ob sie tyrannisch und nicht mit der gebotenen Ordnung der von Euch erlassenen Weisungen gemäß die Tortur praktizierten und ohne ausreichende Gründe und Vernunft nach einer Anzeige, wobei oft eine bloße Beschuldigung auszureichen scheint, die Verhaftung der bezeugten Person anordneten und sie sofort der Folter überstellten und martern ließen. Anlass meiner neuerlichen Untersuchung ist ein Brief des Meckenheimer Pfarrers Hubert Fabritius, der sich unlängst zum wiederholten Male über die Praktiken des Commissarius Doktor Franziskus Buirmann beklagte.

Der Advocatus Matthias Liebknecht unterbrach seine Arbeit. Der Anwalt am kurfürstlichen Hof zu Bonn erhob sich von seinem Schreibtisch und ging zum Fenster. Gedankenversunken stand er dort eine ganze Weile, denn die klagenden Worte an seinen Herrn und Kurfürsten wollten wohl gewählt sein. Als ein Karren mit einer Leiche darauf die Straße vor der Residenz passierte, bei dessen Anblick sich die Passanten eiligst bekreuzigten, erinnerte er sich daran, dass es schon eine ganze Weile her war, dass er das letzte Mal das Grab seiner Eltern auf dem Godesberg besuchte. Seine Besuche dort oben waren seltener geworden. Dennoch fühlte er den Schmerz noch immer. Sein Vater, der Knecht Kaspar Liebknecht, und seine selige Mutter, die Näherin Margarete Liebknecht, beide Opfer des Kölnischen Krieges, waren dort beerdigt. Liebknecht vermisste seine Eltern. Er war damals noch klein und wurde von den Ordensfrauen auf ihrer Flucht mitgenommen und später zu den Benediktinermönchen auf den Michaelsberg in Siegburg gebracht, wo er aufwuchs und christlich erzogen wurde. Später dann entschied er sich für das Studium der Rechte und verließ den Orden. Nach dem Studium trat er als Anwalt in den Dienst des Kurfürsten Ferdinand, einem Wittelsbacher, den das Domkapitel in Nachfolge seines Onkels Ernst zum Erzbischof von Köln wählte. Matthias hatte zunächst die Aufsicht über die Märkte und die Bonner Mühlen. Schnell entwickelte er dabei ein feines Gespür bei der Aufklärung von Straftaten. Seine brillante Kombinationsgabe und sein logischer Verstand kamen ihm dabei sehr zur Hilfe. So gelang es ihm, die Bruderschaft der Cassiushunde zu enttarnen und den Komplott gegen Ferdinand von Wittelsbach zu vereiteln.

Kurfürst Ferdinand hingegen wollte dem Rheinland Ruhe und Frieden wiedergeben. Zu sehr hatte der Kölnische Krieg zwischen dem Protestanten Gebhard Truchsess von Waldburg und Ferdinands Onkel Ernst von Wittelsbach das Land geschädigt und die Bevölkerung in Elend und Armut gestürzt. Als Gebhard die Gerresheimer Stiftsdame Agnes von Mansfeld ehelichte, wurde der Erzbischof vom Papst exkommuniziert und vom Kaiser als Kurfürst abgesetzt. Neuer Erzbischof und Kurfürst wurde Ernst von Wittelsbach. Da Gebhard den Bischofsstuhl und den Kurfürstenthron jedoch nicht freiwillig räumen wollte, stellte Ernst eine Armee auf, mit der er sich seine Rechte hart erkämpfen musste. Das Rheinland stürzte in einen Krieg, ging in Flammen auf und die Bevölkerung überkam Not und Armut. Ernst war kein sonderlich geliebter Landesherr, daher hielten die Unruhen noch einige Jahre an.

Sein Neffe und Nachfolger Ferdinand war bemüht, die ihm anvertrauten Menschen in den Schoß der römisch-katholischen Kirche zurückzuführen. Er sah in den vielen Protestanten und Dickköpfen, wie er sie nannte, eine Gefahr für die Heilige Mutter Kirche und die künftigen Kaiserwahlen. Ein protestantischer Kurfürst in Köln würde bei der Kaiserwahl die Wahl eines Protestanten bedeuten. Die katholische Kirche würde damit ihre Bedeutung und Vormachtstellung verlieren. Das durfte unter keinen Umständen geschehen!

Doch die von ihm gewählten Mittel dazu waren in Liebknechts Augen alles Andere als geeignet. Ferdinands Hexenordnung für das Kurfürstentum Köln leistete Neidern, habgierigen und rachsüchtigen Menschen Vorschub, denn oftmals reichte der bloße Verdacht, eine achtlose Äußerung, völlig aus, um eine unglückliche Seele in die Hände eines der gefürchteten Hexenkommissare zu spielen.

Liebknecht nahm wieder Platz und widmete sich erneut seinem Rapport an Kurfürst Ferdinand:

Durch Euer Gnaden erlassene Anordnungen zur Auslegung und Anwendung der von Kaiser Carl V zur Bekämpfung des gräulichen und abscheulichen Unwesens der Zauberei erlassenen peinlichen Halsgerichtsordnung wurde das Hexenverbrechen zu crimen exceptum erhoben. Die Herren Commissarii gehen mit den damit verbundenen erweiterten Rechten und explizit den Pflichten allzu sorglos um. Es erscheint mir ob der jüngsten Begebenheiten zweifelhaft, ob die Folter tatsächlich so lange und so oft und mit solchen Mitteln ausgeübt werden soll, dass ein Geständnis unweigerlich erzielt wird. Es werden immer mehr Fälle bekannt, in denen neben den landläufigen Bein- und Daumenschrauben, dem Aufziehen mit dem Seil, Methoden angewendet werden, wie das Brennen mit Schwefelpflastern, Fackeln und geweihten Kerzen oder dem beträufeln mit brennendem Pech.

Es erscheint mir darum angezeigt, den Commissarius Doktor Franziskus Buirmann vor den Hofrat laden zu lassen, um die Anschuldigungen detaillierter zu untersuchen.

Vielleicht sei auch erwähnt, dass mir ein Scharfrichtergehilfe auf Befragung folgendes berichtete:

Als die Hexe Mathilda Eber ins Gefängnis verbracht wurde, musste sie sich sogleich auf Geheiß des Commissario nackt ausziehen. Der Meister habe ihr dann Salz in den Mund gestreut und sie Weihwasser trinken lassen, damit sie sich im späteren Verhör schneller als Hexe bekenne. Hernach wurde ihr Körper nach dem Hexenmal abgesucht. Man habe ein Flecklein an der Brust entdeckt, worauf der Meister eine spitze Nadel hinein stach. Was dann geschah, vermochte er nicht mehr zu bezeugen, da er den Kerker verlassen musste. Jedoch schrie die Hexe erbärmlich, woraus zu schließen ist, dass sie auf schrecklichste Weise gepeinigt wurde.

Ich bitte Euer Gnaden demütigst um Vergebung und entbiete Euch, Durchlaucht, meine untertänigsten Grüße

Advocatus

Doktor Matthias Liebknecht

Matthias las den Brief noch einmal, faltete und verschloss ihn mit seinem Siegel und rief einen Amtsboten.

»Bringt diesen Brief unverzüglich zum Kurfürsten. Seine Durchlaucht muss ihn umgehend erhalten.«

Der Bote wandte sich zur Tür, da rief ihn Liebknecht zurück.

»Wartet, wenn Ihr das erledigt habt, dann besorgt mir auf dem Markt Erdbeeren.«

Der Mann nickte und verschwand. Der Advocatus goss sich einen Becher Wein ein und mischte diesen mit Wasser. Er hoffte inständig, dass Ferdinand endlich zur Vernunft kommen und dem Hexenbrennen ein Ende setzen würde. Dann machte er sich auf den Weg. Friedrich Spee weilte in der Stadt und er wollte sich mit dem begabten Jesuitentheologen und Rechtsgelehrten im Gasthaus „Zu den Blomen“ treffen. Es gab einige gemeinsame Ansichten, die es zu besprechen galt, denn auch Spee war kein Freund der Hexenverfolgungen.

Am Abend wollte Liebknecht zu Hause sein und seine Frau mit frischen Erdbeeren überraschen.

Angewidert sah Friedrich Spee von Langenfeld zur Seite, als der Schinderkarren mit den Delinquenten an ihm vorüber rollte. Hexen und Zauberer auf dem Weg zur Richtstätte. Da er die Priesterweihe empfangen hatte, hatte man ihn zum geistlichen Beistand für die zum Tode Verdammten bestellt. Insgesamt sechs an der Zahl mit von der Tortur zerrissenen Gliedmaßen. Die Frauen mit zerfetzten Brüsten, die Haut auf den Rücken von Peitschenhieben mit tiefen Striemen. Einer älteren Frau hing ein Arm ausgekugelt schlaff herunter und einem der beiden Männer war ein Knie gebrochen, wie dem Schächer am Kreuz.

Der Pöbel johlte und kreischte vor Vergnügen beim Anblick dieser durch die Folter gequälten armen Seelen, die nur noch auf eins hoffen konnten, den baldigen Tod.

Auf dem Richtplatz waren sechs Pfähle aufgestellt, um die herum man trockenes Brennholz aufgeschichtet hatte. Als der Schinderkarren die Scheiterhaufen erreichte, zerrten Henkersknechte die vor Angst schlotternden, zum Tode Verurteilten, vom Wagen und schleppten sie über Leitern auf die Holzstöße, wo sie am herausragenden Brandpfahl angebunden wurden.

Langsam, mit bedächtigen Schritten, trat Spee vor. Mit einem seltsamen Gefühl betrat er über die angelehnten Leitern jeden einzelnen Scheiterhaufen. Beim elenden Anblick der Todgeweihten wurde ihm übel und er musste seinen Brechreiz unterdrücken. Dennoch segnete er die Männer und drei Frauen nacheinander, nachdem sie einzeln nochmals dem Teufel abschworen, und er versprach ihnen, dass sie noch in derselben Stunde als reuige Sünder vor Gott treten würden. Danach wurden die Frauen unter dem Jubel der Menge erdrosselt. Den beiden Männern band der Scharfrichter ein bis zur Brust reichendes Säckchen mit Schwarzpulver um den Hals, wobei heftig applaudiert wurde, denn das versprach, noch ein besonderes Schauspiel zu werden.

Am letzten Pfahl war eine junge Frau angebunden. Die Frau war wohl kaum älter als neunzehn Jahre. Ihr Gesicht war schief und sah schrecklich entstellt aus, man hatte ihr das Jochbein gebrochen. Zudem wies ihre Brust Narben von Brandeisen auf, die man ihr während der Folter aufgedrückt hatte. Doch seltsam, irgendetwas schien ihr noch Kraft zu geben. Der Jesuit fragte sich, ob es vielleicht ihre Jugend war.

»Schwörst auch du dem Teufel ab und bereust deine Sünden, besonders deine teuflischen Verbrechen der Hexerei?«

Langsam hob das Mädchen den Kopf. Ein Auge war zugeschwollen, das andere blickte den Jesuiten hasserfüllt an. Sie spuckte Spee ins Gesicht.

»Wo war Gott, als ich ihn brauchte? Ich bin unschuldig und habe nichts Unrechtes getan. Ich schwöre Euch, das ist die Wahrheit. Keine Zauberei, keine Hexenkünste und keine Unzucht mit dem Teufel.

« Das Krakeelen des Mobs schwoll zu infernalem Lärm an. Jetzt schrie die Ärmste zum Volk:

»Und Euch, die Ihr alle da steht, verfluche ich und ich schwöre, dass ich Euch an der Höllenpforte in Empfang nehmen werde!

« Entsetzt stieg Spee die Leiter vom Scheiterhaufen herab. Der Henker blickte zum Trierer Erzbischof Christoph von Sötern hinüber, der beim Anblick des

Knebels in der Hand des Henkers den Kopf schüttelte. Kein gnädiges Erdrosseln. Man sollte die Todesschreie der Hexe immer in Erinnerung behalten.

Dann wurde das Stroh unter den pechgetränkten Holzscheiten entzündet. Schnell fanden die Flammen ihren Weg nach oben. Als sie die Schwarzpulversäckchen der Männer erreichten, gab es laut bejubelte Explosionen und Stichflammen. Den Männern riss es die Schädel weg, so dass sie sofort tot waren.

Spee stand jetzt neben der Tribüne des Erzbischofs. Er konnte nicht mehr an sich halten und erbrach sich bei dem grauenhaften Anblick und den Todesschreien der jungen Frau, als die Flammen langsam ihren lebendigen Leib verschlangen.

Sturmnacht - Neuenburg a.d. 1185

Sturmböen peitschten Hagelkörner und Regen gegen die rauen Mauern der Burg. Die Wachen auf dem Turm suchten Schutz unter dem Holzdach, das den Bergfried vor der Unbill des Wetters schützen sollte. Der Winter kündigte sich mit seiner ganzen Strenge und Härte an.

Graf Engelbert kümmerte das wenig. Nervös ging er vor dem Gemach seiner Gattin Margarete auf und ab. Immer wieder hielt er inne und lauschte. Nichts war zu hören, kein Kindergeschrei, nur das schmerzerfüllte Stöhnen seines in den Wehen liegenden Weibes. Jetzt öffnete sich die Tür.

»Und?«, fragte der Graf kurz und knapp. Eine Nonne trocknete sich an einem Tuch noch die Hände ab, ehe sie antwortete.

»Herr, wir schaffen es alleine nicht. Hört auf meinen Rat und lasst Albruna holen, wenn Euch das Leben Eures Weibes und das des Kindes lieb ist.«

»Diese Hexe aus dem Dorf? Warum muss es ausgerechnet dieses verfluchte Weib sein?«

»Weil sich niemand sonst so gut auskennt wie sie. Albruna versteht sich auf Kräuter und kann die Schmerzen Eurer Gattin mit Hilfe eines Absuds lindern und so die Geburt erleichtern.«

»Eine Hexe in meiner Burg, niemals!«

»Herr, ich flehe Euch an, in Gottes Namen. Euer Weib steht an der Schwelle des Todes.«

Graf Engelbert musterte die Nonne eindringlich.

»Ihr fleht mich in Gottes Namen an und verlangt nach einer Hexe? Eine Ordensfrau und eine Hexe.«

»Es ist Gottes Wille, dass Ihr sie kommen lassen müsst. Sie ist keine Hexe, sie ist eine heilkundige Kräuterfrau. Söhnt Euch mit Ihr aus!«

»Ihr verlangt viel von mir.«

»Gott will es so!«

»Auf Euer Wort?«

»Ja, wenn Gott es nicht so wollte, würde er mir die Kraft und Stärke verleihen, Eurem Weibe und ihrem ungeborenen Kind zu helfen.«

»Na schön. Ich lass’ sie holen.«

Kurze Zeit später machten sich vier berittene Soldaten auf den Weg in das nahe Dorf Scheel.

Albruna hockte in ihrer Hütte vor dem Feuer. Aufmerksam beobachtete sie die tanzenden Flammen. Die Wände waren ringsum mit grobgezimmerten Tischen zugestellt, auf denen allerlei Flaschen mit geheimnisvollen Tinkturen standen. Kräuterbündel hingen von der Decke herab, aus der an einigen Stellen Regenwasser tropfte, da das mit Reisig gedeckte Dach nicht dicht war. Das einzige Fenster war mit einem Fell zugehängt, das sich durch den Sturmwind hin und her bewegte.

Plötzlich hämmerte jemand gegen die Tür. Albruna riss die Augen weit auf.

»Es ist soweit«, flüsterte sie geheimnisvoll, kicherte leise und erhob sich. Ihr graues Haar unter einem einfachen Tuch verborgen, der Körper gebeugt von der Last der Jahre.

Langsam schlurfte sie zur Tür. Wieder hämmerte es, diesmal energischer, lauter.

»Ja, ja, ja«, murrte sie, »schlagt mir bloß nicht die Tür ein. Ich komme ja schon.«

Als sie die Tür öffnete, starrte sie ein finsteres, bärtiges Gesicht unter einem Helm mit Nasenbügel an. Über dem Kettenhemd trug der Krieger einen Mantel.

»Seid Ihr das Kräuterweib, das man Albruna nennt?« herrschte der Soldat sie an. Die Alte nickte.

»Auf Befehl des Grafen sollt Ihr sofort zum Schloss kommen.«

»So, auf Befehl? Ich hatte eher mit einer Bitte gerechnet.«

Statt einer Entgegnung zog der Soldat sein Schwert aus der Scheide.

»Das könnt Ihr getrost stecken lassen. Ich packe nur schnell ein paar Sachen zusammen und ziehe noch meinen Mantel über.«

Sie ließ den überraschten Kerl einfach stehen und ging zu den Tischen mit den Tinkturen. Dann nahm sie noch ein paar getrocknete Kräuter von der Decke und warf sich ihren Umhang über die krumme Gestalt.

Die Burg erhob sich wie ein mahnender Finger über dem Leppetal. Der Anstieg war beschwerlich, denn die Pfade waren vom starken Regen aufgeweicht und durch die Hagelkörner auch gefährlich rutschig. Endlich hatten sie das Burgtor erreicht, das durch die Wachen sogleich geöffnet wurde und die Ankommenden wie ein dunkler Schlund verschlang.

Im Palast empfing sie ungeduldig Graf Engelbert.

»Endlich, es wird auch langsam Zeit.«

Albruna hustete und klopfte sich das Wasser ab. Schließlich musterte sie den Grafen verstohlen aus dem Augenwinkel.

»Du hast vollkommen Recht, es wurde auch langsam Zeit. Viele Monde sind vergangen, seitdem du mich hast an den Pranger stellen lassen. Und wofür? Ich hatte nichts Unrechtes getan. Aber du bist diesem Mönch, diesem Teufel in Gottes Habit aufgesessen. Beinahe hättest du mich sogar verbrannt.

« Graf Engelbert atmete schwer, denn die Alte sprach die Wahrheit. Als seine erste Frau einer schweren Krankheit erlag, hatte er Albruna um Hilfe gebeten. Doch das Kräuterweib konnte der Todkranken nicht mehr helfen. Zur gleichen Zeit war ein Mönch bei ihm zu Gast. Der Mönch bezichtigte Albruna der Hexerei und Teufelsanbetung. Sie sei Schuld am Tode der Gräfin, warf der Mönch ihr vor. Sogar vor ein Inquisitionsgericht wollte er sie bringen. Nur dem beherzten Eingreifen des Abtes Goswin vom Kloster Altenberg war es zu verdanken, dass der trauernde Graf wieder zur Besinnung kam und Albruna nicht auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließ. Doch die Saat jenes Mönchs war inzwischen aufgegangen. Albruna war als Hexe verschrien und dadurch aus der Dorfgemeinschaft von Scheel ausgestoßen worden. Man behandelte sie wie eine Aussätzige.

»Es tut mir Leid, ich will es wieder gut machen. Nenne mir deinen Preis! Aber bitte, rette das Leben meines Weibes.«

»Und das deines ungeborenen Balges«, ergänzte die Alte, »so, wie ich auch dir geholfen habe, das Licht der Welt zu erblicken.«

Eine besorgte Nonne eilte herbei.

»Herr, bitte! Es wird Zeit, sonst stirbt Euer Weib.«

Albruna musterte den Grafen noch einmal, drehte sich um und folgte der Nonne in das Gemach der Gräfin.

Gräfin Margarete stöhnte vor Schmerzen und hatte dicke Schweißperlen auf der Stirn. Die unerträglichen Schmerzen trieben sie fast zur Ohnmacht. Die Hexe stieß eine weitere Nonne, die sich im Zimmer aufhielt, beiseite und begann den Bauch der Hochschwangeren abzutasten. Nachdem sie die Gräfin ausführlich untersucht hatte, kramte sie in ihrem Korb nach einer bestimmten Mixtur.

»Bringt mir heißes Wasser und Tücher und bereitet aus diesem Kräutern einen Aufguss.«

Sie reichte einer Nonne das Bündel Kräuter, das sie vorsorglich eingesteckt hatte. »Fügt danach fünf Tropfen aus dieser Flasche hinzu«, erklärte sie. Die Nonne lief hinaus. Jetzt nahm Albruna die geheimnisvolle Flasche, strich der Gräfin sanft über die Stirn und sagte:

»Ich werde jetzt ein paar Tropfen einer Medizin in Euren Mund träufeln, danach werdet Ihr Euch sofort besser fühlen. Das wird Euch die Schmerzen nehmen.«

Margaret lächelte die Alte dankbar an.

»Was ist mit meinem Kind?«, hauchte sie.

»Oh, macht Euch um das Balg des Grafen keine Sorgen. Es ist ein kräftiger Knabe und er wird die Prozedur schon überleben, die ihn erwartet.«

»Ein Knabe? Aber woher wisst Ihr…?«

Die Hexe zuckte nur mit den Schultern. »Ich weiß es eben.«

»Was meint Ihr mit Prozedur?«

Albruna lächelte ein wenig und strich der geschwächten Frau über das feine blonde Haar.

»Das Kind liegt falsch herum. Ich muss es drehen, wenn Ihr die Geburt überleben wollt. Aber keine Angst. Ich werde Euren Schoß sogleich mit einem Absud behandeln, der alles erleichtern wird.«

Die Hexe drehte sich zu Engelbert um, der leise das Zimmer betreten hatte.

»Du verlässt uns jetzt wieder. Hier haben Männer nichts verloren.«

Wortlos befolgte der Graf Albrunas Anweisung.

Engelbert wartete im Vorraum zur Kemenate seines Weibes im Donjon seiner Burg. Das Frauengemach war im zweiten Stock des Wohnturmes gelegen und hatte im Gegensatz zu den übrigen Kammern Fenster aus Glas und einen eigenen Kamin.

Still betete er zu Gott um das Leben seines Weibes und das seines noch ungeborenen Sohnes. Schließlich hielt er das Warten und das Stöhnen seiner niederkommenden Gemahlin nicht mehr aus. Er nahm die schmalen Stufen der Treppe, überquerte den Hof und ließ sich schließlich vor dem Altarkreuz der kleinen Kapelle nieder.

»Herr, ich gebe dir hier feierlich ein Versprechen. Sollten mein Weib und mein Sohn am Leben bleiben, dann schwöre ich dir, werde ich Jerusalem aus den Händen der Heiden befreien. Außerdem soll mein Sohn, der Engelbert heißen soll, eine vollkommene geistliche Erziehung genießen, alles zu deiner Ehre und deinem Ruhm.«

»Ich wusste, dass ich dich hier finden würde«, hörte er plötzlich Albrunas Stimme. Er fuhr herum und funkelte sie an.

»Du wagst es, diesen heiligen Boden zu betreten?«

»Ich dachte, es interessiert dich, dass dein Weib und dein Sohn wohlauf sind.«

Engelbert sprang auf und stürmte hinaus. Kurze Zeit später küßte er dankbar die sehr geschwächte Gräfin Margarete und reckte seinen Sohn stolz und glücklich in die Höhe.

»Du wirst Engelbert heißen, denn du bist genauso stark wie dein Vater«, strahlte der Graf und wandte sich dann an Albruna.

»Was verlangst du zum Lohn?«

Die Alte grinste. Ihr Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Grimasse. Durch die Folter, die man ihr einst angetan hatte, war ein Gesichtsnerv verletzt worden, so dass sich ihr Gesicht jedes Mal zu einer hässlichen Fratze wurde, wenn sie lachte.

»Du kannst mir nichts geben. Aber höre noch meinen Rat: Wenn du deinen Eid erfüllst, wirst du eines Tages einen Fürsten töten und dein Sohn wird ein Geschlecht vernichten. Wenn du also kein Unheil heraufbeschwören willst, dann lasse ab von deinem Schwur und bitte Gott um Vergebung.«

»Was weißt du schon von Gott. Ich habe einen heiligen Eid geschworen. Dem ist nichts hinzuzufügen.«

»Es sei, wie es sei«, raunte die Hexe und verließ die Burg. Man sah Albruna niemals wieder in Scheel. Als man ihre Hütte durchsuchte, sah es darin aus, als hätte schon seit Jahren kein Mensch mehr sie bewohnt. Es war, als ob es Albruna, die Hexe, nie gegeben hätte.

Der Eid

Missmutig gelaunt stapfte Graf Engelbert auf den Kölner Dom zu. Der Dom verfügte über ein Langhaus, das an beiden Enden durch Querhäuser begrenzt wurde. Daran schloss sich ein großzügiger Arkadengang an, von dem die Amtsräume des Domkapitels abgingen. Es schneite, entsprechend schlecht war der Zustand der Straßen und Gassen in Köln. Gestern war Engelbert mit vier Begleitern in der Domstadt angekommen, wo es von Menschen nur so wimmelte. Morgen war der 6. Jänner. Das Epiphaniasfest stand kurz bevor. So war es nicht verwunderlich, dass Köln mit Pilgern überschwemmt war, die eine Wallfahrt zum Grab der Heiligen Drei Könige machen wollten und mitten im Winter eine beschwerliche Reise ins Rheinland auf sich genommen hatten.

So hatte Engelbert von Berg auch keine Bleibe im Erzstift erhalten, geschweige denn in den besseren Herbergen der Stadt. Sein Besuch war nicht angekündigt und im Stift waren schon alle Gästebetten an andere hochrangige Persönlichkeiten vergeben worden. Daher hatte Engelbert mit seinen Reisigen die Nacht auf einem Strohlager in einem Stall in einer heruntergekommenen Herberge nahe dem Judenviertel, verbringen müssen.

Er teilte einem Wachposten sein Begehr mit, dass er den Domdechanten Adolf von Altena zu sprechen wünsche. Der Soldat brachte den Grafen in einen großen Raum, der karg eingerichtet war. Neben einem Schreibpult und zwei Stühlen für Besucher gab es ein Regal mit Aktenbündeln, Schriftrollen, Faszikeln und Konvoluten.

»Seine Eminenz ist ein viel beschäftigter Mann. Habt Ihr Euren Besuch angemeldet?« wies ihn der schmale, dürre Geistliche, der sich als Sekretär des Dechanten zu erkennen gab, zurecht

Graf Engelbert von Berg verneinte.

»Dann muss ich Euch bitten, Euch in die Liste der Bittsteller einzutragen und Euer Begehr kurz zu beschreiben – falls Ihr nicht der Schrift mächtig seid, könnt Ihr es mir auch diktieren«, fügte er arrogant hinzu.

Der Graf bebte innerlich vor Zorn. Nicht nur, dass er seinen ungeliebten Neffen wegen eines heiligen Eides aufsuchen musste und deswegen die Nacht wie ein Bettler verbracht hatte, jetzt musste er sich auch noch von einem kleinen Sekretär schikanieren lassen.

Der im Kampf erprobte Krieger baute sich nun in voller Größe und Breite vor dem Schreibpult auf und überragte den Schreiber um Haupteslänge.

»Meldet seiner Eminenz sofort, dass ihn sein Oheim in einer dringenden familiären Angelegenheit zu sprechen wünscht.«

Der schmale Kleriker war sichtlich beeindruckt und verschwand darauf im Amtszimmer des Domdechanten. Nach einer Weile, die Engelbert wie eine Ewigkeit erschien, kam er wieder heraus.

»Seine Eminenz bittet Euch noch um ein wenig Geduld. Sobald es seine Zeit erlaubt, wird er Euch empfangen. Bitte nehmt Platz.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, steckte der Sekretär seine Hakennase wieder in seine Arbeit. Hin und wieder blickte er verstohlen auf und der Graf von Berg versuchte jedes Mal, ein hämisches Grinsen im Gesicht seines Gegenübers auszumachen. Doch es gelang ihm nicht.

Nach einiger Zeit war eine Stimme aus der Amtsstube des Domdechanten zu vernehmen. Der Sekretär ließ seine Schreibfeder fallen, sprang auf und verschwand hinter der dicken Eichentür. Gespannt beobachtete Graf Engelbert das Geschehen. Kurz darauf öffnete sich die schwere Tür.

»Seine Eminenz ist jetzt bereit, Euch zu empfangen«, wurde der Graf herein gebeten.

Als Engelbert das Zimmer betrat, erhob sich der Domdechant und kam lächelnd auf ihn zu.

»Mein lieber Onkel, was führt Euch zu mir? Ich bedauere unendlich, dass Ihr warten musstet. Ich hatte jedoch noch wichtige Korrespondenz zu erledigen, die keinen Aufschub duldete. Wie geht es meiner verehrten Tante, Eurer Gattin Margareta?«

»Schenk dir das Gesülze, mein lieber Neffe. Du und ich, wir wissen beide, dass es nicht ernst gemeint ist. Doch um deine Frage zu beantworten: Deiner Tante geht es gut. Sie hat vor sechs Wochen einen Knaben geboren.«

Der Domdechant, Adolf von Altona, zog die Augenbrauen hoch und tat erstaunt.

»Ah, einen Knaben, ist das die wichtige Familienangelegenheit, in der Ihr mich sprechen wolltet? Ich dachte...« Adolf hielt inne und schaute den Grafen provozierend an.

»Mehr oder weniger, Neffe. Die Sache, in der ich bei dir vorspreche, hat nichts mit dem Hader gegen deinen Vater zu tun.«

»Der ohne Zweifel nicht rechtens ist. Aber dies will ich nicht hier und jetzt mit Euch diskutieren. Nun nennt mir schon euer Begehr in dieser wichtigen Familienangelegenheit.«

Der stolze Graf zuckte unter dieser Zurechtweisung wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Verlegen schaute er sich um. Der Domdechant lächelte gönnerhaft.

»Ach so, Ihr wollt vertraulich mit mir reden.«

Der Mönch erhob sich und wollte hinaus eilen.

»Nein, nein, es ist schon gut, dass ein Schreiber anwesend ist. Ich wollte ein Versprechen vor Gott ablegen, das Ihr bezeugen sollt.«

Adolf von Altona strich sich mit den Fingern der rechten Hand übers Kinn.

»Ihr wollt also ein Gelübde ablegen. Wir sollten uns setzen. Nehmt doch an der Tafel Platz.«

Erst jetzt forderte der Domdechant seinen Onkel auf, an der reichlich gedeckten Tafel Platz zu nehmen, die Graf Engelbert bereits begierig in Augenschein genommen hatte. So bescheiden wie die Unterkunft, in der er nächtigen musste, war auch das Essen in der benachbarten Taverne ausgefallen.

»Dann lasst hören, was Ihr uns zu schwören habt.«

Der Graf räusperte sich.

»Nun, die Geburt Eures Cousins war sehr schwer für Eure Tante. Beinahe hätte sie ihr Leben verloren. Doch meine Gebete zu Gott verhalfen ihr über diese schweren Stunden hinweg, so dass sie einen gesunden Knaben gebar, dem ich den Namen Engelbert gab. Indes versprach ich Gott während dieser Stunden, dass ich meinen Sohn nach Vollendung seines sechsten Lebensjahres in die Obhut der heiligen Mutter Kirche geben werde, damit er in ihrem Sinne erzogen würde, um dereinst ein geistliches Amt zu übernehmen, wenn er dafür das Leben meiner geliebten Margareta verschonen würde.«

Graf Engelbert verschwieg bewusst seinem Neffen die Hilfe der Kräuterfrau Albruna. Er wollte ihm keinesfalls mehr als nötig preisgeben.

»Das ist löblich von Euch, mein Oheim. Mein Schreiber wird dieses Versprechen gleich beurkunden. In der Zwischenzeit bitte ich Euch, nach Herzenslust zuzugreifen.«

Wenig später war der Eid besiegelt.

»Ihr wisst, dass ihr nun durch einen heiligen Eid an dieses Versprechen gebunden seid, Onkel. Ich erwarte also, dass mein geliebter Cousin nach seinem sechsten Geburtstag mir unverzüglich übergeben wird.«

»Ihr könnt Euch darauf verlassen, Eminenz«, verabschiedete sich Graf Engelbert, seinen Neffen das erste Mal förmlich ansprechend. Er beeilte sich, den Raum zu verlassen,so sah er das hämische Lächeln und die hasserfüllten Augen im Gesicht des Domdechanten nicht mehr.

Geheime Chroniken

Cassiusstift zu Bonn, a.d. 1613

»Der Herr Stiftsarchivar Quirinius Palanth wünscht Euch zu sprechen, Euer Gnaden«, kündigte der Sekretär des Kurfürsten den Stiftsherrn an, der mit der Neuordnung des kurfürstlichen Archivs im Cassiusstift betraut war.

Ferdinand von Wittelsbach blickte auf und bedeutete seinem Sekretär mit einer Geste, den Archivar herein zu bitten.

Quirinius Palanth war von rundlicher Statur, sein Gesicht zierte eine breite Knollennase. Das schüttere Haupthaar ließ noch schwach seine einstige braune Farbe erkennen. Seine Hände waren kräftig und fleischig und wirkten eher wie die eines Bauern, als die eines mit Akten beschäftigten Archivars.

Mit einer höflichen Verbeugung trat er vor Kurfürst Ferdinand, der ihn fast um Haupteslänge überragte. Ferdinand, hager, hatte kurzes, schwarzgelocktes Haar, aber trotz seiner jungen Jahre bereits eine sehr hohe Stirn. Seine vollen Lippen wurden von einem spitz zulaufenden Bart umrahmt. Unter den hohen Augenbrauen lagen kluge dunkle Augen. Das Amt des Erzbischofs und Kurfürsten von Köln hatte er von seinem verstorbenen Onkel Ernst übernommen, der ihn bereits in jungen Jahren auf Anraten des päpstlichen Nuntius Garzodoro als Koadjutor eingesetzt hatte. So führte er, erst achtzehnjährig, als bischöflicher Stellvertreter das durch den Kölnischen Krieg in Not und Elend gestürzte Kurfürstentum. Ferdinand war ein lebensfroher und doch bescheidener junger Fürstbischof, der die Jagd als seine einzige Leidenschaft und Laster ansah. Zudem liebte der trotz seiner jungen Jahre ernsthafte Kurfürst die schönen Künste und sah auch sein Regierungsamt als Kunst an, wenn es auch eine schwere Kunst war. Ein Grund dafür war, dass die ihm überantwortete Bevölkerung sowohl den Neuerungen der protestantischen Reformation, als auch den jesuitischen Versuchen der christlichen Erneuerung der römisch-katholischen Kirche mit Misstrauen und Skepsis gegenüber stand.

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