Zeitenwende - Andrea Komlosy - E-Book

Zeitenwende E-Book

Andrea Komlosy

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Beschreibung

Wir befinden uns im Übergang vom industriellen zum kybernetischen Zeitalter. Die Wirtschaftshistorikerin Andrea Komlosy wirft dazu einen Blick zurück, um die Corona-Krise als dynamisierendes Element der Zeitenwende verständlich zu machen. Komlosy ordnet Zyklen der Konjunktur und der globalen Hegemonie sowie Epochen der Menschheitsgeschichte historischen Einschnitten zu – vom Jagen und Sammeln über die Agrarrevolution und die Industriegesellschaft bis zum aktuellen Umbruch, der ins kybernetische Zeitalter führt. Dieser Übergang korrespondiert mit einem neuen Wachstumszyklus der Ökonomie, die durch Digitalisierung, Robotik und Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine geprägt ist. Pharma, Biotech und Nanotechnologie stellen die Leitbranchen des Übergangs dar. Gleichzeitig erleben wir die Erosion der westlichen Vorherrschaft und verstärkte geopolitische Rivalität um die hegemoniale Nachfolge. Künstliche Intelligenz, Industrie 4.0, New Green Deal, Great Reset und die Messung aller Körperregungen und Gedanken beruhen auf Big Data. Mit den Corona-Gesetzen wurden Home Office und Online-Handel zur Grundlage des Überlebens. Sie dienten der Verhaltenseinübung in neue Kulturtechniken. Medizinische Überwachung, Bewegungskontrolle und biopolitische Konditionierung verwandeln den Körper in ein Interventionsfeld für Datenextraktion, Optimierung und Kontrolle. Covid-19 wird an Schrecken verlieren. Die Akzeptanz von Verdatung und Tracking ist jedoch Bestandteil des Alltags geworden. Schließungen und Absonderungen können jederzeit reaktiviert werden, wenn dieser Trend keine antisystemische Gegenbewegung zu entfachen vermag. Eine solche muss Lebensqualität statt Komplexität zum Ziel erheben sowie Selbstbestimmung und demokratische Kontrolle der zukünftigen Entwicklung einfordern.

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Seitenzahl: 451

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Andrea KomlosyZeitenwende

© 2022 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-901-5(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-505-5)

Coverfoto: Shutterstock

Covergestaltung: Gisela Scheubmayr

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG
ABSCHNITT 1: LANGE WELLEN: ZYKLEN DER KONJUNKTUR, DER HEGEMONIE UND DER EVOLUTION
1.1. Konjunkturzyklen
Konjunkturzyklen aus Weltsystem-Perspektive
Das Zyklus-Modell
Zyklen als Generationenfolge?
Kontroversen um den 4. Kondratieff-Zyklus
Zukunft der zyklischen Erneuerung
1.2. Hegemonialzyklen
Hegemonialer Wandel und Konjunktur
1. 3. Evolutionszyklen
Utopische und dystopische Visionen
Periodisierung der Evolution
Cyberoptimismus
Frauen und Technikgläubigkeit
Ethische Kritik
Evolutionszeitalter und Kondratieff-Zyklen
ABSCHNITT 2: DER CORONA-MOMENT IM HISTORISCHEN PROZESS
Szenario, Plan oder Gelegenheit
Ein Bypass für das marode Finanzsystem?
2.1. Kybernetischer Kapitalismus
Die Leitsektoren des kybernetischen Zeitalters
Die Verheißungen der »Disruption«
Die Boom-Branchen im Corona-Lockdown
Der mediale Anschub für Online-Produkte
Online-Kommunikation und Home Office
Online-Handel
Online-Dienste
2.2. Der neue Mensch
Arbeitsprozesse
Roboter
Lieferketten und Just-in-time
Digitale Nomaden
Verdatung
Rohstoff Daten
Von der Ausbeutung der Arbeitskraft zur Aneignung der Erfahrung
Arbeitsschutz – Datenschutz
Begehrlichkeit nach Massendaten
Grenzen des Internets
Corona-Ausnahmezustand als Datentreiber
Der Zugriff auf den Körper
Corona und der Körper
Die Corona-Impfung
Big Data für Big Pharma
Kontrolle der Bewegung
Kurze Geschichte des Reisepasses
Die Reaktivierung des Gesundheitspasses
Corona-Apps und »grüner Pass«
Globale Pläne für biometrische Ausweise und Health Cards
2.3 Geopolitischer Umbruch – Kampf um Hegemonie
Chinas nachholende Entwicklung
Zero Covid: Trumpf oder Handicap?
Konkurrierende Blockbildungen und Handelspolitik
SCHLUSS
Klimawandel
Krieg
Quellen
Literatur: Bücher, Buch- und Zeitschriftenbeiträge

Über die Autorin

Andrea Komlosy, geboren 1957 in Wien, arbeitet als Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Zuletzt sind von ihr im Promedia Verlag erschienen: »Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive« sowie »Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf«.

EINLEITUNG

Die Turbulenzen, in die die Lockdowns 2020/22 unternehmerische Aktivität, Beschäftigung, Staatsbudgets, Börsen sowie die globalen Güterketten versetzt haben, wurden mehrheitlich als Störung wahrgenommen, als Zwischenfall, den keiner wollen konnte und der den normalen Ablauf des Wirtschaftsgeschehens durcheinanderbrachte. Von vielen wurde Sars-Cov-2 als Bedrohung der Gesundheit erlebt, die die Einschränkung der Kontakte und das Herunterfahren des öffentlichen Lebens rechtfertigte. Manche forderten sogar noch schärfere Maßnahmen dagegen. Andere waren von Anbeginn skeptisch gegenüber einer Panikmache, die Distanzgebote, Lockdowns und Kontaktverfolgung als alternativlos darstellte, obwohl das Infektionsgeschehen die flächendeckenden Einschränkungen für sämtliche Bevölkerungsgruppen nicht rechtfertigte. Manche Maßnahmen-KritikerInnen begriffen die Pandemie als Akt eines großen Planspiels, das die Weichen für einen autoritären Staats­kapitalismus bzw. – als andere Seite derselben Medaille – für ein »klimaneutrales« Umbauszenario des Kapitalismus stellte.

In diesem Buch wird gegenüber der auf das Ereignis und die handelnden Akteure orientierten Darstellung ein strukturgeschichtlicher Ansatz vorgeschlagen. Weder geriet alles durcheinander noch wird ein großer Plan in die Tat umgesetzt. So außergewöhnlich, bedrohlich oder perspektivisch sich uns das Ereignis darstellt, umso mehr ist es erforderlich, es in langfristige Trends und Zyklen einzuordnen.

Die strukturelle Herangehensweise bedeutet keine Geringschätzung von Ereignis und individuellem bzw. kollektivem Handeln. Sie stellt lediglich die Rahmenbedingungen und Gesetzmäßigkeiten in den Vordergrund, die dieses determinieren. Oder wie Karl Marx es in »Der 18. Brumaire des Louis Napoleon« (1852) formulierte: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen«. Diesen Umständen will ich auf den Grund gehen und sie mit dem Corona-Moment in Verbindung setzen.

Corona wurde von vielerlei Seiten als »Zeitenwende« gesehen: Eine Gelegenheit, ein Opportunitätsfenster, eine einmalige Chance, alte Strukturen aufzubrechen und Reformmüdigkeit zu überwinden. PolitikerInnen, TechnikerInnen, VertreterInnen aufstrebender Branchen und ZukunftsforscherInnen überschlugen sich geradezu vor Begeisterung über die Nachfrage- und Wachstumspotenziale, die Corona eröffnete. Aber auch wachstumskritische Kreise applaudierten den Lockdowns, weil sie Perspektiven für einen ökosozialen Umbau eröffneten. Als Begründung für die Zeitenwende wurde im Grunde nicht der Virus, sondern die Folgen des Corona-Managements herangezogen – unabhängig davon, ob diese befürwortet oder abgelehnt wurden.

Distanzgebote wirken als Schubkraft für digitale Kommunikation, Online-Handel und Home Office.Das Herunterfahren der wirtschaftlichen Aktivität durch verordnete Schließungen begünstigt den Umbau der Wirtschaft auf neue, aufstrebende Geschäftsfelder (»international«, »digital«, »smart«, »grün«).Der öffentliche Geldhahn federt – vorübergehend – soziale Härten ab und unterstützt langfristig die Restrukturierung der Unternehmenslandschaft nach der Corona-Krise. Dies läutete das Ende des Neoliberalismus zugunsten einer symbiotischen Beziehung von Staat und Kapital ein.Das Tracking des Gesundheitszustandes und die Nachverfolgung der persönlichen Bewegungsmuster dienen als Schubkraft für digitale Überwachung in ebendieser Verbindung staatlicher Interessen (Big Brother) und ökonomischer Verwertung (Big Data und Big Profit).

Damit lässt sich das Corona-Regime in einen größeren, längerfristigen Transformationsprozess einordnen, in dem der Virus vor allem als Triebkraft und Katalysator wirkt. Die gesundheitliche Dimension des Virus tritt in den Hintergrund. Corona beschleunigt einen bereits in Gang befindlichen Transformationsprozess, der in diesem Buch als Kybernetische Revolution beschrieben wird. Kurz gefasst bedeutet Kybernetische Revolution den Übergang von standardisierter industrieller Massenproduktion und Massenkonsum hin zu Waren, die just-in-time erzeugt und spezifisch auf einzelne Zielgruppen bzw. Zielpersonen zugeschneidert werden. Diese Zielpersonen bzw. wir alle geben Bedürfnisse und Wünsche über ihr digitales Verhalten bei Internet-Suche, Kommunikation und Spiel preis (Big Data). Im Gegenzug verheißt man ihnen bzw. uns Selbstoptimierung bis hin zur Vervollkommnung des Menschen als unsterbliches Wesen menschlich-künstlicher Intelligenz. Dabei kommt Informations- und Kommunikationstechnologie, Pharma, Medizin- sowie Biotechnik eine Pionierrolle beim Übergang in die kybernetische Zukunft zu.

Dieser Übergang wird als »Zeitenwende« menschheitsgeschichtlicher Dimension begriffen. Er regt den Vergleich mit früheren Wendezeiten in der menschlichen Evolution an.

Der vorliegende Band »Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft« besteht aus zwei Abschnitten.

Abschnitt 1 behandelt langfristige Entwicklungen der Konjunktur, der Hegemonie und der Evolution von Produktionsprinzipien – gefasst als »lange Wellen« – aus drei verschiedenen, wenn auch miteinander verbundenen Perspektiven:

Lange Wellen der Konjunktur oder: KonjunkturzyklenLange Wellen der Geopolitik oder: HegemonialzyklenLange Wellen der menschheitsgeschichtlichen Evolution oder: Evolutionszyklen

Konjunkturzyklen sind das dynamische Element im Kapitalismus, sie bestimmen mit ihren charakteristischen Leitsektoren und Leitechnologien seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Abfolge von Aufschwung und Abschwung. Sie betten sich in Hegemonialzyklen ein, die durch die Hegemonie einer politischen Macht gekennzeichnet sind: Auf- und Abschwung der Mächte führen zu geopolitischer Rivalität und hegemonialem Wandel. Evolutionszyklen folgen demgegenüber einem viel längerfristigen Rhythmus: bisher durchlief die Menschheit das JägerInnen- und SammlerInnentum, erlebte den Übergang zur staatsbildenden Agrar- und Handwerksgesellschaft sowie von der Agrar- zur Industriegesellschaft in ihren verschiedenen sozioökonomischen und soziopolitischen Ausprägungen. Heute erleben wir den Übergang vom industriellen zum kybernetischen Prinzip, eine Transformation, die sämtliche Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens erneut durchrüttelt.

Abschnitt 2 geht der Frage nach, inwiefern das Auftauchen von Sars-Cov-2 und die damit einhergehenden Maßnahmen der Distanzierung, Isolierung und Nachverfolgung die zyklische Erneuerung der Konjunktur, den hegemonialen Wandel und die Herausbildung einer kybernetischen Kultur beschleunigt haben. Es ordnet den aktuellen Corona-Moment in den langfristigen historischen Prozess ein. Zentrale Bereiche der Beschleunigung im kybernetischen Kapitalismus sind der sektorale Umbau auf die digitalen Zukunftsbranchen Medizin, Bio- und Nanotechnologie in Verbindung mit Kommunikations- und Informationstechnologie, Robotik und kognitiver Optimierung. Die Folgen betreffen die Art zu arbeiten, zu konsumieren, zu kommunizieren, sich zu bewegen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Durch die Distanzregeln haben digitale »Lösungen« einen ungeahnten Durchbruch erlebt, der selbst ZweiflerInnen in seinen Bann zog. Wir geben mit jedem Click Verhalten, Erfahrung und Körper als Geschäftsfeld der (Selbst-)Optimierung und als Datenlieferant preis und bieten der kybernetischen Zukunft die benötigten digitalen Einfallstore.

Einzelne Kapitel widmen sich dem Cyberoptimismus und der Hoffnung auf die technologische Machbarkeit sowohl in ihren autoritären als auch in ihren emanzipatorischen Ausprägungen. Die Frage der Unvermeidlichkeit bzw. der Gestaltbarkeit der zyklischen Erneuerung und der Abfolge der evolutionären Entwicklung wird zwischen den Zeilen immer wieder gestellt, aber letztlich der Einschätzung der Lesenden überlassen. Vielmehr sollen die Akteure und Interessen benannt werden, für die Wachstum, Beschleunigung und Neustart in eine »schöne neue Welt« entscheidende Voraussetzungen darstellen.

Die beiden Abschnitte unterscheiden sich in ihrer Machart. Abschnitt 1 »Lange Wellen« stellt ein wissenschaftliches Einordnungskonzept für den historischen Wandel vor und diskutiert es im Lichte von Forschungskontroversen. Es basiert vor allem auf Sekundärliteratur.

Wer die Geschichte lieber überspringen will, kann direkt in Abschnitt 2 »Der Corona-Moment im historischen Prozess« einsteigen. Hier werden die verschiedenen Bereiche zusammengeführt, die von der Seuche, der Seuchenbekämpfung sowie der Gelegenheit bestimmt wurden, im Angesicht der Pandemie neue Verhaltens-, Kommunikations- und Konsumweisen einzuführen.

Die Auseinandersetzung mit den »langen Wellen« greift zentrale Debatten über die Zukunft des Kapitalismus zwischen Kollaps und Erneuerungsfähigkeit, über geopolitische Kräfteverhältnisse und Perspektiven der Menschheitsentwicklung auf. Wenn das kapitalistische Weltsystem noch bis vor Kurzem an seinen Krisen und Widersprüchen zu zerbrechen schien, verpasst ihm der Corona-Moment eine Möglichkeit zum Wiederaufbau.

Der Neoliberalismus hat einem Corona-Keynesianismus Platz gemacht, ohne dabei soziale und regionale Ungleichheit sowie den Druck auf Löhne und Sozialleistungen aufzugeben. Dabei verschieben sich die geopolitischen Kräfteverhältnisse weg von den westlichen Industriestaaten und ihrer Noch-Führungsmacht USA, hin zu neuen Führungsmächten, insbesondere China, das im Zuge seiner erfolgreichen nachholenden Entwicklung auch die Hegemoniefrage aufrollt. Was den Übergangsprozess vom industriellen auf das kybernetische Prinzip anlangt, hat Corona als Beschleuniger gewirkt.

Die ersten beiden Corona-Jahre waren von einer extremen Tabuisierung gekennzeichnet. Ursachen-, Verlaufs- und Folgeabschätzung beruhten auf schablonenhaften Verlautbarungen samt Angst einflößender Zahlenakrobatik. In deren Schatten entstand jedoch eine kritische Gegenöffentlichkeit, die den Horizont des Wissens und der Debatten geöffnet hat. Diesem Ansatz einer möglichst breiten und offenen Herangehensweise an verschiedene, mit Corona im Zusammenhang stehende Fragen, fühle ich mich verpflichtet. Nicht für alle aktuellen Problemfelder konnte auf wissenschaftliche Literatur zurückgegriffen werden. Stattdessen wurden Zeitungsartikel und Internetquellen herangezogen, insbesondere aus deutschen und österreichischen Quellen. Das Buch spiegelt damit eine Perspektive auf den Corona-Moment wider, der vom Standort der Betrachterin in Wien und ihrer Sprachkompetenz im Deutschen und Englischen geprägt ist. Darüber hinaus wurden so weit wie möglich die internationalen Bedingungen und Verwicklungen des Pandemiegeschehens einbezogen.

Die Ortsfrage ist durch die Lockdowns, Ausgeh-, Betretungs- und Reiseverbote noch virulenter für die Problemwahrnehmung als in Zeiten, in denen Forschung auf internationaler Begegnung und Austausch basiert. Sie räumt dem Platz und der Wohnung, in der der Computer und die Bücherregale stehen, oberste Priorität ein. Kein Nachteil ohne Vorteil: Die Auseinandersetzung mit meinem Lebensgefährten, dem Wirtschaftshistoriker, Verleger und Publizisten Hannes Hofbauer, war in den Zeiten des Eingesperrtseins noch intensiver als sonst. Viele der hier präsentierten Thesen konnten in der gemeinsamen Diskussion entwickelt werden. Die Corona-Zeit hat auch Bewegung in den Kreis der KollegInnen, Bekannten und FreundInnen gebracht. Einige konnten und wollten meinen Überlegungen und Einschätzungen nicht folgen, andere wollten sie nicht hören. Umgekehrt gingen aus der Maßnahmenkritik neue Diskussionskreise, -partnerInnen und Freundschaften hervor. Ihnen verdanke ich zahlreiche Ideen sowie Hinweise auf Internet-Seiten und Literatur.

Andrea KomlosyWien, im August 2022

ABSCHNITT 1: LANGE WELLEN: ZYKLEN DER KONJUNKTUR, DER HEGEMONIE UND DER EVOLUTION

Den historischen Ablauf zu periodisieren, ist eine elementare Aufgabe der Geschichtsschreibung. Vom persönlichen wie kollektiven Erinnern wissen wir, dass sowohl evolutionäre Tendenzen zu beobachten sind, wie etwa bei der kindlichen Entwicklung oder dem Aufbau eines Lebenswerks, als auch zyklische Erscheinungen, im Jahresverlauf, im Generationenwechsel, im Werden und Vergehen von Leben und Tod bis hin zum Bestand ganzer Zivilisationen. Weder können Trends auf einen linearen Charakter reduziert werden, noch bedeuten zyklische Auf- und Ab-Bewegungen die Wiederkehr des ewig Gleichen. Auch dabei bringen Erneuerungen Fortentwicklungen und Zäsuren, sodass die zyklische Wiederkehr selbst einen evolutionären Charakter aufweisen kann, auch mit Rückentwicklungen, ohne dass diese mit den alten Zeiten ident sind.

Erst das Zusammenspiel der verschiedenen Zeiten ergibt ein globales Gesamtbild, wenn man die Spezifika und Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen miteinbezieht, die entweder aus separaten Mustern erstehen oder aus zwischenregionalen Beziehungen. So ergibt sich kein gleicher universeller Takt, sondern je nach Region entstehen bis in die kleinsten räumlichen Einheiten unterschiedliche Formen und Geschwindigkeiten der Entwicklung, die man – mit Ernst Bloch1 – auch als »Ungleichzeitigkeit« fassen kann. Diese geht einher mit einer Abfolge von Dominanz und Abhängigkeit zwischen Regionen, dem Bemühen um Vorherrschaft auf der einen Seite sowie Widerständen und Versuchen nachholender oder eigenständiger Entwicklung auf der anderen Seite. Zu den – räumlich ungleich getakteten – Trends und Zyklen mit ihrem mehr oder weniger langfristigen Charakter gesellen sich plötzliche Umschwünge, die sich nicht aus der evolutionären oder zyklischen Transition erklären lassen, sondern die aus kleinen unvorhersehbaren Ereignissen resultieren, die einen Trend oder einen Zyklus gleichwohl zum Kippen bringen können. Diese Ereignisse treten immer wieder auf und können weitreichende positive und/oder negative Folgen haben, vor allem wenn sie sich im Zeitverlauf gegenseitig verstärken. Damit eine kleine Welle einen ganzen Damm ins Wanken bringen kann, muss dessen System und Krisenfestigkeit jedoch aufgrund langfristiger Trends bereits geschwächt sein. Besonders in Fällen zyklischer Krisen oder Niedergangstendenzen können sich kleine, auf den ersten Blick unscheinbare Bewegungen zu systemrelevanten Momenten summieren. Versuche der Ordnung des historischen Ablaufs müssen daher immer den Zufall und das Unvorhersehbare einkalkulieren, die anstelle von Kontinuität oder geordneten Übergängen chaotische Zustände bzw. Zeiten hervorbringen; so spontan und zufällig diese auftreten mögen, sind sie jedoch gleichzeitig in die langfristigen Bewegungen eingebettet, mit denen sie sich zu historischen Momenten verdichten.

Fernand Braudel hat die Vielstimmigkeit der Zeithorizonte in folgendes System gefasst.2 Die »episodische Zeit« entsteht durch Ereignisse kurzer Dauer. »Zyklische Zeit« resultiert aus länger wirksamen sozialen und ökonomischen Prozessen mit periodischen Schwankungen, die als Zyklen oder Konjunkturen bezeichnet werden. Als »strukturelle Zeit« versteht Braudel Abläufe sehr langer, mehrere Jahrhunderte (nach Saeculum = Jahrhundert auch säkular genannte) dauernde Perioden, die Epochen bzw. Systeme hervorbringen. Schließlich führt er noch einen in die Zukunft gerichteten Zeithorizont ein, der die Vorstellung vom »Werden der zukünftigen Welt« beinhaltet, die auf Basis der historischen Erfahrung auf die Zukunft anspielt.

Im ersten Teil des vorliegenden Buches gehören die im Kapitel 1. 1. behandelten Konjunkturzyklen von zirka 50-jähriger Dauer der Kategorie der zyklischen Zeit an. Kapitel 1. 2. wendet sich mit den Hegemonialzyklen einer Variante von struktureller Zeit zu, in welche sich die Konjunkturzyklen einfügen. Kapitel 1. 3. greift mit den Evolutionszyklen eine noch längerfristige Welle von struktureller Zeit auf, die die zyklischen Muster in den evolutionären Wandel der Menschheitsentwicklung einbettet.

1.1. Konjunkturzyklen

»Lange Wellen der Konjunktur« stellen eine Methode dar, um die zyklischen Auf- und Abschwünge im Kapitalismus, die sich aus der Beobachtung der Wirtschaftsindikatoren ablesen lassen, in langfristige Entwicklungen einzuordnen. Dabei weisen die aus verschiedenen weltanschaulichen Zusammenhängen kommenden Begründungen – Zyklen der Innovation (Nicolai D. Kondratieff, Joseph A. Schumpeter, Gerhard Mensch), der Kapitalakkumulation (Karl Marx, Ernest Mandel, Immanuel Wallerstein) oder der politökonomischen Regime (Volker Bornschier) – große Kompatibilität auf. Als Indikatoren werden Preisreihen, Produktionsindizes, Wachstums-, Profit-, Lohn- und Arbeitslosigkeitsdaten herangezogen. Zentrale Merkmale zur Bestimmung eines Zyklus sind Leitsektoren, Leittechnologien und Energiesysteme, eingebettet in politische Regulierungsformen mit ihren Auswirkungen auf Organisation und Kontrolle von Arbeitsverhältnissen.

Grundsätzlich bestehen lange Wellen der Konjunktur – im Gegensatz zu den kurz- und mittelfristigen Konjunkturschwankungen im Rahmen eines Zyklus – aus einem zirka 25 Jahre währenden Aufschwung (auch als A-Phase bezeichnet), der durch Ausweitung von Produktion und Nachfrage bei steigenden Preisen und Profitraten gekennzeichnet ist; diesem steht ein ebenso lange währender Abschwung (die B-Phase) gegenüber, der Preis- und Profiteinbrüche kennzeichnet. Die Krise setzt Bemühungen um Kostensenkung, Rationalisierung und Refinanzierung und damit Grundlagen für einen neuen Aufschwung in Gang. Gemeinsam bilden Auf- und Abschwung eine lange Welle. Die B-Phase bedeutet verschärften Konkurrenzkampf für die Unternehmen, dem zahlreiche von ihnen nicht gewachsen sind, sowie zwischen den Standorten; der Fall der Preise und Profitraten bewirkt eine Flucht in Finanzgeschäfte und eröffnet, verbunden mit Kapitalexport, eine neue Rolle für periphere Standorte. Bei genauerem Hinsehen lässt sich eine lange Welle, sprich ein Zyklus, in vier Phasen untergliedern: Prosperität, Rezession, Depression und Erholung.

 

Übersicht 1:

Kondratieff-Zyklen-Schema

Zyklus-Phasen: Prosperität/Rezession/Depression/Erneuerung

Lange Wellen sind Ergebnisse wirtschaftshistorischen Rückblicks auf die zyklische Wiederkehr von Aufschwung und Krise und können nicht einfach auf die Zukunft umgelegt werden. Sie eignen sich modellhaft als Hilfsmittel, um komplexe Abläufe zu strukturieren und zu vergleichen. Joseph Kitchin (1861−1932) befasste sich mit kurzfristigen, im Abstand von drei bis vier Jahren auftretenden Schwankungen aufgrund der Bewegung von Produktion, Lagerhaltung und Absatz auf Unternehmensebene, Clément Juglar (1819−1905) beobachtete sieben bis elf Jahre währende Zyklen bei Preisen und Zinssätzen und Simon Smith Kuznets (1901−1985) mittelfristige Zyklen von 17 bis 30 Jahren bei Einkommen und Konsum. Nicolai D. Kondratieff erkannte, dass diese Zyklen sich in die von ihm entdeckten langen Wellen der Konjunktur einfügten.3 1939 gab Joseph A. Schumpeter den von Kondratieff identifizierten Wellen den Namen »Kondratieff-Zyklen« und baute seine Geschichte des Kapitalismus auf diesen K-Wellen auf.4

Es mag auf den ersten Blick verwundern, dass so unterschiedliche Charaktere wie Kondratieff und Schumpeter auf dieselbe Methodik setzen. Der Österreicher Joseph A. Schumpeter (1883−1950), der nach einem kurzen Intermezzo als Finanzminister des Kabinetts Renner I (1919−1920) schließlich an der Harvard-Universität landete, ist für seine Begeisterung über die »kreative Zerstörung« der Depressionsphase als Triebkraft für Erneuerung und Innovation bekannt. Der Russe Nikolai D. Kondratieff (1892−1938) stellte seine Analysen in den Dienst der Neuen Ökonomischen Politik Lenins (1921−1928), die im nachrevolutionären Russland den Drahtseilakt einer Verbindung von Plan und Marktwirtschaft bewerkstelligen wollte. Kondratieff stand dabei für die sogenannte »indikative« Planung, die den Markt als Orientierungshilfe für die Planerstellung ansah; schließlich unterlag er dem Konzept der »direktiven Planung«, die nicht nur die Neue Ökonomische Politik zu Fall brachte, sondern ihn auch im Gefängnis landen ließ. 1938 wurde er hingerichtet und fiel in seiner Heimat lange Jahre in Ungnade.5 Leo Trotzki, der selbst feststellte, dass »der Kapitalismus durch Krisen und Prosperitätsperioden, wie der Mensch durch Ein- und Ausatmen lebt«,6 zollte Kondratieffs Analysen und Konzepten hohe Achtung. Umgekehrt war der Freigeist Schumpeter dem Sozialismus nicht völlig abhold. In seinem Buch »Kapitalismus – Sozialismus – Demokratie«, an dem er von 1942 bis 1950 arbeitete, gestand er bedauernd ein, der Kapitalismus werde scheitern, und zwar nicht an seinen Krisen, sondern an seinem Erfolg, und zwangsläufig einem Sozialismus Platz machen.7 Schumpeters Vorstellung von Sozialismus gleicht allerdings eher einem System, in dem bürgerliche Familie und der Unternehmer als Sozialcharaktere der kapitalistischen Ordnung ihre Rolle an Bürokratie und Managerklasse abgeben.

Im Zuge des Wiederaufbaubooms nach dem Zweiten Weltkrieg geriet die Beschäftigung mit Zyklen in Vergessenheit; alles schien bergauf zu gehen, machbar und planbar. Erst mit der krisenhaften Entwicklung seit der Weltwirtschaftskrise 1973, und mehr noch nach 2008, wurden Konjunkturzyklen als nützliche Analyseinstrumente wiederentdeckt.

Die Diskussion um lange Wellen der Konjunktur ist im Kern eine Erzählung, die die Weltwirtschaft aus einer eurozentrisch-westlichen Perspektive begreift, die seit ihrem Aufstieg zu einem führenden Industrieland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die USA umfasst. Ausschlaggebend für die Bewertung von A- und B-Phasen, Rezession, Depression, Erneuerung und Prosperität sind allein die westlichen Industrieländer. Gleichwohl beansprucht die Zyklentheorie eine Staaten übergreifende, die Weltwirtschaft prägende Geltung. Im kolonialen Zeitalter bedeutet das, dass Kolonien als Teile der Mutterländer betrachtet werden; dies gilt auch für souveräne Staaten und Reiche, sofern diese in Abhängigkeit von den europäischen Großmächten bzw. den USA gerieten. Ob die jeweiligen Konjunkturen in den Kolonien und Peripherien der Weltwirtschaft eine die Entwicklung fördernde oder hemmende Wirkung haben, steht solange nicht zur Debatte, als es solchen Regionen nicht gelingt, sich als Akteure mit eigenständigen Interessen und Perspektiven zu artikulieren. Der Anspruch auf eine eigene Entwicklungsperspektive wurde erst mit der Entkolonisierung formuliert.

Konjunkturzyklen aus Weltsystem-Perspektive

Die Weltsystemanalyse hingegen begreift Weltwirtschaft als ein interdependentes Geflecht von Beziehungen, die Regionen in guter Ausgangsposition Vorteile auf Kosten von Regionen erlaubt, die aufgrund relativer wirtschaftlicher und politischer Schwäche Erschließung, Inwertsetzung und Aneignung von Werten durch Stärkere zulassen müssen. Auf diese Art und Weise kommt es zu Zentrenbildung und Peripherisierung als Ausdruck der ungleichen Einbindung von Regionen in die überregionale Arbeitsteilung.8 Der Systembegriff setzt also an der Funktion der Regionen in einer staatenübergreifenden überregionalen Arbeitsteilung an. Die wirtschaftliche Ungleichheit überschreitet damit die Territorialität staatlicher Souveränität. Mit Eingriffen und Regulierungen, deren Erfolg von Ressourcen, Entwicklungsstand, politischer Stärke und Verfassung abhängt, können Staaten allerdings auf ihre Rolle und Stellung im globalen System Einfluss nehmen.

Als historischer Moment für die Herausbildung der ungleichen überregionalen Arbeitsteilung des kapitalistischen Weltsystems wurde von den WeltsystemforscherInnen um Immanuel Wallerstein (1930−2019) das westeuropäische Ausgreifen auf Nordosteuropa und die Amerikas ab dem 16. Jahrhundert angenommen, wodurch diese Regionen als Zulieferer von billigen Nahrungsmitteln und Rohstoffen zu weltwirtschaftlichen Peripherien wurden und damit die Kapitalakkumulation in den Zentren unterstützten. Schrittweise wurde der Rest der Welt inkorporiert, bis im 19. Jahrhundert sämtliche Weltregionen den Funktionsmechanismen von Expansion, Erschließung und funktionaler Eingliederung in eine ungleiche Arbeitsteilung unterworfen waren.9 Im Laufe der Zeit differenzierten sich die Ansichten zu Beginn, Periodisierung, Reichweite und Art der Beziehungen im Weltsystem aus.10 Andre Gunder Frank löste sich von der Vorstellung eines ursprünglich europäischen Weltsystems und entwickelte einen globalen Analyserahmen eines einzigen weltumspannenden Systems, dessen entwickeltste Zentren er bis ins 19. Jahrhundert in Ostasien verortete.11 Auch Giovanni Arrighi stellte in seinen Spätwerken eine sino-zentrische Welt in den Mittelpunkt seines Weltsystem-Modells, bis im 19. Jahrhundert das kapitalistische Weltsystem unter europäischer Führung Platz griff.12

Was die Weltsystem-ForscherInnen über alle Kontroversen hinweg eint, ist die Erzählung über die Aneignung von Ressourcen aus den Peripherien, die systematisch in die Zentren der Weltwirtschaft transferiert werden. Zentren, Peripherien sowie die im Aufstieg oder im Abstieg befindlichen Semiperipherien werden als Ausdruck historischer Kräfteverhältnisse begriffen. Ändern sich innere oder äußere Rahmenbedingungen, dann unterliegen Zentrenbildung und Peripherisierung Veränderungen: dies betrifft sowohl die Grundlagen, auf denen die räumliche Polarisierung vonstatten geht, als auch die geographische Verortung der Zentren, Peripherien und Semiperipherien.

Durch die Verbindung mit dem weltsystemischen Kontext wurde das Zyklen-Modell modifiziert. Die weltsystemische Herangehensweise verband die zyklische Bewegung der Kapitalakkumulation mit der das kapitalistische Weltsystem durch Ungleichheit und Abhängigkeit prägenden Arbeitsteilung, die im klein- und großräumigen Maßstab Zentren und Peripherien hervorbringt. Vor diesem Hintergrund wirken sich Auf- und Abschwung für Zentren und Peripherien nicht in der gleichen Weise aus. Der Übergang aus einer Depression in neue Prosperität lässt sich nicht nur an der sektoralen und technischen Erneuerung festmachen: da der Übergang mit der verstärkten Integration von Peripherien ins Weltsystem verbunden ist, wobei diese als Quelle der Regeneration für das Gesamtsystem fungieren, wirkt der Zyklus auf die räumliche Lage von Zentren und Peripherien und damit auf die Raumstruktur des Weltsystems. Dies kann zu einem Aufstieg von Peripherien oder Semiperipherien zu Zentren, zum Abstieg ehemaliger Zentren oder Semiperipherien führen; es kann allerdings auch im Falle von Peripherien zu einer neuen Ausprägung von Peripherisierung führen, etwa zur Verwandlung von einer Rohstoffperipherie in eine Peripherie, die als Ausgleichs-, als Tourismusregion oder als verlängerte Werkbank fungiert. Expansion im Aufschwung bedeutet vermehrte Nachfrage der Zentren nach Rohstoffen – für Rohstoff-Peripherien ist dies mit verstärkter Ausbeutung, Inwertsetzung und Durchdringung verbunden, die primär auf den Abtransport der Ressourcen ins Zentrum gerichtet ist; dies erfordert jedoch auch Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur, Lager sowie Rohstoffaufbereitung und erste Verarbeitungsschritte. Als Produktionsstandorte werden Peripherien überhaupt erst dann attraktiv, wenn die Prozessinnovationen im Zentrum bereits abgeschlossen sind und ausgereifte Teile der Produktion auch von weniger qualifizierten Arbeitskräften durchgeführt werden können. Die damit verbundene Verlagerung der industriellen Produktion in Peripherien konzentriert sich auf Wirtschaftszweige, die in den alten Industrieländern ihre Leitfunktion bereits eingebüßt haben; die Verlagerung in die Peripherie wird zudem häufig von Unternehmen betrieben, die lediglich arbeitsintensive Teile der Produktion an periphere Standorte auslagern, während die leitenden und wertschöpfungsintensiven Unternehmensfunktionen in den alten Zentren verbleiben, sodass Wachstum durch nachholende Industrialisierung nicht notwendigerweise mit Entwicklung einhergeht, sondern die internationale Arbeitsteilung auch neue Formen der Abhängigkeit der Peripherien von den Zentren nach sich zieht. In den Zentren geht die Wachstumsdynamik im nächsten Zyklus hingegen auf einen neuen Leitsektor über; im Zuge dieser Umstrukturierungen können sich auch neue Standorte als Industriezentren konsolidieren und alte Industrieregionen ins Abseits drängen.

Solange die Verlagerung in die Peripherie von den Zentren gesteuert wird, bleibt die Abhängigkeit von diesen bestehen. Die Erschließung von Peripherien für Rohstoffextraktion oder als Standort für arbeitsintensive Industrialisierung kann jedoch auch Impulse auslösen, die nicht nur neue Zentrenbildung in der Peripherie, sondern einen Aufstieg einer Peripherie zu einem Zentrum der Weltwirtschaft einleiten. Ob dies gelingt, hängt vom Verlauf der Konjunktur, von Änderungen bei der Steuerung globaler Güterketten, der staatsrechtlichen Verfasstheit und den wirtschaftspolitischen Maßnahmen vor Ort, aber auch von der Fähigkeit eines Staates bzw. einer Region ab, sich gegenüber konkurrierenden Anwärtern auf ein upgrading durchzusetzen. Größe, Ressourcenausstattung, industrielle Tradition, vorhandene Qualifikation, Kapitalausstattung und politisch-institutionelles Gefüge sind ausschlaggebend dafür, ob ausländische Direktinvestitionen in abhängige Industrialisierung oder regionale industrielle Zentrenbildung transformiert werden können.13 Eine weltsystemische Perspektive verwandelt die von Kondratieff und Schumpeter entwickelten Zyklen damit zu einem Instrument für die Analyse globaler Ungleichheit.

Dabei lässt sich das weltsystemische Zyklenmodell nicht nur für die peripherisierenden und Ungleichheit hervorbringenden Kräfte der Kapitalakkumulation anwenden, sondern auch für die dadurch ausgelösten Formen von Gegenbewegungen, Protest und Widerstand. Einerseits betrifft dies den Widerstand von Modernisierungsverlierern, die technologische bzw. organisatorische Neuerungen als Angriff auf ihre Wettbewerbsfähigkeit als Unternehmer, Arbeitskräfte oder als Region bekämpfen – also gegen Konzentrationsprozesse, die ihre unternehmerische Existenz bedrohen, gegen Dequalifizierung, neue Systeme der Arbeitskontrolle und Lohndrückerei, oder gegen die Verwandlung einer Region in eine Zulieferrolle für externe Auftraggeber. Andererseits ist auch das Bemühen um nachholende Entwicklung und Überwindung von Abhängigkeit eine Art von Gegenbewegung, die periphere Regionen gegenüber den zentralen Akteuren sowohl in Form von Integrationsforderungen als auch in Form von Abkoppelungs- oder Sezessionsbemühungen einschlagen. In dem Maße, wie sich die Positionen von Zentrum und Peripherie im historischen Prozess verschieben und ehemalige Peripherien bzw. Semiperipherien zu neuen Zentren aufsteigen, verkehrt sich der Widerstand in einen Konkurrenzkampf zwischen den ehemals führenden, nun absteigenden Zentren und den aufsteigenden Zentren, wie wir dies im Protektionismus und den Selbstbehauptungsbemühungen der alten Industrieländer und immer noch führenden globalen Hegemonialmächte, den USA und der EU, gegenüber den zu neuen Zentren aufsteigenden Semiperipherien des globalen Südens beobachten können.

Das Zyklus-Modell

Gehen wir nun die Dynamik von Prosperität, Rezession, Depression und Erneuerung im Verlauf eines Kondratieff-Zyklus im Einzelnen durch.

Jede Prosperitätsphase ist durch ein Leitprodukt bzw. einen Leitsektor, eine Leittechnologie, eine Antriebstechnik (Wasserkraft  Dampfkraft  Elektromotor) sowie eine Organisationsform des Produktionsflusses (zentrale Transmissionsanlage  Maschinen mit Einzelantrieb  Automation  Fließband Robotik) gekennzeichnet, die Wachstum und Expansion hervorbringen. Sie trägt jedoch bereits den Keim der Rezession in sich, die aufgrund der Übersättigung der Märkte, der Erschöpfung von Nachfrage und Gewinnmargen, verbunden mit dem Erstarken von Konkurrenten eine Krise auslöst. Die überhitzte Boom-Phase vor dem Kipppunkt wird auch als Juglar-Zyklus gefasst.14 Der Krise (Rezession) folgt die Depression. Depressionsphasen sind von Niedergang und Zusammenbruch gekennzeichnet, gleichzeitig aber auch von der Suche nach Erneuerung: Rationalisierungen in bestehenden Branchen, Produktinnovationen in neuen Sektoren, Erschließung neuer Technologien, Rohstoffe bzw. Substitute, Senkung der Arbeitskosten durch wissenschaftliche Betriebsführung (Fabriksystem, Taylorismus, Fordismus, Just-in-time) im Zentrum und Erschließung von Rohstoffquellen bzw. verlängerter Werkbänke in der Peripherie. Dies ist der Moment, in dem aus der »schöpferischen Zerstörung«, die in der Depression zu Firmenzusammenbrüchen und zur Entlassung von Beschäftigten führt, eine Quelle der Innovation wird. Im Übergang von der Depression (B-Phase) in die Erholung (A-Phase) verändern sich auch die politökonomischen Rahmenbedingungen in den einzelnen Staaten, d. h. die gesetzliche, institutionelle, innen- und außenpolitische Einbettung und Absicherung der jeweils eingeschlagenen neuen Akkumulationsstrategie. Wenn nötig, werden Produktion und Nachfrage dabei auch mit militärischen Mitteln stimuliert – weil Rüstung Wirtschaftswachstum generiert; und zwar in der Gewissheit, dass Kriegszerstörungen die Basis für einen nächsten Aufschwung legen würden. Zur Orchestrierung auf der staatlichen Ebene gesellen sich Bemühungen um international koordinierte Regulierung, von denen sich arrivierte Produzenten die institutionelle Absicherung ihrer Expansion erwarten, Entwicklungs- und Schwellenländer hingegen Hilfe bei der nachholenden Entwicklung.15

Prosperität und Rezession sind also ebenso eng aufeinander bezogen wie Depression und Erholung und markieren die entscheidenden Übergänge im Laufe einer langen Welle. Sie bringen die zyklische Dynamik von Wachstum, Erschöpfung, Zusammenbruch und Neuformierung zutreffender zum Ausdruck als die bloße Untergliederung in A-Aufschwung- und B-Abschwung-Phasen.

Schumpeter entwickelte auf dieser Basis ein historisches Ablaufschema der Kondratieff-Zyklen.16 Er nahm eine präzise Datierung der Zyklen und Kipppunkte vor, die allerdings unter WirtschaftshistorikerInnen nicht unumstritten blieb, nicht zuletzt aufgrund großer regionaler Unterschiede in den Ablaufmustern.

Schumpeter setzte den 1. Kondratieff-Zyklus mit der ersten Hochphase der Industriellen Revolution in Großbritannien um das Jahr 1788 an, dessen Prosperität bis 1801 währte und mit den französisch-britischen Auseinandersetzungen an seine Grenzen stieß. Der Wiener Kongress (1814/15) markiert den Übergang in eine Depressionsphase. Sie fiel mit dem Vulkanausbruch des Tambora in Indonesien (1815) zusammen, dessen Dunstschleier Europa erfasste und eine Agrar- und Hungerkrise auslöste.17 Der 1. Kondratieff-Zyklus war von der Mechanisierung der Baumwollindustrie getragen, als Leittechnologie fungierte die Spinnmaschine, als Energieträger die Dampfkraft bzw. die Wasserkraft, die über Werkskanäle zur zentralen Transmissionsanlage der Fabrik geleitet wurde. Eric Hobsbawm (1917−2012) charakterisierte diesen Zyklus durch die »doppelte Revolution«, d. h. die politische Revolution in Frankreich und die industrielle Revolution in England.18 Die politische Restauration des Vormärz war von einer Konsolidierung der Fabrikindustrie und deren Ausweitung auf weitere Sektoren und Produkte gekennzeichnet.

Der 2. Kondratieff-Zyklus währte von 1843 bis 1897. Schumpeter bezeichnete ihn als »bürgerlichen Kondratieff«. Seine Prosperität erhielt erste Risse mit der Weltwirtschaftskrise 1857, die eine spekulationsgeleitete Gründerzeit einleitete, und kippte mit der Weltwirtschaftskrise 1873 in die Rezession, die unmittelbar eine schwere Depression auslöste. Den Leitsektor der A-Phase bildete die Eisen(bahn)industrie mit Folgewirkungen auf Stahl- und Maschinenindustrie. Die Krise brachte eine einschneidende Umstrukturierung der Wirtschaft in Richtung einer neuen Unternehmensorganisation und -führung. Der vielseitig versierte Gründerpionier wich dem Spezialisten in der Unternehmensführung und der Konzentration in Kapitalgesellschaften. In der Erholungsphase griff die Industrialisierung auf Prozesse der Elektro-, Chemie- und Nahrungsmittelindustrie über, die schließlich den 3. Kondratieff-Zyklus in Gang brachten, der 1898 einsetzte.

Dieser war durch den Übergang von der zentralen Transmissionsanlage auf Einzelmotorenantrieb gekennzeichnet. Die Automatisierung der Fabrikproduktion stellte höhere Anforderungen an die technische Qualifikation der Facharbeiter und erforderte neue Methoden des Produktivitätsmanagements. Die Fabrik wurde nach tayloristischen Prinzipien durchorganisiert, Lebensführung und Lebensläufe durch Lohnarbeit, Urbanisierung, regulierenden Zugriff des Staates, Mobilität und Kommodifizierung maßgeblich verändert. Die auch als zweite Gründerzeit bezeichnete Prosperitätsphase kippte 1911 und leitete in eine lang andauernde Depression über, die durch die Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und den USA um die Nachfolge der britischen Hegemonie in den beiden Weltkriegen geprägt war. Schumpeter bezeichnete den 3. Kondratieff-Zyklus aufgrund der zugespitzten Konkurrenz zwischen den Großmächten, die in der B-Phase durch Abschottung im Kampf um Märkte ausgetragen wurde, als »neo-merkantilistisch«. Alternativ kursiert die Bezeichnung als »imperialistischer Kondratieff«.19 Der Krisenüberwindungsmechanismus des klassischen Imperialismus, d. h. räumliche Expansion der Märkte und Kapitalexport zur Erschließung von Kolonien und abhängigen Gebieten, war allerdings bereits zur Überwindung der Depression des 2. Kondratieff zum Einsatz gekommen.20

Die Weltwirtschaftskrise von 1929/31 stellt sich verglichen mit den großen Vorgänger- und Nachfolgekrisen 1873 und 1973/74 aufgrund ihrer Einbettung in das Zeitalter der beiden Weltkriege bzw. die Zwischenkriegszeit und der Eigendynamik der politischen Ereignisse komplizierter dar.21 Denn während der Erste Weltkrieg als lang andauernde Depression angesehen werden kann, war er gleichzeitig auch ein letztes Aufgebot, um mit der Nachfrage nach Kriegsgütern die A-Phase der Zweiten Gründerzeit zu verlängern. Für die Achsenmächte scheiterte diese Erneuerung jedenfalls mit der Niederlage, die den Zerfall der Reiche, neue Staatsgründungen und im Fall Russlands eine gesellschaftliche Revolution und die Gründung der UdSSR nach sich zog. Für die USA leitete der Kriegseintritt, ohne selbst durch Kriegshandlungen in Mitleidenschaft gezogen zu werden, den Aufstieg zur weltwirtschaftlichen Führungsmacht ein.

Aus der Perspektive der Bevölkerungsmehrheit kann der Dienst im Militär, in den Produktionsschlachten und an der Heimatfront ohnehin nicht mit »Aufschwung« gleichgesetzt werden. Er war Krise schlechthin, auch wenn diese auf (fast) allen Seiten patriotisch überhöht wurde. Die Kriegswirtschaft eröffnete aufgrund der militärischen Sachzwänge die Gelegenheit, Management- und Kontrollregime einzuführen, die auch in Friedenszeiten anwendbar waren. Anhänger des Sozialismus deuteten die starke Durchgriffsgewalt des Staates auf die Wirtschaft gar als Vorbild für eine planwirtschaftliche Lenkung.22

Der Wiederaufbau nach dem Ersten Weltkrieg hatte aufgrund der Desintegration der Reiche, der Grenzkonflikte und Bevölkerungstransfers sowie der Auseinandersetzungen um die politische Verfassung der Nachfolgestaaten keinen belebenden Effekt. Es war eine Fortsetzung der wirtschaftlichen Depression. Wiederaufbaukredite wurden an restriktive Budgetpolitik gebunden, eine monetaristische Wirtschaftspolitik würgte Wachstumsimpulse ab. Den Siegermächten der Entente und den mit ihnen verbündeten Staaten bot die durch die Friedensverträge geregelte Nachkriegsordnung dabei allerdings günstigere Ausgangsbedingungen als den Verlierern. Während die Sowjetunion auf die sozialistische Transformation konzentriert war, konnten die USA die Unversehrtheit nach dem Krieg zum Ausbau ihrer wirtschaftlichen Vormacht in der Weltwirtschaft gegenüber den alten Kolonialimperien nutzen.

Der Zusammenbruch der New Yorker Börse am 24. Oktober 1929 führte mit seinen Rückkoppelungseffekten zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise. Internationale Dollar-Kredite wurden abgezogen, es kam zu Firmen- und Bankenzusammenbrüchen sowie Preiseinbrüchen bei Rohstoffen. Die Folge war ein massiver Rückgang in der Produktion und im Außenhandel. Deflationistische Wirtschaftspolitik verstärkte den Niedergang. Die internationale Koordination der Krisenbewältigung scheiterte. In der Folge zerfiel die Weltwirtschaft in Handels- und Währungsblöcke der Großmächte, die die jeweils eigenen Kolonien und Handelspartner eng an sich banden. Deutschland setzte mangels eigener Kolonien auf den Aufbau eines deutsch beherrschten europäischen Großraums in Osteuropa. Für Schwellenländer wie Brasilien, Mexiko oder die Türkei eröffneten die Turbulenzen in den weltwirtschaftlichen Zentren eine Atempause, die die Inangriffnahme nachholender Industrialisierung erleichterte. Auch die Sowjetunion war aufgrund ihrer Isolierung von der Weltwirtschaftskrise kaum betroffen und forcierte in dieser Zeit den industriellen Aufbau. Während Schwellenländer mit Ambitionen eigenständiger Wirtschaftspolitik die Krise also für eine Stärkung ihrer Nationalökonomien nutzen konnten, erlebten die Zentren eine Lähmung, die sie auf ihre Kolonien und Hinterhöfe übertrugen.23

Über den Zeitpunkt, an dem aus der Depression die Bedingungen für neues Wachstum erwuchsen, gibt es unterschiedliche Einschätzungen. Der New Deal in den USA (1933−1938) sowie die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in NS-Deutschland kamen zu spät und brachten kein Ende der Depression. Eine Erholung der Wirtschaft zeichnete sich erst mit der Rüstungskonjunktur im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs ab. Wie im Ersten Weltkrieg waren viele kriegswirtschaftliche Umstrukturierungen mit Modernisierungen verbunden, die bereits als Erholung und Neustart interpretiert werden können,24 zumal sie im Wiederaufbau fortgeführt wurden. Elend und Zerstörung sowie die politische Neuordnung der internationalen Kräfteverhältnisse sind allerdings dafür ausschlaggebend, dass der Beginn der nächsten A-Phase gemeinhin erst mit dem Kriegsende datiert wird.25

Schumpeter starb 1950 und machte in seinen Schriften keine klaren Angaben zur Datierung. Nun traten die Nachfolger von Kondratieff und Schumpeter auf den Plan und begannen, die Schriften und die Daten nach möglichen sinnvollen Eckpunkten für die Periodisierung des Zyklus zu durchforsten. Eine formale Bestimmung der Dauer steht einer inhaltlichen Bestimmung gegenüber.

Zyklen als Generationenfolge?

Bei der Suche nach den Gesetzmäßigkeiten, die der Kondratieff’schen Welle von 50 bis 60 Jahren zugrunde lagen, wurde dem Generationenwechsel eine bestimmende Rolle beigemessen.26 Fernand Braudel beschrieb den Kondratieff-Zyklus als eine lange Welle, »die reichlich ein halbes Jahrhundert oder zwei Generationen umfasst« und bettete diese in langfristigere, Jahrhunderte überdauernde säkulare Trends ein. »Nimmt man beide Bewegungen, langfristigen Trend und Kondratieff-Zyklus zusammen, erhält man eine Konjunkturmelodie von längerer Dauer«.27 Dementsprechend vereinigt ein Zyklus zwei Generationen. Unter der Annahme einer Dauer von 27,5 Jahren entspricht dies rund 55 Jahren, innerhalb derer die Produktivkräfte einer Generation an die nachfolgende übertragen werden. Damit wird der (Generationen)-Zyklus zur vorgegebenen Messlatte, aus der sich die im Generationenwechsel auftretenden Veränderungen quasi automatisch ableiten lassen.28 Der Zyklus läuft auf diese Weise allerdings Gefahr, zu einem starren Korsett zu werden, das sowohl von den Schwankungen des Generationenwechsels als auch vom Tempo der Erneuerungsinnovationen absieht, die sich zwar regelmäßig nach einer Rezession einstellen, aber nicht immer und überall und auch nicht im selben Tempo.

Differenzen bestehen in der Frage, ob das Zyklen-Schema als anthropologische Konstante anzusehen ist und daher auch auf frühere Perioden, wenn nicht die Menschheitsgeschichte generell, angewandt werden kann, oder ob es sich dabei um ein Phänomen des Kapitalismus bzw. der kapitalistischen Industriegesellschaft handelt. Im ersteren Fall würde es keinen Sinn ergeben, den Zyklus 1788−1842 als »Ersten« zu betrachten; in der Tat bezogen sich Kondratieff und Schumpeter auf einen Vorgänger-Zyklus von 1733−1787, sahen jedoch aufgrund mangelnder Daten von einer Konkretisierung ab. Sie entwickelten ihre Zyklentheorie als ein Modell, dessen Aussagekraft erst seit der Industriellen Revolution Relevanz besitzt.

Um Kondratieff-Zyklen nicht zum Korsett zu machen, sondern sie als dynamischen Interpretationsrahmen zu nutzen, ist eine inhaltliche Auseinandersetzung notwendig. Welche Leitsektoren, Antriebs-, Energie- und Organisationssysteme, Produkt- und Prozessinnovationen charakterisieren einen Zyklus? Welche Veränderungen machen einen Zyklus aus, und an welchen Indikatoren lassen sich diese festmachen? Während sich die Lange-Wellen-Theoretiker der ersten Generation hauptsächlich an Preis-, Lohn-, Produktions- und Beschäftigungsindizes und ihrer Synchronisierung abgearbeitet haben, um die Phasen und Wendepunkte zu bestimmen, wurden später weitere Faktoren als Zyklus-relevant erkannt: politökonomische Verfassung und Regulierung, Regime der Arbeitsorganisation und der Arbeitskontrolle. Diese stimmen zeitlich nicht immer überein, sodass größere Flexibilität in der Periodisierung notwendig ist als das standardisierte Generationen-Schema. Die Beschleunigung der technischen Innovation im Übergang vom industriellen zum kybernetischen Produktionsprinzip lässt zudem Verkürzungen in der Dauer der Zyklen plausibel erscheinen.29

Durch die Einbeziehung des Zusammenspiels von Wirtschaft und Politik in den zyklischen Wandel wurde der ökonomische Determinismus, der dem Modell der langen Wellen lange anhaftete, aufgebrochen: Insbesondere in Zeiten, in denen – im Übergang von der Depression in die Erholung – Innovationen hohe Investitionen erfordern, springt die öffentliche Hand durch Förderungen, Haftungen und Bereitstellung der erforderlichen Infrastrukturen regelmäßig ein, während ihre sozial-, regional- und finanzpolitische Intervention in Boom-Phasen von Kapitalseite als wettbewerbsverzerrend abgelehnt wird. In ähnlicher Weise verändert sich auch das Verhältnis von produktiver Investition und finanzieller Veranlagung im Zyklenverlauf. Verliert die Investition in die Realwirtschaft, die durchaus auch die den Dienstleistungssektor und die IT-Sphäre einschließt, an Rendite, wie dies mit der Abschwächung des Wachstums am Ende der Prosperitätsphase üblich ist, fördert dies die Flucht in die spekulative Sphäre des Finanzsektors. Gelingt es nicht, die Finanzialisierung wieder in produktive Investitionen zu kanalisieren, ist ein erneuter Aufschwung gefährdet. Diese Tendenz begleitete die Zeitspanne nach der Weltwirtschaftskrise 1973/4 und ist mit ein Grund, warum BeobachterInnen Zweifel an dem ab 1990 stattfindenden Aufschwung äußern, der ja durch das Nahverhältnis von Spekulationskapital und dem IT-Sektor geprägt war, das den Boom um 2000 platzen ließ. Umgekehrt waren die 1990er Jahre aber auch die Zeit, als die globale Industrieproduktion durch die Verlagerung der arbeitsintensiven Fertigung in ehemalige realsozialistische Staaten sowie in Schwellenländer des Globalen Südens neues Wachstum erfuhr.

Kontroversen um den 4. Kondratieff-Zyklus

Welche Form und welches Gesicht nahmen also der 4. Kondratieff und die auf diesen folgenden langen Wellen an? Wer vom vorgegebenen Generationen-Konzept ausgeht, datiert den 3. Kondratieff-Zyklus von 1898 bis 1953, gefolgt von der 55-Jahres-Welle des 4. Kondratieff-Zyklus, der demnach bis 2008 währen würde.30 1953 kann als das Jahr angesehen werden, in dem die Kriegsfolgen beseitigt waren und allseits ein kontinuierlicher Wirtschaftsaufschwung einsetzte.

Überzeugender ist es jedoch, den 4. Kondratieff von 1945 bis 1990 anzusetzen,31 also rund 45 Jahre, mit der Weltwirtschaftskrise 1973/74 als Zäsur hin zu Rezession und Depression bis 1981, sowie einer Reorganisationsphase des globalen Kapitalismus, die um 1990 den Anbeginn eines 5. Kondratieff-Zyklus einleitete. Der 4. Kondratieff-Zyklus war in seiner A-Phase vom Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg gespeist, der ungeahnte Nachfragepotenziale bei Konsumgütern mobilisierte und auf zahlreiche vor- und nachgelagerte Sektoren ausstrahlte. Als Leitsektoren gelten die Automobilindustrie und die Petrochemie, als Antriebsenergie Erdöl und Erdgas sowie Atomkraft, arbeitstechnisch dominierte die Fließbandarbeit, arbeitsorganisatorisch zogen flexiblere Anordnungen in die Produktionshallen ein, die höhere Anforderungen an die Arbeitskräfte stellten und diese durch betriebliche Anreizsysteme und Kompromisse mit den Gewerkschaften zu höheren Leistungen motivierten. Staatlicherseits wurde das – nach Henry Ford benannte – fordistische Modell durch Arbeits- und Sozialgesetze in den westlichen Industrieländern zu einem Wohlfahrtskapitalismus umgestaltet, der auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs in Europa die Form eines »arbeiterlichen« Sozialstaats annahm.32 An der Wende von den 1960er- zu den 1970er Jahren sanken die Profitraten, was zusammen mit dem Anstieg der Erdölpreise in der Weltwirtschaftskrise 1973/74 kulminierte.

Die Antworten auf die Weltwirtschaftskrise von 1973/74 hatten zwei Gesichter. Während mehr soziale Mobilität Inklusion und Aufbruchsstimmung vermittelten, standen die wirtschaftlichen Anpassungsmaßnahmen im Zeichen der Kostensenkung durch Rationalisierung, Externalisierung und Auslagerung. Dies ließ die soziale Ungleichheit regional und global ansteigen. 1973/74 steht für den Beginn einer B-Phase. Bildungs-, Arbeitsmarkt-, Ehe-, Familien- und Justizreformen sollten dafür sorgen, dass neue, für die Krisenüberwindung notwendige Qualifikationen erworben und gesellschaftliche Hierarchien und Konventionen überwunden wurden, die die räumliche, berufliche und soziale Mobilität sowie die mentale Bereitschaft für Veränderungen aufhielten. Die Reformmaßnahmen entsprachen in vieler Hinsicht dem antiautoritären Zeitgeist, der mit den sozialen Bewegungen von und nach 1968 heraufgezogen war.33 Die dadurch ausgelöste soziale Dynamik führte dazu, dass die B-Phase in den Zentren der Weltwirtschaft von vielen als Aufschwung erlebt wurde. Dies zeigt, dass die individuelle ebenso wie die kollektive Wahrnehmung von Krise nicht unbedingt mit der Bewegung der ökonomischen Kennziffern übereinstimmen muss.34

Auch wenn die Weltwirtschaftskrise von 1973/74 keine harte Rezession auslöste, ließen sinkende Profite, steigende Löhne und Sozialkosten sowie verschärfte internationale Konkurrenz die Zugkraft der Leitsektoren, die den Fordismus, das Produktions- und Konsummodell des Wiederaufbaus in den Zentren der Weltwirtschaft getragen hatten, erlahmen. Die Reaktionen der großen multinationalen Konzerne lauteten: Rationalisierung und Neuordnung der Standorte im Weltmaßstab. Die Alternative, die viele KapitaleignerInnen in der Phase des Umbruchs bevorzugten, bestand in der finanziellen Veranlagung statt in der produktiven Investition – eine Tendenz, die für den Übergang von einer A-Phase in eine B-Phase charakteristisch ist. Damit – und selbstverständlich auch aus den Erlösen, die die Erdöl produzierenden Staaten in die globalen Finanzen einspeisten – wurde der Kreditrahmen geschaffen, der die Neue Internationale Arbeitsteilung35 überhaupt erst ermöglichte. Ausgereifte Produktionen wurden in Länder des Südens, aber auch nach Osteuropa verlagert, wo sich die damals noch sozialistischen Regierungen davon eine Überwindung ihrer Innovationsblockaden erhofften. Durch die Globalisierung der Güterketten konnten die Kosten für die Erzeugung industrieller Massengüter maßgeblich gesenkt werden; Forschung, Entwicklung und Logistik als wertschöpfungsintensivste Teile der Kette blieben in den alten Industrieländern, während die Newly Industrializing Countries im Billiglohnbereich zum Zug kamen. In den Metropolen erfolgte der Übergang auf neue Leitsektoren und Leitprozesse. Alles zusammen trug dazu bei, dass die Krise in den alten Zentren als Aufbruch wahrgenommen werden konnte. Dazu kam, dass die neoliberale Neuordnung, die zur Wiederherstellung profitabler Kapitalverwertung entstand, zunächst von antizyklischen Programmen überlagert wurde, die die Anpassung an die geänderten Kapitalverwertungserfordernisse hinauszögern wollten, sodass auch die wirtschaftspolitische Wende dem ökonomischen Zyklus hinterherhinkte. Die antizyklische Politik konnte die Anpassungsfolgen von den Kernschichten der ArbeiterInnenschaft in den Zentren allerdings nur unter der Voraussetzung fernhalten bzw. mildern, dass die Kosten externalisiert wurden: Der Preis für die relativ glimpfliche Ausprägung der Depression in den 1970er- und 1980er Jahren war die wachsende Ungleichheit, die mit der Verlagerungsindustrialisierung in die neuen und mit der beginnenden Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse auch in die alten Industrieländer Einzug hielt.

Aus der Perspektive des Verwertung suchenden Kapitals war der Wandel also gelungen. Die Neue Internationale Arbeitsteilung im Verein mit der Digitalisierung der Produktion und der Globalisierung der Güterketten bewirkte die massive Ausweitung grenzüberschreitender wirtschaftlicher Aktivität, abzulesen an der Zunahme des internationalen Handels, der Direktinvestitionen, der Verschuldung und der Finanztransaktionen. In dieser Phase war die Internationalisierung der Produktion von den multinationalen Konzernen getragen. Regierungen der Schwellenländer erhofften sich von den ausländischen Direktinvestitionen Schützenhilfe bei der nachholenden Industrialisierung.36

Mit dem Umbau der Weltwirtschaft ging der Abbau von arbeits-, steuer- und handelsrechtlichen Regulierungen, Auflagen und Beschränkungen für InvestorInnen einher. Die Konkurrenz zwischen den Staaten um möglichst hochrangige und wertschöpfungsintensive Investitionen bewirkte ein racetothebottom, mit der Möglichkeit für die multinationalen Konzerne, einzelne Zulieferer bzw. Staaten gegeneinander auszuspielen und bei Bedarf auszutauschen.

Die erfolgreiche Transformation stellte schließlich auch die »sozialen Errungenschaften« der Lohnabhängigen in den alten Industrieländern in Frage. Flexibilisierung, Prekarisierung und Kommodifizierung der sozialen Sicherheit begannen, das paternalistische Wohlfahrtsstaatmodell des Fordismus abzulösen. Arbeitsrecht und gewerkschaftliche Vertretungen versuchten zu retten, was sie glaubten, retten zu können. Dies gelang nur, wenn der Kreis der Berechtigten auf die klassische, proletarische KernarbeiterInnenschicht eingeschränkt blieb. Daneben wuchs jedoch bereits in den 1980er Jahren der Anteil jener, deren Arbeitsverhältnisse nicht in diese Kategorie passten. Während die ArbeitsmigrantInnen aus Billiglohnländern als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt angesehen wurden, blieben die fernab in Konzerntöchtern, Weltmarktfabriken und freien Produktionszonen werkenden Kolleginnen und Kollegen weitgehend unsichtbar; sie traten in den Erfahrungshorizont der metropolitanen Arbeiterklasse lediglich über die Billigprodukte, die sehr bald als Teil ihrer konsumistischen »Errungenschaften« gefühlt wurden: das einte sie mit den AuftraggeberInnen der globalen Güterketten.

Setzen wir die Argumentation mit dem Zyklus in Verbindung, wurde durch die Reformen und Anpassungsmaßnahmen in der B-Phase nach 1973/74 der Boden für einen nächsten Aufschwung aufbereitet: Dieser manifestierte sich in einer fünften langen Welle.37 Diese durchlebte ihre A-Phase in den Jahren 1990 bis 2008 und kippte mit der Weltwirtschaftskrise von 2008ff. in die Rezession, in der wir uns trotz kurzfristiger, regional und sektoral unterschiedlich verlaufender Schwankungen nach wie vor befinden. Die Prosperität des neuen Zyklus beruhte auf einer neuen Gründerzeit, die sich im Boom der Telekommunikation, dem IT-Sektor und der Biotechnologien manifestierte. Es handelte sich um wissensbasierte Sektoren, die die materielle Grundlage der Chips, Mikroprozessoren, Rechner, Telefonapparate und was dafür als Hardware alles nötig ist, aus den Weltmarktfabriken des globalen »Südens« (dem sich das ehemals sozialistische Osteuropa nunmehr weitgehend zugesellte) bezogen.

Eigentums-, Kommando- und Logistikstrukturen der globalen Güterketten erlebten gegenüber der vorhergehenden Phase allerdings eine Veränderung. Während die Globalisierung der Standorte in der B-Phase des 4. Kondratieff-Zyklus unter der Ägide von multinationalen Konzernen erfolgte, die über Filialen, Töchter, Verlagerungen und Kontrakte mit Zuliefern das Spektrum von Beschäftigungsformen, Kosten und gesetzlichen Auflagen vervielfachten, wurden produzierende Unternehmen im 5. Kondratieff-Zyklus in immer mehr Branchen von sogenannten »globalen Käufern« abgelöst, die als Großhändler, Einzelhandelsketten oder Markeninhaber die Standortkombinationen entlang der Güterkette nicht von der Produktionsseite, sondern von der Nachfrageseite her bestimmen.38 Dies bedeutet, dass die metropolitanen Zentren, die sich in der ersten Phase der Globalisierung der Güterketten die strategischen Bereiche der Wertschöpfung vorbehalten hatten, nicht mehr unersetzlich waren. Das Kommando über globale Güterketten begann sich teilweise in regionale Zentren wie São Paolo, Mexiko City, Hongkong oder Schanghai zu verschieben, die als GlobalCities die Wertschöpfungskette für lokale bzw. transnationalisierte Eliten öffnen konnten. In den NewlyIndustrializingCountries, die nun als die neuen Industrieländer angesehen werden können, verbreitete die Möglichkeit, die nachholende Industrialisierung in regionale Entwicklung und Kapitalbildung zu verwandeln, Aufbruchsstimmung. Dies betraf freilich nur die GewinnerInnen dieser Entwicklung, die, wo immer sie stattfand, die soziale und regionale Polarisierung vorantrieb. In Osteuropa, in der Sowjetunion, in China und in Vietnam, aber auch in Indien stand dies im Zusammenhang mit dem politökonomischen Systemwechsel.

Auch in den alten Zentren, die aufgrund der globalen Verschiebungen in vielen Bereichen wohl besser als ehemalige denn als alte Industrieländer bezeichnet werden können, war die Wahrnehmung des Aufschwungs geteilt. So strahlend die neuen Branchen, so attraktiv die neue Flexibilität, so abenteuerlich die neuen Karrieren, soweit die Digitalisierung und Kommodifizierung der Kommunikation die Lebenswelten der breiten Massen ergriff und nicht mehr weggedacht werden will, geht diese Art des Aufschwungs mit Polarisierung und einer Spaltung der Gesellschaft in Gewinnende und Verlierende einher. Wer zu den Verlierenden gehörte, musste große soziale Einschnitte in Kauf nehmen, die von den Betroffenen als »Krise« gedeutet wurden. Aus hegemonialer Perspektive sind diese Härten Begleiterscheinungen, Zeichen, ja geradezu Bedingungen für den Aufschwung. Denn im Gegensatz zur Prosperitätsphase des Wiederaufbauzyklus nach dem Zweiten Weltkrieg beruhte die IT-Gründerzeit nach 1990 nicht auf der Ausweitung von Massenkonsum und Teilhabe, sondern auf der sozialen Differenzierung des Konsums. Auch wenn das Niveau der Kommodifizierung gegenüber den 1960er Jahren stark angestiegen ist, sind die unteren sozialen Schichten in den exklusiven 1990er- und 2000er Jahren in viel stärkerem Ausmaß von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen als in den inklusiven 1960er- und 1970er Jahren. Die Kriterien für In- und Exklusion haben sich aufgrund der geänderten Konsum- und Kommunikationsgewohnheiten maßgeblich verändert, sodass das blanke Elend verarmender und verarmter Schichten heute nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. Wenn von einem erfolgreichen Aufschwung gesprochen wird, bezieht sich dies also nicht auf die Ausweitung der gesellschaftlichen Teilhabe, sondern auf die Erholung der Akkumulationsgrundlagen.

Damit wiederholt sich das Paradox der Wahrnehmungsebene unter umgekehrten Vorzeichen. Während die die 1970er Jahre prägende Rezession als Aufschwung gedeutet wurde, erschien der Aufschwung der 1990er Jahre vielen Beteiligten als Krise.39 Die russischen Forscher Grinin, Grinin und Korotayev interpretieren die A-Phase des 5. Kondratieff als retardierte Entwicklung mit geringem Anschubpotenzial, was sich auch in der kurzen Dauer der Prosperität niederschlug.40 Sie sehen die Neuerungen eher als Implementierung bekannter Technologien denn als durchschlagende Innovationen und führen dies auf die ungleiche globale Verteilung zurück, die es verunmöglichte, das Wachstum- und Innovationspotenzial der Schwellenländer voll auszuschöpfen.

Gegen die These von der Erholung aus der Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahre, die Überwindung des Fordismus in den alten Industrieländern und den Anbruch einer 5. Kondratieff-Welle auf Basis von Informations- und Biotechnologien als neuen Leitsektoren haben vor allem marxistische WissenschaftlerInnen Einwände erhoben.41 Der IT-Boom der 1990er Jahre sei eine kurzfristige Blase gewesen, die keineswegs als Ausdruck einer Produkt- und Prozessinnovation interpretiert werden darf. Er zeigte viel eher, dass die Digitalisierung, die als Ausweg aus der Profitklemme der fordistischen Massenproduktion eingeschlagen wurde, die in sie gesetzten Erwartungen als Motor eines neuen Aufschwungs nicht erfüllen konnte. Es entstand dadurch kein neuer, die Expansion tragender Leitsektor. Dazu kam, dass die Finanzialisierung der Weltwirtschaft in den 1990er- und 2000er Jahren erst so richtig in die Gänge kam, sodass die für Depressionsphasen charakteristische Flucht ins Finanzgeschäft anhielt. Dies legt die Schlussfolgerung nahe, dass der Aufschwung bloß fiktiv, eine optische Täuschung, eine große Blase war, die durch ihre krisenhafte Zuspitzung auf die produktive Sphäre zurückwirkt. Von Erholung also keine Spur. Dass es so lange nicht zum großen Krach kam, schreibt Thomas Kuczynski der Nachfragebelebung zu, mit der der Kalte Krieg in den 1980er Jahren die Rüstungsindustrie stimulierte, während die Öffnung der osteuropäischen Staaten nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus dem westlichen Kapital ein weites Feld von Märkten und Übernahmen sowie eine tabularasa staatlicher Arbeits- und Sozialpolitik bescherte. Auch die Kriege gegen den Irak und gegen die Taliban in Afghanistan und Pakistan sowie die militärischen Interventionen in die Bürgerkriege in Libyen, im Tschad und in Syrien, in die die USA ihre Bündnispartner hineingezogen haben, können aufgrund der die Nachfrage belebenden Wirkung der Kriegswirtschaft als Faktoren des Hinauszögerns eines großen Krachs interpretiert werden.

Diese Lesart der konjunkturellen Bewegung impliziert, dass es nach der Weltwirtschaftskrise von 1973/74 keine Erholung, sondern eine lang andauernde Depression gab. 1973/74 erschiene dann nicht als vollwertige Krise, die einen Übergang vom A- in den B-Zyklus einleitete, sondern als kurzfristiger Konjunktureinbruch, der sich 1980−82, 1987, 1990/91 und 2001 fortsetzte, jedoch vorerst nicht den großen Krach herbeiführte. Dieser Interpretation folgend befände sich die Weltwirtschaft heute mitten im 4. Kondratieff-Zyklus, der mit der Krise von 2008 ff. (mit einiger Verzögerung) von seiner A-Phase in die B-Phase überging – eine andere Spielart von businessasusual. Alles, was als Basis eines Aufschwungs in Form eines fünften Kondratieff-Zyklus erschien, wäre demnach lediglich ein Element des Managements und wiederholten Verlängerns einer langen Depression, die sich schließlich 2008 manifestierte.

Eine ganz andere Interpretation setzte dieser Analyse der deutsche Ökonom Leo A. Neofidow entgegen. Auch er sieht, wenn auch aus anderen Gründen, Probleme bei der Einordnung der 1990er Jahre. Für ihn war der 5. Kondratieff nur von kurzer Dauer, und er lässt seinen 6. Kondratieff bereits 1997 mit Medizin- und Biotechnologien als neuen Leitsektoren anbrechen, deren Zukunft als Heils- und Wachstumsbringer für die Menschheit er sehr optimistisch einschätzt.42 Mit dieser Datierung ist Neofidow unter den WirtschaftswissenschaftlerInnen ziemlich allein auf weiter Flur, während es in der Beurteilung der Sektoren, die den nächsten Aufschwung tragen, weitgehende Übereinstimmung gibt.

Die Schwierigkeit, hier und heute die aktuelle Form des Zyklus zu bestimmen, resultiert aus dem mangelnden zeitlichen Abstand und der Versuchung, kurzfristige Phänomene langfristig zu deuten. Sie wirft aber auch einen Schatten auf das Zyklenmodell als solches, jedenfalls auf seine Prognosetauglichkeit. Wann schlug die Depression, die der Rezessionsphase im Gefolge der Weltwirtschaftskrise 1973/74 folgte und das neoliberale, auf einer neuen internationalen Arbeitsteilung, der Digitalisierung sowie der Ausweitung von Kreditvolumen und Finanzgeschäften beruhende Akkumulationsmodell einleitete, in neuerliche Erholung, also in einen neuen »Kondratieff A« um? Wenn manche Autoren meinen, die seither stattfindenden rezessiven Einbrüche von 1980−82, 1987, 1990/91 und 2001 seien Fortsetzungen eines lang andauernden Abschwungs, der seinen bisherigen Tiefpunkt in der Weltwirtschaftskrise 2008 ff. fand, verwechseln sie langfristige Konjunkturzyklen bzw. Akkumulationsregime mit kurz- und mittelfristigen Schwankungen.

Zukunft der zyklischen Erneuerung

Die Einschätzung der Zukunft der den Kapitalismus gliedernden langen Wellen der Konjunktur hängt maßgeblich davon ab, ob Kapitalismus als ein immerwährendes oder ein endliches System angesehen wird. Unter Linken verschiedenster Couleur gibt es keinen Zweifel über die Endlichkeit des Systems, das aufgrund des Auseinanderklaffens von Produktivkräften und den diese durch Privateigentum und Profitinteresse einengenden Produktionsverhältnissen zum Zusammenbruch neige; zu den systemischen Widersprüchen auf der Ebene der Produktivkräfte tritt der Interessensgegensatz zwischen Kapitaleignern und jenen, die nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben, als dynamisierendes Element eines revolutionären Umbruchs. Die Sehnsucht nach der Revolution hat Generationen von sozialistischen Theoretikern und Praktikerinnen in das Fettnäpfchen treten lassen, das sie den Umbruch als demnächst bevorstehend annehmen ließ; die Revolution trat nur in wenigen Fällen ein, auch dies nur regional statt wie erhofft als Weltphänomen und in ihren Auswirkungen auch fast nie so, wie es die Revolutionäre anvisiert hatten. Wenn Sozialisten den Kapitalismus als zyklisches Auf und Ab von Hochkonjunktur, Krise und Anpassung begriffen, dann endete diese Perspektive spätestens mit dem Moment, an dem der Kapitalismus überwunden sein und die Produktivkräfte nicht mehr an den sie einengenden Produktionsverhältnissen anstoßen würden. Die Krise im System würde in eine Krise des Systems umschlagen und damit die wiederkehrende Abfolge von A-Phasen und B-Phasen außer Kraft setzen.

Bürgerliche Zyklentheoretiker müssen sich nicht mit diesem Transformationsproblem herumschlagen.43 In der bürgerlich-liberalen Ausprägung bereitet die »schöpferische Zerstörung« das Terrain für eine neue Welle von Innovationen auf, ein politischer Systemwechsel ist dafür nicht erforderlich; Phasen der autoritären Ausschaltung parlamentarischer Mitbestimmung, die Menschen gegen ihren Widerstand dazu bringen, die sozialen Folgen der »schöpferischen Zerstörung« zu akzeptieren, gelten dabei als Anomalien, können jedoch auch als systemimmanent betrachtet werden. Krise ist somit eine Chance, die das System in periodischen Abständen bietet, um die Struktur und Gepflogenheiten des Wirtschaftslebens dem neuesten Stand von Technik und Management anzupassen. Krise wird im bürgerlich-liberalen Diskurs daher nicht dramatisiert, sondern – mehr oder weniger offen – als willkommener Anlass für die Zurückdrängung von in der A-Phase von der Arbeiterbewegung erkämpften bzw. vom Staat gewährten Leistungen und Verteilungsmechanismen – Steuern, Lohnforderungen, Arbeitsrechte und soziale Sicherung – angesehen; umgekehrt wird vom Staat verlangt, die ins Stocken geratene Kapitalakkumulation zu deblockieren.44 Dabei geht es maßgeblich um die Frage, wer die Kosten einer Krise zu tragen habe: produzierende Unternehmen oder Banken, Groß- oder Kleinbetriebe, Unternehmende oder Lohnabhängige, StammarbeiterInnen oder prekär Beschäftigte mit ihren je spezifischen Interessen. Es liegt dabei im Interesse der stärksten Kapitalgruppen, budgetäre Umwidmungen von sozialen in Stützungsmaßnahmen für Banken und Unternehmen nicht zur Diskussion zu stellen, sondern sie als Sachzwänge zur Rettung des Systems zu postulieren.

In den »goldenen Jahren« der Prosperität nach dem Zweiten Weltkrieg rückte eine Überwindung des historischen Kapitalismus in unerreichbare Ferne. Die Unruhen und Aufstände von 1968, die Immanuel Wallerstein als »Weltrevolution« bezeichnet,45 kündigten bereits die Erschütterung des Systems an. Die Einsicht, dass ein Systemwechsel auf die praktisch-politische Tagesordnung kommen könnte, kam erst im Gefolge der politischen Umbrüche seit den 1990er Jahren auf. Einerseits zeigte der Zusammenbruch des Staatssozialismus auf, dass Systemwandel möglich war. Andererseits trug die Eingliederung der staatssozialistischen Länder in die kapitalistische Weltwirtschaft zwar zunächst zur Krisenüberwindung im Westen bei, schuf damit aber ihrerseits neue Krisen.46

Immanuel Wallerstein eröffnete mit seinem Buch »Utopistik« eine neue Perspektive.47