1.500 Meilen Ostwärts - Möhring Dagmar - E-Book

1.500 Meilen Ostwärts E-Book

Möhring Dagmar

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Beschreibung

Das australische Northern Territory im Jahr 1906: Eigentlich wollten Luke und Elijah nur in Ruhe ihre Gefängnisstrafe absitzen. Doch eine aus dem Ruder gelaufene Auseinandersetzung mit drei Zellengenossen verändert alles. Plötzlich finden sie sich als flüchtige Schwerverbrecher im Busch wieder, mit 13.000 Pfund in bar und verfolgt von der State Police. Nach anfänglicher Ratlosigkeit beschließen sie, sich nach Osten durchzuschlagen, ins 1.500 Meilen entfernte Cairns, wo sie sich Hilfe von Elijahs Schwester Elizabeth erhoffen. Während ihrer Reise durchs Outback kommen sich Luke, Sohn eines irischen Sträflings, und der behütet in einer deutschen Methodistenfamilie aufgewachsene Elijah langsam näher. Aus Freundschaft wird Begehren, schließlich Liebe. Doch lange Flitterwochen sind ihnen nicht beschieden, denn das Polizeiaufgebot rückt näher. Sie beschließen, sich zu trennen: Elijah zieht mit dem Geld weiter, während Luke die Verfolger auf sich lenkt. In dem Minenort Sapphire Springs begegnet Elijah Sugar Cane, einer Barfrau, die ihre ganz eigene Art hat, Probleme zu lösen. Sie bietet an, ihn als Alibi-Ehefrau auf der Flucht zu begleiten. Als eine Zeitungsmeldung ihn und Luke für tot erklärt, ist er am Boden zerstört. Da er nun keine Deckung mehr benötigt, kehrt Sugar nach Sapphire Springs zurück. Unterwegs begegnet Elijah Arthur Moseley, einem ehemaligen Liebhaber. Arthur hat ebenfalls Zeitung gelesen und wittert fette Beute. Es gelingt Elijah, ihn loszuwerden – doch da taucht ein alter Bekannter aus dem Gefängnis auf. Währenddessen wird Luke von der State Police gefangengenommen, kann jedoch später entkommen. Hilfe findet er bei einer chinesischen Familie, deren Tochter er vor den Nachstellungen eines Arbeiters schützt. Auf seiner Weiterreise machen ihm die Leere des Landes, die Einsamkeit und das Einsetzen der Regenzeit zu schaffen. Schließlich erreicht er Cairns, wo Elijah inzwischen unter falschem Namen bei seiner Schwester lebt. Aber ist Luke, nach über zwei Monaten der Trennung, dort überhaupt willkommen? Und wo steckt eigentlich Arthur?

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Dagmar Möhring

1500 Meilen ostwärts

„Du schreibst aber wirklich schlecht.“

Dieser Satz, ausgesprochen von einem angetrunkenen (und mehrfach abgeblitzten) Bekannten, war der Grund dafür, dass Dagmar Möhring im März 2015 einen Kurs für kreatives Schreiben belegte. Andernfalls hätte es das vorliegende Buch nicht gegeben...

Geboren wurde Dagmar 1972 in Marsberg, Nordrhein-Westfalen. Ein gut sortierter Bücherschrank weckte früh literarische Ambitionen, die jedoch dem Einstieg ins Berufsleben zum Opfer fielen. 1999 kam der Umzug nach Hamburg, wo sie heute lebt und arbeitet.

2010: die erste von mehreren Australien-Reisen. 2012 schrieb sie sich an der Kunstschule am Wohlerspark für einen Lehrgang im Fach Zeichnen/Illustration ein. Drei Jahre später fiel der erwähnte Satz. Im Kurs bei Schriftsteller Christoph Ernst entstanden Kurzgeschichten, am Ende wurde die Idee zu 1.500 Meilen Ostwärts geboren.

Dagmar zeichnet, malt, reist nicht so viel, wie sie gern möchte, und arbeitet an einer Fortsetzung ihres Erstlings.

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E–mail: [email protected]

Originalausgabe, August 2018

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

Cover: Dagmar Möhring, ebenso alle Zeichnungen im Innenteil

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik–Designer AGD, Hamburg.

www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt.

ISBN print 978–3–86361–720-2

Zwei Menschen möchte ich danken, ohne die diese Geschichte nicht entstanden wäre:

Schriftsteller Christoph Ernst, für seine Ermutigung und Unterstützung – und für seine Frage während eines Kurses für kreatives Schreiben: „Welche Geschichte wolltet ihr immer schon einmal erzählen?”

Regisseur Milcho Manchevski, für seinen wunderbaren Film ‚Dust’, und die Erlaubnis, die Vornamen seiner Hauptfiguren zu verwenden.

„I have been told by some that I tell horrible stories and by others that I am not sensational enough; and I have personally come to the conclusion that I shall tell just such stories as I please.”

(Einige haben mir gesagt, meine Geschichten seien schrecklich, andere fanden sie nicht sensationell genug. Ich persönlich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich die Geschichten erzählen sollte, die mir gefallen.)

Mary Fortune, Australian Author (1833 – 1909)

Überstellungsbefehl

Datum: 15. August 1906

Name: Elijah Theodore Marsden

Alter: 24 (geb. 10.06.1882)

Grund der Verhaftung: versuchter Scheckbetrug

Mittwoch, 15. August 1906, Pine Creek Police Station

„Name?”

Sein Name stand da. Alles stand da, Hosengröße, Schuhbandlänge, Rechts- oder Linksträger. Die Frage ergab keinen Sinn. Vielleicht war sie eine Art Probe für Neuzugänge – wie der Dictation Test, den potentielle Einwanderer seit Inkrafttreten der White Australia Policy[1] absolvieren mussten. Fünfzig Worte in einer beliebigen europäischen Sprache – englisch, kroatisch, isländisch, was dem durchführenden Beamten gefiel. Auch Staatsangestellte brauchten etwas zu lachen.

„Name?”

Etwas Entsetzliches geschah. Keine dreißig Minuten nach seiner Festnahme tat Elijah das Allerschlimmste: Er verhielt sich renitent. Die Erkenntnis trieb ihm den Schweiß aus den Poren. Er löste die in Gebetshaltung verschränkten Finger und wies auf das Formular. Achtete darauf, dass die Dielenbretter nicht unter seinen Schuhen knarrten.

„Steht da.” Krümeliger Rost in der Kehle. Er wollte neutral klingen, klarmachen, dass es nicht frech gemeint war. Frech war genauso schlimm wie renitent. Wahrscheinlich gab es irgendwo einen Innenhof mit einer Triangel, drei in Zeltform aufgestellte Holzbalken, mit Stricken für die Handgelenke und – damit der Stockmeister es einfacher hatte – einer Auflagefläche im Siebzig-Grad-Winkel. Für Häftlinge, die frech gewesen waren.

„Ich will´s von dir hören.“

Kein Zorn, die Stimme ausdruckslos wie eine beschlagene Scheibe. Bis eben hatte Elijahs Vorstellung von Polizeigewalt in einer Uniform bestanden, die ihn anbrüllte und schreckliche Strafen androhte. Jetzt erfuhr

er, dass Drohungen nicht unbedingt gebrüllt werden mussten.

Er versuchte, der Polizeigewalt hinter dem Schreibtisch nicht in die Augen zu sehen. Der Mann war klein, im Stehen bestimmt nicht größer als fünfeinhalb Fuß[2]. Fleckenlos blaue Uniform, jeder Zoll Stiefel poliert, jeder Messingknopf glänzend und geschlossen. Schütterer Haarkranz, kleiner Kopf, kleiner Mund, ein Vogelhals, der in der Kragenröhre verschwand. Kragenspiegel und ein Namensschild wiesen ihn als Police Inspector S. U. Stokes aus.

Hinter dem Fenster im Rücken des Beamten lagen, wie in der Hitze verdurstete Schafe, die wenigen Häuser von Pine Creek. Dazwischen verschrumpelte Teebäume, beigefarbener Schotter, der sich bemühte, den Eindruck einer Straße zu erwecken. Dem Fenster genau gegenüber eine Scheune, die Tore so weit geöffnet, dass sie praktisch nur aus Eckpfosten bestand. Der Blick wurde in sie hinein und hindurch gezogen, vorbei an Ställen und Geräten, hinaus in die kochende Ebene. Das Skelett eines Gebäudes, sinnlose Dekoration für ein Land, das ihr Fehlen nicht einmal bemerkt hätte.

„Versuchter Betrug, hm?” Inspector Stokes hielt inne, wartete bis die Schreibmaschine am Nachbartisch zu Ende geklackert hatte. Auf seinem eigenen Schreibtisch gab es außer der ledernen Unterlage nur Stempelkarussell, Löschwiege und mehrere Federhalter in einer Schale aus Gusseisen. „Dachtest, die Union Bank in Palmerston[3] könnte einen gefälschten Scheck nicht von einem echten unterscheiden. Nicht besonders schlau, oder?”

Aus der Weite zurück durch die Scheune, zurück durchs Fenster, um die spöttisch hochgezogenen Brauen seines Gegenübers herum, an die Wand. Steckbriefe und Ankündigungen, der Text des Föderationsreferendums von 1899, beginnend mit To the Australian Born[4]. Aus Zeitungen geschnittene Karikaturen von Aborigines und Chinesen. Auf einem großformatigen Plakat marschierten die sechs Gründerväter der Föderation[5], Schriftrollen schwenkend. Ihnen gegenüber ein Vertreter des britischen Empire, dem der Andrang offensichtlich nicht geheuer war. Im Versuch, Australiens drohende Abspaltung vom Mutterland zu verhindern, stand er mit schützend erhobenen Armen vor dem Parlamentsgebäude. Don´t be in such a hurry, Gentlemen[6] bettelte das Spruchband, das sich seinen Rücken hinunterschlängelte.

„Oder?”

„Nein”, sagte Elijah. „Nicht sehr schlau” und dachte an die Triangel.

„Und danach den Zug zu nehmen, war noch viel weniger schlau, siehst du das auch so?”

„Ja”, sagte er heiser, starrte auf die gnadenlos marschierenden Schriftrollenschwenker. „Ja, das sehe ich auch so.”

„Warum denn keine Schiffspassage nach Batavia[7]? Das hätte doch von da oben viel mehr Sinn ergeben. Von einem Scheckfälscher hätte ich an sich etwas mehr Intelligenz erwartet.”

Nicht an Stolz denken. Denk an die Triangel, an Rindlederpeitschen und Blutflecken auf Sand.

„War das erste, was da war.”

„Sir.”

„War das erste, was da war, Sir.”

„Tja, schade ums Fahrgeld.” Inspector Stokes überflog das Einlieferungspapier. „Denn so wie´s aussieht, hättest du dir die Fahrt sparen können.”

Er wählte einen Federhalter Marke Swan, schraubte ihn auf.

„Samstagmorgen geht ein Zug mit einem Abteil für Gefangenentransporte zurück nach Palmerston. Deine Verhandlung findet dort statt, ich nehme nicht an, dass du allzu lange auf einen Termin warten musst. Die drei Tage bis zur Abfahrt darfst du dich als Gast des australischen Staates betrachten.”

Er begann, die Leerstellen auf dem Bescheid auszufüllen, redete weiter.

„Schau, es sieht so aus: Wenn du dich anständig benimmst und den Kopf unten hältst, wird die Zeit hier nicht zum Unangenehmsten gehören, was dir bevorsteht. Falls nicht … nun, sagen wir es so: Es wäre sicher wünschenswert, wenn der Richter annimmt, dass er es mit einem anständigen jungen Mann zu tun hat. Einem, der nur manchmal ein bisschen weniger intelligent ist, als er zu sein glaubt. Denn noch bist du ja nicht rechtskräftig verurteilt. Und wir wollen doch, dass deine Akte schön sauber bleibt, oder?”

Er spielt mit dir. Elijah holte Luft für die Antwort. Spielt mit deiner Hoffnung, spielt mit deiner Angst. Der Gedanke an Stolz sprang auf und ab, winkte mit einer Totenkopfflagge.

„Ja”, sagte er, ignorierte das Winken.

Stokes schraubte den Federhalter zu, blies über das Geschriebene. Die Tinte glänzte schwarz, sank ein, wurde stumpf.

„Dann wären wir soweit durch.” Der Inspector legte das Papier beiseite, verschränkte die Arme auf der Schreibtischunterlage. „Übrigens, hübsche Weste, die du da hast. Und hübscher Haarschnitt. Und …” – Blick über den Tisch – „… auch hübsche Schuhe. Hast Pine Creek wohl mit der Flinders Street in Melbourne verwechselt, kann ja passieren. Jedenfalls werden sich die Jungs im Fanny Bay Gaol[8] bestimmt freuen, wenn du ein bisschen Kultur in ihre Zellen bringst.” Er ließ den Satz wirken, beobachtete, wie er sich einfraß. Dann setzte er einen Stempel auf das Formular, wandte sich an den Nebentisch:

„Constable Davis!”

„Sir!”

„Bringen Sie Mr. Marsden in seine Zelle.”

„Ja, Sir!”

Der Constable kam hinter seinem Schreibtisch hervor.

„Komm, Dandy”, sagte er freundlich, nahm Elijah beim Arm und dirigierte ihn durch das Büro in ein Hinterzimmer. Vorbei an einem weiteren Schreibtisch, einem kleinen Kanonenofen mit Brennholzkorb, Wasserkessel und einer Fünf-Pfund-Teebüchse, hin zu einer zweiten Tür. Er zählte Schlüssel an einem Eisenring ab – natürlich der letzte – überwand den Schlosskasten, dem eine Schraube fehlte, öffnete.

Die Tür schwang nach innen auf, kollidierte mit einem massiven Block abgestandener Luft. Elijah blieb stehen, bekam Constable Davis’ abfälliges Schnaufen ins Kreuz. Und hörte drinnen jemanden sagen …

„Wie is’n das, Jungs, kann ich ne Zigarette haben?”

Ein Augenblick völliger Blindheit, dann Geisterbilder vor Augen. Er stolperte in den Zellentrakt, schale Dunkelheit legte sich um ihn, eine mit Schweiß und Urin durchtränkte Wolldecke.

„Was’n jetzt, krieg’ ich eine?”

Das Dunkel wurde zu grünem Zwielicht. Zwei Zellen, die linke davon voller Dinge, denen eine Abstellkammer fehlte. Ein Stuhl, ein Besen, ein Kutschenrad. In der rechten warf ein Lichtfleck aus einem Fenster weit oben in der Wand Reflexe auf das Eisengitter. Auf der anderen Seite des Gitters lehnte ein Mann. Die Ärmel seines Leinenhemdes waren bis zum Ellenbogen hochgerollt, die Unterarme lagen auf der Querstange. Lässig gekreuzte Handgelenke, als sei er weniger Häftling denn interessierter Zoobesucher. Der Lichtfleck hatte seine Hände gefunden, spielte mit rötlich schimmernden Härchen.

Ehe der Mann zum dritten Mal fragen konnte, bekam er seine Antwort.

„Satz heiße Ohren kannste kriegen.” Davis zählte ein zweites Mal die Schlüssel durch. „Weg von der Tür, O’Connell.”

„Ich bin gar nicht an der Tür.”

„Weg hab ich gesagt.” Schlüsselbärte ratterten das Gitter entlang. Der Gefangene zog seine Hände aus dem Lichtviereck und trat zurück. Ein letztes Flimmern, Kupfer und Gold.

Türangelquietschen. Elijah betrat die drei mal vier Yards[9], die er sich in den nächsten Tagen mit einem Fremden teilen sollte. Die Hälfte der Grundfläche nahmen zwei brettdünne Schlafpritschen ein. Dazwischen ein Zinkeimer, etwa fünf Liter fassend, mit verkrustetem Rand.

„Hände durchs Gitter.”

Er gehorchte. Die Handschellen fielen, der Akt hatte nichts Befreiendes. Er rieb sich die Handgelenke, der Mann im Halbschatten, der ihn mit mildem Interesse beobachtete, wirkte wenig beeindruckt. Plötzlich empfand er den Mangel an Hautabschürfungen fast als enttäuschend.

Mit dem Geräusch brechender Finger schlug die Zellentür zu.

„Home, sweet Home.” Davis zog die Schlüssel ab, endgültig wie die Unterschrift auf dem Überstellungsbefehl. „Du hast ganz schön Glück, dass wir im Moment so dünn besetzt sind.”

„Wie viele Leute sind denn sonst hier?”

„Ach, so am Wochenende können das hier leicht mal so zehn bis fünfzehn Mann werden.” Der Constable zwinkerte ihm zu. „Montags ist immer großes Aufräumen angesagt. Viel Spaß, ihr zwei Hübschen!” Er verschwand im Nebenraum.

„Hör da nicht drauf, Mate[10].”

Akustischer Weichkaramell, dekoriert mit einem leichten Aufwärtsschlenker am Satzende. „Frischlinge erschrecken, das finden die toll, da machen sie sich’n Sport draus. Wir sind praktisch mitten im Busch, die Zelle hier hat im Leben noch kein halbes Dutzend Leute auf einmal gesehen.” Der Mann hob einen Mundwinkel, fügte einen Hauch von Spott hinzu, Salzkrümel auf einem Brocken Toffee.

Elijah stand immer noch mitten in der Zelle. Vier Wände, drei weißgekalkt, eine aus Luft und Stahl. Auf den Pritschen identisch gefaltete Decken, die keine Rückschlüsse auf die Belegung zuließen. „Wo kann ich schlafen?”

Sein Zellengenosse hob die Schultern. Gleichgültig. „Ich bin eigentlich hier drüben”, – Kopfbewegung zum linken Bett, direkt unter dem Fenster – „aber wenn du das Zimmer mit Aussicht willst, mir isses egal.”

Ein Satz wie ein Achselzucken. Einer, der nicht vorkam in dem, was Elijah über Gefängnisrituale gehört hatte – im Gegensatz zu anderen, weitaus unangenehmeren Dingen. Er besah sich seinen Zellengenossen genauer. Ungefähr in seinem Alter und beinahe gleich groß. Das Rotblond der Iren, Haare etwas heller, Bartschatten etwas dunkler. Blasse Haut, zu blass für ein Land zwischen den Wendekreisen. Volle Unterlippe, die das wusste und dagegen antrotzte. Blaue Augen wahrscheinlich, oder grüne. Die Kleidung… fleckige, beigefarbene Moleskin-Hosen, ein Gürtel aus Känguruh-Leder, offenbar für ein Pistolen-Halfter gedacht, schief gelaufene Stiefel. Elijah wünschte, die Bügelfalten seiner eigenen dunklen Gabardinehosen wären weniger offensichtlich. Seit dem Bankraub á la Marsden hatte er keine Gelegenheit für einen Garderobewechsel gehabt.

Laut sagte er: „Nein, das geht schon in Ordnung. Muss ich sonst noch irgendetwas wissen?”

Sein Mithäftling trat näher, ließ den Schatten von den Schultern gleiten wie eine alte Jacke, und blau, ja, sie waren blau. Kein kaltes Blau, sondern die Farbe der Korallensee, kurz bevor man über die Riffkante schwamm und sich in die Tiefe sinken ließ. Eine Erinnerung meldete sich, eine Strandausflugerinnerung, an weiß und türkis und ultramarin, an die Eltern des kleinen Elijah Theodore, die ihren vermissten, zehnjährigen Sohn bereits im Magen eines Bullenhaies gesehen hatten. An die Erleichterung seiner Mutter, die Strafpredigt seines Vaters, und das eigene Unverständnis, weil er doch nur einmal kurz zur Abbruchkante hinausgeschwommen war. Schon damals hatte die Tiefe nichts Bedrohliches gehabt.

Der Mann zählte die Punkte einer imaginären Liste an den Fingern ab.

„Mal sehen: Wecken ist um sechs, Nachtruhe um zehn, das heißt, wenn sie den Schichtwechsel rechtzeitig hinkriegen. Die Meisten hier sind soweit in Ordnung, nur Constable Buckley hat’n paar unerledigte Probleme, auf den haste besser’n Auge. Wenn du einen schlechten Tag hast, hältstes vielleicht für ne gute Idee, gegen den Eimer da zu treten, aber das isses nicht. Vor dem nächsten Morgen gibt’s keinen neuen, dafür aber was in die Schnauze, und zwar einmal von der Trachtengruppe da draußen, und einmal von mir.” Er wies auf die zweite Pritsche. „Und übrigens kannste dich gern setzen. Ich beiß nicht.”

Der gelassene Tonfall konterkarierte die Drohung. Elijah lächelte nervös. Wenn du weißt, was gut für dich ist, lässt du das dämliche Grinsen sein. Glaubst du, einer wie der lächelt zurück?

Nun, das tat er. Oder zumindest fast: Elijah sah ganz deutlich wie er das Lächeln hastig einfing, es abwürgte. Heraus kam ein verkrüppeltes, kleines Grinsen, zu hart für die Unterlippe, zu weich für die Mundwinkel.

Aus einer Eingebung heraus streckte er die Hand aus. Gab der Bewegung eine Richtung, die es bei allzu deutlicher Ablehnung erlaubt hätte, sie unauffällig zurückzuziehen.

„Elijah Marsden, Handlungsreisender aus Cairns. Geschäftlich unterwegs, sozusagen nur auf Durchreise.”

Der Vogel flatterte, zerrte an dem Grübchen in der Unterlippe.

„Rum oder Kühe?”

„Miederwaren.”

Stärkeres Flattern, die Hand wurde ergriffen.

„Luke O’Connell. Willkommen im Grand Hotel Pine Creek, Mate.”

Lukes Hand war warm und trocken und an Arbeit gewöhnt, weckte den Wunsch, dem eigenen Griff eine feste, maskuline Note zu geben. Elijah konnte nicht widerstehen:

„Tja, dachte ich mir schon, dass du nicht Ned Kelly bist.”

„Ach ja? Was hat mich verraten?”

„Muss der Bart gewesen sein.” Elijah wies auf Lukes Kinnlinie. Fuchsrote Dreitagestoppeln, keinerlei Ähnlichkeit mit dem Wildwuchs auf den Fahndungsplakaten der Kelly-Gang.

„Muss wohl.” Der Andere grinste wieder, verlor aber zwischendurch die Kontrolle, und der Vogel entkam.

Ein Geräusch im Nebenraum ließ ihn aufhorchen. „Hey, wart’n Moment.” Luke stürzte zum Gitter. Als Constable Davis mit einem Tablett in Sicht kam, stand er wie zuvor, die Arme auf die Querstange gestützt. „Wie sieht’s aus, Mate, haste ne Zigarette für mich?”

Überstellungsbefehl

Datum: 12. August 1906

Name: Lucas Matthew John O’Connell

Alter: 27 (geb. 22.03.1879)

Grund der Verhaftung: Opiumschmuggel

Mittwoch, 15. August

Später Nachmittag. Die Sonne prügelte auf das Wellblechdach ein. Darunter lagen die Zellen mit Hitze vollgesogen wie träge, blutgefüllte Zecken.

Luke hatte die Welt ausgesperrt. Ohne Socken, das Hemd als Sichtschutz über den Kopf geworfen, lag er auf seiner Schlafpritsche und wartete, dass die Wände schmolzen.

Durch das engmaschige Gitterwerk beobachtete er einen Gecko, der den Weg durchs Zellenfenster gefunden hatte und neben ihm an der Wand klebte. Luke mochte Geckos. Sie waren sauber, immer geschäftig und dabei völlig lautlos. So gesehen ideal zum Heiraten. Er streifte das Hemd ab. Zu viele Gitter.

Auf dem Nachbarbett lag der Frischling. Ein echter Frischling, direkt aus dem Pensionat für Höhere Töchter, grün wie ein Baumfrosch. Seine erste Erfahrung mit den Coppers[11] musste ihm ganz schön zugesetzt haben. Trotz der Hitze beharrte er auf seinem schwarzen Hemd und der taubengrauen Seidenweste. Die letzte Verteidigungslinie, faltenfrei und hochgeschlossen: Das Pensionat macht einen Sonntagsausflug.

Derzeit schlief er oder tat so. Gute Gelegenheit, ihn genauer zu mustern: Dunkles, volles Haar, an den Schläfen zu schweißfeuchten Löckchen geringelt. Offenes Gesicht, Hände eher für’s Maschinenschreiben denn für’s Schafescheren. Saubere Fingernägel. Schmale Nase, gut um sie in Bücher zu stecken – als Lesezeichen.

Hübsches Kerlchen. Wenn es in Fanny jemanden gab, der darauf stand, würde die Zeit dort für den Frischling tatsächlich nicht schwerer werden als das Sonntagspicknick der Höheren Töchterschule. Oder wenn er klarmachte, dass er keinen brauchte, der darauf stand. Komisch eigentlich, dass ihm das erst als zweite Möglichkeit eingefallen war.

Luke setzte sich auf. Der Gecko floh in den Schatten, ein zartes, substanzloses Gespenst der Außenwelt.

„Die Weste da, hält die eigentlich Kugeln ab oder so?”

Elijah fuhr hoch. „Was?”

„Weil, wenn nicht, kannste sie genauso gut ausziehen.”

„Mir geht’s gut so, danke.”

Als Eisbrecher durchgefallen. Der Frischling sah aus, als stünde er jetzt schon mit dem Rücken zur Wand. Luke hob innerlich die Schultern. Siehs ein, im Reden biste so begabt wie’n Sattelknopf.

„Liegt ganz bei dir, Mate.”

Er sank zurück in seinen klebrigen Halbschlafkokon. Dumpfe Feuchtigkeit am ganzen Körper, das Gefühl wie von zu lange getragener Unterwäsche. Wahrscheinlich kann man unter seiner Weste Eier braten. Wenn schon, muss er selber wissen.

Schritte bogen die Bodenbretter im angrenzenden Büro. Papiergeraschel.

„Wie sieht’s aus, Jungs, wollt Ihr ne Zeitung von letzter Woche?”

Constable Davis, der Schrecken aller jungfräulichen Ginflaschen. Guter Mann. Nicht zu ehrgeizig, demnach nicht zu frustriert. Für solche Wachen zahlte man Aufschlag.

Luke wandte sich an Elijah.

„Wie isses, Lij? Zeitung?”

Also reagierte der Neuling nicht auf jede Anrede wie ein Jungbulle auf den Anblick der Kastrationszange. Im Gegenteil, er wirkte fast – hoffnungsvoll.

„Können wir eine bekommen?”

Davis erschien. Hielt sich nicht lange auf, schob nur eine zusammengefaltete Ausgabe der Northern Territory Times zwischen den Gitterstäben hindurch, und trat den Rückzug an. Kein Wunder, die Mischung aus Hitze und Zinkeimer hätte eine Ordensschwester in die Flucht geschlagen. Luke reichte die Zeitung weiter.

„Welche Hälfte willst du zuerst?”

Elijah machte Miene, die Doppelseite in der Mitte durchzureißen. Wurde durch ein Abwinken gebremst.

„Lass sie ganz, Mate. Gehört dir.”

„Willst du gar nicht wissen, was so los ist?”

„Ach, ich hab’s nicht so mit dem Kleingedruckten. Kannst mir nachher die Anzeigenseite geben.”

Elijahs Blick streifte ihn. Unauffällig, ein Straßenjunge, der am Karren eines fliegenden Händlers entlangstrich. Vorbeischlendern, eine Pastete einsacken, weiterschlendern. Das war Luke schon anfangs aufgefallen. Der Frischling schien Dinge zu hören, die man gar nicht gesagt hatte, und eigentlich auch nicht sagen wollte. Wie jemand, der einen Mangel bemerkt, es aber für unklug hält, einen darauf hinzuweisen. Stattdessen wandte er sich der Zeitung zu.

Das Territory bot nicht viel Weltgeschehen. Aber dem Neuen schien es zu genügen. Von Zeit zu Zeit trieben gemurmelte Halbsätze hinüber. Elijah kommentierte die Tagespresse.

Luke lauschte eine Weile dem seltsamen Akzent – den hatte er auch schon bemerkt. Keine große Sache, ein Stolpern, Worte die aneinanderklackten wie Bausteine in einem Kasten. Gewöhnlich gingen einem Selbstgespräche anderer Leute auf den Geist, doch aus irgendeinem Grund mochte er Elijahs Stimme. Es war eine warme, freundliche Stimme, und sie schien kluge Dinge sagen zu können. Ihr zuzuhören war angenehm, wie Bilder an eine leere Wand zu hängen. Besser als ein Gecko.

„Lij? Kann ich dich was fragen?”

„Sicher.”

„Wieso rennt jemand wie du mit’m gefälschten Scheck in ne Bank? Das weiß jeder, dass das ne Schnapsidee ist. Ich mein’, du bist doch gebildet oder so.”

Elijah hob die Schultern. Ließ sie wieder fallen, als sei die Bewegung allein schon zu viel Mühe.

„Keine Ahnung. Vielleicht sind das die Verbrechen, die gebildete Leute begehen.”

„Möglich.”

„Außerdem war das Geld gar nicht für mich.”

Luke nickte verständnisvoll.

„Verschuldete Farm?”

„Nein.”

„Mädchen?”

„Nei-en.” Aber das zweite Nein dehnte sich eine Silbe zu lang. Luke lachte.

„Wußt ich’s doch! Wenn’s um Röcke geht, nützt dir die ganze Bildung nichts. Da rennste blind in dein Unglück.”

Elijah raffte seine Zeitung wie einen der erwähnten Röcke, nahm dahinter Deckung.

„Ja”, sagte er, hinter einer Anzeige für Densmore Schreibmaschinen verborgen. „Ja, es war ein Mädchen.”

Blechteller, Blechtassen. Brot und Konservenbüchsenmahlzeit. Einen Löffel, dessen Rand man zu einer Klinge schleifen konnte, jedenfalls hatte Elijah gehört, dass das so üblich war.

Während des Essens versuchte er, sich auf den neuesten Stand zu bringen.

„Wie geht es denn jetzt weiter?”

„Erstmal mit Warten. Wahrscheinlich ziemlich viel Warten. Zuerst warten wir auf unseren Zug, Samstag früh, acht Uhr. Dann warten wir gute zehn Stunden, bis wir in Palmerston sind. Dann Untersuchungsgefängnis, wo wir auf unsere Verhandlung warten. Und dann, nachdem wir unser Ticket kassiert haben, warten wir, bis unsere Zeit rum ist.”

„Was denkst du, wieviel kriegt man für Scheckbetrug?”

„Keine Ahnung. Zwanzig Jahre?”

Elijahs entgleisende Miene veranlasste Luke, sich zu korrigieren.

„Hey, war’n Scherz! Es war’n Scherz, tut mir leid, Mate. Paar Monate vielleicht, nichts womit du nicht leben kannst.”

Der Zug fand zurück ins Gleisbett. Kein Ärger, nur Erleichterung.

„Weshalb bist du denn hier? Oder fragt man so etwas im Gefängnis nicht?”

„Bekannter von mir wollte rausgefunden haben, dass man ein Vermögen verdient, wenn man Opium in leeren Konservendosen verschiebt. Leider hatten die Coppers das auch schon raus.”

„Dann bist du ja so etwas wie ein Outlaw.”

„Ich bin so was wie’n Idiot. Hör bloß nie auf jemanden, der dich zu was kriegen will, was kinderleicht und absolut sicher ist. Wenn einem die State Police die Arme auf den Rücken dreht, hocken solche Leute immer sicher hinter irgendeiner Ecke und stricken an ihrem Alibi.”

Elijah wollte fragen: Wie ist Fanny Bay? Wie verbringt man Monate ohne Bücher und Zeitungen? Und: Was muss ich tun, um nicht mit einem Schild um den Hals herumzulaufen, auf dem ‚Frischfleisch’ steht?

Doch er sagte nur: „Hast du mal daran gedacht, abzuhauen?”

„Vergiss es, Mate. Was Dümmeres kannste dir gar nicht einfallen lassen. ‚Sich der Haft entziehen’, das nehmen sie richtig übel. Das ist wie König Edward in die Teekanne pissen. Plötzlich stehste da mit siebzehn Jahren, wo’s vorher nur’n halbes war. Besser die Nase am Boden halten und deine paar Monate abreißen, alles andere lohnt sich nicht.”

Er sagte es ohne Wut, ohne Überlegenheit. Saß einfach nur da und tunkte einen Brotschwamm in braune Soße. Elijah traute sich zu fragen:

„Warst du schon mal … ‚drin’?”

„Einmal, kurz. Ist Jahre her.”

„Und war es – schlimm?”

„Geht so. Mal steckste ein und teilst aus und mal steckste eben nur ein. Wichtig ist, schnell zu lernen, wann du was machst.”

Luke stellte seinen leeren Teller samt Löffel auf dem Boden ab. Falls es seine Angewohnheit war, Waffen aus Essbesteck herzustellen, verzichtete er heute darauf. Stattdessen erkundigte er sich:

„Sag mal, du bist nicht zufällig aus Rockhampton[12]?”

„Aus Littlehampton[13]. Adelaide Hills, in der Nähe von Hahndorf. Mein Vater ist Prediger in der methodistischen Gemeinde. Meine Eltern sind hierher gekommen, als ich neun war. Preußisches Auswandererschiff. Wieso?”

„Dacht nur, ich hätt den Akzent schon mal gehört. Hab mal ne Zeit in ner Mission in der Nähe von Rockhampton verbracht. Neerkol, St. Josephs. Paar von den Pfaffen haben so geredet.”

„Oh nein! Ich erinnere dich an einen katholischen Priester im Waisenhaus?”

Die aufrichtige Besorgnis schien Luke zu amüsieren.

„Komm wieder runter. So schlimm war’s nicht. Die meisten davon waren ganz brauchbare Leute.”

„Aber – ein Waisenhaus!”

„Wenn schon. Besser als zusehen, wie sich dein Alter um den Verstand säuft. Außerdem war ich schon vierzehn, als ich da hinkam. Nachdem sie mich das erste Mal einkassiert hatten, wussten sie nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Irgendjemand meinte wohl, es wäre noch was zu retten, wenn sie mir’n langen Knastaufenthalt ersparen.”

„Stelle ich mir trotzdem ziemlich schrecklich vor.”

„Nicht so sehr. Hatte’n guten Freund in St. Josephs. Zu zweit war’s einfacher.”

„Und was ist aus dem geworden?”

„Keine Ahnung. Hab ihn aus den Augen verloren. Wie das halt so is.”

Der letzte Satz blieb in der Luft hängen, als wolle er mehr sein, als er war. Elijah wartete geduldig, aber Luke schien die Lust am Reden verloren zu haben.

Es war dunkel geworden in der Zelle. Der Gecko war verschwunden, irgendwo auf Jagd oder durch die Fensteröffnung entkommen.

Ein Offizier der Nachtschicht – seine Plakette stellte ihn als Sergeant O’Hara vor – steckte den Kopf zur Tür herein.

„Bettzeit, Jungs!”

Elijah reichte die Teller durchs Gitter. Nebenan verklang das Schreibmaschinenklacken, knarzten ein letztes Mal Bodenbretter. Eidottergelber Lampenschein schuf ein Lichtviereck um die angelehnte Tür.

Seine erste Nacht im Gefängnis. Und wenn schon. Die Matratze etwas härter, dafür zuverlässiger Weckdienst. Und die Gitter brauchte man im Dunkeln auch nicht zu sehen. Nichts, worüber man sich Sorgen machen musste. Kein Problem, Mate.

Er streckte sich auf seiner Pritsche aus, versuchte, an den Atemzügen zu erkennen, ob sein Mitgefangener schon schlief. Die Stille legte alle Arten von Geräuschen frei. Knistern in den Ecken, Moskitosurren. Rascheln, Huschen an den Wänden, vielleicht der Gecko.

Er erwachte, weil etwas über sein Gesicht kroch. Winzige Häkchen bohrten sich in die Haut, Fühler tasteten hektisch über seine Augenlider. Er schlug sie beiseite, einmal, zweimal, weil die Widerhaken sich nicht gleich lösten. Ein fingerlanger Käfer flog zu Boden, schlug hörbar auf und verschwand im Schatten.

Elijah fand sich aufrecht in der Mitte des Bettes sitzend, Rücken an der Wand, beide Beine angezogen. Die dünne Decke war zu Boden gerutscht, irgendwo in Richtung des Käfers; um nichts in der Welt würde er sie aufheben.

„’Sn los, Mate?”

Sein Herz hämmerte Stakkato, kein Wunder, dass er Luke geweckt hatte.

„Kakerlaken”, brachte er hervor.

„Oh. Ja.”

Verschlafenes Grummeln, Deckenrascheln.

„Die tun dir nichts. Einfach nicht beachten.”

„Genau das ist der schwierige Teil.”

Elijahs Nachtsicht wurde besser. Er sah Luke auf seinem Bett sitzen, in derselben Haltung. Nur dass seine Arme gelassen auf den Knien verschränkt waren, statt sie panisch zu umklammern. Hemd und Moleskin-Hosen hatte er ausgezogen, trug nur ein paar Militärshorts. Der Gedanke, dem Kriechen und Tasten so viel bloße Haut zu überlassen, ließ Elijah erschauern. Er schaute hoch, suchte nach Bewegung auf dem Verputz. Wenn sie an der Decke waren … wenn sie über ihm waren …

Trotzdem, er musste etwas sagen. Irgendetwas Lässiges …

„Wo ist denn der verdammte Gecko, wenn man ihn braucht?”

„Ach, ich glaub‚ so’n Happen ist’n bisschen viel für den. Das wär‚ als würdste versuchen, ne ganze Kuh runterzuschlingen.”

Elijah fühlte hysterisches Kichern aufsteigen, doch es starb auf dem Weg nach oben.

„Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe”, sagte er.

„Naja, es ist nicht grad so, dass ich früh raus muss.”

Sie schwiegen. Luke lehnte still an der Wand, bot nichts an als seine Gesellschaft. Elijah hatte ihn schon im Verdacht, wieder eingeschlafen zu sein, als er leise sagte:

„Fanny Bay wird nicht besser, weißte?”

„Ich weiß.”

„Alles klar bei euch, Jungs?”

Der Polizist von vorhin leuchtete mit einer Petroleumlampe herein. Luke schaltete auf dienstbeflissen, der Stubenälteste beim Rapport.

„Alles klar, Boss. Keine Probleme. Hab mich nur gerade gefragt, ob wir vielleicht’n bisschen Licht hier drin kriegen könnten.”

„Keine Zigaretten diesmal, O’Connell?” Pure, reife Häme. Der Mann musste sie lange mit sich herumgetragen haben, wickelte sie nun aus wie eine giftige Praline. „Tja, tut mir leid, Vorschrift ist Vorschrift. Und es heißt Officer, das müsste mittlerweile sogar bei dir angekommen sein.”

„Bitte”, sagte Elijah schnell, „Ich … kann nicht schlafen. Und ich will ihn nicht ständig aufwecken. Bitte.” Er hoffte, dass es weniger jammervoll klang, als es sich anfühlte.

Der Sergeant dachte nach. Kam zu dem Schluss, dass eine Ablehnung nicht Luke O’Connell getroffen hätte. „Also schön, weil du’s bist, Frischling. Ich lass euch die Lampe hier. Aber dass ihr das ja für euch behaltet, Kerosin ist verdammt teuer.”

„Natürlich. Machen wir. Vielen Dank, Officer.”

Die Petroleumlampe hatte schon bessere Zeiten gesehen. Das Drahtgestell war verbogen, der Schirm fehlte ganz. Sergeant O’Hara stellte sie auf ein Wandbord vor den Zellen.

„Morgen früh vor Schichtwechsel hol ich sie wieder raus.” Er nickte Elijah zu. „Schlaf jetzt, Kleiner. Wenn dir der Paddy[14] zu nahe kommt, trittste ihn in die Kronjuwelen.”

Er ging, drehte sich in der Tür noch einmal um. „Von mir aus auch gern zweimal.”

Elijah ließ die Schritte verklingen, bevor er sich an die Nachbarpritsche wandte.

„Du bist wohl nicht so gefragt hier?”

Luke zuckte die Achseln.

„Hab’s wohl übertrieben in letzter Zeit.”

„Ist das ein Landsmann von dir? Sergeant O’Hara?”

Lukes Miene brachte so viel Verachtung zum Ausdruck, wie es möglich war, ohne dabei auszuspucken.

„Bin kein Paddy. Ich komm aus Mackay.”

Er dehnte das ‚a’ wie ein Queenslander. Mackaaay.

Am Glaszylinder sammelten sich die ersten Motten. Öl und Ruß verbreiteten den Geruch von Heim und vertrauten Zimmern.

„Luke? Kannst du bei Licht schlafen?”

Erneutes Schulterzucken.

„Gute Nacht, Luke.”

Keine Antwort. Luke starrte an ihm vorbei.

Donnerstag, 16. August

Das übliche Morgenballett: Constable Davis tauschte den Eimer aus und brachte eine Emailleschüssel mit Waschwasser. Erledigte, was sich nicht durchs Gitter erledigen ließ, während Sergeant O’Hara mit der Enfield im Anschlag stand. Als hätte irgendjemand die Absicht, auszubrechen.

Der Frischling hatte den Angstschweiß der Nacht abgewaschen. Hemd aus, Hemd wieder an, zuknöpfen … zögern. Behutsam öffnete er den obersten Knopf. Dann noch einen. Nahm die Seidenweste, faltete sie und legte sie unters Kopfkissen. Luke hätte fast applaudiert.

Zumindest hatte er etwas Anerkennendes sagen wollen – und es dann doch bleiben lassen. Es lag nicht an Elijahs Angst vor Küchenschaben. Ängste gab es so viele wie Leute, und Luke hatte erlebt, wie gestandene Ochsentreiber aus demselben Grund schreiend hochgefahren waren. Kakerlaken waren ohnehin am besten unter einem Stiefelabsatz aufgehoben. Andererseits …

Ängste waren Privatsache. Man behielt sie für sich und hielt sie aus. Und nie, nie bat man die Leute auf der anderen Seite des Gitters um einen Gefallen. Fragen ging in Ordnung, man kassierte seine abschlägige Antwort, ging damit weg und gelobte Vergeltung. Aber man bettelte nicht, egal worum.

Immerhin hatte Elijah bekommen, was er wollte. Es gab nur eins, was noch schlimmer war als Betteln: Betteln, und das was man wollte, nicht zu kriegen. Irgendwas hatte der Frischling an sich, dass die Leute dazu brachte, nett zu ihm zu sein.

Derzeit befand er sich sozusagen auf feindlichem Gebiet. Er stand in einer Lücke zwischen Lukes Bett und dem Zellengitter, die offene Verbindungstür bot einen guten Blick auf das angrenzende Büro. Dass er sich in der falschen Zellenhälfte befand, bekam er gar nicht mit.

„Du, Luke, wer ist das da?”

„Der Nigger? Das ist Albert.”

Jemand hatte es für sinnvoll gehalten, den kleinen Kanonenofen direkt hinter den Durchgang zum Vorzimmer zu setzen, gewissermaßen als Türstopper. Ein schwarzer House Boy[15] war dort mit den Vorbereitungen für das Frühstück beschäftigt. Für Luke sah er aus wie der Versuch, einen buschfeuergeschwärzten Baum der Größe eins in den Leinenanzug eines Hilfspolizisten der Größe zehn zu stecken. Grauer Haarwust, Falten, ein Gesicht wie Gewitterwolken über rissigem Land.

Der Schwarze nahm die Teedose vom Bord. Öffnete die Ofenklappe. Schaufelte ein paar Kohlebrocken hinein, drehte ein Stück Zeitungspapier zusammen. Alles langsam, wie ein Pendel, das im Raum schwingt. Als hätte er alle Zeit der Welt. Wahrscheinlich besoffen. Beachtliche Leistung, immerhin. Nicht mal mein Alter hat das um die Tageszeit geschafft.

„Albert und weiter ...?”

Dem Frischling musste langweilig sein. Genauso gut hätte er nach dem Namen des Geckos fragen können.

„Keine Ahnung. Einfach Albert.”

„Ich meine, wer sind seine Leute? Mayali? Jawoyn?”

„Was weiß ich. Wieso interessiert dich das?”

„Meine Eltern haben eine Weile für die Mission in Herrmannsburg gearbeitet. Ich bin mit schwarzen Kindern zur Schule gegangen. Das waren gute Leute, nicht so wie die, die an den Cattle Stations[16] herumhängen, und für einen Streifen Kautabak ihre eigene Schwester verkaufen. Was macht er hier?”

„Erledigt den Kleinkram für die Wache. Manchmal setzen sie ihn als Tracker[17] ein. Die Nigger sind begnadete Fährtensucher. Es heißt, wenn sie einen schwarzen Tracker auf dich ansetzen, dann klebt der an dir wie’n frischer Schafsdarm. Dann biste fertig, Mate.”

„Bezahlen sie ihn?”

Luke lachte.

„Du hast Sorgen! Keine Ahnung, wahrscheinlich mit Rum und Tabak.”

„Aber wenn er hier angestellt ist …”

„Wenn er Kohle kriegt, setzt er die gleich in Schnaps um. Haste gesehen, wie er schwankt? Ich würd’ die Marmelade auf’m Frühstücksbrot verwetten, dass der jetzt schon voll ist.”

Ein Wunder geschah. Elijah widersprach.

„Ich fürchte, dann wird das ein trockenes Frühstück”, sagte er ruhig. „Das hat nichts mit betrunken zu tun. Das ist einfach die Art, wie sie gehen. Whitefellas[18] wissen das bloß nicht.”

Nun sieh mal an. Nachts beim Schließer am Rockzipfel kleben, aber tagsüber klugscheißen. Luke verschluckte eine hässliche, kleine Elijah-Parodie: Ja, Officer. Danke, Officer. Sagte nur:

„Wenn du in Fanny Bay bist, behältste sowas besser für dich. Leute die sich für Nigger und Chinks[19] und so interessieren, kommen meistens aus der Stadt. Und die Jungs, die da einsitzen, haben für Leute aus der Stadt selten viel übrig.”

Elijah lachte.

„Nigger, Chinks – meine Güte, Luke, du hast da ein nettes Vokabular. Sei froh, dass du nie meiner Mutter begegnet bist.”

Ein kleiner Wutfunke, weiß, heiß und kindisch.

„Was stört’n dich dran?”

„Nigger ist unhöflich.”

„Er ist nun mal einer.”

„Aber doch nicht nur. Ich meine, er hat doch einen Namen.”

„Ja und? Wo ist der Unterschied ob ich Nigger sag oder Albert, wenn ich denke, dass er’n Nigger ist?”

„Wenn du aufhörst, Nigger zu sagen, denkst du es vielleicht auch nicht mehr.”

„Wenn ich aufhöre, Nigger zu denken, sag ich’s vielleicht auch nicht mehr.”

„Du kannst doch eine Sache denken, und trotzdem etwas anderes sagen, damit es sich netter anhört.”

„Kann ich nicht. Das ist wie Schlagsahne auf Scheiße; oben sieht alles ganz lecker aus, aber drunter isses immer noch Scheiße. Außerdem, wer weiß, wie wir bei denen heißen.”

„Das ist was anderes.”

„Das ist genau dasselbe. Egal wo du hingehst, überall auf der Welt hat irgendwer’n Namen für dich, der dich zum Idioten stempelt. Leute sind eben so.”

Luke verschränkte die Arme. Methodistenpfarrer, am Arsch. Große Fresse, sonst nichts. Wenn man einen Stall voller Kuheuter mit Rüschen umwickelt, glaubt er, er wär im Puff gelandet.

Man musste sich ja nicht mit ihm unterhalten. Er würde schon merken, wie einsam es als Klugscheißer war.

„Luke?”

„Hey, Luke!”

„Gefangener O’Connell?”

Ich rede nicht mit ihm.

Ich rede nicht mit ihm.

Ich rede nicht mit -

„Was, gottverdammt?”

„Entschuldige. Ich wollte dich nicht überfahren. Ich weiß, ich bin eine Dampflok.”

„Schon gut. Kein Problem, Mate.”

„Muss an meinen Eltern liegen. Die wollten die ganze Welt missionieren.”

„Glückwunsch. Da musste ganz schön rumgekommen sein.”

„Doch, schon. Littlehampton, Herrmannsburg, Cairns … Meine Mutter meinte immer, wir würden dahingehen, wo der Herrgott unsere Hilfe benötigt.”

Der soll ja nicht denken, es wär alles in Butter. „Kann nicht allzu viel mit ihm los sein, wenn er so viel Hilfe braucht.”

„Nanu, ich dachte, die Iren wären alle Katholiken?”

„Hab’s dir schon mal gesagt, ich bin kein Paddy.”

„Ich weiß, ich dachte nur … O’Connell, das klingt nicht gerade wie ein holländischer Calvinist.”

Halt doch einfach die Schnauze und lass ihn auflaufen. „Mein Alter ist 1864 mit der Clara aus Dublin gekommen. Frag mich nicht, ob er Eier oder jemandem das Kupfer vom Dach geklaut hat – irgendwas.”

„Vierundsechzig gab es noch Sträflingstransporte?”

„Achtundsechzig war der letzte. Er hatte eben Pech – oder Glück, je nachdem. Keine Ahnung, ob die alte Welt besser für ihn gewesen wär.”

„Wie war die neue?”

„Nicht seins. Andere sind hier was geworden, er hat nie wirklich’n Bein auf die Erde gekriegt. Hat sich von Anfang an ständig mit irgendwem angelegt. Als ich zehn war, hab ich ihn das erste Mal ohne Hemd gesehen – danach wusst ich, was er für’n Problem mit den Staatlichen hatte.”

Der Frischling zögerte, schien zu überlegen, ob die Frage ‚Was ist passiert’ gegen die Gefängnisetikette verstieß.

„Was ist passiert?”

„Hat sich in’n Mädchen verguckt, eins auf demselben Schiff. Die Frauenabteilung war nicht besonders gesichert, da konnte alles rein, was frei rumlief. Die hatten die Ankerkette noch nicht ganz oben, als die ersten Seeleute anfingen, runter zu schleichen. Mein Alter war fünfzehn und wusste nicht, wann man besser die Fresse hält. ‚Tätlicher Angriff auf einen Offizier ihrer Majestät’ – dreimal darfste raten.”

Löffelklappern kündigte Albert mit den Teetassen an. Elijah sortierte die Geschichte ein, füllte die Lücken.

„Und das Mädchen?”

„Hat er später geheiratet. Vergünstigungen für Ehepaare und so.”

„Dann war sie deine…”

„Ja.”

Er ließ das Gespräch zuschnappen. Ignorierte den Frischling, der immer noch in der Lücke zwischen Bett und Gitter stand, schloss die Augen. Scheiße, warum erzähl ich ihm diesen ganzen Mist?

Luke wurde durch Türenklappen geweckt, und stellte fest, dass sein Tee kalt war. Die Schatten an den Wänden waren nur wenige Zoll weitergerutscht. Blöde Mistkerle.

Vorn knallte die Außentür gegen den Ofen. Mehrere Männer – teils modische Leinenanzüge, teils kurze Jacken mit dem Emblem der South Australia Police[20] – betraten das Empfangsbüro und verschwanden im Hinterzimmer. Keine Verhaftung – Männer in solchen Anzügen wurden nicht verhaftet.

Er ging zum Gitter, nur für den Fall, dass sich jemand zum Anschnorren fand. Stattdessen bekam er ziemlich viel blau bedrucktes Papier zu sehen. Zwei Polizisten waren damit beschäftigt, banderolierte Päckchen hereinzutragen. Eines davon fiel zu Boden, das leise Platsch rief Elijah auf den Plan.

„Ich fass es nicht, Luke – sind das Banknoten?”

Er nickte.

„Und kein Wechselgeld, wie’s aussieht. Hundertpfundnoten, würd ich sagen.”

„Fünfzig”, korrigierte Elijah. „Union Bank.” Er fing Lukes Blick auf – Geht das schon wieder los? – und hob entschuldigend die Hände. „Die haben Queen Victoria oben links drauf. Ich habe viel in der Buchhaltung gearbeitet, da kriegt man die Unterschiede mit.”

„So oder so, sieht nach verdammt viel Heu aus.”

„Aber wieso lagern die Geld im Gefängnis?”

„Polizeistation.” Luke lachte leise. „Pine Creek ist der letzte Außenposten. Hier endet die Bahnlinie, hier endet alles. Wenn ne alte Lady ihrem Jungen in Port Darwin[21]’n Weihnachtspäckchen schicken will, deponiert sie’s hier. Wenn irgendein Cattle King[22]’n großen Deal laufen hat, lagert er die Kohle hier, bis der nächste Zug nach Palmerston sie mitnimmt. Wahrscheinlich war jemand der Meinung, dass es keinen sichereren Ort gibt als ne Polizeiwache.”

Elijah staunte immer noch den Pfundnoten hinterher.

„Was meinst du, wieviel das ist?”

„Keine Ahnung. Aber bei den großen Cattle Stations geht’s um viel Geld. Wenn sie’n Deal mit der Armee haben oder nem Konservenfabrikanten in Übersee – was weiß ich, acht, zehntausend?”

„Zehntausend!”

„Krieg dich ein, Frischling. Wir dürfen da nicht mal dran riechen!”

„Auch wieder wahr.” Elijah seufzte und setzte sich auf seine Pritsche. Dann fiel ihm etwas ein und er strahlte.

„Ich weiß, wie er richtig heißt. Albert Sunfly Tjampitjin.”

„Gesundheit, Mate.”

„Als du geschlafen hast, habe ich ihn …”

„Ich hab’s verstanden. Wie schön für dich.”

Ein leises Lächeln kroch in Elijahs Augenwinkel. Saß da, als wäre es nur kurz herausgekommen, um nach dem Wetter zu sehen, und hätte sich dann einen Stuhl geholt.

„Du verstehst das nicht, oder?”

„Gott, das ist’n freies Land.” Er sah sich um und verbesserte sich. „Jedenfalls fast. Deine Entscheidung, womit du deine Zeit verschwenden willst.”

„Ach, ich finde, es zahlt sich immer aus, zu jemandem nett zu sein. Man weiß nie, wofür man es braucht.“

Noch einundvierzig Stunden bis Palmerston.

Eigentlich nur bis zur Abfahrt, aber so klang es besser. Wie ‚Noch zehn Minuten bis Buffalo’[23]. Elijah bezweifelte allerdings, dass das hier jemand verstand.

Nichts zu tun, nichts zu lesen. Jeder Rundumblick ein sinnloser Billardstoß: Wand, Fenster, Decke, Pritsche, Fußboden, Zinkeimer, Gitter, Wand.

Vielleicht könnte er dem diensthabenden Offizier noch eine Zeitung abbetteln. Aber dann würde Luke ihn wahrscheinlich umbringen.

Luke. Ihm zu begegnen, war, als habe man im väterlichen Bücherregal, zwischen Werken von Carl Strehlow[24] und John Wesley[25], einen Wildwestroman gefunden. Exotisch, verführerisch – und absolut verboten. Luke war hart. Luke war souverän. Luke sagte: „Ist mir egal” und war auf eine gelassene Art freundlich. Elijah hatte ihn gemocht. Bis eben.

Was hatte er denn erwartet? Ein Opiumschmuggler. Ein Hinterwäldler, der Alfred Deakins White Australia Policy für die Idee des Jahrhunderts hielt. Der Sohn eines Sträflings.

Wahrscheinlich lag es an ihm selbst. Er war zu leicht zu haben, immer gewesen. Nur ein Nicken, ein Lächeln, und das Rindvieh Elijah T. Marsden spazierte selig die Rampe zum Schlachthof hinauf. Das letzte Mal vor etwa drei Tagen. Der Grund dafür hieß Arthur, war neunzehn, Textilverkäufer, und träumte von einem Leben als Melbournes führender Herrenausstatter. Er hatte kranke Eltern, eine marode Farm, die sich nach der großen Dürre der Achtzehnneunziger nie wieder erholt hatte, und einen Augenaufschlag, für den Elijah sich vor den Zug geworfen hätte. Stattdessen betrat er die Filiale der Australasia Bank mit einem gefälschten Scheck. Arthur hatte auf der anderen Straßenseite gewartet…

…Und das war das letzte Mal, dass du ihn gesehen hast.

Vielleicht hatte er Luke deshalb gemocht. Luke wollte nichts. Luke erwartete nichts, weder von ihm noch vom Rest der Welt.

„Kühles Blondes gefällig, Jungs?”

Ein Wachmann stand in der Tür, in einer Hand eine Steingutflasche, in der anderen ein großes Wasserglas. Ein Constable, laut Schulterklappen.

„Ist doch Scheiße, den ganzen Tag hier in der Hitze schmoren. Da dachte ich, ich geh mal rüber zum alten Bill und besorg euch’n Bier.”

Er schenkte ein. Kristallines Gold, Luftbläschen wirbelten, sammelten sich an der Oberfläche zu flauschigem Schaum, der leise zitternd zur Ruhe kam. Kälte knisterte über dem Glas.

Elijahs Beine trugen ihn der Fata Morgana in Weiß und Gold entgegen, noch ehe er die entsprechende Entscheidung treffen konnte.

„Warte.”

Luke schwang die Beine von der Pritsche und trat seinerseits ans Gitter, allerdings langsamer und sehr viel desinteressierter.

„Hallo Buckley“, sagte er sanft. „Das ist aber nett, dass du an uns denkst.”

Der Constable ließ lange Zähne sehen. Ein Maultier, eins von der bösartigen Sorte, jahrelang misshandelt und vernachlässigt. Er fixierte einen Punkt hinter Lukes Schulter, als gäbe es dort etwas Interessantes. Jemanden, der eine Peitsche schwang, zum Beispiel.

„Tja weißt du, O’Connell, ich kann einfach nicht sehen, wenn’s anderen Leuten schlecht geht. Und es heißt Constable, oder Officer. Cheers, Mate.”

Er prostete ihnen zu. Setzte das Bier an die Lippen – und ließ einen fetten Batzen Speichel hineinfallen. Er sackte durch die Schaumkrone wie glühende Kohle durch Neuschnee.

Buckley reichte das Glas in die Zelle. Nickte freundlich.

„Lasst es euch schmecken, Jungs.”

Luke nahm es entgegen, ein Becher Kaffee von der Heilsarmee hätte weniger Geringschätzung erfahren.

„Cheers.” Ein einziger Zug leerte es bis zur Hälfte. „Lij? Komm, gönn dir was Kühles.”

Es war lässig dahingesagt, kein Druck, kein Befehl. Nichts, was einen bei den Eiern packte und zwang, mit Todesverachtung zuzugreifen. Doch Elijahs Hand reagierte wie ein guter Soldat, ohne Zögern, ohne Zweifel. Er sah nicht hin, ein Schaumflöckchen in Lukes Mundwinkel bot dem Blick Halt. „Cheers.”

Es war überraschend gut. Ein Mundvoll Pazifikbrise, klar, bitter. Ihm kam der Gedanke, dass die Zeit zu kurz gewesen war, um den Speichelklumpen aufzulösen, und Luke wahrscheinlich den Hauptanteil erwischt hatte.

Er trank aus. „Nicht schlecht. Nächstes Mal gern noch ein bisschen kühler.”

Constable Buckleys Gesichtsausdruck verhieß Mord. Elijah kam der Verdacht, dass der Constable ihnen sein eigenes Bier gegeben hatte. In einem Wasserglas statt einer Blechtasse. Was hätten wir alles damit machen können. Der Kerl muss oberdämlich sein.

„Glas.”

Luke schien seine Gedanken gelesen zu haben. Er reichte Buckley das Wasserglas durchs Gitter, zog es im letzten Moment zurück, täuschte an, überließ es ihm schließlich. Stell dir vor, ich würde es behalten … Stell dir vor, ich würde, wie ich könnte …

„Übrigens, Buck”, sagte er leichthin. „Falls du durch Zufall irgendwo ne Zigarette hast …”

Der Hass in Buckleys Augen hätte einen Hereford-Bullen gefällt.

„Ich werd dir was anderes als Zigaretten in den Mund stecken, O’Connell. Und du wirst drum betteln, verlass dich drauf.”

Luke lächelte versonnen.

„Da werd ich dann bestimmt noch Lippenstift von deiner Mutter dran finden.”

Die Schlagzeile: Wärter öffnet Zellentür um Gefangenen zu misshandeln und ermöglicht dadurch Flucht hing fett im Raum. Doch Buckley beschränkte sich darauf, Luke das Glas aus der Hand zu reißen. Man sah ihm an, dass er ein paar abgerissene Finger daran durchaus begrüßt hätte.

„Ich kriege euch noch”, zischte er. „Alle beide.” Er machte kehrt und trollte sich.

Luke hob den Daumen.

„Nicht schlecht, Frischling.”

Das Lob perlte wie ein zweites Bier. Es wusch alles weg, den Hinterwäldler, den Nigger und die White Australia Policy. Trotzdem, er konnte nicht anders:

„Sei vorsichtig, Luke. Der hasst uns. Der wartet nur auf seine Gelegenheit.”

„Ach was. In anderthalb Tagen sitzen wir im Zug. Was soll bis dahin schon groß passieren?”

Die zweite Nacht. Elijah saß auf seiner Pritsche, die Knie angezogen. Lauschte. Auf Rascheln, Knistern, Trippeln. Auf die Atemzüge vom Nachbarbett, stetig wie ein Metronom. Luke machte es nichts aus, der Mittelpunkt von Cockroach Junction zu sein.

Elijah hielt die Augen auf das samtblaue Fensterviereck gerichtet. Wenigstens war es nicht völlig dunkel. Anders als früher …

„Elijah? Warst du an meinem Bücherschrank?”

„N-nein, Vater.”

„Ich hatte dir doch verboten, in mein Büro zu gehen. Diese Bücher sind nichts für dich.”

„Ja, Vater.”

„Daisy hat gesehen, wie du aus meinem Zimmer gekommen bist. Warum lügst du mich an, Elijah?”

„Ich … Ich weiß nicht, Vater.”

„Vielleicht brauchst du Zeit zum Nachdenken? Damit du mir erklären kannst, warum du lügst?”

„Ich hab nicht gelogen, ganz bestimmt nicht! Daisy muss sich geirrt haben!”

Die wenigsten Häuser in Littlehampton hatten einen Keller, nicht einmal die soliden Steinhäuser. Das Pfarrhaus der methodistischen Gemeinde hatte einen. Eigentlich kaum mehr als ein Loch im Boden. Eine Stiege, Regale mit Pökelfleisch und Eingelegtem, keine Fenster. Wenn man hinunterstieg und die Bodenklappe schloss, war es so dunkel, dass man nicht wusste, ob man die Augen offen oder geschlossen hatte. Die Dunkelheit kroch an einem hoch, sie legte sich um Mund und Nase, es war wie Ersticken. Man ging hinunter in der festen Absicht, seine Zeit abzusitzen wie ein Mann. Die ersten paar Minuten verbrachte man damit, sich auf den eigenen Atem zu konzentrieren. Langsam und ruhig. Langsam und ruhig. Dann wurde der Atem schneller. Irgendwann bettelte man um ein Licht. Und noch etwas später fing man an zu schreien.

Überstellungsbefehl

Datum: 17. August 1906

Name: Pike Pearson

Alter: 35 (geb. 31.01.1871)

Grund der Verhaftung: Landstreicherei, Öffentliche Trunkenheit, Randalieren

Überstellungsbefehl

Datum: 17. August 1906

Name: Robert Philip Barton

Alter: 29 (geb. 07.05.1877)

Grund der Verhaftung: Landstreicherei, Öffentliche Trunkenheit

Überstellungsbefehl

Datum: 17. August 1906

Name: Floyd Barton

Alter: 29 (geb. 07.05.1877)

Grund der Verhaftung: Landstreicherei, Öffentliche Trunkenheit

Freitag, 17. August

„Siehst nicht aus, als hättste viel Schlaf gekriegt, Mate.”

„Geht schon.”

„Kannst ja über Tag schlafen. Hier verlangt keiner, dass wir die Pritschen hochklappen. Ich weck dich, wenn’s wichtig ist.”

Noch sechzehn Stunden bis zur Abfahrt. Gefolgt von zehn Stunden Zugfahrt und der Aufnahme in Fanny Bay, bei der sie einen komplett auseinandernahmen. Gerüchten zufolge war der Einfallsreichtum der Wärter legendär. Sie suchten nach Schmuggelgut an Orten, auf die er, Luke, im Traum nicht gekommen wäre. Buckley hätte das bestimmt gefallen.

Buckleys kleine Scherze. Der Frischling hatte sich gut gehalten, konnte man nicht anders sagen. Vergangene Nacht hatte man nichts von ihm gehört. Trotzdem, er tötete einem den Nerv. Er unterhielt sich mit dem Nigger, kritisierte, fragte einem Löcher in den Bauch. Wie schön war es allein gewesen …

Mach dir nichts vor. Ohne ihn hättest du doch vor Langeweile den Putz von der Wand gekratzt. Als Davis mit ihm reinkam, war deine größte Angst, dass sie ihn in der Zelle nebenan unterbringen, außer Sicht. Er wird im Knast jemanden brauchen, der auf ihn aufpasst. Er braucht …

Türenschlagen, die übliche Kollision mit dem Ofen. Drei, vier, fünf, Stiefelpaare, Absatzschleifen, Kettenklirren.

Kettenklirren.

Er fühlte Elijah neben sich treten, wieder mal mit Weste. „Schau mal”, sagte er leise. „Besuch. Haste den Kessel aufgesetzt?”

Zu viel, zu eng, zu laut. Auf einmal war die Zelle – ihre Zelle, dachte Elijah eifersüchtig – voller Leute, die Platz beanspruchten und sie füllten – mit Ausdünstungen, Schritten, Stimmen. Sie überschrieben seine und Lukes Anwesenheit, ihre Gespräche, die gemeinsame Stille. Der Gecko war in Deckung gegangen. Selbst der Zinkeimer roch anders.

Er hatte den Fehler gemacht, bei ihrem Eintreten aufzustehen und seine Pritsche war sofort mit Beschlag belegt worden. Eine Weile hatte er dumm herumgestanden, bis Luke beiseite gerutscht war. Nun saßen sie einander gegenüber, wie die Gestrandeten zweier verschiedener Inseln. Er und Luke auf einem Bett, auf dem anderen …

Bush Ranger. Wie die, die in den Gemälden von Tom Roberts[26] Postkutschen überfielen. Bärte, in besseren Zeiten von einem Barbier getrimmt. Man sah noch den Schnitt, wie unter einer zuwachsenden Hecke. Fleckige Hemden. Ein zerdrückter Cabbage-Tree-Hut mit rotem Filzband, dessen geflochtene Fasern die Farbe von schmutzigem Stroh angenommen hatten, ein schwarzer Bowler mit abgefressener Krempe. Ein Lichtblick – hellbraune Wildlederjacke, beigefarbener Lederhut, beide zu sauber, um schon lange bei ihrem Besitzer zu sein. Es blieb ein Rätsel, warum die Neuen nicht die zweite Zelle bezogen hatten. Wahrscheinlich hatte das Wachpersonal keine Lust, den ganzen Hausrat auszuräumen.

Der Besitzer der Lederjacke schaute sich um.

„Kuschelig habt ihr’s hier.”

Lukes Mundwinkel machten Klimmzüge für ein Grinsen. Etwas war mit seinen Augen passiert – sie waren erstarrt, wie von innen mit Eis überzogen.

„Grand Hotel Pine Creek, bestes Haus am Platz. Kalte Drinks, Rezeption rund um die Uhr besetzt, jede Art von Service.”

„Jede?” Der Blick des Anderen rutschte an der Eisfläche ab, machte die Runde, blieb an Elijah hängen. „Wirklich jede?”

Es waren Zwillinge. Rob und Floyd – der Jackenbesitzer – beide mit derselben Keksform ausgestochen, Leibgarde für den Mann in der Mitte. Er stellte sich als Pike vor.

Lukes Mundwinkel hielten das Grinsen. „Wie Sweet Betsy from Pike?”

„Genau.”

„Wo kommt ihr Jungs her?”

„Roper River[27]. Acht Wochen Viehtrieb, viertausend Rinder und trotzdem kein anständiges Stück Fleisch.” Pike lachte, machte deutlich, dass sich das nicht auf Steaks bezog.

„Tja, dann wird’s Zeit, dass ihr Jungs nach Palmerston kommt. In der Cavenagh Street gibt’s Eins-A Opiumkneipen.”

„Ehrlich gesagt hatte ich jetzt nicht so sehr ans Rauchen gedacht.”

„’N Puff gibt’s da auch. Die machen’s allerdings nur gegen Kohle. Ihr seht nicht so aus, als hättet ihr gerade die Erbtante begraben.”

„Kann ja noch viel passieren in den zwei Tagen.”

„Hübsche Sachen haste da, Dandy.”

Phil befingerte die taubengraue Seide, Gier im Blick.

„Lass ihn, du machst ihm noch Angst.”

Elijah tat, als hätte er es überhört, wünschte, es wäre so. Er war ans Gitter getreten, hatte Luke mit seinen neuen Freunden allein gelassen. Anscheinend kam er bestens klar; er übertönte sie mühelos. Wahrscheinlich lag er damit richtig. Die Drei waren einfach ganz normale Leute. Dreck allein machte noch keine schlechten Menschen.

Trotzdem, irgendetwas stimmt nicht. So wie sie gestutzt haben, als hätten sie nicht mit uns gerechnet. Und die Stimmung ist irgendwie … giftig. Als ob …

Als ob sie uns nicht hier haben wollten.

Hinter ihm hatte einer der Bartons ein Kartenspiel aus der Hosentasche gezaubert. In den Ecken wurden die Schatten rußiger. Das Tageslicht vertröpfelte. Die Hitze nicht.

Auf einmal stand Luke neben ihm.

„Was los, Frischling?”, sagte er deutlich hörbar. „Spielste nicht mit?”

Elijah schob die Hände tiefer in die Hosentaschen. Was soll das werden, Luke? Was ist mit dir los?

Laut sagte er: „Danke. Das ist nicht so meins.”

„Komm schon. Nimm mal den Stock aus’m Arsch.”

„Nein, wirklich nicht.”

Luke packte ihn nicht am Arm. Er schloss nur die Hand darum.

„Ach was”, sagte er fröhlich. „Wir können ja nicht mal um Geld spielen. Jetzt mach schon.” Und seine Hand verstärkte den Druck: Wir werden gesehen.

Elijah gab auf.

Die Karten wurden ausgeteilt. Es handelte sich um irgendeine Abart von Poker, die Elijah nicht kannte, und deren Regeln er nicht verstand. Er hockte auf dem Boden zwischen den Pritschen, Pike zur Linken, Luke auf der rechten Seite. Die Barton-Brüder bildeten jeweils die Flanke.