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Zehn kleine Shetlandponys sehnen sich nach Abenteuern in fremden Ländern fern ihrer Heimat, den stürmischen Shetlandinseln im rauen Nordatlantik. Über London, Amsterdam und Hamburg gelangen sie bis Rom und Madrid. An jedem dieser Orte warten beeindruckende Erfahrungen: Aufregend, lehrreich und anrührend. An jedem Ort bleibt eines zurück. Werden sie sich wiedersehen? Die Leser lernen Europa um das Jahr 1900 kennen.
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Seitenzahl: 102
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Zehn kleine Shetlandponys sehnen sich nach Abenteuern in fremden Ländern fern ihrer Heimat, den stürmischen Shetlandinseln im rauen Nordatlantik. Über London, Amsterdam und Hamburg gelangen sie bis Rom und Madrid. An jedem dieser Orte warten beeindruckende Erfahrungen: Aufregend, lehrreich und anrührend.
An jedem Ort bleibt eines zurück.
Werden sie sich wiedersehen?
Die Leser lernen Europa um das Jahr 1900 kennen.
SHETLAND– Inseln im Nordmeer
LONDON
AMSTERDAM
PARIS
HAMBURG
WEIMAR
WIEN
SIENA
ROM
MADRID
HOMER kehrt zurück
Obwohl der Regen in dicken Schnüren zur Erde rauschte, fiel er nicht in gerader Linie herunter. Ein kräftiger Nord-Ost-Wind trieb die Wassermassen vor sich her und formte aus ihnen riesige, durchsichtige Vorhänge, die sich öffneten und wieder zusammen-geblasen wurden.
Den kleinen Pferdchen machten Wind und Regen nichts aus. Anderes Wetter kannten sie kaum. Ihre Heimat, eine karge Insel, die zu der Shetland-Gruppe nördlich der schottischen Küste gehörte, war vom Klima nicht gerade verwöhnt. Sonnenschein und Wärme gab es zwar hin und wieder, aber viel häufiger mussten die Ponys Nebel, Schnee, Frost und – wie in diesem Moment – Nässe ertragen. Aber sie waren für dieses Dasein wie geschaffen. Ihr langes, zottiges Fell schützte vor Kälte. Die geringe Körpergröße, vergleichbar mit der eines ausgewachsenen Schäferhundes, verhinderte Wärmeverlust. Vor allem waren sie ungeheuer stark. Stundenlang konnten sie auf der Suche nach Nahrung über Berge und Täler traben, ohne die leiseste Ermüdung zu spüren.
Es waren genau zehn Ponys, die ihre Köpfe zusammensteckten und offenbar eine lebhafte Unterhaltung führten. Auf den ersten Blick sahen sie sich recht ähnlich, zumal der Regen die Sicht etwas trübte. Bei näherem Hinsehen zeigten sich jedoch Unterschiede in Farbe, Größe, Schweiflänge oder Frisur. Einige trugen die Mähne am Hals kurz geschnitten, ließen das Haar jedoch langsträhnig über die Augen fallen. Andere bevorzugten einen modischen Bürstenschnitt auf dem Kopf, während die Mähne fast bis auf den Boden reichte. Eines der Pferdchen – es war wohl ein Mädchen – hatte seine langen blonden Haare zu Zöpfen geflochten und sah damit sehr niedlich aus. Sie hieß Pamina und war die Jüngste der Gruppe. Der Älteste, ein schwarzer Hengst mit einem weißen Punkt auf der Stirn, schien so etwas wie der Anführer zu sein. Er konnte nämlich lesen und schreiben und noch besser Fußball spielen. Homer – so war sein Name – dachte gerade angestrengt nach, denn auf seiner Stirn zeigten sich tiefe Falten. „Freunde“, begann er bedächtig und kaute dabei auf einem Grashalm, „so kann es nicht weitergehen. Mich langweilt dieses beschauliche Leben. Gut, wir haben alles, was man zur Zufriedenheit braucht. Reichlich Futter, erfrischenden Regen und herrlich weichen Schnee zur schönen Winterszeit. Auch ist es vergnüglich, mit euch herumzutoben und allerlei Streiche auszuhecken. Trotzdem, ich spüre eine Sehnsucht in mir nach Abenteuern und fernen Ländern. Es zieht mich unwiderstehlich in die weite Welt.“
Violante, eine lebhafte, braun-weiß gescheckte Teenager-Stute, nickte zustimmend, wobei ihr die Brille ein wenig verrutschte. „Homer hat recht, ich empfinde das genauso. Jeden Morgen nach dem Aufstehen danke ich unserem Gott Equus dafür, dass er uns nährt und beschützt und lege immer drei saftige Haferkörner in seine Opferschale. Einmal wollte ich ihn ein bisschen ärgern und vergaß die Haferkörner. Es passierte aber nichts. Niemand wurde krank, es gab kein schreckliches Unwetter und die Schule wurde auch nicht vom Blitz getroffen. Alles blieb, wie es war – behaglich, aber eintönig. Vielleicht ist Equus schon ein wenig schläfrig geworden und lässt die Dinge einfach laufen.“
Nun meldete sich Titus zu Wort. Titus liebte die Welt der Sagen und Märchen, und wenn er sprach, glaubte man einen Ritter aus König Artus Tafelrunde zu hören. „So vernehmt denn“, begann er würdevoll, „in alter Zeit geschah gar Wundersames, und zwar fast jeden Tag. Für unsere seligen Vorfahren existierte das Wort Langeweile nicht. Ihr Leben war ein einziges Abenteuer. Nehmt zum Beispiel den göttlichen Pegasus, der seinen Reiter sogar in die Lüfte entführen konnte. Oder denkt an Bucephalos, das herrliche Ross Alexanders des Großen. Es hat den König fast bis an das Ende der Welt getragen. Zahlreiche Beispiele könnte ich euch noch nennen: Prinz Eisenherz‘ roten Hengst Arvak. Beyart, das gewaltige schwarze Ross, das die vier Heimonskinder in voller Rüstung auf seinem Rücken tragen konnte. Don Quichotes Rosinante. Lasst uns anknüpfen an das heldenhafte Dasein unserer Ahnen, denn ihr Mut, ihre Abenteuerlust und ihre unbändige Kraft pulsiert auch in unseren Adern.“
„Gut und schön“, meinte daraufhin Aida, die für ein Pony recht groß und von schöner Gestalt war, “aber ich kann leider nicht fliegen. Und wer weiß, ob es am Ende der Welt meine Lieblingsschokolade gibt?“
Daisy spielte verträumt mit ihren langen, blonden Locken und seufzte laut: „Ach, wenn ich mir vorstelle, dass so ein starker Ritter in prunkvoller Rüstung auf meinem Rücken sitzt, einen Federbusch auf dem Helm und einen Strauß Rosen in der Hand. Wie aufregend!“
„Du würdest glatt zusammenbrechen“, brummte daraufhin der starke Bruno, „da brauchst du schon solche Muskeln wie ich sie habe. Außerdem sind diese Ritter meistens eitle Angeber. Anstatt sich um lästige Drachen zu kümmern, scharwenzeln sie den ganzen Tag um die schönen Hoffräuleins herum.“
„Rohe Kräfte allein sind wertlos, für uns Pferde ist die Eleganz der Bewegungen wichtig.“ Die kleine zierliche Hippie zeigte einen Handstand mit Überschlag und anschließendem Spagat. „Nur so kann man in der Welt zurechtkommen, und wenn ihr in der Fremde überleben wollt, müsst ihr schon einige Kunststückchen beherrschen. Die Leute lieben das.“
„Recht hat sie“, stimmte Dante der kleinen Tänzerin zu, „denn – wie der Dichter schon sagt:
„Wo rohe Kräfte sinnlos walten,
da kann kein Gurt den Sattel halten!
Andererseits, ganz ohne Muskelkraft geht es auch nicht. Ein anderer Dichter meint nämlich:
Wohl dem, der Mumm in seinen Knochen hat,
allein vom Denken wird kein Kutschpferd satt .“
Dante war der Poet und Philosoph unter den Ponys der Shetlandinseln. Er hatte sämtliche Pferdebücher gelesen und schmückte seine Rede gern mit Zitaten aus Werken der Weltliteratur.
Ganz anders als Julian, der nüchterne Denker. Bevor Julian etwas sagte, dachte er gründlich nach. Er räusperte sich dezent, nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und stieß einen besonders schönen runden Rauchkringel aus. Die anderen schwiegen sofort und warteten gespannt auf die sicherlich sehr klugen Äußerungen ihres Klassenbesten. Es dauerte aber noch rund zwei Minuten, bevor sie folgende Worte hörten: „Es wäre nützlich für jeden von uns, ein bisschen mehr von der Welt zu sehen. Das erweitert den geistigen Horizont und schärft das Denkvermögen. Körper, Geist und Seele bilden zwar eine Einheit, aber sie beeinflussen sich gegenseitig. Wenn also das Gehirn als Sitz des Geistes gesund ist, dann ist auch der Körper frei von Krankheiten und die Seele freut sich. Ich wäre also sehr dafür, dass wir uns so schnell wie möglich auf die Hufe machen und fremde Länder mit ihren Sitten und Gebräuchen kennen lernen. Falls wir dann eines Tages heimkehren sollten, dann als gereifte und gebildete Weltbürger.“
Die kleinen Pferdchen lauschten beeindruckt und nickten abwechselnd, um zu bestätigen, dass sie ähnlich dachten und fühlten wie ihr Freund Julian. Nachdem dieser seinen Vortrag beendet hatte, entstand eine kleine Pause. Dann redeten alle wild durcheinander, scharrten aufgeregt mit den Hufen und wollten am liebsten sofort aufbrechen. Aber es gab eine Menge zu bedenken, und viele Fragen mussten beantwortet werden: Wie kommen wir hier weg? Was müssen wir mitnehmen? Wohin gehen wir? Wann geht es los?
Die Heimat der Ponys lag mitten im stürmischen Atlantischen Ozean. Jetzt, im Herbst, wagten nur wenige Schiffe, den schützenden Hafen zu verlassen. Nur besonders seetüchtige Segler mit einer unerschrockenen Mannschaft konnten den entfesselten Elementen trotzen. Ein solches Schiff war die stolze Albatros , eine Viermastbark mit himmelhoch ragenden Masten, weißen Segeln und sauber geschrubbtem Oberdeck. Momentan jedoch lag sie fest vertäut an der Pier und zerrte an ihren Trossen. Der Kapitän, ein kleiner, rundlicher Mann mit Vollbart und Schiffermütze, beobachtete missmutig die grauen, sich jagenden Wolken und nuckelte nervös an seiner Pfeife. „Verdammtes Schietwetter, Hölle und Teufel noch mal! Da soll mich doch der Satan holen! Beim Barte Wotans, wie soll ich meine Ware pünktlich abliefern, wenn Poseidon so üble Laune hat und uns an den Kragen will? Hat wohl wieder zu viel schlechten Whisky getrunken. Jetzt ist auch noch die Hälfte meiner Mannschaft krank geworden. Haben sich wahrscheinlich im Klabautermann mit Schmugglern und Piraten geprügelt und schlafen jetzt ihren Rausch aus, Schlappschwänze und Halunken, alle miteinander!“ Brummelnd und fluchend spuckte er in hohem Bogen in Lee und warf finstere Blicke in alle Himmelsrichtungen. „Ahoi, ist jemand an Bord? Wir möchten gern den Kapitän sprechen. Ist er da? Huhu, hallo!“ „Lasst mich gefälligst in Ruhe,“ murmelte Käpt’n Fockschot unwillig, schaute dann aber doch ein wenig neugierig über die Reling auf die Pier hinunter. Da traf ihn fast der Schlag. Fröhlich winkend wieselten dort zehn kleine Pferdchen durcheinander, klatschten in die Hufe und stießen Freudenrufe aus. „Sind Sie der Kapitän?“ Ein schwarzer Hengst mit einem weißen Punkt auf der Stirn näherte sich der Bordwand. Fockschot nickte wortlos und ließ dabei die Pfeife ins Wasser fallen. „Fein, wir möchten gern die Insel verlassen und Abenteuer erleben. Würden Sie uns mitnehmen? Wir können auch kräftig mit anpacken. Wohin geht denn die Reise?“ „Nach England, genauer gesagt nach London.“ Kapitän Fockschot hatte einigermaßen die Fassung zurückgewonnen und spürte, wie ein Gefühl von Freude in seinem Herzen aufstieg. „Zehn kräftige Helfer kann ich gerade jetzt gut gebrauchen. Auch wenn es keine ausgebildeten Seeleute sind, so könnten sie doch beim Setzen und Bergen der Segel helfen und manch andere nützliche Aufgabe übernehmen. Aye, aye, abgemacht. Kommt an Bord, ihr Landratten. Bootsmann Halbzart wird euch armseligen Maulwürfen beibringen, was eine Teerjacke können muss. Damit ihr wisst, was einen Palstek von einer Portion Spaghetti unterscheidet.“ „Jawohl, Herr Kapitän, aye, aye, wir kommen.“ Unter fröhlichem Lachen galoppierten unsere kleinen Abenteurer die Gangway hinauf, genau in die Arme des grimmigen Bootsmannes Francis Halbzart.
Fröhliches Lachen war an den folgenden zwei Tagen nicht mehr zu hören. Höchstens ein hämisches Grunzen des Bootsmannes, wenn eines der Pferdchen mal wieder zur Reling eilte, um sich stöhnend in die kochende See zu erbrechen. Aber sie waren von Natur aus tapfer und zäh und überwanden schnell alle Schwierigkeiten. Bald hatten sie sich an die heftigen Bewegungen des Schiffes gewöhnt, und wenn wieder einmal ein gewaltiger Brecher über das Oberdeck rollte und sie bis auf die Haut durchnässte, dann schüttelten sie sich einmal kurz und widmeten sich wieder ihrer Arbeit.
Endlich der stürmischen See entronnen, gerieten unsere Freunde in ruhiges Fahrwasser. Zwar musste der Viermaster mühsam gegen den Westwind ankreuzen, aber das lästige Schaukeln hörte langsam auf. Schon tauchten in der Ferne die Umrisse von London auf, der größten Stadt der Welt. Der kluge Julian konnte sofort erklären, dass London vor ungefähr eintausendachthundertundfünfzig Jahren von den Römern gegründet wurde. „Sie gaben der Siedlung den Namen Londinium. Später, im Mittelalter, wohnten hier die englischen Könige und die berühmteste aller Königinnen, Elisabeth die Erste. Heute gibt es wieder eine Königin. Sie heißt Viktoria und ist gleichzeitig Kaiserin von Indien.“ Zufrieden lehnte Julian sich an die Reling, stopfte sich eine neue Pfeife und genoss die Bewunderung seiner Gefährten. Die Themse, so heißt der große Fluss, an dessen Ufern sich London erstreckt, wurde mitten in der Stadt von einer kürzlich erbauten Brücke überspannt, der Tower Bridge. Zwei Dampfschlepper bugsierten die Albatros schnaufend unter der Brücke hindurch zu einem geeigneten Anlegeplatz am linken Themseufer. Zwei Matrosen sprangen auf die Pier, zogen die schweren Haltetaue an Land und wickelten sie um die eisernen Poller. Das Ziel war erreicht und die Pferdchen konnten erleichtert von Bord gehen.
Staunend umrundeten sie die imposante Westminster Abbey und gelangten zum St James‘s Park. Vorbei an der Gruppe winziger Pferdchen bewegte sich ein wahrhaft prächtiger Paradezug in Richtung Buckingham Palast.