13 Stufen - Kazuaki Takano - E-Book

13 Stufen E-Book

Kazuaki Takano

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Beschreibung

Ein unschuldig wegen Mordes zum Tod Verurteilter soll hingerichtet werden. Der ehemalige Gefängnisaufseher Nangō und der auf Bewährung entlassene Jun'ichi erhalten den Auftrag, den wahren Täter zu finden. Für das ungleiche Ermittlerduo beginnt damit nicht nur ein dramatischer Wettlauf gegen die Zeit, sondern beide müssen sich auch ihrer eigenen Vergangenheit stellen.

Bestsellerautor Kazuaki Takano erzählt eine fesselnde Geschichte voller unerwarteter Wendungen und falscher Fährten bis hin zum furiosen Showdown. Am Beispiel der in Japan noch angewandten Todesstrafe stellt er die Frage nach Schuld und Reue, nach dem Recht auf Vergeltung. Dabei erzeugt seine vielschichtige Erzählweise eine außergewöhnliche Spannung, die den Leser bis zur letzten Seite nicht loslässt.

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Seitenzahl: 414

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KAZUAKI TAKANO, geb. 1964 in Tokyo, arbeitet in Hollywood und Japan als Drehbuchautor. Für seine Romane erhielt er renommierte Preise. Sein jüngster Roman »Extinction« stand in Japan monatelang auf den Bestsellerlisten und wurde u.a. als bester Thriller des Jahres ausgezeichnet.

»Takano lässt Fiktion und Wirklichkeit auf subtile Weise kollidieren, vor dem Hintergrund der Snowden-Enthüllungen und der Ebolakrise in Westafrika.« Deutschlandradio Kultur zu »Extinction«

Außerdem von Kazuaki Takano lieferbar:

Extinction, Thriller

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Kazuaki Takano

13 STUFEN

Roman

Aus dem Japanischenvon Sabine Mangold

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel»Jusan Kaidan« bei Kodansha, Tokyo.PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichenvon Penguin Books Limited und werdenhier unter Lizenz benutzt.Copyright © 2001 by Kazuaki TakanoAll rights reservedCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017by Penguin Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House,Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenUmschlag: Hafen Werbeagentur gfk, HamburgUmschlagmotiv: © Valentino Sani / Trevillion ImagesSatz: Fotosatz Amann, MemmingenISBN 978-3-641-18319-6V003www.penguin-verlag.de

Meinem Vater, meiner Mutterund meinem Bruder gewidmet.

PROLOG

Die Todesboten erschienen um neun Uhr morgens.

Ryō Kihara hatte bisher nur einmal ihre Schritte vernommen.

Zuerst hörte er den dumpfen Knall der Eisentür. Die Luft vibrierte wie bei einem Erdbeben, die Atmosphäre im Zellentrakt änderte sich schlagartig. Das Tor zur Hölle hatte sich aufgetan, und nackte Angst, die zur absoluten Regungslosigkeit verdammte, brach sich Bahn.

Kurz darauf marschierte eine Reihe Männer mit schnellen Schritten durch den ansonsten totenstillen Gang.

Nicht stehen bleiben!

Kihara wagte nicht zur Tür zu schauen. Er kniete mitten in seiner Zelle und starrte auf die zitternden Finger in seinem Schoß.

Bitte nur nicht stehen bleiben!, flehte er im Stillen.

Ihn überfiel ein unkontrollierbarer Harndrang.

Als die Schritte sich weiter näherten, fingen auch seine Beine an zu beben. Im gleichen Moment sackte ihm der Kopf, klatschnass von kaltem, klebrigem Schweiß, unwillkürlich auf die Brust.

Das Stampfen auf den Fliesen wurde immer lauter. In den paar Sekunden, als die Schritte auf Kiharas Zelle zusteuerten, weiteten sich sämtliche Gefäße in seinem Körper, bis sein schier zerberstendes Herz das Blut durch die Adern jagte und jedes einzelne Körperhaar erzittern ließ.

Doch die Schritte hielten nicht inne.

Die Männer marschierten an seiner Zelle vorbei und kamen exakt neun Schritte weiter zum Stehen.

Kurz darauf hörte Kihara, wie die Sichtklappe geöffnet und wieder geschlossen und dann die Tür aufgeschlossen wurde. Seine Nachbarzelle war leer, es musste demnach die übernächste sein.

»Nummer 190, Ishida.« Es klang verhalten. Hatte der Oberaufseher gesprochen?

»Es ist Zeit. Raustreten!«

»Was?!«, kam die Antwort, merkwürdig verzerrt. Wie von einem geistig Verwirrten.

»Ja, du verlässt jetzt die Zelle.«

Erst herrschte Stille, dann erhob sich plötzlich ein großer Tumult: Plastikgeschirr wurde gegen die Wand geschmettert, schepperte zu Boden, wildes Trampeln und ein anhaltend bestialisches Gebrüll, das unmöglich von einem einzelnen Menschen stammen konnte und den restlichen Lärm übertönte.

Kihara hörte, wie jemand sich entleerte, gefolgt von dem hässlichen Geräusch platschender Schritte, die durch eine Lache stapften.

Kihara lauschte angestrengt und versuchte, die einzelnen Geräusche zuzuordnen. Mit Entsetzen hörte er ein leises Keuchen aus dem Lärm heraus. Dann vernahm er das Würgen eines von Todesangst gepeinigten Menschen, der sich krampfhaft erbrach, während er aus der Zelle geführt wurde.

Kihara presste sich beide Hände auf den Mund, um den eigenen Brechreiz zu unterdrücken.

Nach einer Weile wurde es ruhiger, nur ein Schluchzen war noch zu hören. Dann hallten erneut harte Schritte, die sich in Bewegung setzten, und ein scharrendes Geräusch, als würde ein schweres Gepäckstück über den Boden geschleift werden.

Als wieder Stille im Trakt herrschte, konnte Kihara sich nicht mehr aufrecht halten. Auch wenn er damit gegen die Vorschriften verstieß, ließ er sich einfach vornüber auf die Tatamimatte fallen.

Auch jetzt noch durchlief Kihara ein Schaudern, wenn er daran zurückdachte. Damals hatte er bereits drei Jahre im Todestrakt gesessen, dem sogenannten »Nullbezirk« der Justizvollzugsanstalt Tokyo. Mittlerweile lag der Vorfall fast vier Jahre zurück. Kihara wusste nicht, ob die Vollstreckungen inzwischen eingestellt worden waren. Einen solchen Tumult hatte er zwar nie wieder erlebt, aber mitunter gab es unter den zum Tode Verurteilten, denen er auf dem Korridor begegnete, ganz gewiss welche, die nie wieder gesehen worden waren.

Kihara hielt inne mit seiner Beschäftigung, die im Zusammenkleben von Papiertüten bestand, und schaute sich in der Zelle um. In der Einzelhaft maß der Raum nicht einmal drei Tatami, also knapp fünf Quadratmeter. Den Platz abgerechnet, den Waschtrog und Kloschüssel einnahmen, standen ihm damit sogar nur etwas mehr als drei Quadratmeter Raum zur Verfügung. In der Zelle, in die kaum natürliches Licht gelangte, flackerte tagsüber eine Neonleuchte, während die ganze Nacht eine 10-Watt-Birne brannte, um die streng bewachten Todeskandidaten ständig zu beleuchten. Sieben Jahre verbrachte er nun schon in diesem düsteren Verlies; sieben Jahre voller Todesangst.

Als er das entfernte Geräusch einer Straßenbahn hörte, erhob er sich leise und stahl sich ans Fenster, vor dem eine Leine mit Wäsche aufgespannt war.

Selbst wenn er die Glasscheiben des Schiebefensters öffnete, blieb die Umgebung wegen der Gitterstäbe und der Plastikverkleidung für ihn unsichtbar. Aber immerhin blitzte durch den Spalt über der Sichtblende ein kleiner Streifen des bewölkten Himmels hindurch, und er konnte einen warmen Lufthauch auf seiner Wange spüren.

Wann geschieht es das nächste Mal?, fragte er sich.

Als er die frische Luft einsog, übermannte ihn das mittlerweile bekannte Gefühl der Panik. Rückte der Tag etwa näher, an dem die Todesboten auch vor seiner Zelle Halt machen würden?

Er hatte bereits viermal einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens gestellt, doch sämtliche Berufungen in den einzelnen Instanzen waren gescheitert, da die Beschwerden jedes Mal zurückgewiesen worden waren. Der vierte Revisionsantrag war erst vor Kurzem strikt abgelehnt worden, worauf er wiederum sofort Beschwerde eingelegt hatte. Doch das alles war eine ziemlich aussichtslose Prozedur, nur dazu da, sich auch noch an den letzten Strohhalm zu klammern. Beim vierten Revisionsantrag ließ sich kein Beweis mehr anführen, der an dem endgültigen richterlichen Beschluss begründete Zweifel erkennen ließ, wie gewissenhaft man auch die Prozessakten durchforsten mochte.

Man wird mich hinrichten.

Für eine Tat, an die ich mich überhaupt nicht erinnern kann.

Als er die Schritte des Aufsehers hörte, setzte er sich an den flachen Tisch. Es war elf Uhr vormittags. Also nicht die Stunde, wo sie einen abholten. Zumindest bis zum nächsten Tag war er sicher.

Kihara nahm seine ihm zugewiesene Beschäftigung wieder auf. Er faltete das Papier mit dem Logo des renommierten Kaufhauses und klebte die Lagen zusammen. Sein Stundenlohn betrug 32 Yen, auf den Monat umgerechnet war das ein Gehalt von etwa 5000 Yen. Immerhin konnte er damit seine privaten Einkäufe wie Schreibwaren, Süßigkeiten oder Kleidung aus eigener Tasche bezahlen.

Über der monotonen Handarbeit verfiel Kihara in die üblichen Grübeleien – ein kleiner psychologischer Trick, um sich von der allgegenwärtigen Todesangst abzulenken.

Welcher Mensch würde wohl diese Einkaufstüte benutzen?, malte er sich aus.

In der Regel waren es doch Frauen, die in einem Warenhaus einkaufen gingen. Ab und zu möchte sich auch mal ein Mann dorthin verirren, um vielleicht ein Geschenk für seine Geliebte zu besorgen.

Kihara hielt unwillkürlich inne, als er sich einen Kunden vorstellte, der eine Einkaufstüte trug.

Er sah eine Treppe vor sich. Eine Person, die mit schweren Taschen bepackt die Treppe eines Kaufhauses hinaufstieg. Wieso beschäftigte ihn diese Gestalt so sehr? Er versuchte sich auf dieses Bild zu konzentrieren.

Die Rückenansicht des Kunden. Das schwere Gepäck. Die Schritte, die Stufe für Stufe erklimmen.

Nein, das war es nicht!

Kihara hob den Kopf.

Die Treppe!

Eine vage Erinnerung tauchte in einem Winkel seines Gedächtnisses auf.

So war es! Ich selbst bin damals eine Treppe hochgelaufen.

Gerannt, in Todesangst, genau wie jetzt … eine Treppe hinauf.

Als ihm klar wurde, dass diese verschwommene Erinnerung nicht bloß ein Hirngespinst war, schüttelte er heftig den Kopf. Nein, es war kein Trugbild. Er selbst war damals eine Treppe hinaufgeflüchtet.

Kihara sprang auf und legte den Deckel auf den Waschtrog. So wurde daraus ein Pult. Er griff sich Kugelschreiber und Notizblock und setzte sich als Stuhlersatz auf die Kloschüssel. Er wollte einen Antrag zum Versenden von Briefen stellen. Selbst bei einem förmlichen Schreiben an seinen Anwalt musste er für jede Kleinigkeit erst die Genehmigung einholen. Eine dringende Mitteilung wie diese würde vermutlich gestattet werden. Der Inhalt erreichte dann seinen Verteidiger, ohne durch die Zensur verstümmelt oder gar abgelehnt zu werden.

Das könnte meine Rettung sein!

Hoffnung keimte in ihm auf. Es war der erste wirkliche Lichtblick in den sieben Jahren, die er nun schon im Todestrakt saß.

Vielleicht könnte sein Leben doch noch gerettet werden.

Nachdem er den Genehmigungsantrag verfasst hatte, schrieb Kihara aufgewühlt den Brief an seinen Anwalt.

IRÜCKKEHR

1

»Erstens: Ich bin verpflichtet, mich um einen festen Wohnsitz und eine ordentliche Anstellung zu kümmern.«

Die schrille Stimme bebte vor Anspannung.

So kurz vor der Rückkehr in die Freiheit durfte man sich keinen Fehler erlauben.

»Zweitens: Ich bemühe mich, auf gute Führung zu achten!«

Jun’ichi Mikami stand stramm, während er den Worten des Mitinsassen lauschte. Er hatte bereits die Anstaltsuniform gegen zivile Kleidung getauscht und hielt den Beschluss zur vorzeitigen Haftentlassung in der Hand. Er hatte tiefliegende Augen, darüber wölbten sich auffällige Brauen. Er war siebenundzwanzig, sah jedoch jünger aus. Sein Gesichtsausdruck mit den klaren Zügen wirkte angespannt und nachdenklich.

»Drittens: Jeglicher Umgang mit Kriminellen und Vorbestraften ist mir verboten.«

Jun’ichi starrte auf den Rücken des Häftlings, der das Gelübde laut verlas. Er hieß Tazaki und war etwa zehn Jahre älter als Jun’ichi. Wenn er dessen Gesicht mit den herabhängenden Schlupflidern betrachtete, konnte er sich kaum vorstellen, dass dieser seine Verlobte aus Wut, weil sie keine Jungfrau mehr war, getötet hatte.

»Viertens: Bei einem geplanten Wohnsitzwechsel oder vor dem Antritt einer längeren Reise muss zuvor der zuständige Bewährungshelfer darüber informiert werden.«

Im Sitzungssaal der Sicherheitsabteilung der Justizvollzugsanstalt Matsuyama befanden sich außer dem Anstaltsdirektor noch einige Beamte. Es waren die Aufseher, wie es so schön hieß, beziehungsweise einfache Justizvollzugsbeamte.

Das durch die Milchglasscheiben des Fensters schimmernde Sonnenlicht ließ die Gesichter der Beamten auf ungewohnte Weise mild erscheinen.

»Fünftens: Ich bete für das Seelenheil des Opfers und bemühe mich, meine Tat aufrichtig zu bereuen.«

Jun’ichi spürte, wie ihm das Blut in den Adern gefror.

Für das Seelenheil des Opfers beten und aufrichtig bereuen!

Wo mochte der Mann, den er getötet hatte, jetzt wohl sein? Im Himmel oder in der Hölle? Oder war die Seele des Toten vielleicht nirgendwohin gewandert, sondern einfach ins Nichts verpufft? Hatte er den Mann durch seine gegen ihn verübte Gewalt vollkommen ausgelöscht?

»Sechstens: Ich bin dazu angehalten, mich zweimal im Monat bei der Bewährungsbehörde beziehungsweise meinem zuständigen Betreuer zu melden, um über meine aktuelle Situation Auskunft zu geben.«

Jun’ichi senkte den Blick. Während der gesamten Haftzeit hatte ihm eine Frage keine Ruhe gelassen: Hatte er tatsächlich ein Verbrechen begangen? Sollte seine Tat wirklich eine Sünde gewesen sein, wäre dann seine Schuld mit knapp zwei Jahren Freiheitsstrafe abgebüßt?

»Siebtens: Die Vorgänge im Gefängnis unterliegen der Schweigepflicht, ich darf mit Außenstehenden nicht darüber sprechen.«

Als Tazaki mit dem Verlesen der Verhaltensregeln fertig war, ging er über zum Haupttext des Vertrages.

»Mit meiner vorzeitigen Entlassung wird mir ein ehrenamtlicher Bewährungshelfer zur Seite gestellt …«

Als Jun’ichi aufschaute, traf sich sein Blick mit dem des Beamten, der ihm direkt gegenüberstand. Der Mann hieß Nangō und war der Oberaufseher im Gefängnis. Er war etwa Ende vierzig, hatte breite Schultern und ein zerfurchtes Gesicht. Er lächelte Jun’ichi zu.

Gratuliert er mir etwa zu meiner Entlassung?, dachte Jun’ichi, doch dann beschlich ihn das leise Gefühl, dass das Lächeln seines Gegenübers einen tieferen Sinn haben musste.

»Ich gelobe hiermit, dass ich mich unter Befolgung der zuvor erwähnten Verhaltensmaßregeln in Zukunft aufrichtig bemühen werde, ein rechtschaffendes Mitglied der Gesellschaft zu werden …«

Was für ein Interesse könnte dieser Nangō an mir haben?, fragte sich Jun’ichi irritiert. In der Haftanstalt gab es freundliche Aufseher, die einem Annehmlichkeiten zubilligten, sofern man nicht gegen die Regeln verstieß, andererseits aber auch Sadisten, die nach falschen Beschuldigungen Disziplinarstrafen verhängten. Aber Nangō gehörte zu keiner der beiden Kategorien, eigentlich hatte er bisher kaum mit ihm zu tun gehabt.

»Es darf kein Einspruch erhoben werden, wenn bei Zuwiderhandlung die Entlassung auf Bewährung erlischt und der Straftäter erneut inhaftiert werden muss. Der vorzeitig Entlassene ist Gorō Tazaki.«

Als er die Einverständniserklärung zu Ende gelesen hatte, begann hinter Jun’ichi ein Einzelner zu klatschen. Doch dem Zuschauer schien sein unangemessenes Verhalten sofort bewusst zu werden, denn sein Applaus verstummte abrupt.

Jun’ichi war sofort klar, von wem der Beifall kam, ohne sich zu dem Betreffenden umwenden zu müssen. Es war sein Vater, der hinter ihnen stand. Er hatte die beschwerliche weite Reise von Tokyo nach Matsuyama in der Region Shikoku auf sich genommen, um seinen Sohn abzuholen. Er war mittlerweile einundfünfzig und besaß einen kleinen Handwerksbetrieb. Jun’ichis angespannte Miene löste sich nun zu einem Lächeln.

»Ihre Haftzeit hier im Gefängnis mag Ihnen sehr lang vorgekommen sein«, sagte der mit einer marineblauen Uniform bekleidete Anstaltsdirektor und gab ihnen die letzten Anweisungen mit auf den Weg. »Ich wünsche mir, dass Ihre wahre Besserung jetzt beginnt. Dass Ihre Rehabilitierung eines Tages gelingen mag, damit Sie nie wieder ins Gefängnis müssen und ein rechtschaffenes Leben in der Gesellschaft führen können. Bitte lassen Sie sich nicht unterkriegen, versuchen Sie die im Zuge Ihrer Resozialisierung auftretenden Schwierigkeiten zu meistern und vergessen Sie nicht die Lektion, die Sie hier gelernt haben. Das wär’s. Herzlichen Glückwunsch!«

Diesmal erhob sich allseits lautstarker Applaus im Sitzungssaal.

Die Zeremonie, bei der die Dokumente zur vorzeitigen Entlassung überreicht wurden, war damit beendet.

Nachdem Jun’ichi und Tazaki sich vor dem Gefängnispersonal verneigt hatten, wussten beide nicht so recht, wie es nun weiterging. In den letzten Jahren war ihr Leben so stark von Regeln bestimmt gewesen – bis hin zu der Vorschrift, in welche Richtung sie zu blicken hatten –, dass sie diese nicht so ohne Weiteres ablegen konnten.

»Also dann«, verabschiedete sie der Anstaltsdirektor und entließ die beiden, indem er ihnen mit einer Handbewegung den Weg wies. Jun’ichi blickte in die gezeigte Richtung.

Im hinteren Teil des Konferenzraums stand sein Vater Toshio an der Wand. Er hatte den typischen dunklen Teint und den drahtigen Körper eines Fabrikarbeiters. In seinem besten Anzug, der seiner bodenständigen Erscheinung eher Abbruch tat, wirkte er wie ein abgehalfterter Schlagersänger. Aber gerade sein unbeholfenes Auftreten weckte bei Jun’ichi ein Gefühl heimatlicher Geborgenheit. Er schritt auf seinen Vater zu. Tazaki seinerseits lief zu einem älteren Paar, bei dem es sich offenbar um seine Eltern handelte.

Toshio Mikami strahlte übers ganze Gesicht, als er seinen Sohn begrüßte, und reckte triumphierend die Faust, was den umstehenden Beamten ein Schmunzeln entlockte.

»Ganz schön lange, was?«, sagte Toshio, als er Jun’ichis Gesicht betrachtete, und seufzte, als hätte er selbst die Haftstrafe verbüßt. »Du hast es hinter dir.«

»Und Mutter?«

»Sie bereitet zu Hause das Willkommensessen vor.«

»Mhm.« Jun’ichi nickte und atmete tief durch. »Vater, verzeih mir.«

Toshios Augen wurden feucht. Auch Jun’ichi biss sich auf die Lippen, während er die Antwort seines Vater erwartete.

»Denk nicht mehr daran«, erwiderte Toshio stockend. »Du wirst dir jetzt eine vernünftige Arbeit suchen und ein ordentliches Leben führen, nicht wahr?«

Jun’ichi nickte.

Toshios Miene hellte sich sogleich wieder auf. Spielerisch packte er seinen Sohn am Kopf und rüttelte ihn ordentlich durch.

Vom Fenster der Abteilung für allgemeine Angelegenheiten aus sah man, wie Vater und Sohn gerade das Gefängnis verließen. Am Tor wurden abschließende Formalitäten durchgeführt, ein letztes Mal die Identität überprüft.

Erleichtert betrachtete Shōji Nangō die frohen Gesichter der beiden Mikamis. Solche Abschiedsszenen erfüllten ihn immer mit Freude – wenn jemand entlassen wurde und das Gefängnistor hinter sich ließ. Schon mit neunzehn war er als Gefängnisaufseher verbeamtet worden, und bereits nach dem ersten Dienstjahr war sein anfänglicher Enthusiasmus, Menschen bessern zu wollen, ziemlich abgeflaut. Mittlerweile, fast dreißig Jahre später, waren derartige Entlassungsszenen der einzige Trost, den seine Arbeit noch für ihn bereithielt. Zumindest in solchen Momenten konnte er sich einreden, dass der Kriminelle rehabilitiert war. Die Gefahr der Strafrückfälligkeit blendete er dabei einfach aus und freute sich stattdessen, wenn jemand freikam.

Die Mikamis verneigten sich tief vor dem diensthabenden Gefängnisbeamten und schritten durch das Tor. Seite an Seite gingen sie davon.

Nangō schaute ihnen nach, bis sie außer Sichtweite waren, und kehrte zum Aktenschrank zurück. Dort befand sich Jun’ichi Mikamis Strafakte. Der dicke Ordner beinhaltete sämtliche Aufzeichnungen der Gefängnisaufsicht über den Häftling. Von der sozialtherapeutischen Abteilung, wo Nangō tätig war, bis hin zur Abteilung für allgemeine Angelegenheiten. Solange Jun’ichi keine weiteren Strafen über diesen Arrest hinaus erhielt, wurde seine Akte hier verwahrt.

Obwohl er ihn schon häufig durchgeblättert hatte, schlug Nangō den Ordner erneut auf, um sich den Untersuchungsbericht mit den Angaben zu Jun’ichis Person und den Anklagepunkten noch einmal vorzunehmen. Er wollte sich ein letztes Mal vergewissern.

Jun’ichis Familie – außer den Eltern hatte er noch einen jüngeren Bruder – stammte aus Tokyo. Zur Tatzeit war er fünfundzwanzig Jahre alt gewesen. Ohne gegen die richterliche Entscheidung Berufung einzulegen, war er wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu zwei Jahren Gefängnis unter Anrechnung der Untersuchungshaft verurteilt und in die Justizvollzugsanstalt Matsuyama überstellt worden.

Nangō überflog Jun’ichis Lebenslauf und den Tatbericht. Eine chronologische Übersicht, die sich von seiner Kindheit bis zum Verbrechen erstreckte, war mittels der Ermittlungsprotokolle zusammengefasst worden. Nangō fuhr mit dem Finger die Zeilen entlang, in denen die Einzelheiten des Tathergangs aufgeführt waren.

Jun’ichi Mikami war 1973 in Tokyo im Bezirk Ōta geboren. Sein Vater hatte sich dort nach seiner anfänglichen Anstellung in einer Fabrik selbständig gemacht und führte inzwischen einen Kleinbetrieb mit drei Mitarbeitern.

Bis zu Jun’ichis Mittelschulabschluss gab es keine besonderen Vorkommnisse, aber 1991, in seinem dritten Jahr in der Oberschule, hatte sich ein Vorfall ereignet, der mit seiner späteren Tat in Zusammenhang gebracht wurde.

Jun’ichi war in den Sommerferien mit Freunden auf einem viertägigen Kurztrip unterwegs gewesen, aber zur vereinbarten Zeit nicht wieder heimgekehrt, worauf die besorgten Eltern eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatten.

Zehn Tage später, am 29. August, war Jun’ichi in Nakaminato, das fünfzehn Kilometer südlich vom ursprünglichen Reiseziel Katsuura in der Präfektur Chiba lag, aufgegriffen worden. Jun’ichi war nicht allein, sondern in Begleitung seiner Freundin. Mit den Kumpeln zu verreisen, war nur ein Vorwand gewesen – tatsächlich hatte er zum ersten Mal eine Tour allein mit einem Mädchen unternommen.

Nach diesem Vorfall schwänzte Jun’ichi wiederholt die Schule und legte ein rebellisches Verhalten gegen Eltern und Lehrer an den Tag. Seine Leistungen wurden zusehends schlechter, und er fiel durch die Aufnahmeprüfung zur Universität. Als stellenloser Abiturient fand er dann schließlich einen Studienplatz für Industriechemie an der Technischen Hochschule, die an vierter Stelle auf seiner Wunschliste stand. Nach seinem Abschluss ging er seinem Vater in dessen metallverarbeitendem Betrieb zur Hand, bis sich dann 1999, zwei Jahre später, die Tat ereignete.

»Was lesen Sie denn da so interessiert?«

Die plötzliche Frage schreckte Nangō auf. Sugita, der Leiter der Abteilung für allgemeine Angelegenheiten, schaute ihm über die Schulter. Als Vizedirektor war er Nangōs Vorgesetzter. Die beiden goldenen Streifen am Ärmelsaum seiner Uniform blitzten.

»Gibt es etwa ein Problem bei der vorzeitigen Entlassung von Nummer 229?«

»Nein, gar nicht, ich bin nur etwas wehmütig, der Abschied von ihm fiel mir doch ein wenig schwer«, sagte Nangō betont scherzhaft, um die Situation zu überspielen. »Darf ich mir das mal ausleihen?«

»Klar, warum nicht«, erwiderte Sugita, sah ihn jedoch leicht befremdet an.

Nangō hätte beinahe gegrinst. Bei der kleinsten Abweichung vom regulären Ablauf reagierten die Vollzugsbeamten sofort irritiert. Solche minimalen Störungen konnten sich in einer Haftanstalt zu einem Riesenproblem auswachsen.

Sugita war ein Emporkömmling, immer in Habachtstellung, ganz typisch für so einen kleinkarierten Beamten. Jetzt wurde er schon nervös, nur weil sein Untergebener eine Akte mitnehmen wollte.

»Ich bringe sie auch gleich wieder zurück«, versuchte Nangō ihn zu beruhigen und verließ die Abteilung für allgemeine Angelegenheiten, um zur sozialtherapeutischen Abteilung im ersten Stock des Sicherheitstrakts zurückzukehren. Es war sein Revier, wo in erster Linie die Sträflingsarbeit sowie weitere Maßnahmen zur Gefangenenbetreuung organisiert wurden, und er war dort der Oberaufseher. Ein Rang, der ungefähr dem eines stellvertretenden Abteilungsleiters in einem zivilen Unternehmen entsprach.

Das Zimmer mit den Schreibtischen und aufgestellten Überwachungsmonitoren, vor denen bloß vereinzelt ein paar Aufseher saßen, wirkte wie ausgestorben. Die anderen hatten Aufsicht bei der Gefangenenarbeit oder waren auf Kontrollgang. Nangō wartete noch, ob auch kein rangniedriger Beamter ein Anliegen an ihn hatte, und setzte sich dann auf die Bank vor dem Fenster, um die Akte von Jun’ichi Mikami ein weiteres Mal gründlich durchzugehen.

Die Umstände des Verbrechens waren mehrfach sowohl im Ermittlungsprotokoll als auch in den Prozessakten bis ins kleinste Detail schriftlich festgehalten worden.

Die Tat – Körperverletzung mit Todesfolge – hatte sich am 7. August 1999 um 20.33 Uhr völlig unvorhergesehen ereignet. Der Tatort war ein Lokal in der Nähe der Station Hamamatsu-chō in Tokyo. Der fünfundzwanzigjährige Gast Kyōsuke Samura hatte Jun’ichi im hinteren Bereich des Gastraums angepöbelt und mit der Bemerkung »He, passt dir was nicht!« provoziert. Mehrere Augenzeugenberichte hatten in ihrer Aussage bestätigt, dass Samura Jun’ichi zuerst angesprochen hatte.

Jun’ichi habe erstaunt aufgeschaut, als Kyōsuke Samura sich vor ihn hinstellte. Nach Darstellung des Wirts war Samura auf Jun’ichi zugegangen und hatte ihn mit den Worten »Mir gefällt nicht, wie du mich anstarrst« und »Du schaust, als wäre ich ein Verbrecher« beschimpft.

Es habe dann einen heftigen Wortwechsel zwischen den beiden gegeben, bis der Streit plötzlich eskalierte.

Jun’ichi hatte zu Protokoll gegeben, dass Samura erregt behauptet habe, von ihm als »Landei« verhöhnt worden zu sein. Jun’ichi, der während der Auseinandersetzung von Samura erfuhr, dass dieser aus der Präfektur Chiba stammte, habe ihn zu beschwichtigen versucht, indem er seine eigene Ausreißer-Story aus der Oberschulzeit zum Besten gab: Er sei einmal nach Nakaminato an der Pazifikküste der Bōsō-Halbinsel in der Präfektur Chiba gereist. Aber mit dieser Bemerkung habe er zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Kyōsuke Samura war nämlich ausgerechnet aus Nakaminato nach Tokyo gekommen, um hier eine Maschinenmesse zu besuchen.

Kurz nachdem die Zeugen jemanden »Mistkerl« fluchen gehört hatten, habe Samura Jun’ichi am Revers gepackt. Der Wirt wollte die beiden auseinanderbringen und sei vom Tresen aus zu ihnen geeilt, aber bevor er den Tisch erreichte, habe es eine Prügelei gegeben, bei der Jun’ichi als Erster zugeschlagen habe. Jun’ichi hatte dann später erklärt, er habe sich nicht anders zu helfen gewusst, um den anderen abzuwehren.

Als der Wirt sich endlich einen Weg zu ihnen gebahnt hatte, war es ihm jedoch nicht gelungen, die Raufenden auseinanderzubringen. Im Prozess hatte er bezeugt: »Das Opfer wollte allem Anschein nach dem Angeklagten Gewalt zufügen, und der Angeklagte hat lediglich versucht, sich dem Zugriff des anderen zu entziehen.«

Jun’ichi sei es schließlich gelungen, sich aus der Umklammerung zu befreien, worauf Samura ihn aufs Neue gepackt habe. Jun’ichi habe ihn dann unter Beschimpfungen wie »Mistkerl« und »Du mieses Dreckschwein« von sich gestoßen. Samura geriet dadurch rücklings ins Straucheln, wobei er über einen Stuhl mit niedriger Lehne stolperte und mit dem Hinterkopf auf den Boden aufschlug. Durch den heftigen Sturz erlitt er eine Schädelfraktur und eine Hirnprellung, infolge derer er elf Minuten nach Eintreffen der Sanitäter starb.

Jun’ichi blieb nach dem Zwischenfall, ohne dass der Wirt ihn festhalten musste, so lange im Lokal, bis die Polizei eintraf. Er habe völlig apathisch dagesessen. Er wurde als mutmaßlicher Täter unter dem Verdacht der Körperverletzung mit Todesfolge festgenommen.

Nangō seufzte. So lief es oft ab: Zwei gerieten in Streit, und am Ende war einer von ihnen tot. Aus Sicht der Verteidigung war die Verurteilung zu zwei Jahren Gefängnis ein eher hohes Strafmaß. Eigentlich wäre es ein klassischer Fall für eine Freiheitsstrafe auf Bewährung gewesen. Für den Richter jedoch schienen die Vorkommnisse während Jun’ichis Oberschulzeit sowie seine spätere Entwicklung Anzeichen für eine kriminelle Veranlagung gewesen zu sein. Auch der Staatsanwalt hatte Jun’ichi offenbar in dieses Licht rücken wollen, indem er dessen Ausreißer-Episode in seinem Eröffnungsplädoyer detailliert erwähnte.

Dennoch hatte der Richter ein faires Urteil gefällt. Bei Körperverletzung mit Todesfolge ist der springende Punkt, ob die Tat aus reiner Notwehr erfolgt oder vorsätzlich geschieht. Im ersteren Fall gilt der Angeklagte als unschuldig, im letzteren hat der Angeklagte sich des Mordes schuldig gemacht, was das Strafmaß enorm in die Höhe treibt. Mord ist nach der gängigen Rechtsprechung ein Schwerverbrechen, für das unter Umständen sogar die Todesstrafe verhängt wird.

Erschwerend kam hinzu, dass Jun’ichi zur Tatzeit ein Jagdmesser bei sich trug. Es war zwar ein belastendes Indiz, aber glücklicherweise steckte das Messer noch in der Originalverpackung. Jun’ichi, der als Gehilfe im Betrieb seines Vaters ohnehin andauernd mit Messern hantierte, hatte es erst kurz zuvor in einem Outdoor-Laden gekauft. Nachdem die Verteidigung die Frage der Vorsätzlichkeit entkräftet hatte – »hätte Jun’ichi das Opfer töten wollen, hätte er doch zum Messer gegriffen« –, war bereits im Vorfeld der Vorwurf des unerlaubten Waffenbesitzes fallen gelassen worden.

Der Prozess erstreckte sich über drei Verhandlungstermine, und am Ende wurde Jun’ichi unter Anrechnung der einmonatigen U-Haft zu zwei Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

Nangō hob den Blick von der Strafakte und dachte an die zurückliegende zwanzigmonatige Haftzeit, die Jun’ichi hier im Gefängnis zugebracht hatte.

Er schätzte den Charakter des Insassen Nummer 229 eher als gutmütig und unbeholfen ein, aber keineswegs berechnend. Nach der Durchsicht seiner Akte fand er diesen Eindruck erneut bestätigt. Seine noch jungenhaften Gesichtszüge und der stets grüblerisch wirkende Blick. Er war damals doch nur deshalb als Siebzehnjähriger für zehn Tage von zu Hause ausgerissen, weil er mit seiner Freundin hatte zusammen sein wollen.

Nangō fiel die Sitzung der Vollzugsbeamten vor einem halben Jahr ein. Jun’ichi hatte sich geweigert, den Gefängnisprediger zu empfangen, und als er nach dem Grund gefragt wurde, erklärt, er würde keiner Religion vertrauen, sondern lieber selbst die Verantwortung übernehmen. Dem ihm zugeteilten Justizvollzugsbeamten, der seinerzeit die Aufsicht über Nummer 229 innehatte, erschien dieses Benehmen zu aufsässig. Es wurde damals in Betracht gezogen, eine Disziplinarstrafe zu verhängen, was jedoch durch Nangōs Einspruch abgewendet werden konnte. Seit jenem Vorfall hatte er sein Augenmerk verstärkt auf Jun’ichi Mikami gerichtet.

Es gab da einen höchst merkwürdigen Zufall, auf den Nangō erst später in der Strafakte gestoßen war und dem er besondere Bedeutung beimaß.

Es betraf Jun’ichis Ausreißer-Episode: Der Junge befand sich zusammen mit seiner Freundin nämlich just im selben Ort, wo sich damals ein schrecklicher Raubmord ereignete.

Nangō war sich nun endgültig sicher: Er hatte die richtige Wahl getroffen.

Er zog das Telefon auf dem Schreibtisch zu sich heran. Am anderen Ende der Leitung meldete sich ein Anwaltsbüro in Tokyo.

»Ich bin mit meinen Vorbereitungen fertig«, teilte Nangō seinem Gesprächspartner mit. »In ein paar Tagen kann es losgehen, denke ich.«

2

Vier Stunden waren vergangen, seit er das Gefängnis Matsuyama verlassen hatte und in Tokyo angekommen war. Die unterschiedlichen Landschaften waren in atemberaubendem Tempo an ihm vorbeigezogen, und er war voller Freude über die wiedergewonnene Freiheit.

Als Erstes hatte er verwundert festgestellt, wie niedrig die Mauern des Gefängnisses, in dem er so lange eingesperrt gewesen war, von außen wirkten. Die fünf Meter hohen Schutzwälle aus Beton sahen nun nicht mehr so gigantisch aus, von innen hingegen hatten sie überdimensional in die Höhe geragt und fast den ganzen Himmel verdeckt.

Auch die weitläufigen Straßenfluchten versetzten ihn in Erstaunen. Als er aus dem Fenster des Taxis schaute, das ihn zum Flughafen brachte, machte die Skyline von Matsuyama mit all den Hochhäusern einen überwältigenden Eindruck auf ihn. Zwar hatten sie in der gestrigen letzten Trainingsstunde für ihre Entlassung auch die Stadt besichtigt, aber nun sah über Nacht alles komplett anders aus. Welche Wirkung musste dann erst Tokyo auf ihn haben?

Als sie am Flughafen mit dem Check-in fertig waren, fragte ihn sein Vater: »Möchtest du einen Sake?«

Jun’ichi schüttelte den Kopf, entgegnete aber spontan: »Mir ist eher nach was Süßem.«

Sie gingen zur Café-Lounge und bestellten für ihn einen Flan und einen Eisbecher mit Schokoladensoße.

Toshio schaute seinem Sohn entgeistert dabei zu, wie er gierig die Süßspeisen verschlang.

Als Jun’ichi sich satt gegessen hatte, erhaschte er flüchtig einen Blick auf die vielen jungen Frauen, die durch die Halle an ihm vorübergingen. Es war Juni, und sie alle liefen in leichter Sommerkleidung herum. Die beiden verließen die Café-Lounge, und Jun’ichi ging den ganzen Weg bis zum Gate mit gesenktem Kopf, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben.

Sobald sie an Bord des Flugzeugs waren, begann es in seinem Bauch schmerzhaft zu rumoren, und er rannte mehrmals zur Toilette. Nachdem er zwei Jahre lang als Hauptmahlzeit immer nur Mischreis als Kalorienzufuhr zu sich genommen hatte, reagierten seine Eingeweide geradezu panisch auf die Zuckerattacke von zuvor. Trotzdem war er guter Dinge. Welche Befreiung, endlich unbeobachtet in einer Einzelkabine seine Notdurft verrichten zu können.

Vom Flughafen Haneda aus nahmen sie den Zug und mussten einmal umsteigen, um nach Ōtsuka zu gelangen. Die Station lag im Nordwesten Tokyos auf der Yamate-Ringbahn. Der nächste Bahnhof Ikebukuro mit dem Einkaufsviertel war bequem zu Fuß zu erreichen.

Dort befand sich ihr neues Heim, das Jun’ichi nun zum ersten Mal sehen würde. Die Eltern hatten ihm vor einem halben Jahr in einem Brief mitgeteilt, dass sie umgezogen seien. Jun’ichi hatte sich absichtlich nicht näher danach erkundigt, weil er sich die Vorfreude auf das neue Zuhause bis zu seiner Entlassung bewahren wollte. An einem unbekannten Ort zu leben, wo er seine Vergangenheit hinter sich lassen und sich eine neue Existenz aufbauen konnte, erschien Jun’ichi eine günstigere Option für die Zukunft zu sein.

Vor ihm erstreckte sich ein Kreisverkehr mit sternförmig abgehenden Straßen, als er aus der Ticketsperre am Bahnhof Ōtsuka trat. Hier herrschte reges Treiben: Er sah jede Menge Banken, Restaurants, Business-Hotels und Passanten, die kreuz und quer liefen. Auch die Leuchtreklamen der Sexshops stachen ihm ins Auge. Ihm gefiel das quirlige Leben auf den Straßen.

Doch nach weiteren fünf Minuten, die er seinem Vater hinterhergeschlendert war, wurde es immer stiller um ihn herum. Offenbar lag es an dem Wohnbezirk, in den sie nun gelangten. Nach weiteren zehn Minuten Fußweg fühlte er sich zunehmend beklommen. Er grübelte, ob er vielleicht etwas übersehen hatte, irgendein Problem, das er nicht hatte wahrhaben wollen. Von einer dunklen Vorahnung erfasst, trottete er weiter.

Schließlich verkündete Toshio, der ebenfalls immer einsilbiger geworden war: »Die nächste Querstraße ist es, dann sind wir da.«

Als sie nach wenigen Schritten um die Ecke bogen, blickte Jun’ichi auf eine kahle Brandmauer. Auf dem verwitterten Putz hatten sich über die Jahre Dreckschlieren gebildet. Es gab kein Tor, sondern nur eine unscheinbare Tür, die als Eingang direkt vom Bürgersteig in die Diele führte. Der Grundriss maß vielleicht zwanzig Quadratmeter. Jedenfalls war es für ein Einfamilienhaus eine äußerst dürftige Behausung.

»Na dann, herein mit dir«, sagte Toshio, den Blick gesenkt. »Das ist dein neues Zuhause.«

Jun’ichi wollte seinen Vater nicht in Verlegenheit bringen. Er durfte sich nichts anmerken lassen, sondern einfach nur eintreten.

Jun’ichi öffnete die Tür und rief: »Hier bin ich!« Er stand sofort in der Küche, wo seine Mutter Yukie gerade einen Salat zubereitete. Sie drehte sich zu ihm um.

Ihre Augen weiteten sich vor Freude. Ihr rundliches Gesicht mit dem willensstarken Ausdruck in den Augen, über denen sich dichte Brauen wölbten, hatte sie ihrem Sohn vererbt.

»Jun’ichi!«

Yukie wischte sich die Hände an der Schürze ab und ging langsam auf ihn zu. Tränen liefen ihr über die Wangen.

Jun’ichi stellte erschrocken fest, wie sehr sie in der Zwischenzeit gealtert war, ließ sich jedoch weiterhin nichts anmerken.

»Ich bin euch sehr dankbar für alles«, sagte er. »Endlich wieder daheim.«

Die drei begannen bereits am späten Nachmittag ihr Wiedersehen zu feiern. Der Tisch in dem winzigen Wohnzimmer war festlich gedeckt. Das Mahl bestand aus drei verschiedenen Hauptspeisen: Rindfleisch, gegrilltem Fisch und einem chinesischen Gericht.

Jun’ichi wunderte sich, dass sein acht Jahre jüngerer Bruder Akio sich nicht blicken ließ, verlor jedoch darüber kein Wort, solange die Eltern es nicht von sich aus erwähnten.

Toshio und Yukie wirkten beide anfangs sehr befangen. Es schien so, als wüssten sie nicht so recht, was sie mit ihrem siebenundzwanzigjährigen, vorbestraften Sohn reden sollten. Das einsilbige Gespräch plätscherte vor sich hin, bis sie schließlich auf Jun’ichis Zukunftspläne zu sprechen kamen.

Er selbst hatte eigentlich vorgehabt, schon am nächsten Tag seinem Vater in dessen Betrieb zu helfen, doch seine Eltern rieten ihm, erst mal eine Woche auszuspannen. Jun’ichi beschloss, ihrem Vorschlag zu folgen. Doch eine ganze Woche nur herumhängen wollte er auch nicht. Seitdem er das heruntergekommene Haus gesehen hatte, ließ ihn der Gedanke nicht mehr los, dass zwischenzeitlich einiges vorgefallen sein musste, das sie ihm verschwiegen hatten.

Nach dem Abendessen führte ihn Yukie in den ersten Stock. Sie stiegen die steile knarrende Treppe hoch und gelangten zu einem engen Korridor, von dem zwei kleine Zimmer abgingen. Als Jun’ichi die ihm zugeteilte Kammer erblickte, wurde seine Freude über die wiedergewonnene Freiheit endgültig zunichtegemacht. Dieses Kabuff war nicht größer als seine Zelle im Gefängnis.

»Es ist zwar klein, aber es wird schon gehen, nicht wahr?«, fragte Yukie leichthin.

»Ja«, erwiderte Jun’ichi, stellte seine Sporttasche, die er vom Gefängnis mitgebracht hatte, ab und setzte sich auf den bereits ausgerollten Futon.

»Das Haus ist in jeder Hinsicht sehr komfortabel«, sagte Yukie, die in der Tür stehen geblieben war. »Es ist so alt, dass man sich nicht groß drum kümmern muss. Lediglich ein paar Zimmer putzen, mehr nicht.«

Doch je mehr sie redete, desto deutlicher war aus ihrer Stimme die Verzweiflung herauszuhören, auch wenn ihre Miene das Gegenteil zum Ausdruck zu bringen versuchte.

»Der Bahnhof liegt so weit weg, dass man kaum Verkehrslärm hört. In einer Viertelstunde ist man im Einkaufsviertel. Und Sonnenlicht kommt auch ein bisschen herein.«

Allmählich schienen ihr die Argumente auszugehen, und am Schluss murmelte sie nur noch: »Nun ja, wir wohnen ein wenig beengter als früher.«

»Sag mal, Mutter«, versuchte Jun’ichi das Thema zu wechseln, da er befürchtete, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde. »Was ist mit Akio?«

»Akio ist ausgezogen. Er lebt jetzt allein in einem Apartment.«

»Wo wohnt er denn genau?«

Yukie zögerte erst, nannte ihm dann aber die Adresse.

Mit der Anschrift und einer Wegskizze in der Hand verließ Jun’ichi kurz nach sechs Uhr abends das Elternhaus.

Es war bald Mittsommer, und draußen schien noch die Sonne. Trotzdem fürchtete er sich davor, allein durch die Straßen zu gehen. Ihm kam es vor, als rasten die Autos in einem Wahnsinnstempo an ihm vorbei, und es gab noch ein weiteres Problem, das alle auf Bewährung entlassenen Häftlinge betraf. Falls er sich bis zur Vollendung seiner Haftzeit, die erst in drei Monaten abgegolten war, einer Gesetzesübertretung schuldig machte, würde er zurück in den Knast müssen. Nicht einmal ein Verkehrsdelikt durfte er sich erlauben. Er spürte das Gewicht des Bewährungsausweises, des sogenannten »Vorstrafenpasses«, den er ständig bei sich tragen musste.

Mit der Bahn gelangte er mit einmal Umsteigen in zwanzig Minuten nach Higashi-Jūjō, wohin sein Bruder inzwischen gezogen war. Akio wohnte in einem Apartment in einem zweistöckigen Holzhaus. Jun’ichi stieg die Außentreppe hinauf und klopfte an die letzte Tür, worauf ein apathisch klingendes »Ja« von drinnen ertönte. Er hatte die Stimme seines jüngeren Bruders seit zwanzig Monaten nicht mehr gehört.

»Akio? Ich bin’s!«, rief er vom Eingang aus. Sein Bruder schien hinter der Tür innezuhalten. »Willst du mir nicht aufmachen?«

Eine Weile herrschte Stille. Die Tür wurde einen kleinen Spalt geöffnet, und Akios verhärmtes Gesicht, das dem seines Vater ähnelte, lugte heraus.

»Was willst du?«, herrschte ihn sein jüngerer Bruder feindselig an.

Jun’ichi konnte den Zorn seines Bruders nur allzu gut nachvollziehen, trotzdem ließ er sich nicht abwimmeln. »Ich möchte mit dir reden. Kannst du mich nicht reinlassen?«

»Nein!«

»Wieso denn nicht?«

»Mit einem Mörder will ich nichts zu tun haben!«

Jun’ichi spürte einen Kloß im Hals. Es war das Gefühl der Verzweiflung, das einen überkommt, wenn man sich seines nicht wiedergutzumachenden Fehlers bewusst wird. Jun’ichi zögerte noch, ob er besser gehen sollte. Aber so einfach wollte er sich seiner Verantwortung nicht entziehen.

In diesem Moment waren Schritte auf der Treppe zu hören. Offenbar ein Nachbar, der gerade heimkehrte. Akios Blick verriet Panik. Er packte Jun’ichi an der Schulter, zog ihn in die Wohnung und schloss hastig die Tür.

»Es muss ja niemand mitkriegen, dass ich mit einem Mörder Kontakt habe.«

Jun’ichi erwiderte nichts darauf und schaute sich stumm im Zimmer um. Auf einem schäbigen Tisch, den Akio sich wahrscheinlich vom Sperrmüll geholt hatte, lagen verstreut Nachschlagewerke, mit denen er sich für die Aufnahmeprüfung an der Universität vorbereitete. Eines davon war aufgeschlagen, als hätte Akio gerade darin gelesen.

Jun’ichi wunderte sich, dass sein Bruder sich jetzt erst auf ein solches Examen vorbereitete.

Akio folgte seinem Blick und erklärte einsilbig: »Ich habe die Oberschule abgebrochen.«

»Wie?«, rief Jun’ichi erstaunt. Er erinnerte sich an die schreckliche Zeit vor zwei Jahren, als alles begann. »Aber es war doch nur noch ein halbes Jahr damals bis zum Schulabschluss.«

»Wie hätte ich denn in der Schule bleiben können! Ich bin der Bruder eines Mörders!«

In Jun’ichis Kopf drehte sich alles, aber er versuchte die Fassung zu wahren. Ich muss da durch, Akio wird mir bestimmt alles erzählen, ermahnte er sich.

»Weshalb bist du von zu Hause ausgezogen?«

»Weil Vater wollte, dass ich mir die Uni aus dem Kopf schlagen und stattdessen arbeiten gehen sollte. Daraufhin habe ich beschlossen, mir die Studiengebühr selbst zu verdienen.«

»Du hast dir einen Job gesucht?«

»Ich sortiere Waren in einem Lager. Wenn ich mich anstrenge, kann ich dort ungefähr 170.000 Yen im Monat verdienen.«

Jun’ichi nahm seinen ganzen Mut zusammen und fragte: »Soll das heißen, unsere Eltern haben kein Geld mehr?«

»Das ist doch wohl offensichtlich, oder?«, erwiderte Akio brüsk und hob den Kopf. »Was meinst du, wie wir darunter zu leiden haben, dass du einen Menschen getötet hast? Du hast offenbar keine Ahnung, wie viel wir für die Abfindung blechen müssen.«

Nach dem Schuldspruch hatte der Vater des Opfers gegenüber Jun’ichi und seinen Eltern Schmerzensgeld und Schadensersatz gefordert. Jun’ichi war davon ausgegangen, dass sich daraufhin die Anwälte beider Parteien zusammengesetzt und einen Vergleich ausgearbeitet hatten. Die gesamte Verhandlung hatte er seinen Eltern überlassen. Irgendwann war ihm dann mitgeteilt worden, dass der Vertrag abgeschlossen wurde, aber die näheren Einzelheiten waren ihm nicht bekannt. Er hatte sich damit zufriedengegeben, als sein Vater ihm schrieb, er solle sich darüber keine Sorgen mehr machen. Jun’ichi war damals, als der Brief ihn erreichte, gerade aus der Isolationshaft entlassen worden. Wegen einer Auseinandersetzung mit einem Vollzugsbeamten, mit dem er gar nicht zurechtkam, war er in eine stinkende Einzelzelle gesperrt worden, wo er an beiden Armen mit Lederriemen gefesselt eine ganze Woche zubrachte. Den Essensnapf am Boden musste er sich mit dem Mund schnappen und wie ein Hund daraus fressen. Das Allerschlimmste war jedoch für ihn, dass er beim Verrichten seiner Notdurft gezwungen war, sich in die Hosen zu machen. Der Brief des Vaters war also zu einem Zeitpunkt gekommen, wo er keinen klaren Gedanken hatte fassen können, und so hatte er das Problem wohl einfach verdrängt.

»Wie hoch war denn die Abfindung?«

»70 Millionen Yen.«

Jun’ichi verschlug es die Sprache. Das Geld, das er während der zwanzigmonatigen Haft bei einer Vierzig-Stunden-Woche in der Schreinerwerkstatt erwirtschaftet hatte, betrug 60.000 Yen, womit er gerade seinen persönlichen Bedarf decken konnte. An die Zahlung von Schadensersatz war nicht zu denken. Der Erlös, den die Haftanstalt aus dem Verkauf der hergestellten Produkte erzielte, floss direkt in die Staatskasse.

Akio redete aufgebracht auf seinen Bruder ein, der schweigend vor ihm stand: »Sie haben das Pachtrecht an unserem alten Haus für 35 Millionen Yen verkauft, das Auto und die Werkzeugmaschinen haben 2 Millionen eingebracht. Außerdem mussten sie sich bei Verwandten für 6 Millionen Yen verschulden – und trotzdem fehlen immer noch 27 Millionen.«

»Und woher soll nun das Geld kommen?«

»Sie stottern Monat für Monat ab, soviel sie eben können. Sie werden wohl noch zwanzig Jahre brauchen, bis sämtliche Schulden getilgt sind, meint Mutter.«

Jun’ichi sah ihr verhärmtes Gesicht vor sich und schloss die Augen. Mit welchem Gefühl mochte sie wohl ihr vertrautes Zuhause aufgegeben haben? Wie schrecklich musste es für sie gewesen sein, in diese schäbige Behausung zu ziehen?

»Was heulst du?«, rief Akio und versetzte ihm einen Schlag. »Es ist doch alles deine Schuld. Glaubst du, du kannst mit deinen Tränen um Verzeihung bitten?«

Es gab nichts mehr zu sagen. Niedergeschlagen verließ Jun’ichi die Wohnung seines Bruders. Als er durch den düsteren Korridor ging, versuchte er sich mit aller Macht zusammenzureißen, um bei seiner Heimkehr nicht vor seinen Eltern in Tränen auszubrechen.

3

Das zentrale Regierungsgebäude in Tokyo-Kasumigaseki, Dezernat 6.

In der Obersten Justizvollzugsbehörde im Justizministerium war der für diesen Fall eingesetzte Anklagevertreter in einer Ecke des Büros damit beschäftigt, die Anordnung zur Vollstreckung des Todesurteils fertigzustellen. Nachdem er sich durch einen riesigen Berg von Dokumenten und Protokollen gearbeitet hatte, war diese Akte das 170 Seiten umfassende Resultat der Überprüfung.

Der Name des zum Tode Verurteilten lautete Ryō Kihara. Er war zweiunddreißig, genauso alt wie der zurzeit mit dem Fall betraute Staatsanwalt. Der Beamte ließ den Abschluss offen, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und überlegte noch einmal, ob ihm auch wirklich kein Versäumnis unterlaufen war. Eine Routine, die er zuvor schon mehrmals durchexerziert hatte.

Der Staatsanwalt, der die Macht besaß, Anklage zu erheben, trug zugleich auch die Verantwortung, den Vollzug der Strafe zu begleiten. Insbesondere wenn es um ein Todesurteil ging, war eine gewissenhafte Überprüfung unerlässlich, und bis zur Vollstreckung war die Zustimmung von dreizehn Beamten in fünf Instanzen erforderlich.

Dreizehn Personen.

Der Staatsanwalt rechnete nach, wie viele Formalitäten erledigt werden mussten, bis die Verkündung des Todesurteils zur Vollstreckung gelangte. Es waren dreizehn Schritte.

Dreizehn Stufen.

Ein Synonym für den Aufstieg zum Galgen. Was für eine Ironie, dachte sich der Vertreter der Anklage nicht ohne einen Anflug von Verbitterung. In der japanischen Geschichte der Todesstrafe seit der Meiji-Zeit hatte es nie ein Podest mit dreizehn Stufen gegeben, auf dem der Delinquent gehängt wurde. Die einzige Ausnahme machte das Podium für die Vollstreckung der Kriegsverbrecher im Gefängnis Sugamo, das vom amerikanischen Militär errichtet worden war. Sehr viel früher sollte der Weg zum Galgen neunzehn Stufen gezählt haben, aber da sich zu häufig Unfälle ereigneten, wenn die zum Tode Verurteilten die Treppe erklommen, hatte man die Konstruktion geändert. In die Plattform war eine zweiteilige Falltür eingelassen, die sich unter dem Delinquenten auftat, sobald er mit verbundenen Augen die Schlinge um den Hals gelegt bekommen hatte.

Dennoch existierten die dreizehn Stufen, wenn auch unsichtbar an einem anderen Schauplatz. Die Aufgabe, die dem zuständigen Staatsanwalt oblag, entsprach der fünften Stufe. Bis zur Vollstreckung gab es folglich noch acht Instanzen. Ryō Kihara stieg Stufe um Stufe seiner Hinrichtung entgegen, ohne selbst Kenntnis davon zu haben. Aller Voraussicht nach würde er nach etwa drei Monaten die letzte erreichen.

»Beschluss.«

Der Staatsanwalt hackte auf die Tastatur des Computers.

»Aus den vorangehenden Punkten ergibt sich, dass keine außerordentlichen Gründe für eine Berufung, verbunden mit einer Aufhebung der Urteilsvollstreckung und Wiederaufnahme des Verfahrens vorliegen. In Anbetracht der Umstände gelangt die Anklage zu der Überzeugung, dass es für eine Begnadigung keinerlei Spielraum gibt.«

An dieser Stelle hielt er inne. Der Fall Ryō Kihara war außergewöhnlich. Er ging in Gedanken noch einmal die zweifelhaften Punkte durch, aber die Entscheidung für die Todesstrafe war aufgrund der schwerwiegenden Beweise juristisch zwingend. Allein sein ungutes Gefühl reichte für eine Revision nicht aus.

Er fügte dem Dokument noch einen letzten Satz hinzu:

»Hiermit ersuche ich hochachtungsvoll das Gericht, die Entscheidung zur Vollstreckung zu fällen.«

Am Morgen nach seiner Entlassung fuhr Jun’ichi in den Stadtteil Kasumigaseki. Er musste bei der Bewährungsbehörde und seinem Bewährungshelfer vorstellig werden.

In der letzten Nacht hatte er bis zum Morgengrauen kein Auge zugetan. Nach kurzem Dösen war er dann trotzdem um sieben Uhr wach geworden, denn seine innere Uhr war noch ganz auf den Gefängnisrhythmus eingestellt. Ganz allmählich wurde ihm bewusst, dass es keinen Morgenappell mehr gab, und dies stimmte ihn ein wenig heiterer. Nachdem er von seinem Bruder alles über die Zahlungen erfahren hatte, wollte er sich so lange in Schweigen hüllen, bis seine Eltern von sich aus die Angelegenheit zur Sprache brachten.

Nach dem gemeinsamen Frühstück hatte er seinen Vater verabschiedet, als dieser zu seinem Betrieb aufbrach, und sich dann selbst fertig gemacht, um das Haus zu verlassen.

Als Jun’ichi ins Wartezimmer des Justizsozialamts kam, nahm er auf einem der Stühle Platz, die auf dem gefliesten Boden in einer Reihe standen. Außer ihm warteten etwa zehn weitere sichtlich gelangweilte Männer. Nach einer Weile wurde ihm mit Schrecken bewusst, dass alle Anwesenden hier im Raum eine kriminelle Vergangenheit hatten.

»Mikami!«, rief jemand seinen Namen. Ein Mann mittleren Alters im aschgrauen Anzug hatte soeben den Raum betreten.

»Guten Tag, Herr Kubō.« Jun’ichi trat zu seinem Bewährungshelfer, der ein wenig kleiner war als er selbst, und schaute in das vertraute Gesicht.

Kubō gehörte zum Kreis der Bewährungshelfer des Bezirks Toshima. Seit er zu Jun’ichis Betreuer ernannt worden war, hatte er sich um die nötigen Formalitäten für seine Resozialisierung und die Entlassung auf Bewährung gekümmert. Er war damals trotz der großen Entfernung zur Justizvollzugsanstalt Matsuyama gereist, um Jun’ichi persönlich kennenzulernen.

»Na, dann mal reinspaziert«, ertönte die warmherzige Stimme hinter Jun’ichi, der sich hastig zum Gruß verneigte, als er von Kubō ins Büro bugsiert wurde. In dem Raum gab es einen Schreibtisch, wo ihn der vierzigjährige Bewährungssachbearbeiter Ochiai erwartete.

Seine stattliche Figur und der dunkle Teint ließen ihn zunächst etwas arrogant erscheinen, aber nach den ersten Worten entpuppte er sich als umgänglicher Pragmatiker. Er legte Jun’ichi nochmals die Auflagen bei einer vorzeitigen Entlassung dar und fügte weitere Sonderbestimmungen hinzu: dass er seine Anstellungen nicht wahllos wechseln dürfe und dass er erst eine Genehmigung einholen müsse, wenn er sich mehr als zweihundert Kilometer beziehungsweise mehr als drei Tage von seinem aktuellen Wohnsitz entfernen wolle.

Nach der strengen Unterweisung fügte Ochiai versöhnlich hinzu: »Gegenüber einem Vorbestraften trifft die Polizei mitunter härtere Maßnahmen als normalerweise. Aber wenn das unbegründet sein sollte, dann wenden Sie sich bitte unverzüglich an mich. Um Ihre Rechte zu wahren, kann ich alle möglichen Hebel in Bewegung setzen.«

Erstaunt über die milden Worte blickte Jun’ichi zu seinem Betreuer. Kubō nickte ihm lächelnd zu, um Ochiais Worte zu bestätigen.

»Jedoch«, fuhr Ochiai mahnend fort, »wenn Sie den Auflagen zuwiderhandeln und sich ein Delikt, das über ein Bußgeld hinausgeht, zuschulden kommen lassen, werden Sie ohne weitere Verwarnung wieder ins Gefängnis zurückgeschickt.« Verängstigt schaute Jun’ichi abermals zu seinem Betreuer. Und Kubō nickte wieder lächelnd, um auch diese Aussage zu bekräftigen.

»Die Vertragsbedingungen für den Vergleich haben Sie erfüllt?«

Erschrocken blickte Jun’ichi den Sachbearbeiter an. »Sie meinen die Zahlungen?«

»Da ist noch etwas anderes … Haben Ihre Eltern Sie denn darüber nicht informiert?«

»So ausführlich noch nicht. Was hat das zu bedeuten?«

»Er ist doch erst seit gestern raus und heute schon hier«, kam Kubō ihm zu Hilfe.

»Aha«, erwiderte Ochiai und senkte den Blick auf das Dokument vor ihm auf dem Schreibtisch. »Die finanzielle Belastung haben Ihre Eltern vorerst auf sich genommen. Das sollten Sie nun bitte untereinander regeln. Aber darüber hinaus wird von Ihnen verlangt, sich gegenüber der Familie des Opfers zu entschuldigen.«

Jun’ichi wurde schwer ums Herz.

»Fahren Sie nach Nakaminato in der Präfektur Chiba, um dem Vater von Kyōsuke Samura einen Besuch abzustatten und sich bei ihm zu entschuldigen«, forderte ihn der Beamte auf. Da er Jun’ichis Vorgeschichte kannte, fügte er hinzu: »Das ist genau dort, wohin Sie damals in Ihrer Schulzeit mit Ihrem Mädchen ausgerissen sind. Demnach kennen Sie sich da also aus, nicht wahr?«

Er musste also an diesen Ort zurück. Allein der Gedanke jagte Jun’ichi kalte Schauer über den Rücken.

Ochiai, dem nicht entgangen war, wie blass Jun’ichi plötzlich geworden war, warf ihm einen aufmunternden Blick zu und milderte seinen Ton: »Ich weiß, es ist nicht angenehm, aber Sie sind nun mal dazu verpflichtet. Sowohl von Rechts wegen als auch moralisch.«

»Ja, natürlich«, erwiderte Jun’ichi, während seine Gedanken nur um Yuri kreisten. Er beschloss, sofort zu ihr zu fahren.

Das Geschäft in Hatanodai, dem Einkaufsviertel am Bahnhof, sah immer noch genauso aus wie früher. Der kleine Laden mit der fliederfarbenen Kunststoffmarkise, auf der in verschnörkelter Schrift der Name »Fancy Shop Lily« prangte.

Sie war nicht da. Jun’ichi setzte sich deshalb erst mal ins Café vis-à-vis und bestellte einen süßen Milchkaffee.

Schließlich hielt ein Kleinwagen vor der Tür, und er erkannte sie, als sie auf der Fahrerseite ausstieg. Sie trug Jeans, ein T-Shirt und darüber eine Schürze aus Denimstoff. Die Frisur war kürzer, aber den seidig feinen Pony hatte sie beibehalten. Die zarten Wangen waren genauso bleich wie früher, und auch den kraftlosen, abwesend wirkenden Ausdruck in ihren Augen erkannte er wieder.

Er beobachtete Yuri Kinoshita eine Weile, und ihm fiel auf, wie ausgezehrt sie wirkte, ähnlich abgespannt wie seine Mutter.

Yuri holte einen Pappkarton von der Ladefläche und trug ihn in den Laden, wo sie mit ihrer Mutter, die hinter der Kasse stand, ein paar Worte wechselte.

Jun’ichi brachte seine leere Tasse zum Tresen und trat auf die Straße. Der Motor des Fahrzeugs lief noch, da sie den Wagen offenbar auf den Parkplatz fahren wollte.

In dem Moment kam Yuri heraus. Sie entdeckte ihn sofort, als hätte sie Jun’ichis Anwesenheit geahnt.

»Ich bin wieder da«, sagte er, worauf sich ihre überraschte Miene zu einem schmerzerfüllten Ausdruck verzog. Nach einem Blick auf ihre Mutter setzte sie sich eilig ans Steuer.

Jun’ichi dachte zuerst, sie würde ihm eine Abfuhr erteilen, doch Yuri winkte ihn neben sich auf den Beifahrersitz, und als er neben ihr im Auto saß, fuhr sie sofort los.

Zunächst sprachen beide kein Wort. Yuri bog am Bahnhof ab und steuerte den Wagen auf die Hauptstraße.

»Ich hab’s damals im Fernsehen gesehen«, begann sie schließlich das Gespräch. »Anfangs konnte ich es gar nicht glauben, dass du so etwas getan haben solltest, Jun.«

Sie war die Einzige, die Jun’ichi mit diesem Kosenamen anredete.

»Wie, ich war in den Nachrichten?«