133 Stunden - Zach Abrams - E-Book

133 Stunden E-Book

Abrams Zach

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Beschreibung

Was geschah in den letzten 133 Stunden mit Briony?

Briony kann sich nicht erinnern, wo sie war oder was geschah. War sie krank oder hatte sie einen Nervenzusammenbruch - oder hat sie jemand betäubt und entführt?

Briony zweifelt an ihrem Verstand und hat Angst, weitere Nachforschungen anzustellen, will aber unbedingt die Wahrheit herausfinden. Als sie ihre lückenhafte Erinnerung durchgeht, stellt sie fest, dass ihr wohl etwas Schreckliches zugestoßen ist.

Sie und ihre Freundinnen tun sich mit einem pensionierten Kommissar zusammen, um die Wahrheit herauszufinden. Aber wo war sie in den letzten 133 Stunden...und warum?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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133 STUNDEN

ZACH ABRAMS

Übersetzt vonJOHANNES SCHMID

Copyright (C) 2021 Zach Abrams

Layout design und Copyright (C) 2021 Next Chapter

Verlag: 2021 von Next Chapter

Cover von CoverMint

Dieses Buch ist frei erfunden. Namen, Figuren, Orte und Ereignisse entspringen der Phantasie der Autorin oder werden fiktional verwendet. Eine Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen, Orten, oder Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig.

Alle Rechte vorbehalten. Jegliche Vervielfältigung oder Verbreitung von Passagen aus diesem Buch, durch Kopieren, Aufzeichnen, oder über eine Datenbank oder ein System zur Informationsverarbeitung, ist ohne die Zustimmung der Autorin nicht gestattet.

INHALT

O Stunden

1 Stunde

2 Stunden

3 Stunden

4 Stunden

4,5 Stunden

5 Stunden

6 Stunden

6,5 Stunden

7 Stunden

8 Stunden

9 Stunden

10 Stunden

11 Stunden

12 Stunden

17 Stunden

22 Stunden

23 Stunden

24 Stunden

25 Stunden

26 Stunden

27 Stunden

29 Stunden

30 Stunden

33 Stunden

34 Stunden

36 Stunden

44 Stunden

47 Stunden

50 Stunden

52 Stunden

55 Stunden

62 Stunden

72 Stunden

74 Stunden

75 Stunden

77 Stunden

78 Stunden

80 Stunden

81 Stunden

81,5 Stunden

83 Stunden

84 Stunden

85 Stunden

86 Stunden

89 Stunden

95 Stunden

97 Stunden

98 Stunden

99 Stunden

101 Stunden

104 Stunden

118 Stunden

126 Stunden

128 Stunden

129 Stunden

130 Stunden

131 Stunden

134 Stunden

Epilog

135 Tage (3244 Stunden)

Sehr geehrter Leser

Biografie

O STUNDEN

Ich trete vor in die Haupthalle des Hauptbahnhofs Glasgow, wo sich mir das vertraute Bild eines feuchten, schmierigen Bodens bietet. Als ich nach vorne eile, rutsche ich auf den Fließen aus und für ein, zwei Sekunden taumle ich und versuche, mein Gleichgewicht zu halten. Für einen Moment schwelge ich in Gedanken an Glasgow, eine Stadt, aufgebaut auf Wissenschaft, Kunst und Kultur, bei der es sogar eines Genies bedurfte, auf dem Hauptbahnhof Fließen zu legen. In meiner Jugend hatte ich jahrelang Ballettunterricht, der sich aber jetzt als nutzlos erweist, als eine Gruppe Passanten eilig vorbei eilt. Mit der einen Hand presse ich meine Handtasche fest gegen die Brust, die andere strecke ich aus, will mich an einem Arm, einer Schulter… irgendetwas, das mir Halt gibt, festhalten, was aber misslingt. Ich jaule auf, als ich mit der Hüfte auf eine Bank stürze, sich mein Knöchel verdreht und ich mit dem Oberkörper auf dem Boden lande. Ich stelle fest, dass ein Absatz meiner Stöckelschuhe seltsam verdreht ist.

Da rennen scharenweise Passagiere an mir vorbei, ich versorge notdürftig meine Verletzungen und rapple mich wieder auf. Ich merke, dass ich mir den Schenkel aufschürfte, was mir aber mehr Sorgen bereitet, ist mein schmerzender Knöchel. Kaum habe ich mich davon überzeugt, dass nichts gebrochen ist, massiere ich sanft den Knöchel, um den Schmerz zu lindern, dann versuche ich, mich wieder aufzurappeln.

„Sind Sie in Ordnung?“, höre ich eine männliche Stimme, mit starkem Akzent und kurz darauf hält er meinen Ellbogen und hilft mir hoch. Noch ehe ich antworten kann, ist er wieder weg. Hier kann man von zu wenig Hilfe und verspäteter Hilfe sprechen, denke ich.

Ich kaue auf meiner Lippe, um mich von meinem schmerzenden Bein abzulenken und schaffe es ein kleines Stück vor. Ich fühle mich seltsam und kann mich nicht orientieren. Es liegt nicht am Sturz. In meinem Kopf ist alles verschwommen und ich scheine nicht klar denken zu können. Es ist nicht nur mein schmerzender Knöchel, all meine Glieder schmerzen, die Gelenke sind fast ausgekugelt und auch im Unterkörper habe ich Schmerzen. Ich brüte wohl etwas aus.

Ich schaue hoch, auf die riesige Anzeigentafel. Zuerst sehe ich nur flackernde Lichter, habe zu große Schmerzen, um mich zu konzentrieren, aber dann sehe ich die Zeit auf der Digitaluhr: 8:56. Ich komme zu spät.

Noch etwas stimmt nicht. Ich komme niemals zu spät. Ich bin gewissenhaft. In den vier Monaten, die ich nun schon bei Archers International arbeite, kam ich meistens mehr als 15 Minuten zu früh. Mr. Ronson, der Regionalleiter, ließ mich wissen, er sei beeindruckt von meiner Arbeit und meinem Engagement. Er sagte, ich hätte in der Firma eine große Zukunft vor mir. Nun stehe ich da, fünf Minuten vom Büro entfernt, wenn ich mich beeile, und ich kann kaum laufen.

1 STUNDE

Es ist fast 9:40 Uhr, als ich im siebten Stock aus dem Fahrstuhl steige. Ich zwänge mich durch die Schiebetür, betrete das ausladende Stockwerk und taumle auf meinen Schreibtisch zu.

Als sie mich sieht, tritt Margaret aus ihrem Büro. Sie fragt: „Wo hast du gesteckt, zum Teufel?“

Ich merke, wie mich alle im Büro anstarren. Dann senken sie die Köpfe. Sie tun so, als hören sie nicht zu, spitzen aber die Ohren. Man spürt die Anspannung. Margaret Hamilton ist meine Vorgesetzte. Seit ich in der Firma anfing, verbindet uns eine Art Hassliebe. Es ist nichts Persönliches, sie hasst es, wenn Mr. Ronson die Arbeit von jemandem lobt, es sei denn, es ist ihre eigene und sie lässt keine Gelegenheit aus, andere runter zu putzen, egal wen. Besonders, wenn es eine der jüngeren oder neueren Frauen im Team ist, von denen sie meint, sie könnte sie schikanieren. Margaret ist groß, schlank und an guten Tagen, sieht ihr Gesicht aus wie dreimal durchgekaut. Die Mädchen im Büro machen schon Witze darüber, dass sie die Wiedergeburt ihrer Namensschwester, der Bösen Hexe des Westens, aus Der Zauberer von Oz ist. Grausam, aber so ist sie halt. Margaret ist Mitte 50, verheiratet und ihre erwachsenen Kinder sind ausgezogen. Mir kam zu Ohren, dass sie ein hartes Leben lebt, mit einem grausamen Ehemann, und sie ihre Angst nur beherrschen kann, wenn sie diese an ihren Untergebenen auslässt. Wenn das stimmt, dann sollte ich ihr dieses Ventil sicher nicht verdenken, vorausgesetzt, es trifft nicht mich. Leider hat sie es jetzt gerade auf mich abgesehen.

„Tut mir leid. Ich weiß, ich bin zu spät, aber auf dem Weg hierher hatte ich einen kleinen Unfall. Ich knickte um, verstauchte mir den Knöchel und auch mein Schuh ging kaputt. Ich kam her, so schnell ich konnte.“ Ich lächle etwas, hoffe, mein Schmerz und meine Not wecken ihr Mitleid.

„Rede keinen Unsinn, Briony“, herrscht sie mich an und nimmt mir den Wind aus den Segeln. „Wärst du nur ein paar Minuten zu spät gekommen, dann hätte ich es bei einer Verwarnung belassen, aber dein Verhalten kann ich dir nicht durchgehen lassen. Du hast uns im Stich gelassen. Nicht nur mich. Auch Mr. Ronson ist stinksauer.“

Das hat gesessen. Ich verstehe nicht, woher sie das hat. Vielleicht ist es ein Trick, um mich aus der Reserve zu locken. „Was meinst du? Ich ließ euch nie im Stich. Ich liebe meine Arbeit. Sag mir, was du meinst.“

„Das ist jetzt aber nicht dein Ernst. Du hast drei Tage unentschuldigt gefehlt. Du sagtest uns nicht, warum oder wo du warst und ans Telefon bist du auch nicht gegangen. Am Dienstag hast du die wichtigste Präsentation für einen Kunden verpasst. Dein Team hat sich zur Vorbereitung dieses Termins krumm gearbeitet. Seit 3 Monaten hofieren wir diesen Kunden, er springt vielleicht ab und du denkst, wir lassen dies durchgehen?“ Sie schaut mich von oben bis unten an. „Jetzt schneist du hier rein und siehst aus wie ein Landstreicher. Dein Make-up ist verschmiert, deine Haare zerzaust und du siehst aus, als hättest du in diesen Klamotten geschlafen.“ Sie schaut mich kalt an. „Du siehst aus, als hättest du ein ausgiebiges Besäufnis hinter dir. Oder bist du auf Drogen und dein Trip lässt gerade nach? Ich weiß nicht, was du dir dabei dachtest und es ist mir auch scheißegal.“

Was meint sie nur? Ich nehme keine Drogen. Zugegeben, im Studium rauchte ich ein paar Mal Gras, aber das war vor Jahren und es war nichts für mich. Was den Alkohol angeht, so trinke ich manchmal ein oder auch drei Gläser Wein, aber nur in Gesellschaft. Ich überschreite vielleicht hin und wieder das, von der Regierung vorgegebene, gesunde Maß an Alkohol, aber ich bin nie betrunken und war sicher nie so betrunken, dass ich die Kontrolle verlor und will es auch nie sein.

In meinem Kopf dreht sich alles und ich habe das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen. Was sie gerade sagte, ergibt für mich gar keinen Sinn. „Drei Tage? Aber, aber…das stimmt nicht. Ich…ich…Moment mal…“, versuche ich zu sagen, stammle aber nur. Ich bringe keinen ganzen Satz heraus. Ich suche Halt an der Stuhllehne, denn ich befürchte, ich falle sonst um.

„Mr. Ronson ist in einer Besprechung, er hat jetzt keine Zeit für dich. Ich glaube kaum, dass er deinen Vertrag verlängert, denn du bist ja noch in der Probezeit. Jetzt mach erst mal eine Pause. Ich schlage vor, du gehst nach Hause, machst dich frisch und kommst um 14:00 Uhr wieder. Deine persönlichen Sachen haben wir bereits aus dem Schreibtisch genommen und in eine Schachtel gepackt, denn wir hatten keine Ahnung, ob du wiederkommst und wir brauchten den Platz. Wenn du willst, kannst du alles mitnehmen.“ Margarets Gesicht ist eiskalt, aber ich glaube, unter dieser teilnahmslosen Maske lächelt sie selbstzufrieden.

Nach dieser Standpauke überrascht mich das nicht, aber dass ich vielleicht meinen Job verliere, ist wie ein Schlag ins Gesicht. Dies sollte der Grundstein für meine Karriere sein. Nach vier Jahren fleißigen Studiums, einem Abschluss mit Auszeichnung und zwei Jahren Berufserfahrung, ergatterte ich einen Job als Junior Marketingleiterin bei Archers International. Ich halte kurz den Atem an. Dass mir die Tränen in die Augen steigen, weiß ich, aber ich zwinge mich, nicht zu weinen, nicht vor dieser Schlampe. Ich renne den Flur hinunter. Sie dreht sich um und geht wieder in ihr Büro. Ich bin erleichtert.

Taumelnd eile ich aus dem Hauptbüro. Zu meiner Linken befindet sich die Damentoilette. Ich drücke gegen die Tür und eile hinein. Nun ist mir richtig schlecht und mir dreht sich der Magen um. Gerade noch rechtzeitig öffne ich eine Toilettentür, sacke auf dem Boden zusammen, beuge mich über die weiße Porzellanschüssel und würge. Meine Brust hebt sich und Speichel tropft mir aus dem Mund. Mein Gesicht ist schweißgebadet. Ich will mich übergeben, meinen Körper von allem befreien, was mich vergiftet. Nichts kommt. Ich bin verzweifelt. Ich muss dafür sorgen, dass ich mich besser fühle. Zwei Finger stecke ich mir in den Hals. Ich muss wieder würgen, diesmal heftiger, dass wenigstens ein bisschen was kommt, aber nichts tut sich.

Ich bin fix und fertig. Im Mund und im Rachen habe ich einen ekligen, sauren Geschmack und am ganzen Körper unangenehme Schmerzen. Ich habe Schwierigkeiten, die Toilettenspülung zu drücken, richte mich vom Boden auf und richte mich am Sims vor dem Waschbecken auf. Meine Hände fülle ich mit kaltem Wasser, das ich dann trinke, um den sauren Geschmack zu verdrängen. Ich würge, als das Wasser in meinen Rachen gelangt und versuche es nun langsamer zu trinken.

Nun betrachte ich mich im Spiegel. Nein, das bin doch nicht ich. Das Gesicht, das mir entgegen schaut, sieht wesentlich älter aus als ich, mit meinen 25 Lenzen. Sollte Margaret das gemeint haben, dann kann ich ihr schlecht einen Vorwurf machen. Ich sehe grauenhaft aus; das sagte sie und nicht nur das. Meine Wangen sind hohl, meine Augen eingefallen, meine Pupillen wie Stecknadeln und meine Haut ist wie Pergament. Die Wimperntusche ist verschmiert und insgesamt gebe ich ein lächerliches Bild ab. Meine Regenjacke ist dreckig, vermutlich vom Sturz, und meine restliche Kleidung ist so zerknittert, man erkennt sie fast gar nicht mehr. Wie konnte ich nur so zur Arbeit kommen? Ich achte und bin stolz auf mein Äußeres und bin gewöhnlich tadellos herausgeputzt. Was ist nur mit mir geschehen?

Ich muss krank sein. Margaret sagte, ich hätte drei Tage unentschuldigt gefehlt. Das konnte doch nicht sein, oder? Ich war doch nicht krank und hatte die ganze Zeit geschlafen. Das hätte ich doch gemerkt, nicht? Wie dem auch sei, dagegen muss ich jetzt was tun. Ich nehme mir ein paar Papiertücher aus dem Spender, befeuchte sie, wische mir damit das Make-up ab, versuche, mich zu waschen und die verschmierte Schminke los zu werden. Ich möchte wieder wie ein Mensch aussehen. Mit den Fingern fahre ich mir durchs Haar, in der Hoffnung, mich irgendwie sammeln zu können. Ich wühle in meiner Handtasche und suche nach Lippenstift, dann höre ich Schritte. Die Tür geht auf und Alesha kommt rein.

Alesha hat ein oder zwei Monate vor mir in der Firma angefangen. Sie ist Sekretärin und hat nicht Marketing studiert, wie ich. Sie ist jung, 21, meine ich, und sehr hübsch. Eine perfekte Haut mit einem dunklen Teint, fast schwarz. Sie ist etwas größer, hat schulterlanges, ganz glattes, pechschwarzes Haar und eine traumhafte Figur. 90-60-90, wenn ich nicht irre. Sie hätte Model werden sollen. Sie mag es, wenn man sie wahrnimmt und trägt kurz geschnittene Oberteile. Alle Männer, die für die Firma arbeiten oder sie besuchen, einschließlich Mr. Ronson, schauen ihr unauffällig in den Ausschnitt. Zum Teufel hätte ich mich so vorgebeugt, hätte es mir was ausgemacht. In der ganzen Zeit, die ich nun schon bei Archers arbeitete, hatten Alesha und ich nur die gewöhnlichen Höflichkeiten ausgetauscht.

Kaum sieht sie mich, eilt sie auf mich zu und legt mir den Arm um die Schulter. „Briony, was ist dir nur zugestoßen? Wir haben uns alle schreckliche Sorgen gemacht.“

Bei dieser netten Geste bekomme ich schon wieder feuchte Augen. Ich überlege mir eine Antwort. „Keine Ahnung. Nicht die geringste Ahnung", antworte ich.

„Beachte Margaret nicht. Jeder weiß, was für ein Miststück sie sein kann. Sag mir, was ist passiert.“

Ich überlege. So sehr ich jetzt eine Freundin gebrauchen kann, ich misstraue ihr wirklich. Ich kenne Alesha kaum und jetzt kommt sie und bietet mir ihre Freundschaft an. Ich weiß nicht, ob sie von sich aus so nett ist, oder ob sie Themen für Klatsch und Tratsch sucht. Dessen ungeachtet, habe ich nichts zu verlieren. „Ich verstehe kein Wort. Ich kam zur Arbeit und dachte, alles wäre in Ordnung. Ich konnte mich noch nicht mal rechtfertigen…“

„Nimm Platz. Lass uns reden und sehen, wohin das führt“, meint sie und führt mich zu einem Stuhl. Für mich besteht kein Anlass, ihrem Wunsch nicht zu entsprechen.

„Erst mal, was kannst du mir über den heutigen Tag sagen?“, fragt sie.

Ich denke nach, finde aber keine schnelle Antwort. Das erste, an das ich mich erinnere ist, dass ich am Hauptbahnhof war und merkte, dass ich zu spät komme.“

„Was war vorher? Du warst am Bahnhof, aber wie kamst du dort hin? Wo warst du letzte Nacht? Warst du zu Hause oder bei jemand anderes? Gingst du zu Fuß zum Bahnhof und hast einen Zug oder Bus genommen?“

Die Fragen machen Sinn, aber so sehr ich mir den Kopf zerbreche, ich finde keine Antworten. Ich erinnere mich, am Hauptbahnhof gewesen zu sein, weiß aber nicht mehr, wie ich dort hinkam.

Sie sieht meinem Gesicht an, wie fertig ich bin und drückt meine Schulter. „Keine Sorge. Es fällt dir schon wieder ein. Was ist das letzte, woran du dich erinnern kannst, bevor du am Hauptbahnhof zu dir kamst?“

Ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen und mich zu erinnern. Meine Erinnerung will nicht wiederkehren. Ich überlege noch etwas und antworte schließlich: „Das letzte, an das ich mich erinnere, ist, dass ich am Freitag noch ziemlich lange gearbeitet habe. Ich hatte keine Zeit, nach Hause zu gehe und mich umzuziehen. Ich war mit meiner Freundin Jenny bei Alfredos verabredet. Wir wollten ein paar Drinks nehmen, ehe wir zu Abend aßen. Wie geplant ging ich in die Bar.“

„OK, das ist ein Anfang“, antwortet Alesha. „Was ist mit der Freundin, mit der du dich trafst? Wieso nimmst du nicht mit ihr Kontakt auf? Sie könnte vielleicht etwas Licht ins Dunkel bringen. Sie weiß vielleicht, wo du warst.“

„Natürlich! Klingt logisch. Ich weiß nicht, warum mir das nicht selbst eingefallen ist“, antworte ich und weiß es wirklich nicht. Ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen. Ich habe alles so verschwommen vor mir und kann nicht klar denken. „Um 20:00 Uhr hätte ich mich mit Jenny treffen sollen. Ich versuche, sie jetzt anzurufen.“ Ich öffne meine Handtasche und suche nach meinem Handy.

„Nur ein Gedanke. Weißt du noch, was du am Freitag getragen hast?“

Schweigend schließe ich die Augen und versuche, mich zu erinnern. „Ja, mein blaues Leinenkleid von Jaeger. Ich hatte es angezogen, weil ich ein wichtiges Treffen mit dem Geschäftsführer von Caron's, einem neuen Kunden, hatte und ich gut aussehen wollte.“

Alesha bleibt der Mund offenstehen und ich folge ihrem Blick. „Oh, mein Gott! Das trage ich gerade. Ich trage dasselbe Kleid wie letzten Freitag und habe keine Ahnung, wo ich war oder was ich in der Zwischenzeit gemacht habe.“

Meine Knie werden weich und wieder denke ich, ich falle gleich in Ohnmacht. Ich verliere mein letztes bisschen Würde, als Alesha mir hilft, aufzustehen, mich dann in eine Kabine führt und den Toilettensitz herunterklappt, damit ich mich setzen kann.

„Das geschieht doch nicht wirklich. Es ist bestimmt ein Albtraum. Ich kann mich an nichts, was seit Freitagabend geschah, erinnern.“

„Das wären…fünfeinhalb Tage…142 Stunden“, rechnet Alesha, „vielleicht mehr.“

„Vielleicht bin ich krank und irgendwo ohnmächtig geworden. Ist es möglich, dass ich in dieser ganzen Zeit ohnmächtig war? Gott, vielleicht haben mich Außerirdische entführt, was weiß ich.“ Mein jämmerlicher Versuch schwarzen Humors macht die Stimmung auch nicht besser.

„Oder Schlimmeres.“ Die Worte platzen aus Alesha heraus, dann hält sie sich den Mund zu, denn sie ist schockiert, dass sie ihre Gedanken aussprach.

Keiner von uns spricht, denn ihre Worte hängen schwer in der Luft. Ihr Gesichtsausdruck ist todernst und ich nehme an, dass sie, wie ich auch, überlegt, wieso man mich entführt hat. Ich drehe nicht durch. Ich fühle mich so seltsam abwesend, fast so, als wäre ich auf einem Dach und schaue von oben zu, wie Alesha und ich dieses Gespräch führen.

In Gedanken schweife ich ab. Dann stelle ich fest, dass ich nackt daliege. Hände berühren mich, viele Hände, berühren mich überall, streicheln, liebkosen, kraulen mich. Bilde ich mir das ein oder ist das eine Erinnerung? Ich fühle mich schmutzig, so schmutzig. Mir kommt die Galle hoch.

„Aber warum kann ich mich an nichts erinnern?“, frage ich.

„Keine Ahnung. Vielleicht hast du ein Trauma. Vielleicht bist du krank. Ich weiß es nicht. Es könnte dich auch jemand betäubt haben.“

„Ich muss nach Hause. Mich duschen.“ Vielleicht hilft dies auch meinem Geist auf die Sprünge.

„Nein, warte. Das darfst du nicht. Du musst zuerst mit der Polizei reden“, antwortet sie. „Vielleicht ist ja gar nichts. Ich hoffe echt, es ist nichts, aber du wirst ihre Hilfe brauchen, um es herauszufinden.“

„Du hast Recht. Mir wird nichts anderes übrigbleiben.“ Mir kommen wieder die Tränen, die ich diesmal nicht zurückhalten kann. Es überkommt mich und in Sekunden krampfe und schluchze ich nur noch. Alesha kommt her, drückt mich fest an sich und streichelt meinen Kopf. Ich umarme sie so fest, als würde mein Leben davon abhängen. Vielleicht ist es so. Zunächst dreht sich mein Kopf wie wild und ich sehe Bilder, grauenhafte Bilder von Dingen, zu denen ich vielleicht gezwungen wurde. Ich zittere am ganzen Körper und kneife die Augen fest zu, aber die Bilder quälen mich noch immer. Ich schlucke, atme tief ein und merke, dass ich zur Ruhe kommen muss, weil mich sonst die nackte Angst überkommt. Allmählich atme ich wieder regelmäßig, ich finde mich mit meinem Dilemma ab.

Alesha sagt nichts, drückt mich aber fest an sich und streicht mir über den Kopf. Es vergeht viel Zeit, ehe ich sie loslassen kann. Ich weiß, ich muss stark sein, um das durchzustehen. Jetzt fühle ich mich stärker und gewappnet, für das was vor mir liegt.

2 STUNDEN

„Alesha, ich weiß, was ich jetzt zu tun habe. Für deine Hilfe kann ich dir gar nicht genug danken, aber ich will nicht, dass du meinetwegen Ärger bekommst. Du sitzt schon eine ganze Weile nicht mehr an deinem Schreibtisch. Am besten, du gehst zurück.“

„Ich lasse nicht zu, dass du das allein mit dir ausmachst. Du brauchst jemanden, der dir beisteht, und wenn du keinen besseren Vorschlag hast, würde ich das übernehmen, zumindest vorerst. Aber du hast Recht, ich kann nicht einfach aus dem Büro spazieren, ohne etwas zu sagen und ich muss auf jeden Fall meine Tasche und die Jacke mitnehmen. Kommst du damit klar, wenn ich dich für ein paar Minuten allein lasse, um der Hexe zu sagen, was vor sich geht?“

Ich nicke.

„Mir egal, ob es ihr gefällt oder nicht, ich begleite dich“, sagt sie noch. „Geh also nirgends hin, bis ich zurück bin. Es dauert nicht lange.“

„OK, danke, das weiß ich wirklich zu schätzen“, sage ich und zwinge mich, etwas zu lächeln. Das sollte ihr eigentlich Mut machen, aber ich fürchte, mein Gesicht sieht aus wie eine Fratze, was genau das Gegenteil bewirkt. „Solange du weg bist, versuche ich Jenny anzurufen und herauszubekommen, was sie weiß.“

Alesha drückt leicht meine Schulter und eilt dann zur Tür hinaus.

Ich stehe wieder auf, stelle meine Handtasche auf den Waschtisch und durchsuche sie nach meinem Handy. Ich öffne die Hülle und merke, dass das Handy zerlegt wurde. Die hintere Abdeckung wurde entfernt und sowohl der Akku als auch die SIM-Karte liegen lose in der Hülle. Ich zähle zwei und zwei zusammen und merke, was das zu bedeuten hat. Krank zu sein, irgendwo in Ohnmacht zu fallen und die nächsten paar Tage krank zu sein, ist keine ernsthafte Option mehr. War es vorher auch nicht, aber immer noch besser als die Alternative. Jemand hat mein Handy auseinandergenommen und dies bedeutet, was mir die letzten paar Tage widerfuhr, hat jemand geplant. Damit ich nicht darüber nachdenken muss, was sie wohl sonst noch getan hatten, versuche ich herauszufinden, warum sie das Handy zerlegten. Vielleicht deshalb, weil jemand verhindern wollte, dass ich jemanden anrief oder eine SMS verschickte, oder dass ich welche erhielt. Aber hätten sie das nicht auch geschafft, indem sie es einfach ausgeschaltet hätten? Nein, sie waren überlegter vorgegangen, es musste also einen Grund haben. Natürlich, so meine ich, würde es das GPS-Signal stören, sodass man das Handy oder seinen Standort nicht mehr zurückverfolgen kann. Sollte das der Plan gewesen sein, warum wurde es dann nicht einfach kaputt gemacht oder weggeworfen? Das ergibt wenig Sinn.

Als ich die SIM-Karte und den Akku wiedereinsetze, höre ich den üblichen Startton. Gut, es scheint zu funktionieren. Als nächstes sehe ich die Symbole. Der Akkustand ist niedrig, aber ich sehe auch vier Sprachnachrichten, neun SMS, sechs WhatsApp-Nachrichten und unzählige E-Mails sowie diverse Nachrichten von Facebook, Twitter, Pinterest und LinkedIn. Letztere fünf interessieren mich nicht wirklich, da ich normalerweise von diesen Seiten täglich haufenweise Nachrichten erhalte. Fast eine Woche lang hatte ich mich nicht angemeldet, also mussten es hunderte sein. Ich muss die anderen Nachrichten beachten; vielleicht erfahre ich durch sie, was geschah.

Ich möchte Jenny anrufen, zunächst muss ich aber dies erledigen. Ich tippe auf die Nachrichten und gehe sie chronologisch durch. Den Anfang mache ich bei allem, was seit Freitag eingegangen ist.

Die ersten drei auf der Liste sind alles Sprachnachrichten von Jenny.

Von Freitag, um 19:55 Uhr. Entschuldigung, verspäte mich, erkläre es später, sollte gegen 20:30 Uhr hier sein.

Nächste Nachricht, 20:42 Uhr. Wo bist du?

Dann, 21:03 Uhr. Schaute überall, du bist nicht hier! Was ist, bist du sauer, weil ich zu spät kam? Ich rufe morgen an, wenn du dich beruhigt hast.

Hilft das weiter? Das frage ich mich. Das bestätigt nur, dass ich Jenny treffen muss und, nach allem was sie sagte, wusste ich, sie kam spät, ich war bereits gegangen, was aber nicht beweist, dass ich tatsächlich hier war. Ich versuche, mich zu konzentrieren und mir vorzustellen, was passierte. Ich sehe mich allein an einem Tisch sitzen mit einem Glas Merlot in der Hand. Oft genug war ich bei Alfredo, kann mir also ein klares Bild machen. Aber was wird da von mir verlangt? Ich bin mir nicht sicher, ob es eine Erinnerung an Freitag ist oder ich mich an etwas erinnere. Wäre ich mir nur sicher, dann hätte ich einen echten Anhaltspunkt.

Die nächste Nachricht ist von meinem Papa, Samstag, 09:21 Uhr.

Mama und mir geht es blendend. Wir feierten gestern unseren Hochzeitstag und an Bord gab es ein herrliches Abendessen. Danke für den Champagner und die Blumen, lecker und schön zugleich. Heute Morgen legten wir in Neapel an und werden dann an der Küste entlangfahren, um Pompei und den Vesuv zu besuchen. Wir halten dich auf dem Laufenden. Arbeite nicht zu viel. In Liebe, Mama und Papa.

Es freut mich, dass ihnen der Urlaub gut gefällt. Seit Monaten haben sie ihn geplant, um ihren 30. Hochzeitstag zu feiern. Ich erinnere mich an etwas. Online habe ich jemanden beauftragt, an ihrem Hochzeitstag Blumen und Champagner in ihre Kabine zu bringen, dann merke ich aber, dass es mich nicht erfüllt, da ich schon Tage zuvor alles arrangiert hatte.

Um 22:27 Uhr geht ein Spam ein und teilt mir mit, dass ich ein Update machen muss.

Am Samstag, um 22:51 Uhr, schrieb Jenny wieder. Sie hat versucht anzurufen und eine Nachricht hinterlassen. Bist du noch sauer? Entschuldige. Bitte, rede mit mir!

Ich muss sie zurückrufen, denke ich. Ich glaube, sie meint, ich ging nicht ran, weil sie mich im Stich ließ. Seit der Oberschule sind wir beste Freundinnen. Ich muss zugeben, in den vielen Jahren, die wir befreundet sind, kam es immer wieder vor, dass ich die Geduld mit ihr verlor und wütend auf sie war. Sie denkt wohl, deshalb meldete ich mich nicht bei ihr. Ich muss ihr sagen, was geschah oder, besser noch, sie soll mir dabei helfen, herauszufinden, was geschah. Der Akku zeigt nur noch 2%. Jetzt kann ich sie nicht anrufen. Ich muss das Handy wieder aufladen, sobald ich kann. Zu Hause muss ich mein Ladegerät holen. Frische Klamotten muss ich mir auch unbedingt anziehen. Ich sollte wohl besser schauen, ob ich Geld für ein Taxi habe.

Wieder wühle ich in meiner Tasche und hole meinen Geldbeutel heraus. Als ich ihn öffne, merke ich, dass irgendetwas anders ist. Ich sehe keine Geldscheine im Geldbeutel und im Münzfach nur einen kleinen Geldbetrag, insgesamt 2 Pfund und 33 Pence. Der Fünf-Pfund-Schein, den ich immer hinter meinen Visitenkarten verstecke, ist noch da und auch meine Fahrkarte, mein Führerschein, die Karte vom Fitnessstudio und die Mastercard, aber meine EC-Karte ist weg. Die habe ich immer an derselben Stelle und sie fehlt. Oh Scheiße, habe ich sie verloren oder hat sie jemand gestohlen? Gewöhnlich habe ich zwischen 20 und 60 Pfund in bar bei mir, wo ist dieses Geld? Gab ich es aus oder hat es jemand gestohlen? Ich fühle mich wackelig auf den Beinen und schmecke wieder meine Magensäure. Ich stütze mich am Waschtisch ab, während ich diese neue Information sacken lasse. Das wird immer schlimmer und schlimmer.

Ich höre die Tür, denn Alesha ist wieder da

„Ich habe eine Überraschung für dich“, sagt sie fröhlich.

„Ich glaube nicht, dass ich noch mehr Überraschungen verkrafte“, antworte ich mit bitterer Stimme, denn ich kann ihre Freude nicht teilen.

Davon unbeeindruckt fährt sie fort: „Diese wird dir gefallen. Ich betrat Hamiltons Büro, um ihr zu sagen, dass ich frei brauche, um nach dir zu sehen. Ich konnte mich durchsetzen und akzeptierte keinerlei Widerspruch. Sie sagte mir, ich solle mich setzen und ihr sagen, worum es geht.“ Alesha lächelte. „Das wirst du nicht glauben. Natürlich sagte sie mir, ich müsse gehen! Sie sagte, sie wäre gerne selbst gekommen, aber sie käme zu spät zu einem Termin mit einem Kunden, den sie nicht mehr absagen könne.

Sie sagte, ich solle sie auf dem Laufenden halten und sie würde dich später anrufen. Diese Karte gab sie mir für dich. Auf ihr steht ihre private Handynummer und sie sagte, sie sei immer erreichbar. Außerdem gab sie mir zwanzig Pfund und sagte, du könntest es fürs Taxi oder sonst etwas ausgeben. Dann meinte sie noch, ich solle nichts von alledem zu jemandem im Büro sagen.“ Alesha hebt die Augenbraue. „Was denkst du, ist die Schneekönigin aufgetaut?“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll“. Haben wir Margaret falsch eingeschätzt oder versucht sie nur, sich zu schützen, falls ich mich beschwere? Es ist mir egal, denn in meinem Zustand bin ich für jede Hilfe dankbar.

„Verschwinden wir hier“, schlägt Alesha vor und führt mich aus der Toilette hinaus zum Fahrstuhl.

„Ich versuchte, auf mein Handy zu schauen, aber der Akku ist fast leer. Ich muss nach Hause und es ans Ladegerät hängen, dass ich die anderen SMS lesen kann. Ich habe gerade erst angefangen.“

„Wo wohnst du denn? Diese Frage kam mir nie in den Sinn. Kann dir deine Familie helfen?“, fragt Alesha.

„Ich mietete mir eine Wohnung im Süden. Sie befindet sich in Langside. Vor ein paar Monaten, als ich anfing, hier zu arbeiten, zog ich ein. Bis dahin lebte ich bei meinen Eltern. Meine Mama, mein Papa und meine Großmutter sind meine ganze Familie. Sie hat Demenz und braucht rund um die Uhr Betreuung. Jetzt lebt sie in einem Altenheim. Meine Eltern sind großartig, aber sie sind gerade nicht da. Gestern hatten sie ihren 30. Hochzeitstag und letzte Woche gingen sie auf eine Mittelmeerkreuzfahrt, um das zu feiern. Bis Sonntag, eher bis Montag, sind sie nicht zu Hause. Sie hatten sich seit Monaten auf diese Reise gefreut, deshalb will ich ihnen nichts sagen, bis sie zu Hause sind. Vermutlich hätte ich sie ohnehin nicht erreicht, denn sie schalten ihre Handys die meiste Zeit aus und Papa hat mir gesagt, dass es dort oft keinen Empfang gibt. Ich muss tapfer sein, bis sie zurück sind.“

Ein paar Sekunden denke ich nach, dann fahre ich fort: „Vielleicht könnte ich für ein paar Tage wieder bei ihnen einziehen. Ich weiß, mein Zimmer hat sich kein bisschen verändert, seit ich ging.“

Alesha schaut nachdenklich drein. „Bist du sicher? Denkst du nicht, sie sollten es besser früher als später erfahren?“

Daran hatte ich nicht gedacht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Mama und Papa brauchen diesen Urlaub, mehr noch wegen Vaters Herzinfarkt im letzten Jahr. Sie haben es sich verdient. Sie sollten ihren besonderen Tag feiern können, ohne dass ich alles verderbe. Andererseits, wüssten sie, dass ich in Schwierigkeiten stecke, wären sie vielleicht lieber hier bei mir. Sie würden schnurstracks nach Hause eilen und alles in Ihrer Macht tun, um bei mir zu sein. Es verletzt sie vielleicht, wenn ich sie nicht informiere oder sie meinen, ich vertraute ihnen nicht, was aber nicht stimmt. Um nichts in der Welt würde ich ihnen weh tun wollen.

Im Hinterkopf habe ich auch noch, dass ich nicht weiß, wie sie reagieren werden, wenn sie hören, was passiert ist und ich will sie nicht enttäuschen, weder dadurch, dass sie es erfahren, noch dadurch, dass ich ihnen etwas verschweige. Scheint, als wäre ich verdammt, wenn ich es tue, aber auch, wenn ich es nicht tue. Auch wenn ich nicht mehr weiß, was mir zugestoßen ist, was immer es ist, es geht mir jetzt gut. Zumindest glaube ich, dass es mir jetzt gut geht.

Ich entschließe mich, es ihnen nicht zu sagen. Ich sage mir, dass sie sich Vorwürfe machten, wenn sie erfahren, dass ihrer Tochter etwas zugestoßen ist, während sie im Urlaub waren und die Zeit genossen. Würden sie erfahren, dass ich entführt oder vergewaltigt wurde, dann wären sie traumatisiert. Der Schock könnte ihr Tod sein. Vielleicht wären sie wütend, wenn ich bis nach ihrer Rückkehr warte, um es ihnen zu erzählen, sie könnten mich aber wenigstens sehen und wüssten, es geht mir gut. Außerdem können sie nichts tun, außer meine Hand zu halten und sich Sorgen machen und dann wäre der Rest ihres Urlaubs versaut?

„Du hast Recht, Alesha, sie werden es vermutlich wissen wollen. Aber wägt man alles ab, können sie nichts tun und es würde ihnen mehr schaden als nutzen, wenn sie es jetzt erfahren.“

Alesha kaut auf ihrer Lippe, so gar nicht überzeugt, aber sie sagt nichts mehr zu dem Thema.

„Ich schaute mir die Textnachrichten durch, würde gerne noch die restlichen Nachrichten prüfen oder zumindest so viele, wie ich kann, ehe mein Akku leer ist.“

„Was hast du bisher herausgefunden?“ fragt Alesha.

„Nicht viel“, antworte ich. „Mir fiel nur wieder ein, dass ich mich um acht Uhr mit Jenny treffen wollte. Sie tauchte bis zum späten Abend nicht auf und ich war schon weg.“

„Zumindest weißt du, dass du hier warst, du hast also einen Anhaltspunkt.“

Darüber denke ich nach, bevor ich antworte: „Nicht wirklich. Ich weiß, ich hätte hier sein sollen, aber kann bis jetzt noch nicht sagen, ob ich überhaupt ankam.“

3 STUNDEN

Auf der anderen Seite des Gebäudes, im Eingangsbereich, öffnet sich die Tür des Fahrstuhls. Ich atme tief ein, die frische Luft, die mir entgegen weht, als Leute von der Straße aus durch den Vordereingang kommen, tut mir gut. „Ich setze mich ein paar Minuten“, sage ich und deute auf das Sofa in der Haupthalle. Ich halte mein Handy und meine: „Ich will sehen, was ich sonst noch herausfinde. Während ich das tue, könntest du doch mit dem Mann in der Sicherheitszentrale reden und herausfinden, ob es eine Aufnahme von mir gibt, als ich am Freitag das Gebäude verließ.“

„Gute Idee. Ich mach mich gleich dran.“

Die letzten drei Textnachrichten kommen von Verwandten und sind nicht weiter wichtig. Ich schalte die Mailbox ein. Von den vier Nachrichten ist die erste Spam und völlig unwichtig, ein Angebot bei unverschuldeten Unfällen. Ich bin diese Anrufe so leid. Ob ich sie wohl beantworten und sie fragen soll, ob sie mir bei meinem jetzigen Dilemma helfen können? Ich spüre, wie ich eine Grimasse ziehe, als ich denke, dass ich noch nicht meinen ganzen Sinn für Humor verloren hatte.

Die zweite Nachricht ist viel beunruhigender. Sie ist vom Vermittlungsbüro, bei dem ich meine Wohnung gemietet habe, und man fragt mich, warum die Miete, die am Montag fällig gewesen wäre, nicht eingegangen ist. Seltsam, denke ich, denn ich zahle per Dauerauftrag und es sollte mehr als genug auf meinem Konto sein, um die Zahlungen abzudecken. Dem muss ich nachgehen. Sobald ich kann, werde ich meine Bank, aber ein paar Dinge haben Vorrang.

Die dritte Nachricht ist von Jenny. Sie lässt fragen, ob ich mich soweit beruhigt habe, um mit ihr zu reden und sie bittet mich, zurück zu rufen.

Die vierte Nachricht ist von Mama und Papa, die von Palermo, Sizilien, aus anrufen, wo sie während ihrer Kreuzfahrt einen Ausflug machten. Als ich ihre Stimmen höre, wünschte ich, sie wären hier. In diesem Augenblick wünsche ich mir nichts sehnlicher, als meine Familie zu umarmen und mich bei ihnen in Sicherheit zu fühlen. Ihre Stimmen klingen fröhlich und sie genießen ihren Urlaub sichtlich. Sie haben mich zu Kraft und Unabhängigkeit erzogen und dieser Gedanke bestärkt mich, ihnen nichts zu sagen, bis sie wieder zu Hause sind. So kommt es, dass ich nur den Anfang ihres Anrufs höre, ehe das Handy dann verstummt, weil der Akku leer ist.

Alesha kommt zurück und hat bestätigt, dass ich das Gebäude um 19:23 Uhr am Freitagabend verließ. „Bist du bereit, aufzubrechen?“, fragt sie.

„So bereit, wie ich nur sein kann.“

Sie drückt ein paar Knöpfe an ihrem Handy, schaut dann hoch und teilt mir mit, dass das Taxi in fünf Minuten an der Vordertür stehen wird.

„Gehen wir gleich zur Polizei. Die nächste Station ist in der Baird Street“, meint sie.

„Ich würde lieber zuerst nach Hause gehen, mein Ladegerät holen. Ich muss Jenny anrufen und würde mich gerne umziehen.“

„Ich denke, je eher du mit dem Unangenehmen fertig bist, desto besser. Du kannst deine Freundin jetzt mit meinem Handy anrufen, wenn du willst. Alles andere kann warten“, antwortet Alesha.

So sehr ich nach Hause will, alles erscheint mir logisch. Wäre ich erst wieder in meinem Haus, würde ich nicht wieder raus wollen. Ich nicke zustimmend.

Alesha reicht mir ihr Handy, da kommt das Taxi. Wir steigen ein und ich wähle Jennys Nummer. Gerade höre ich es klingeln, da fällt mir ein, wie leicht ich mich an ihre Nummer erinnern konnte, obwohl ich sie kaum wählte, weil das mein Handy ja automatisch macht. Mein Gedächtnis funktioniert, also kann mein Geist nicht allzu verwirrt sein.

Vor dem vierten Piep höre ich eine Frauenstimme: „Jenny Douglas.“ Sie klingt vorsichtig, denn sie erkennt offenbar die Nummer nicht.

„Jenny, ich bin es, Briony.“

„Briony, tatsächlich. Endlich bist du von deinem hohen Ross heruntergekommen und erachtest mich als würdig, wieder mit dir zu sprechen.“

„Jenny, halt; so ist es nicht. Ich war nicht sauer und ich ging dir nicht aus dem Weg. Es…es…es ist nur…“, ich finde nicht die richtigen Worte.

„Es ist nur was?“

„Jenny, ich bin in Schwierigkeiten. Ich kann mich an nichts erinnern, was mir seit Freitag passierte.“

„Ist das ein Witz, Briony? Was willst du eigentlich?“

„Es ist kein Witz, Jenny. Ich wünschte, es wäre einer. Es ist mehr ein Albtraum. Ich glaube, ich wurde entführt.“

„Ist das dein Ernst?“

„Mein voller Ernst.“

„Oh, mein Gott! Was ist passiert? Wo bist du? Von wo rufst du an? Ich erkenne die Nummer nicht.“

„Ich weiß nicht, was passiert ist, das ist das Problem. Ich bin in einem Taxi, zusammen mit Alesha, aus dem Büro. Ich rufe von ihrem Handy aus an, denn bei meinem ist der Akku leer. Wir sind auf dem Weg zum Polizeirevier, um zu sehen, ob sie uns helfen können.“

„Du kannst dich nicht erinnern, ob du jemanden gesehen hast?“

„Nein, zwischen Freitagabend und heute Morgen erinnere ich mich an nichts.“

„Mein Gott. Das ist fast eine Woche! Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wissen deine Eltern davon?“

„Hör zu, Jenny, ich brauche deine Hilfe. Ich weiß nur, dass ich am Freitag etwa um 19:30 Uhr das Büro verließ und dich um 20:00 Uhr bei Alfredos treffen sollte. Ich sah deine Nachrichten. Ich las sie, ehe der Akku meines Handys leer war. Ich muss wissen, was du mir sonst noch sagen kannst.“

„Natürlich. Ich helfe dir, so gut ich kann, weiß aber nicht, ob ich noch was sagen kann. Ich verspätete mich und war erst da, ich weiß nicht wann, zwischen 20:30 Uhr und 21:00 Uhr, du aber warst nicht da. Ich dachte, du hättest genug vom Warten und ging.“

„Das ist alles? Du hast mich weder gesehen noch mit jemandem gesprochen, der wusste, wann ich ging oder ob jemand bei mir war?“

„Tut mir leid, Briony, nein. Ich habe mir nur meinen Teil gedacht. Ich war schon zu spät dran und halb verhungert, also kaufte ich auf dem Heimweg einen Döner. Hätte ich das nur gewusst.“

Ich atme tief ein. Ich bin enttäuscht und außer mir, als ich merke, dass ich von ihr nichts mehr erfahren werde.

„Zu welcher Polizeiwache gehst du? Ich komme und leiste dir Gesellschaft. Ich muss nur dem Chef sagen, dass ich mir frei nehme.“

„Das ist nicht nötig. Alesha ist bei mir.“

„Ich möchte helfen. Ich tue alles, was ich kann. Sag mir, wohin du gehst und wir treffen uns da, sobald ich wegkann.“

Ich denke kurz nach. „Du kannst doch etwas für mich tun. Wir sind auf dem Weg zur Baird Street. Könntest du mich dort treffen, damit ich dir meine Schlüssel geben kann, um mir in meiner Wohnung frische Klamotten zu holen? Außerdem das Ladegerät für mein Handy?“

„Kein Problem. Ich helfe dir gerne. Bin so schnell es geht dort.“

Ich fühle mich wieder etwas sicherer, da ich weiß, bald treffe ich Jenny. Obwohl Alesha großartig war, ein Fels in der Brandung, ist es nicht dasselbe. Jenny stehe ich schon so lange sehr nahe, dass sie fast wie ein Familienmitglied ist.

Die Fahrt vergeht wie im Flug. Ich höre, wie der Fahrer etwas kommentiert, einen Nachrichtenbeitrag, aber ich kann es nicht verarbeiten. Als wir vor der Polizeiwache ankommen, bezahlt Alesha die Rechnung, nimmt meinen Arm und führt mich durch den Eingang in einen großen Raum.

Eine junge Assistentin in Zivil kommt auf uns zu. „Hallo, mein Name ist Cynthia. Was kann ich für Sie tun?“, fragt sie.

Ich werde nervös und finde keine Antwort. Alesha merkt, wie ich zögere und springt wieder mal in die Bresche. „Meine Freundin braucht Hilfe“, meint sie. „Sie kann sich an nichts erinnern, was ihr zwischen Freitagabend und heute widerfahren ist und wir denken, sie wurde entführt, vermutlich betäubt…“ Sie schaut mich an, ehe sie fortfährt: „Es ist gut möglich, dass sie vergewaltigt wurde.“

„Ich verstehe“, sagt Cynthia ruhig. „Bitte folgen Sie mir und nehmen Sie dort drüben Platz.“ Sie führt uns zu einer Sitzecke. „Zunächst brauche ich allgemeine Informationen über Sie.“ Sie nimmt einen Tablet-PC und notiert meine Daten: Vor- und Nachname, Adresse, Geburtsdatum, Nationalität, Telefonnummer, E-Mail-Adresse und mein Beschäftigungsverhältnis. „Ich schicke einen Kollegen, der das Gespräch fortführt.“

Sie entfernt sich ein paar Schritte und ruft jemanden an. Ich kann nicht genau hören, was sie sagt, meine aber ein paar Worte zu hören… Code Sechs Zwei…Solo. Sie nickt mir zu. Dann fragt sie: „Was ist Ihnen lieber? Wollen sie lieber mit einer Kollegin oder einem Kollegen reden?“

Zuerst denke ich, dies spielt keine Rolle, dann meine ich aber, dass vielleicht ein paar intime Fragen kommen und denke, die mit einem Mann zu besprechen, wäre mir unangenehm. Unangenehm wäre es für mich auf jeden Fall, aber der Gedanke, an einen fremden Mann schreckt mich noch mehr ab. „Mit einer Kollegin, bitte“, antworte ich.

4 STUNDEN

Es dauerte sicher nur wenige Minuten, aber mir kommt es wie eine gefühlte Ewigkeit vor, ehe die Polizistin kommt. „Hallo, ich bin die Wachtmeisterin. Paula Fleming. Ich bin Verbindungsbeamtin bei der Sitte. Ich möchte Sie erst durch den, wie wir es nennen, angenehmen Teil führen, dass wir eine möglichst vollständige Aussage von Ihnen bekommen. Das können wir entweder unter vier Augen tun oder Ihre Freundin kann dabei sein, wenn Ihnen das lieber ist.“

Noch ehe ich antworten kann, sehe ich Jenny kommen. Sie schaut unruhig hin und her, dann sieht sie uns. Schließlich eilt sie auf mich zu und drückt mich ganz fest.

„Oh Briony, geht es dir gut? Es tat mir so leid, dies zu erfahren und ich tue alles, um dir zu helfen.“ Ich krame die Hausschlüssel aus meiner Handtasche und gebe sie ihr. Es sieht so aus, als hätte sie Tränen in den Augen und ich kann kaum Haltung bewahren.