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Carin Chilvers

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Beschreibung

Rita Volk ist Privatdetektivin. Die ehemalige Kriminalkommissarin hatte ihren Dienst quittiert, nachdem ihre kleine Schwester Jessika im Alter von acht Jahren plötzlich spurlos verschwunden war. Jahre später folgt sie ihrem Ex-Boss und seinem Team zu einem Tatort. Joachim Tenner, der schwule technische Leiter eines Foto-Großlabors, ist ermordet worden. Sein Lebenspartner, der ein paar Tage später 150.000 in bar im gemeinsamen Safe findet und sich von den ermittelnden Kripobeamten nicht ernst genommen fühlt, beauftragt Rita Volk, den Mörder zu finden. Ihre Recherchen führen die Privatdetektivin in einen Sumpf aus Kindesentführung, Sexualverbrechen und Erpressung, der immer undurchsichtiger wird. Als sie auch noch pornografische Kinderfotos findet, die im Besitz des Toten waren, spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu ...

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Ähnliche


Carin Chilvers

150.000 in bar

Privatdetektivin R. Volk

Kriminalroman

BOOKSPOT VERLAG

1

Es war kurz nach Mitternacht, als Rita aus der Kneipe auf den Gehweg hinaustrat, in der sie sich das Qualifikationsspiel für die Fußball-Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich, Deutschland gegen Nordirland, auf dem Großbildschirm über der Theke angesehen hatte. Die Begegnung hatte in Belfast stattgefunden, und der denkwürdige Tag war der 20. August 1997.

Die Kneipe gab sich einen typisch irischen Anstrich, besonders was die große Auswahl von hierzulande unbekannten Whisky-Sorten betraf. Sie war aber heilfroh, dass heute kein einziger echter Ire anwesend war, von denen sich tatsächlich gelegentlich mal einer hierher verirrte.

Bis Oliver Bierhoff, der Gentleman-Kicker, die Initiative ergriffen und kurz vor der Katastrophe innerhalb von knapp 10 Minuten, in der 73. 78. und 79 Minute, hintereinander drei Tore geschossen hatte, war es ein nervenaufreibendes Spiel gewesen. Danach fing die Kneipe an zu beben.

Um sie herum floss das Bier in Strömen. Selbst Alf (eigentlich Alfred), ein arbeitsloser Stammgast, der sonst einen ganzen Abend lang stumm in sein Bierglas starren konnte und die Augen nur hob, um ein neues zu bestellen, ließ sich von der Siegerstimmung anstecken und blickte mit glasigen Augen selig lächelnd in die Runde.

Bevor die Dinge völlig außer Kontrolle gerieten, machte sie sich davon.

Es war kaum zu glauben, aber die hochsommerliche Stadtluft stand noch immer unbeweglich zwischen den Häusern und wartete auf ein frisches Windchen.

So ging das nun schon seit Wochen. Die Medien sprachen mal wieder von einem Jahrhundertsommer, und sie hatte allmählich das Gefühl, dass dieser wetterbedingte Stillstand auch sämtliche kriminellen Energien lahm legte, die sonst so ihr Geschäft belebten.

Ihr letzter, in finanzieller Hinsicht, nennenswerter Auftrag lag drei Monate zurück und war die klassische Observation des jungen Lovers einer reichen, auffallend gepflegten Endfünfzigerin aus großindustriellen Kreisen gewesen. Der dramatische Zusammenbruch der Dame bei der Übergabe der verräterischen Fotos saß ihr jetzt noch in den Knochen.

Am meisten irritierte sie jedoch, dass sie auch in Sachen Jessika nicht weiter kam, obwohl sie im Internet jeder brauchbaren Spur hinterher hechelte und sämtliche neuen Erkenntnisse sorgfältig prüfte, und obwohl sie täglich praktisch jeden gedruckten Buchstaben in einer regionalen und zwei überregionalen Tageszeitungen las, die jedoch außer den üblichen Sommerloch-Indiskretionen weiter nichts zu bieten hatten und zudem noch schamlos voneinander abschrieben.

Einzig Gerichtsreporter Fritz Kühn schien einer reellen Aufgabe nachzugehen. Er verfolgte in Vertretung seiner beiden Kollegen die Gerichtsverhandlung eines neunzehnjährigen Studenten, der eine Dreizehnjährige vergewaltigt und fast zu Tode gewürgt hatte, und Jugendrichter Julius Rossnagel, wie sie zwischen den Zeilen lesen konnte, schien den Kerl wieder einmal mit Samthandschuhen anzufassen.

Rossnagels unangemessen milde Urteile hatten sie schon ein paar Mal auf die Palme gebracht.

Sie hielt einen Moment inne, kniff die Augen zusammen und versuchte, die Dunkelheit auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu durchdringen, wo sie kurz vor Spielbeginn ihr Auto abgestellt hatte. Hinter ihr schrieb die schmale Neonröhre über der Kneipentür unter spasmischen Zuckungen den Schriftzug IRISH PUB in giftigem Grün in den Stuttgarter Nachthimmel und tauchte die umliegende Umgebung gerade wieder in gespenstisches Licht, als sie die Schritte vernahm.

Kurz darauf zeichnete der Schlagschatten des ›Parken verboten‹-Schildes harte Konturen in die bleichen Milchgesichter von zwei kahlrasierten Jugendlichen, gewandet in Kampfanzug und Springerstiefeln, die plötzlich aus dem Dunkel aufgetaucht waren.

Die beiden waren, im Gegensatz zu ihr, alles andere als nüchtern und bewegten sich, einer die Hand auf der Schulter des anderen, schräg gegeneinander gelehnt in einer breit angelegten Schlangenlinie auf sie zu.

Beide trugen einen grob gestrickten rot-weiß gestreiften Schal, das untrügliche Zeichen des VfB-Fans, unordentlich um den Hals geschlungen, und das Gesicht des einen wies eine frische Platzwunde links über dem eingedrückten Nasenrücken auf, aus der schillernd noch etwas Blut sickerte. Das Auge darunter war bereits farbenfroh zugeschwollen. Mit dem anderen sah er sie herausfordernd an und lallte seinem Kameraden zu: »Sieh’ mal. Ne Braut. Und ganz alleine.«

Sein Kumpel nickte langsam mit schweren Lidern wie ein müdes Krokodil und grinste dümmlich breit mit einem abgebrochenen Schneidezahn in ihre Richtung.

Sie machte Anstalten, die Straße zu überqueren, als der mit der kaputten Augenbraue mit dicker Stimme weiterstammelte: »Hey du Schlampe. Bleib gefälligst steh’n.«

Sie sah sich um.

Außer ihr war kein anderes weibliches Wesen in Sichtweite, von einer Schlampe ganz zu schweigen.

»Ich hoffe, du meinst nicht mich, sonst gibt’s noch eins auf die Nase«, antwortete sie und betrachtete ihn und seinen Kumpel abschätzend.

Sie musste nicht lange rätseln. Bei den beiden handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Kandidaten aus Block A, der Cannstatter Kurve im Neckar-Stadion.

Die beiden blieben überrascht stehen und versuchten schwankend Balance zu halten. Als sie sich einigermaßen eingependelt hatten, lachte der, der bisher nur blöde gegrinst hatte, glucksend und meinte: »Das is’ nich’ Ihr Ernst, Lady.«

»Genau«, lallte der bereits heftig Angeschlagene, machte sich umständlich von seinem Kumpel los und kam langsam auf sie zugetorkelt. Offenbar hatte er noch nicht genug für heute.

Sie war auf das Äußerste gefasst und jeder Muskel ihres schlanken, durchtrainierten Körpers signalisierte Einsatzbereitschaft.

In diesem Moment ertönten mehrere Martinshörner gleichzeitig.

Das eben noch dösige Krokodil schnappte nach dem Arm des Unbelehrbaren, zerrte ihn von ihr weg und die beiden verschwanden so plötzlich in der Dunkelheit, wie sie aufgetaucht waren.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite rasten in knappem Abstand zwei Polizeiautos mit wild kreisendem Blaulicht an ihr vorbei, unmittelbar gefolgt von Kommissar Horlachers dezent anthrazitfarbenem BMW und der Ambulanz, die mangels Windschnittigkeit nur auf zwei Rädern aus der Kurve kam, ansonsten aber ganz gut mithielt.

Erlöst vom Bann der Untätigkeit rannte sie über die Straße, sprang in ihr Auto und hängte sich an den rasanten Krankenwagen. Zweifellos war die Kripo auf dem Weg zu einem Einsatz, und sie fuhren wie die Henker. Nach zirka zwanzig Minuten hielten sie mit quietschenden Reifen vor einem alten Patrizierhaus im Westen der Stadt und sprangen, einer nach dem anderen, aufgekratzt aus ihren Fahrzeugen.

›Kaum zu glauben, was für eine belebende Wirkung so eine rasante kleine Stadtfahrt unter Missachtung sämtlicher Verkehrsregeln auf die staugeschädigte Autofahrerseele hat‹, dachte sie und parkte ein Haus weiter in zweiter Reihe.

Horlacher ging bereits mit energischen Schritten auf einen schlanken jungen Mann zu, der händeringend vor dem hell erleuchteten Hauseingang hin- und herlief, in Abständen den Kopf in den Nacken warf und seinen Schmerz stumm in den Himmel zu schreien schien.

Horlacher, für den Situationen wie diese sein täglich Brot waren, streckte ihm zur Begrüßung erst einmal eine Hand entgegen und legte dann zur Beschwichtigung die andere auf die Schulter des Verzweifelten. Der junge Mann übersah die ausgestreckte Hand, befreite seine Schulter, packte Horlacher wie ein Ertrinkender am Arm und zerrte ihn mit sich, wobei er aufgeregt und heftig gestikulierend auf ihn einredete, bis beide im Hauseingang verschwunden waren.

Zwei Beamte von der Spurensicherung und Dr. Pale, der Gerichtsmediziner, marschierten eilig hinterher. Pale, unverkennbar mit seinem in die Jahre gekommenen Hut, den er selbst beim Obduzieren nicht absetzte, und der verbeulten und im Verhältnis zu seiner schmächtigen Gestalt viel zu großen Maulbügeltasche. Pales Erfolgsrate bei der Aufklärung besonders kompliziert gelagerter Fälle war phänomenal und seine Meinung über die nationalen Grenzen hinaus gefragt und anerkannt. Wegen seiner manchmal geradezu störrischen Verbissenheit bei der Aufklärung der Todesursache wurde er in Fachkreisen auch Quincy genannt, was ihn kein bisschen störte, im Gegenteil.

Der talentierte Fahrer und sein athletischer Sanitäterkollege machten sich routiniert am Heck der Ambulanz zu schaffen und zuckelten dann unbekümmert mit einem Sarg zwischen sich auf den Hauseingang zu.

Rita stieg aus.

Entfernt hörte sie den Autocorso, der den Cityring noch bis in die frühen Morgenstunden beschallen würde. Langsam ging sie auf das Haus zu und sah an der nächtlichen Fassade hoch. Im fahlen Licht der Straßenbeleuchtung zeichneten sich in den dunklen Fensterrahmen unscharf die Silhouetten von ein paar neugierigen Nachbarn ab. Hier und dort glimmte verräterisch eine Zigarette wie ein Glühwürmchen auf, beschrieb einen flachen Bogen von den Lippen bis zum Fensterbrett und verlosch.

Ganz oben brannte Licht. Viel Licht. Vermutlich der Ort des Geschehens.

2

Die beiden Sargträger waren im Treppenhaus verschwunden und hatten die Eingangstür sperrangelweit hinter sich offen stehen gelassen.

Die Gelegenheit schien günstig, und so schritt sie zielstrebig durch die offene Tür in die geräumige Eingangshalle, wo sie jedoch gleich vom Hausmeister abgefangen wurde, der sie (vermutlich aufgrund der Dinge, die vorgefallen waren) besonders streng unter die Lupe nahm und barsch nach ihrem Begehren fragte. Sie zog wortlos ihre Lizenz aus der Tasche und hielt sie ihm ziemlich dicht unter die Nase.

»Ich bin nicht blind«, knurrte der Mann, entriss ihr mit der einen Hand das Mäppchen und betrachtete es sorgfältig, mit der anderen schloss er die Eingangstür und drückte anschließend, ohne hinzusehen, noch ein paar Mal treffsicher auf den Lichtschalter daneben.

Sie schätzte ihn auf Ende zwanzig. Er trug blaue Latzhosen, in deren Latztasche ein Phasenprüfer, ein Zollstock und eine kleine rote Rohrzange steckten. Unter der Latzhose trug er höchstens eine Unterhose, und die hochsommerliche Variante seines Blaumanns erlaubte einen ungehinderten Blick auf seinen kräftigen Körper, dessen helle Haut flächendeckend mit einem dichten, gelockten, rötlichblonden Flaum bedeckt war. Bestimmt waren seine Handinnenflächen und seine Fußsohlen die einzigen Stellen ...

»Sie sind Privatdetektivin?«, unterbrach er ihren Gedankengang skeptisch und schielte sie neugierig von der Seite an.

Sie nickte. »Und wer sind Sie?«

Er fuhr sich mit beiden Händen durch sein kräftiges, rotblondes Lockenhaar, wobei er freimütig zwei krause, rötlichblonde Haarbüschel in seinen Achselhöhlen entblößte.

»Erwin Hecht, der Hausmeister. Gehören Sie auch zu denen da oben?«

»Sie meinen zur Kripo?«

Er nickte und starrte abwechselnd fasziniert auf das Mäppchen in seiner Hand und in ihr Gesicht.

»Nein. Wir arbeiten nur hin und wieder an demselben Fall.«

»Ach so.«

Sie nahm die Lizenz wieder an sich.

»Was ist denn passiert?«

»Jo Tenner aus dem dritten Stock ist ermordet worden. Und der Weidenreich, sein ... wie soll ich sagen ... Freund, der hat ihn vorhin gefunden.«

Bei dem Wort ›Freund‹ sah er sie so bedeutungsvoll an, dass sie gleich nachhakte.

»Meinen Sie das so, wie ich denke?«

Er lächelte vage, dann machte er mit der Hand eine gezierte Geste und verdrehte schmachtend die Augen.

»Also, sein Freund war ein paar Wochen verreist. In Amerika. Los Angeles. Heute ist er zurückgekommen. Mit der letzten Maschine. Und dann das.«

»Haben Sie die Polizei benachrichtigt?«

Hecht nickte.

»Er ist ja gleich heulend zu mir gerannt gekommen und hat sich auf meine Couch geschmissen. Ob Sie es glauben oder nicht, der Mann liegt mit seinen Problemen öfter auf meiner Couch als ich ohne.«

»Interessant.«

»Ich bewohne das gesamte Erdgeschoss«, fuhr er selbstbewusst fort, als sei dies die logische Erklärung für die Beliebtheit seines Möbels.

Sie schaute sich in dem geräumigen Erdgeschoss um und zeigte sich beeindruckt.

»Haben Sie den Toten gesehen?«

Er nickte. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass ihm dieser Teil der Angelegenheit ganz schön an die Nieren gegangen war.

»Wie ist er denn ermordet worden?«

»Man hat ihm den Schädel eingeschlagen.«

»Womit?«

»Mit so einer kleinen nackten Bronzefigur.«

Er zog die Hände wie ein ungeübter Akkordeonspieler auseinander, korrigierte sich ein paar Mal und deutete schließlich die Größe der Statue so zwischen dreißig und vierzig Zentimetern an.

»Einer griechischen.«

»Was Sie nicht sagen.«

»Dass sie griechisch ist, weiß ich von ihm ... Ich meine von Tenner ... Makaber, was?«

Sie nickte.

»Er hat es mir erzählt, als ich wegen einem Wasserrohrbruch in der Wohnung der beiden war und sie mit meinem Werkzeugkasten aus Versehen umgestoßen habe. Die Figur soll einen Kellner oder Diener oder so was Ähnliches darstellen. ›Ausgerechnet mit ...‹, er runzelte die Stirn, »jetzt habe ich den verdammten Namen schon wieder vergessen! ›Ausgerechnet mit ...‹ hat er in einem fort gejammert.«

»Ganymedes aus der griechischen Mythologie?«, half sie ihm auf die Sprünge.

Hecht sah sie verblüfft an.

»Genau. Woher wissen Sie das?«, fragte er mit einem leichten Vorwurf in der Stimme.

Sie lächelte arglos.

Das war nun wirklich nicht schwer zu erraten gewesen. Der liebliche Götterbote gehörte, neben Narziss und Michelangelos berühmt-berüchtigtem David, zierlichen Stilmöbeln und seidenbespannten Schlafzimmerwänden praktisch zum Standardmobiliar des klassischen gehobenen Schwulen-Haushalts.

»Der kommt in jedem Kreuzworträtsel vor.«

»Ach so«, brummte er irgendwie beruhigt.

»Wissen Sie, wie lange der Mann schon tot ist?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Na, zum Beispiel: Hat es in der Wohnung merkwürdig gerochen?«

»Nein.«

»Haben Sie in den letzten Tagen etwas Ungewöhnliches oder Verdächtiges gehört oder gesehen?«

Er runzelte nachdenklich die Stirn.

»Nein.«

»Ist Ihnen eine unbekannte Person im oder vor dem Haus oder auf der Straße aufgefallen?«

Er zog die Stirn noch einmal in Falten und überlegte eine Weile angestrengt und schüttelte dann bedauernd den Kopf.

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Na gut, dann gehe ich jetzt mal nach oben.«

Hecht nickte und zog sich, nachdem er noch ein paar Mal auf die Treppenhausbeleuchtung gedrückt hatte, in seine weitläufigen Gemächer zurück.

Seine Rückenansicht erinnerte Rita an einen irischen Werwolf im fortgeschrittenen Stadium der Rückverwandlung.

3

Sie hatte leichtfüßig den vierten Stock erklommen, als im Stockwerk darüber eine Tür aufging und jemand hemmungslos schluchzend heraustrat. Gleichzeitig brummte Horlacher verächtlich: »Jetzt reißen Sie sich aber mal ein bisschen zusammen, Mann.«

»Ach ... lassen Sie mich doch in Ruhe ... Sie ... Sie Unmensch«, antwortete eine männliche Stimme stockend und von Weinkrämpfen geschüttelt.

Die Tür ging wieder zu und jemand kam unsicher die Treppe herunter gestolpert.

»Monster. Alles eiskalte Monster«, schluchzte der Mann, als sie auf gleicher Höhe waren.

»Wer?«, fragte sie, um ins Gespräch zu kommen.

»Der Kommissar. Ach ... alle da oben. Total abgestumpft. Einfach unmenschlich. Ein Toter bedeutet ihnen nichts ... und ein toter Schwuler erst recht nicht«, antwortete er undeutlich und drängte tränenblind an ihr vorbei.

Vermutlich suchte er wieder Trost auf Doktor Hechts Couch.

Sie hielt ihn am Ärmel fest.

»Herr Weidenreich?«

Er blieb einen Moment mit dem Rücken zu ihr stehen, bevor er ihr sein tränennasses Gesicht zuwandte.

»Ja?«

»Ich heiße Rita Volk.«

Verständnislos blinzelte er sie aus verquollenen und rot umränderten Augen an.

»Ich bin Privatdetektivin und habe ...«

»Arbeiten Sie etwa mit denen da oben zusammen?«, fragte er entrüstet, zerrte ungeschickt ein blütenweißes, scharf gebügeltes Taschentuch aus seiner Hosentasche und tupfte damit sein Gesicht ab.

Abgeschwollen und mit trockenen Augen würde er einen ganz passabel aussehenden Burschen abgeben.

»Nein. Ich ermittle privat.«

»Gott sei Dank!«, platzte er heraus und seufzte erleichtert. »Nein. Also was die da oben sich alles erlauben!«

»Was denn?«

»Das hätten Sie hören sollen. ›Scheint ein typischer Fall aus dem Strichermilieu zu sein‹, hat er abfällig zu dem Arzt gesagt.«

»Wer?«

»Der Kommissar.«

»Tatsächlich?«

»Hinterher hat er es natürlich abgestritten. Aber ich habe es deutlich gehört. Jo und Stricher!«

Bei der Erinnerung an diese Beschuldigung stiegen ihm mühelos erneut Tränen in die Augen, rollten ungehindert über seine Wangen und tropften auf sein teures Jackett. Tuch vom Feinsten, das sah man auf einen Blick.

Nachlässig wischte er sie weg, wobei der Ärmel seines Jacketts zurück glitt und das Innere der Fassung seines Manschettenknopfes ein paar Mal verheißungsvoll aufblitzte.

Wenn der Stein echt war, fasste unser verzweifelter Freund seine Mahlzeiten bestimmt nicht in der Vesperkirche oder einer Kantine der Heilsarmee.

»Er hat es sicher nicht persönlich gemeint«, versuchte sie ihn zu trösten.

»Wie denn sonst?«, meinte er, tupfte sich mit dem Taschentuch die Augen trocken und putzte sich anschließend die Nase.

»Die von der Polizei verachten uns doch alle. ›Kein Wunder bei dem Lebenswandel. Nichts als Tuntenpack und schwules Gesindel‹«, äffte er die von der Polizei bitter nach.

»Derartiges haben Sie doch bestimmt auch schon gehört, oder?«

Um Zustimmung heischend sah er sie an.

»Übertreiben Sie in Ihrem Schmerz da nicht ein bisschen?«

Desillusioniert zuckte er mit den Schultern und warf ihr einen misstrauischen Blick zu.

»Woher wissen Sie überhaupt, was mit Jo passiert ist?«

»Vom Hausmeister. Übrigens, mein herzliches Beileid.«

Ihr Mitgefühl löste sofort eine neue Flut von Tränen aus, und er bedankte sich schwer verständlich zwischen zwei herzzerreißenden Schluchzern.

Sie wartete, bis er sich wieder etwas gefasst hatte.

»Sagen Sie mal, Sie hat Kommissar Horlacher wohl gar nicht im Verdacht?«

Weidenreich lachte freudlos auf.

»Mich hat er zu allererst verdächtigt. Können Sie sich das vorstellen?«

Sie nickte.

Sofort kroch wieder Misstrauen in seine Augen, und er sah sie abweisend an.

»Die Partner sind zunächst immer die Hauptverdächtigen«, erklärte sie.

Er schüttelte ungläubig den Kopf.

»Der Arzt, der Jo untersucht hat, hat ihm allerdings gleich einen Strich durch die Rechnung gemacht. Der hat sofort erkannt, dass Jo…«

Den Rest des Satzes erstickte er im Taschentuch, das er mit zitternden Händen auf seinen Mund presste. Qualvoll schloss er einen Moment die Augen.

»Entschuldigen Sie. Aber ich kann es immer noch nicht fassen.«

Sie nickte verständnisvoll.

»Der Arzt sagte, dass Jo vermutlich schon seit gestern tot ist. Und eine Rückfrage bei der Fluggesellschaft, ob mein Name auf der Passagierliste gestanden habe, stopfte dem Kommissar vollends das Maul. Trotzdem darf ich die Stadt nicht verlassen. Und ich muss mich in der nächsten Zeit zur Verfügung halten.«

Erschöpft hielt er inne.

»Zur Verfügung halten! Wie sich das anhört. Ich bin doch kein Verbrecher. Muss ich mir das wirklich alles gefallen lassen?«

Sie überprüfte noch einmal kurz seine Erscheinung. Das Tuch seines Anzugs schimmerte immer noch matt und auch die Manschettenknöpfe hatten nichts von ihrem ursprünglichen Glanz verloren.

Vermutlich hatte die Kripo nur noch ein paar Routinefragen, wenn überhaupt. Aber würde ihn das hier und jetzt trösten?

Sie fischte in der Brusttasche ihres Jacketts und zog zum zweiten Mal an diesem Abend das abgegriffene Ledermäppchen mit der Lizenz heraus, in dem auch immer ein paar ihrer Visitenkarten steckten.

Sie gab ihm eine.

»Hier. Wenn ich etwas für Sie tun kann, rufen Sie mich einfach an.«

Er nahm die Visitenkarte entgegen und wollte gerade einen Blick darauf werfen, als das Licht im Treppenhaus ausging.

Ein paar Sekunden standen sie sich wie gebannt im Dunkeln gegenüber und warteten, dass es wieder anging. Als nichts passierte, tasteten beide automatisch nach dem Handlauf aus poliertem Holz und machten sich schweigend und im Gänsemarsch auf den Weg nach unten.

4

»Eine große Portion Pommes mit Ketchup und Majo und eine Cola.«

›Peng!‹ machte Ritas Herz und vibrierte nach wie die hart angeschlagene Saite eines E-Basses.

Die Kleine war lautlos und elegant auf riesigen neongelben Inline Skates an den Imbissstand von ›Rudis heiße Rote‹ heran geglitten, hatte ihre Faust mit dem zerknüllten Hunderter auf den Tresen gelegt, den Satz am Stück heruntergeschnurrt und dabei mit keiner ihrer dichten hellen Wimpern gezuckt.

»Hast du es nicht ein bisschen größer?«, fragte Rudi, der Mann hinter dem Tresen prompt, gab ihr kopfschüttelnd raus und machte sich ans Werk.

Die Kleine sah ihn missbilligend an, stopfte das Wechselgeld in ihre Jeans, rollte an den Tisch, an dem Rita stand und begann in Windeseile die bestellten Köstlichkeiten zu verschlingen. 

Sie war höchstens zehn. Ein wilder Rotschopf mit einem blassen, fein ziselierten Gesichtchen. Und sie hatte einen gesegneten Appetit.

Ein paar Mal trafen sich ihre Augen mit denen Ritas, und dabei gab der langsame Flügelschlag ihrer schrägen Augenlider beim Aufschauen ein paar eisgrüne Glasmurmelaugen frei, deren Pupillen sich im Licht jedes Mal wie erschrocken zu einem winzigen schwarzen Punkt zusammenzogen. Beim herzhaften Schluck aus der Cola-Dose schloss sie verzückt die Augen.

Die unzähligen Sommersprossen verliehen dem Gesicht der Kleinen etwas Freches, Unerschrockenes und täuschten Rita zunächst über den erschöpften Ausdruck darauf hinweg.

Einmal entdeckt, drang er jedoch tief in ihr Gedächtnis ein und löste dort schmerzliche Erinnerungen an ein anderes kleines Mädchen aus. Jess.

Ihre kleine Schwester Jessika war eine tollkühne Rollschuhläuferin gewesen, deren Knie und Ellbogen praktisch das ganze Jahr über entweder dick verpflastert oder frisch verkrustet waren.

Bei Jessika war ihr damals derselbe merkwürdig erschöpfte Gesichtsausdruck aufgefallen, sobald sie sich unbeobachtet fühlte, doch sie hatte sich zunächst nichts Besonderes dabei gedacht. Auch Kinder sind manchmal müde, traurig oder schlecht gelaunt.

Erst nachdem das Unfassbare geschehen war, hatte sie sich wieder an diesen neuen Ausdruck auf Jessikas Gesicht erinnert, und dass er etwas damit zu tun haben könnte.

Das Unfassbare war jetzt zehn Jahre her, und der Volksmund sagt, dass die Zeit alle Wunden heilt. Aber mit dieser Wunde verhielt es sich anders. Sie brach bei der geringsten Veranlassung auf und schmerzte wie am ersten Tag.

Ritas Blick schweifte nachdenklich zur Straße. Eine große schwarze Mercedes Limousine mit verdunkelten Scheiben kam langsam und seltsam bedrohlich den Bordstein entlang gekrochen und hielt auf Höhe der Imbissbude an. Ein Mann stieg aus, bückte sich zum Beifahrersitz, holte einen Fotoapparat heraus, hängte ihn sich um den Hals und warf die Wagentür ins Schloss. Die Kleine fuhr zusammen, als hätte sie den Wagenschlag erkannt und schaute hastig in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Die beiden sahen sich sekundenlang an, dann schmiss das kleine Mädchen die Plastikgabel auf den fast leer gegessenen Pappteller, stieß sich kräftig vom Tisch ab und rollte lautlos in die Fußgängerzone, wo eine dicht gedrängte Menge von Passanten ihre zierliche Gestalt aufnahm und sofort verschlang.

Als Rita sich nach dem Verursacher der Panik umsah, saß der schon wieder hinter dem Steuer der schwarzen Limousine, die gleich darauf lautlos wie ein dunkler Schatten davon glitt.

Sie hatte den Mann nur kurz gesehen, und es war ihr nichts Besonderes an ihm aufgefallen. Das Einzige, was sie an seiner Erscheinung ein bisschen irritiert hatte, war vielleicht der Fotoapparat gewesen. Irgendwie hatte der Kinderschreck weder wie ein professioneller Fotograf noch wie ein Tourist ausgesehen. Auch das Bonzenauto hatte irgendwie nicht zu ihm gepasst, dessen Kennzeichen S-RS 666 oder S-AS 666 sie unwillkürlich an sadistische Hexer, Teufelsaustreiber oder heimliche Satanisten denken ließ.

Warum war die Kleine so erschrocken aufgebrochen? Wer war der Unbekannte?

Auf jeden Fall einer von der schnellen Truppe.

5

»Gott sei Dank, dass Sie da sind! Also wissen Sie, es wird immer mysteriöser. Eben habe ich 150.000 in bar in unserem gemeinsamen Safe gefunden.«

Rita staunte nicht schlecht.

Das war unverwechselbar die aufgeregte Stimme von Weidenreich. Sie hatte sie noch gut im Ohr, waren doch gerade mal drei Tage seit ihrer ersten Begegnung vergangen.

»Ein hübsches Sümmchen.«

»In Tausendern.«

Sie schwieg einen Moment und stellte sich den Betrag in Scheinen vor.

»Haben Sie das der Kripo schon mitgeteilt?«

»Nein.«

»Sollten Sie aber.«

»Warum?«

»Es erleichtert ihr unter Umständen die Suche nach dem Mörder Ihres Freundes.«

Er lachte lustlos auf.

»Die suchen doch gar nicht ernsthaft. Die drücken sich vermutlich bloß in den Szenekneipen herum, lästern und stellen blöde Fragen. Sinnlos. Völlig sinnlos. Jo hasste die Szene. Niemand kennt ihn dort. Jo hätte sich nie mit einem Stricher eingelassen. Niemals!«

Er rang nach Luft.

»Was macht Sie so sicher?«

»Wir kennen uns ...«, er machte eine erschrockene kleine Pause und schluckte hörbar, »wir kannten uns schließlich neun Jahre.«