151 - Sam Rimola - E-Book

151 E-Book

Sam Rimola

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Beschreibung

Hätte ich nicht schon in Schulzes Trödelladen stutzen müssen, als diese so harmlos wirkende Glaskugel bei der kleinsten Berührung zu leuchten begann? Hätte es mir nicht merkwürdig vorkommen müssen, dass im Inneren dieser Kugel plötzlich seltsame, unverständliche Botschaften aufleuchteten? Und hätte ich nicht spätestens dann die Flucht ergreifen müssen, als mich am nächsten Morgen vom anderen Ende meines Kopfkissens mein Doppelgänger frech angrinste? Natürlich hätte ich das! Aber hätte das etwas geändert? Hätte es mich und die anderen womöglich gerettet? Wahrscheinlich nicht, denn in diesem Moment, als die Finger meiner rechten Hand das Glas dieser Kugel zum ersten Mal berührten, war ich, ohne es zu wissen, bereits gefangen in einer völlig fremden und gefährlichen Welt und eine Jagd durch jede Menge mysteriöse Abenteuer nahm ihren Anfang. Doch was zum Kuckuck noch mal hatte das eigentlich alles mit dieser ominösen Zahl "151" zu tun?

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Seitenzahl: 271

Veröffentlichungsjahr: 2012

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151

von

Imprint

151

Sam Rimola

Published by: epubli GmbH, Berlin,

www.epubli.de

Copyright © 2012 Sam Rimola,

ISBN: 978-3-8442-3641-5

1.Auflage

Bildmaterial: Sam Rimola

Alle Rechte vorbehalten.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. Ohne schriftliche Zustimmung des Autors darf kein Teil des Werkes in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verbreitet, verarbeitet oder vervielfältigt werden.

Inhaltsverzeichnis

3 + 4 

Doppel-Tim und Hanno-Kröte

Schulze

Immer noch 7

8

11

17

21

22

33

37

39

49

57

77

82

89

97

110

116

3 + 4

»Hey, du Idiot, willst du erwischt werden? Nimm die Finger da weg!«

»Warum das denn?«

»Weil das auf dem Schild dort steht.«

»Was für ein Schild?«

»Das da, mit der durchgestrichenen Hand!« Oh Mann, hätte ich mich bloß nicht wieder breitschlagen lassen, mit Hanno herzukommen. Ich hatte schon den ganzen Tag das komische Gefühl, als würde ich diesen Entschluss noch bitter bereuen müssen.

»Nun mach dir mal nicht ins Hemd, Tim. Seit wann bist du denn plötzlich so ein Feigling?«

»Ich bin kein Feigling, ich habe nur keine Lust, erwischt zu werden.«

»Wir sind hier doch noch nie erwischt worden.«

»Kann ja noch kommen. Außerdem langweile ich mich. Können wir jetzt endlich gehen?«

»Das ist doch lustig hier.«

»Ja, genauso lustig wie Lateinvokabeln lernen und sogar noch staubiger.«

Mit dem Wort „staubig“ brachte man es übrigens auf den Punkt. Von den unzähligen Kuriositäten, die Schulze hier in seinem Trödelladen beherbergte, war neben Millionen von Spinnweben der Staub definitiv das hervorstechendste Merkmal. Den zentimeterdicken Schichten nach zu schließen, hatte hier vermutlich seit dem letzten Urknall kein Großputz mehr stattgefunden. Ich befürchtete manchmal sogar, dass Hausstauballergiker schon beim Betreten des Ladens eines sicheren Erstickungstodes sterben müssten. Doch erlebt hatte ich derlei Dramatik allerdings noch nicht.

Zum Glück – oder leider, denn eigentlich hatte ich mir insgeheim schon immer gewünscht, mal jemandem das Leben zu retten. Ich meine, wie cool wäre das denn, wenn hier dieser Jemand plötzlich zusammenbricht, ich mich daraufhin selbstlos auf ihn stürze, ihn mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassagen wiederbelebe und gleichzeitig ein Notarztteam Kommandos zubrülle? »Sein Zustand ist kritisch. Schnell, er ist systolisch auf 90 gefallen, zyanotisch und bradykard. Ich brauche ein großes Blutbild, eine Thoraxaufnahme, sterile Kompressen, einen Defibrillator und ein Intubationsset. Wo, verdammt noch mal, bleibt der Internist? Muss ich denn hier alles allein machen? Bringt mir zwei Konserven Null negativ und ein OP-Besteck, aber zack zack!«

Okay, dieses Wiederbelebungs-Gedöns sollte ich mir nochmal vorher zeigen lassen, aber wenn ich mir vorstelle, was für einen enormen Imagegewinn so eine Lebensrettung bringt …, aber ich schweife ab.

Schulze verdient sein Geld mit dem Restaurieren alter Möbel. Ein Grund, weswegen er sich fast ausschließlich in seiner Werkstatt aufhält, sodass Hanno und ich uns so oft unbemerkt zum Stöbern in den Laden direkt vor der Werkstatt schmuggeln können. Eine Zeit lang fanden wir es superspannend und arbeiteten uns mit Eifer durch das Gerümpel, mit denen die altersschwachen Regale zugemüllt waren. Es gab nichts Schöneres für uns, als uns spannende Geschichten zu den einzelnen Fundstücken auszudenken, immer mit der Bedrohung im Nacken, jederzeit erwischt zu werden, und der Hoffnung, einmal einen wahren Schatz auszugraben. Doch irgendwann konnten wir nichts Neues und Aufregendes mehr entdecken und das Abenteuer verlor allmählich seinen Reiz.

Heute war es das erste Mal seit Monaten, dass wir uns wieder hereingeschlichen hatten. Wie schon beinahe erwartet, hatte sich zwischenzeitlich so gut wie nichts verändert, mit Ausnahme der spärlichen Deckenbeleuchtung. Hier hatte eine der beiden Glühbirnen offensichtlich das Zeitliche gesegnet, sodass das funzelige Licht des ohnehin schon schummerigen Verkaufsraumes nun noch gespenstischer wirkte. Geisterhafte Schatten krochen uns über den ausgetretenen Holzboden entgegen, färbten den Rest des Ladens in eine unheimliche Dämmerstimmung und ließen mich zum ersten Mal inständig hoffen, unter den Staubschichten nicht doch noch auf einen erstickten Hausstauballergiker zu stoßen.

»Los jetzt, lass uns hier verschwinden, der alte Schulze kann jeden Moment wieder aufkreuzen.« Alles in mir schrie förmlich nach Flucht. Leider schien umgekehrt kein Bisschen in Hanno danach zu schreien. Im Gegenteil. »Wow! Die Regale sind ja noch voller geworden. Schau mal, hier drüben! Die ist garantiert neu.« Er nahm eine kleine Beethovenbüste in die Hand und versuchte den grimmigen Gesichtsausdruck zu kopieren.

»Hanno!«, zischte ich warnend und drehte schnell das ausgestopfte Frettchen herum, um es daran zu hindern, mich weiterhin aus seinen staubstumpfen Augen bösartig anzuglotzen.

»Boah, guck mal, dieser alte verrostete Schlüssel! Vielleicht gehört der ja zu einer geheimen Schatztruhe und kein menschliches Wesen, außer uns natürlich, weiß bisher davon. Komm Tim, lass uns bitte-bitte auf Schatzsuche gehen!«, flehte er und sah mich dabei mit Bettel-Welpen-Blick an.

»Komm Hanno, lass uns bitte-bitte abhauen gehen!«, äffte ich ihn nach. »Und dich am besten gleich im Kindergarten abgeben«, fügte ich leise hinzu.

»Da ist sie ja!«, quiekte Hanno, dem mein Sarkasmus – wie üblich – entgangen war. »Komm zu Hannolein, du kleine süße Schatzkiste!«

Er reckte sich und zog eine fünfeckige Holzschachtel aus dem Regal hervor. »Guck mal, die ist jetzt aber wirklich neu!«, hustete er, nachdem er sie von einer dicken Staubschicht befreit hatte.

»Die hat kein Schlüsselloch – und jetzt komm endlich!«

»Natürlich hat sie das nicht. Sei doch nicht so fantasielos, Tim! Hast du noch nie „Galileo Mystery“ gesehen? Der Legende nach ist sie nur alle tausend Jahre für eine Minute sichtbar, denn dies hier ist die geweihte Holzschatulle für den magischsten aller Hinweise.«

»Eher wohl für 151 Hinweise«, wand ich ein, denn den Deckel zierte eine großgeschwungene 151. »Und außerdem gucke ich lieber Kriegsdokus, und hier riecht es gleich verdammt nach Blitzangriffen und Vergeltungsschlägen.« Aber auch diese Drohung versickerte in Hannos Gehörgängen.

»Hundert – ein – und – fünf – zig.« Die Zahl ließ er sich wie ein Stück Milchschokolade auf der Zunge zergehen. Verdammt, hätte ich ihn bloß nicht darauf hingewiesen.

»Das ist der sagenumwobene „Da-Hanno-Code“! Halte dich bereit, Tim! Die Geschichte der Menschheit kann ab sofort neu geschrieben werden.«

Halt, stopp! Oberflächlich gesehen müsstet ihr spätestens jetzt zu dem Schluss gekommen sein, dass Hanno wahrscheinlich an einer mittelschweren Vollmeise leidet, oder? Dann lasst euch von einem leidgeprüften Fachmann sagen, dass sich diese Einschätzung auch bei gründlicher Betrachtung bestätigen wird. Aber seht selbst!

»Achtung, Schulze kommt!«, zischte ich und zupfte an seinem Ärmel, doch Hanno fiel nicht auf meinen Bluff herein und spielte lieber weiter den „großartigen und unübertrefflichen Merlin“.

»Der Schlüssel zum Ursprung der Menschheit. Der heilige Gral unter den Holzschatullen, der ...«

»Hanno, wenn du das Ding jetzt nicht sofort zurückstellst, ticke ich gleich so was von aus.« Das war definitiv das aller-allerletzte Mal, dass ich mich mit diesem durchgeknallten Spinner verabredet habe.

Hanno und ich kennen uns schon seit dem Kindergarten, also fast unser ganzes Leben lang und solange hatte sich bei ihm schon immer alles um Fantasy, Mystery und Science-Fiction gedreht. In seinem Kinderbett schlummerten keine Teddys oder Kuschelhasen, sondern Actionfiguren, Laserschwerter und das komplette Jedi-Team aus Star Wars Episode 1. Alles, was nur im Entferntesten nach Magiern, Superhelden und fernen Galaxien roch, wurde geradewegs inhaliert, mit einer kräftigen Prise Hanno-Schwachsinn angereichert und im Anschluss unzensiert in die Umlaufbahn geschossen. Und nun ratet mal, wer dabei seine Lieblingsumlaufbahn war!

»Ich habe echt keinen Bock mehr, deine Umlaufbahn … äh, ich meine mit dir hier noch länger in diesem Trödelladen abzuhängen.«

»Lass mich nur noch einmal nachsehen, welches Geheimnis die Schachtel in ihrem Inneren verbirgt.« Feierlich hob er den Deckel. Unüberhörbar war das schon seit Langem nicht mehr geschehen, denn der Ton, den die kleinen Scharniere von sich gaben, hätte auch wunderbar als Geräuschkulisse für besonders blutige Horrorstreifen herhalten können. In meinem Hirn spielte sich prompt eine Parade unschöner Szenen ab, in denen alle Requisiten aus Grufttüren und Holzsärgen bestanden. Eiskalte Schauer veranstalteten Staffelläufe über meinen Rücken.

»Die verschollene magische Zauberkugel«, hauchte Hanno voller Ehrfurcht.

»Hör doch mal endlich mit deinem albernen Magisch-Kinderkram auf!« Langsam hatte ich die Faxen dicke. »Und wenn überhaupt, ist das nur eine halbe Kristallkugel.«

»Nimm diese halbe Kugel an dich, du Ungläubiger, und finde ihre zweite Hälfte! Nur so wirst du den steilen Weg der Erkenntnis erklimmen«, verkündete Hanno bedeutungsschwer und fuchtelte mit der Kiste vor meiner Nase herum.

»Lass das!«, zischte ich und schubste das Ding von mir weg.

»Was hast du getan?« Hanno deutete auf die Kugel, die urplötzlich zu leuchten begonnen hatte.

»Gar nichts«, versuchte ich mich herauszureden. »Ich habe sie nur weggeschoben. Was hältst du sie mir auch so dicht unter die Nase?«

»Du musst an irgendeinen Schalter gekommen sein.« Er sah mich voller Vorwurf an und vergaß dabei prompt sein Merlin-Getue.

»Na und, dann kann man das Ding auch sicher wieder ausschalten.«

Forschend drehte Hanno die Kiste herum.

»Ich habe nur das Glas berührt«, verteidigte ich mich und drückte zur Demonstration nochmal auf die Kugel. Zusätzlich zu dem Licht begann sich jetzt im Inneren der Kugel irgendetwas spiralartig in Bewegung zu setzen.

»Ah, das ist so was wie eine Schneekugel«, meinte Hanno zu erkennen. »Ist ja krass! Schau mal, sieht aus wie ein kleiner Miniblizzard!«

Ich strengte meine Augen an. «Nee, nach Schnee sieht das nicht aus, eher wie ein kleiner Sandsturm, ein Tornado ... oder so. Nein warte, das sind keine Sandkörner, guck mal, das sind kleine Zahlen.«

»Ja stimmt, und Buchstaben«, ergänzte Hanno. »Wie abgefahren ist das denn?«

»Ja, ganz toll! Und nun lass uns hier endlich verschwinden!«

»Drei!«, hauchte Merlin-Hanno.

Bitte sehr, er will hier allein zurückbleiben – kann er haben. Ich hatte mich schon abgewandt, drehte mich aber trotzdem noch einmal zurück, als Hanno aufgeregt rief: »Da stand eben eine ganz große Drei.«

»Super! Du bist ein Held«, sagte ich, verstummte aber sofort, als ich feststellte, dass ein paar weitere Zahlen und Buchstaben plötzlich zu wachsen begannen. Langsam blubberten sie nach oben und stellten sich in einer Linie auf.

»2SWUD1ARI«, las Hanno vor. »Das ist er, der Geheimcode! Wir müssen ihn nur noch knacken und die Welt gehört uns.«

Gerade wollte ich eine geniale Verbindung zwischen ‚knacken‘ und ‚beknackt‘ herstellen, da sah ich, dass einige Buchstaben begonnen hatten, ihre Plätze miteinander zu vertauschen. »Ich glaube, dein Code knackt sich gerade von ganz allein.« Gefesselt starrten wir in die Kugel.

»AUS 1 WIRD 2«, las Hanno wieder vor. »Ist das aufregend. Und jetzt bin ich dran.«

Ehe ich die Gelegenheit fand, einen Einwand loszuwerden, hatte er mir die Kiste aus den Händen gerupft und fing an, sie kräftig durchzuschütteln.

»Nein, nicht so», erklärte ich. »Du musst nur die Kugel berühren.«

Behutsam strich Hanno über das Glas und nochmal spielte sich das gleiche Schauspiel ab.

»4«, las er vor und anschließend: »Ein Tier für dir«

»Jetzt ich wieder!« Mit dem Finger stupste ich an das Glas.

Diesmal wurde das Licht etwas schwächer und das Wort »Viktoria« flimmerte auf.

»Haha!«, lachte Hanno schadenfroh. Keine Zahl, du hast verloren.

Schnell strich er wieder über das Glas, aber nichts veränderte sich.

»Haha!«, lachte ich mindestens genauso schadenfroh. »Nein, du hast verloren. Viktoria heißt nämlich Sieg und das stand bei mir, also bin ich der Sieger und du der Loser.«

»Aber bei dir wurde das Licht schwächer, also zählt das nicht.«

»Loser, Lo …«

»Ist da wer?«, krächzte es plötzlich aus dem hinteren Teil des Ladens, in dem sich der Durchgang zu Schulzes Werkstatt befand.

Von da an ging alles blitzschnell. Hanno klappte die Kiste zu, warf sie zurück ins Regal und wir flüchteten so schnell aus dem Laden wie sonst nur Bankräuber vor der Polizei.

Erst zwei Straßenecken weiter blieben wir schwer schnaufend stehen. Das heißt, eigentlich war es nur Hanno, der so schwer wie eine altersschwache Espressomaschine schnaufte. Ein Wunder, dass er es bei dem vielen Schwabbelfett überhaupt geschafft hatte, so weit zu laufen.

»Denn mach‘s mal gut, Alter! Ich muss los.«

»Wieso das denn?«, keuchte Hanno. »Wir waren … für den ganzen Nachmittag … verabredet. Du wolltest doch noch … puh … mit … zu mir kommen. Meine Mama hat uns extra Pizza zum Mittag … gebacken.«

»Ach, habe ich etwa vergessen, dir zu sagen, dass ich nur bis … äh …« Ich warf einen Alibiblick auf meine Armbanduhr, »… bis genau jetzt kann?«, log ich nicht gerade glaubwürdig, aber noch mehr Zeit mit ihm zu verbringen, hätte ich nicht ertragen. Hannos peinliches Kleinkinder-Nachmittags-Programm – nein danke. Langweilen kann ich mich auch zu Hause.

»Tja, denn mal bis morgen!«, sagte ich und ließ Hanno einfach stehen.

Doppel-Tim und Hanno-Kröte

Es war Freitagmorgen sieben Uhr und im Radio schmetterte irgendein sadistischer Moderator: »Ich hab ’ne Tante aus Marokko.«

Das Radioprogramm wird auch immer bekloppter, dachte ich matt, zog mir die Bettdecke über den Kopf und versuchte mir angestrengt einzureden, es sei Sonntag, aber da klopfte schon meine Mutter an die Tür: »Tim, aufstehen, du musst zur Schule!«

Der Moderator sang unbeirrt weiter. Wie viele Strophen hatte diese Tante aus Marokko eigentlich? Aber halt mal, schoss es mir plötzlich durch den Kopf: Seit wann habe ich eigentlich einen Radiowecker? Und was mich noch viel brennender interessierte: Seit wann steht der Radiowecker, den ich ja nicht habe, auf dieser Seite des Bettes?

Ganz langsam drehte ich mich zur Wand und blickte am anderen Ende meines Kopfkissens in mein eigenes Gesicht.

»Guten Morgen!«, sagte mein Gesicht in schönster Sonntagslaune.

In Sekundenschnelle war ich hochgeschossen und stolperte, noch fest in meine Bettdecke verkrallt, rückwärts aus dem Bett.

Das Gesicht, war nicht nur mein Gesicht, es hing auch noch der Rest von mir unten dran. Sogar den gleichen Schlafanzug trug das Etwas, also das Untendran.

»Gut geschlafen?«, fragte es mit meiner Stimme.

»Ja danke«, antwortete ich aus Reflex. »W… w… wer bist du?«, stammelte ich. »U… und was machst du in meinem Bett?«, lautete die natürliche Anschlussfrage.

»Du bist ja drollig«, lachte das Es. »Weißt du nicht mal, wie du aussiehst? Ich bin Tim und in dem Bett habe ich geschlafen. Sogar hervorragend, wenn ich das sagen darf.«

»Tim?« Meine Zimmertür öffnete sich und meine Mutter steckte ihren Kopf herein. Blitzschnell warf ich die Bettdecke über meinen Doppelgänger.

»Ach gut, du bist schon aufgestanden«, flötete sie. »Ich muss jetzt aus dem Haus.«

Ich sah sie an, als hätte sie bei mir gerade eine Currywurst mit frischen Erdbeeren und Rasierschaumhäubchen bestellt.

»Hallo Tim, schläfst du noch? Du musst dich beeilen! Heute ist Freitag, die Schule fängt gleich an und denke diesmal bitte daran, die Wohnungstür ordentlich abzuschließen! Bis später.« Zum Abschied schmatzte Mama noch einen Kuss in die Luft und verließ dann das Zimmer. Gerade noch rechtzeitig, denn kaum war sie raus, schleuderte es … oder er (na, Ihr wisst schon wer) meine Decke von sich.

»Puh, ist das hier stickig!« Der andere Tim hüpfte aus dem Bett und öffnete meinen Kleiderschrank. »Was wollen wir denn heute mal anziehen?«

»Wir?«, quiekte ich. »Du hast doch schon etwas von mir an. Das sollte ja wohl erst mal genügen.«

»Aber mit einem Schlafanzug kann ich doch unmöglich zur Schule gehen«, amüsierte er sich.

»Halt, halt, mein Lieber!«, sagte ich. »Nicht du wirst zur Schule gehen, sondern ich gehe. Du wirst schön in meinem Zimmer bleiben und dich ganz ruhig verhalten, bis ich wieder zurück bin. Und dann werden wir uns damit befassen müssen, wie wir dieses Schlamassel hier wieder aus der Welt schaffen.«

Ein Blick auf meine Uhr, signalisierte, dass es jetzt allerhöchste Eisenbahn war, mich auf den Weg zu machen.

»Nö, das geht nicht«, sagte mein zweites Ich gelassen und betrachtete eingehend seine Fingernägel.

»Was heißt hier NÖ?«

»Das heißt, dass du mich mitnehmen musst«, sagte er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.

»Ich muss gar nichts«, blaffte ich ihn an und warf mir schnell ein paar Klamotten über, schnappte mir meine Schultasche und spurtete aus der Wohnung. Erst als ich den Schlüssel zweimal im Schloss herumgedreht hatte, atmete ich erleichtert auf.

»Was für ein irrer Tag!», seufzte ich.

»Finde ich auch«, stimmte mir jemand fröhlich zu.

Erschrocken fuhr ich herum. Mit verschränkten Armen lehnte er lässig am Treppengeländer.

»Nein!«, schrie ich ihn an, öffnete noch einmal die Tür, schubste ihn in die Wohnung hinein und schloss hinter ihm sorgfältig ab.

»Hab ich dir doch gesagt, dass das nicht funktioniert«, ertönte es hinter mir. »Wir bleiben jetzt für immer zusammen. Ist das nicht supi?«

» Ich hab ’ne Tante aus Marokko und die kommt, hippeldihopp …«

»Kannst du nur für einen Moment mal ruhig sein?« Ich war genervt.

»Wieso? Magst du keine Musik?«

»Ich liebe Musik, aber was du da von dir gibst, ist Ohrenfolter.«

»Haha«, lachte er fröhlich. »Das war doch die Tante aus Marokko und nicht Folter. Klingt meine Stimme nicht wunderschön?«

»Ja, und zwar genauso, als würde jemand den ganzen Tag mit Fingernägeln auf einer Tafel herumkratzen.«

»Tinki Winki, Dipsi, Lala, P…«

»Mann, halt doch endlich mal deine Klappe! Ich kann so nicht nachdenken.«

»Muss man etwa vor der Schule auch schon denken?«

»Ja, stell dir mal vor!«

»Und was denkst du jetzt Schönes?«

»Ich grüble zum Beispiel darüber nach, woher ich jetzt schnellstens eine wenigstens halbwegs plausible Erklärung für deine Anwesenheit herzaubern kann!«

»Na, das ist doch ganz einfach. Du sagst deinem Lehrer, dass du dich in der letzten Nacht verdoppelt hast. Ich bin jetzt der zweite Tim oder Tim2, oder Tim Zwo, oder Timzo, oder Zwomt, oder Womzt, oder … oder noch besser, nenn mich doch bitte Godzilla.«

»Ich soll die Wahrheit sagen? Du spinnst wohl! Dann kann ich mich auch gleich selber in die Klapsmühle einweisen lassen.«

»Es klappert die Mühle am rauschenden Bach. Klipp …«

»Jetzt hab ich’s!«, rief ich. »Ich gebe dich einfach als meinen bekloppten Zwilling aus, der für ein paar Tage aus der Anstalt durfte, um seinen Bruder zu besuchen.«

Das klang doch irgendwie realistisch, fand ich jedenfalls. Das könnte sogar klappen. (Vielleicht sollte ich an dieser Stelle zu meiner Entschuldigung nochmal betonen, dass ich immer noch unter Schock stand. Normalerweise sind meine Ideen nämlich nicht ganz so grottig). Doch für den Moment war ich zufrieden mit mir. Für die Schule sollte das vorerst genügen und in ein paar Tagen würde ich sicherlich schon herausgefunden haben, wie ich ihn mir vom Hals schaffe. Jetzt fehlte nur noch eine passende Strategie für meine Eltern. Aber das musste vorläufig warten. Immer eines nach dem anderen und jetzt war erst mal die Schule dran.

Es war aber auch wie verhext, dieser zweite Tim ließ sich einfach nicht abschütteln. Und denkt nicht, dass ich es nicht immer wieder versucht hätte, doch jedes Mal, wenn ich ihn erfolgreich abgehängt hatte, war er spätestens an der nächsten Ecke wiederaufgetaucht, frech grinsend und hoch erfreut über das lustige Spiel. Es war offensichtlich, ich würde ihn vorerst nicht mehr loswerden, also musste ich ihn wohl oder übel mit zur Schule nehmen.

Ich konnte mir schon lebhaft Hannos Reaktion vorstellen. Das war genau die Art von Geschichten auf die er so abfährt. Ein gefundenes Fressen. Wetten, er wird dahinter wieder irgendeinen Zauber vermuten? Einen faulen Zauber, wenn man mich fragt. Wie gut, dass er bisher noch nicht wissen konnte, was für ein Überraschungsgeschenk ich ihm heute noch präsentieren würde. Vor Aufregung hätte er dann bestimmt die ganze Nacht nicht mehr geschlafen.

»Also hör mal«, begann ich zu erklären. »Wenn wir jetzt den Klassenraum betreten, wirst du dich schön unauffällig und ruhig verhalten. Das heißt, du sprichst absolut kein Wort. Nur wenn ich dich jemandem vorstelle, sagst du entweder „angenehm“ oder „freut mich“. Und komm nicht auf die Idee, noch irgendetwas zu …«

»Freude schöner Götterfunken … la la la la laaaa lala …«

»… zu singen! Ist das klar?«

Boah, ist der peinlich! Dass der bekloppt ist, muss ich gar nicht erst groß erklären, dachte ich dunkel.

»Na toll, deinetwegen sind wir jetzt auch noch zu spät gekommen!«

Die Klassentür war bereits geschlossen.

»Vielleicht können wir uns noch heimlich hineinschleichen. Manchmal klappt das. Bleib ganz dicht hinter mir und verhalte

dich …«

»Ui, bist du auch so aufgeregt?«

»Pscht! Ruhe!« zischte ich ihn an, doch als ich mich wieder zur Tür wandte, war sie bereits geöffnet und Dr. Röttgers stand vor mir.

»Hast du uns nichts zu sagen?«, fragte er streng.

»Äh … natürlich«, stammelte ich. »Also das da ist der bekloppte Godzilla, der mich … der mich für ein paar Zwillinge besucht. Äh Tage …«

Verhaltenes Kichern plätscherte durchs Klassenzimmer.

»Sollte das jetzt so eine Art Entschuldigungsversuch für dein zu spätes Erscheinen darstellen?«, fragte Dr. Röttgers und hob eine Augenbraue.

»Tim 2!«, schoss ich hinterher. »Oder Timzwo, Zwom …Woms…?«

Jetzt grölte die Klasse.

»Glückwunsch Tim!« Auch Dr. Röttgers schien ich mit meinem wirren Wortsalat erheitert zu haben. »Auf meiner geheimen Rangliste der kreativen Ausreden ist dein Spruch gerade ganz oben gelandet. Und jetzt würde ich es begrüßen, wenn du dich unverzüglich auf deinen Platz begibst und dann dein Geschichtsbuch auf Seite 77 aufschlägst.«

»Aber wollen sie denn gar nicht wissen, wer …«, versuchte ich es noch einmal.

»Wir haben jetzt schon genug Zeit verplempert. Das Einzige, was ich von dir möchte«, schnitt mir Dr. Röttgers das Wort ab, »ist, dass du dich jetzt auf deinen Stuhl setzt!« Sein Blick verriet, dass jeder weitere Einwand einem Selbstmordkommando gleichkommen würde.

»Freut mich!« Tim 2 war mit ausgestreckter Hand vor Dr. Röttgers stehen geblieben, aber seine Hand wurde ignoriert.

»Pscht, komm jetzt!«, zischte ich ihm zu.

»Angenehm?« Als aber auch dieser Gruß unerwidert blieb, folgte er mir schmollend.

Hanno hatte bereits einen dritten Stuhl an unseren Tisch gezogen und im Gegensatz zu allen anderen lachte er auch nicht über mich. Allerdings vermied er jeglichen Blickkontakt. Wahrscheinlich war er noch beleidigt, wegen des letzten Nachmittags.

»Dein Lehrer ist aber unhöflich«, nölte Tim 2.

Ich ging lieber nicht darauf ein, sondern wühlte das Buch aus der Tasche.

»Seite siebenundsiehiiiibziiiig!«, flötete er.

»Das weiß ich selber, du Klugscheißer«, fauchte ich und knallte das Buch auf den Tisch. Als ich aufblickte, glotzten mich alle an.

»Sind wir jetzt soweit?« Dr. Röttgers Geduld hatte ein bedenkliches Level erreicht.

Ich nickte und dann richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit endlich auf die Punischen Kriege.

Fünf Minuten lief alles prima, dann begann Tim 2 sich zu langweilen. Zunächst trommelte er nur mit den Fingern der rechten Hand auf der Tischplatte. Nach einer Weile folgte die linke Hand mit rhythmischem Schnippen. »Klopf-Klopf-Schnipp, Klopf-Klopf-Schnipp, Klopf-Klopf-Schnipp …« Als ihm auch das nicht mehr ausreichend erschien, begann er die Schlagzeugstimme mit leisen Gesangseinlagen zu bereichern.

Unauffällig warf ich ihm einen flehenden Blick zu, den er allerdings total missinterpretierte und prompt ein paar Dezibel aufdrehte.

»Pssssst!«, zischte ich, aber da fuhren schon wieder die ersten Köpfe zu mir herum. Alle sahen mich an, als hätte man mich gerade zu Unrecht aus der Klinik entlassen. Ich hob entschuldigend die Schultern und drehte mit dem Zeigefinger ein paar Kreise vor meiner Schläfe, um zu verdeutlichen, dass es sich bei diesem Typ um einen Bekloppten handelte, was Tim 2 natürlich postwendend mit einer weiteren Hörprobe übersetzte: »We will – we will – rock you …«

»Klappe!«, flüsterte ich, was er wiederum mit einem satten Crescendo quittierte.

»Das darf doch nicht wahr sein. Was ist denn an KLAPPE so schwer zu verstehen? Dabei kann doch keiner mehr dem Unterricht folgen.«

»Hey, mach mal halblang, Tim!«, schnauzte mich Tobi von hinten an. »Der Einzige, der hier wirklich stört, bist du.«

»… ROCK YOU …«

»Ey, ich bin das doch gar nicht!«, schnauzte ich zurück. »Das macht alles dieser bekloppte Idiot hier neben mir.«

»Nenn mich noch einmal bekloppt und ich semmle dir eine!«, bellte Niko, der genau neben Tim 2 saß.

»… we will, we will …«

»Du doch nicht«, rief ich verzweifelt und versetzte Tim 2 einen Seitenhieb mit dem Ellenbogen.

»… ROCK AUA!« Tim 2 sprang auf und schubste mich mit einem gezielten Stoß vom Stuhl.

Auch Niko war hochgeschossen und wollte auf mich losgehen, aber da wälzte ich mich schon am Boden.

»Was ist denn nun schon wieder los?«, polterte Dr. Röttgers.

»Ich war das nicht.« Tobi hob zum Beweis beide Hände in die Luft. »Der ist da irgendwie von allein umgekippt.«

»Stimmt das, Hanno?«, fragte Dr. Röttgers, aber anstatt mir beizustehen, nickte er nur mit verkniffener Miene.

In zwei Schritten war Dr. Röttgers an meinem Tisch und zog mich am Ohr in die Senkrechte.

»Ich glaube, es wird für uns und die Punischen Kriege das Beste sein, wenn du jetzt den Rest der Stunde vor der Klassentür verbringst.«

»Alle Leut, alle Leut geh‘n jetzt nach Haus …«

Ich konnte mir gerade noch ein „Pscht“ verkneifen, da fiel mir auf, wo sich Dr. Röttgers eigentlich befand. Ungläubig kniff ich die Augen auf und zu, denn er stand genau dort, wo Tim 2 saß – nein, er steckte so ziemlich genau volle Kapelle in Tim mittendrin.

»Wie geht das denn?«, fragte ich begriffsstutzig.

»Nun, das kann ich dir sofort demonstrieren«, schrie Dr. Röttgers und ich konnte riechen, dass es bei ihm reichlich Knoblauchsalami zum Frühstück gegeben hatte. Dann zog er mich am Ohr aus dem Raum. Mit einem lauten „Krawumm“ knallte die Tür hinter mir ins Schloss.

Okay, fasste ich zusammen, nachdem ich eine Weile die Tür angeglotzt hatte. Wenn ich das hier nicht alles zufällig geträumt haben sollte – wovon ich nicht ausgehen kann – habe ich jetzt wohl einen nervigen Doppelgänger. Also eine Doppelgänger-Nervensäge. Sogar die Doppelgänger-Nervensäge mit dem schlechtesten Musikgeschmack des Jahrhunderts. Und diese Doppelgänger-Nervensäge konnte anscheinend nur mir allein auf die Nerven gehen, denn für alle anderen blieb sie offensichtlich völlig unsichtbar. Mit anderen Worten: Ich war mit der größten anzunehmenden Wahrscheinlichkeit über Nacht verrückt geworden. Bekloppt, schwachsinnig, geisteskrank, wahnsinnig, gestört, meschugge, plemplem, von allen guten Geistern verlassen, nicht mehr ganz richtig im Kopf und wer weiß sonst noch was. …Oder? Ich kniff mir kräftig in den Arm mit der Hoffnung, aus diesem Albtraum zu erwachen, denn diese Interpretation meiner Lage wäre mir immer noch die Liebste gewesen. Aber nichts geschah. Also doch bekloppt. Mistdreck!

Das musste man erst mal verdauen.

Zum Glück blieb mir nun bis zum Ende der Geschichtsstunde noch etwas Zeit, mich wieder in den Griff zu bekommen und ungestört darüber nachzugrübeln.

»… Ich hab ’ne Tante aus Marokko und die kommt, hippeldihopp …«

»Ich kann dir das erklären«, schleuderte ich Hanno entgegen, als er unmittelbar nach dem Erklingen der Pausenglocke aus dem Klassenraum geschossen kam. Sein Blick hätte Eisbären zum Erfrieren bringen können. Anscheinen nahm er mir mein gestriges Verhalten noch immer schwer übel. »Du wirst es nicht glauben. Das ist so abgefahren«, schickte ich verunsichert hinterher.

»Zu den Mülleimern!», befahl er knapp.

Widerstandslos folgte ich ihm, während Tim2 fröhlich meine Schultern packte und die „Polonäse von Blankenese“ schmetterte.

Ich konnte mir nicht helfen, aber in meinem Kopf spielten sich Bilder ab, in denen ich, ein Holzknüppel und Tim2s Rübe gerade so etwas wie Baseball spielten.

„Als du heute Morgen vor der Klassentür gestanden hast», begann Hanno gleich zu sprechen, nachdem wir unser geheimes Versteck erreicht hatten, »dachte ich noch, du hättest mal wieder mehr Schwein gehabt als ich. Nach dieser peinlichen Vorstellung, die du da eben hingelegt hast, bin ich mir allerdings nicht mehr so sicher.« Sein Kopf leuchtete dazu karminrot, was bei ihm so viel heißt wie „höchste Alarmstufe“. Hannos wechselnde Gesichtsfärbungen sind übrigens ein hoch interessantes, aber bisher auch noch gänzlich unerforschtes Gebiet. Wir beide vermuteten, dass wahrscheinlich die Firma Pelikan dahinter stecken könnte. Denn dass die spezifischen Farben um die es hier geht, alle in ihren Schultuschkästen zu finden sind, kann kein purer Zufall sein. Hannos persönliches Farbspektrum erstreckt sich von dem bereits erwähnten Karminrot (Pelikanfarbe 34) über Magentarot (43), Zinnoberrot (54), Orange (59b), Violett (109), Gebrannte Siena (190) bis hin zum Französisch Grün (135a). Wobei letztere Farbe ein wenig aus dem Rahmen fällt, da sie in der Regel kein Indiz für einen Aufregungszustand darstellt.

»Mensch Alter, hast du es immer noch nicht geschnallt, dass dein fröhlicher Zwilling für andere unsichtbar ist?«, riss er mich aus meinem gedanklichen Tuschkasten.

»Ach, und woher willst du das wissen?«, fragte ich begriffsstutzig.

»Rate mal!«

»Ey, wir sind hier nicht bei „Wer wird Millionär“.«

»Aus 1 wird 2«, setzte Hanno seine Rätselstunde fort.

»Ich habe keine Lust auf solchen Blödsinn.« Allmählich verlor ich die Geduld. »Kannst du jetzt bitte mal Klartext re… Ach du dickes Ei! Die Kiste!« Ich sackte zu Boden. »Meinst du es hängt damit zusammen?«

»Nun, es würde jedenfalls einen Sinn ergeben: Aus einem Tim werden zwei Tims«, übersetzte Hanno.

Okay, es ergab einen Sinn – keinen, den ich verstand, aber es war wenigstens eine Erklärung.

»Und wieso ist das nur mir passiert?«, fragte ich.

»Wer sagt denn das?«

Verwirrt sah ich mich um. »Kann es sein, dass du mir etwas verheimlichst?«

»Erinnerst du dich noch an meinen Spruch?«, antwortete Hanno mit einer Gegenfrage.

»Abgesehen davon, dass er eine originelle Grammatik hatte, nicht.«

»Ein Tier für dir«, half mir Hanno auf die Sprünge.

»Und?«, fragte ich neugierig.

Zur Antwort hielt Hanno mir seinen geöffneten Rucksack vor die Nase.

»Igitt, was ist denn das?« Vor Schreck war ich einen Schritt zurückgesprungen.

»Quahahahk», machte es aus dem Sack und Hanno sah mich mit der gequälten Verzweiflung eines Fallschirmspringers an, der kopfüber in der weit und breit einzigen Freilufttoilette gelandet war.

Ich wagte noch einen vorsichtigen Blick. »Ist das so was, wie …,

wie …, ‘ne …?«

»… Kröte«, vollendete Hanno. »Ich glaube schon.«

»Wow, ich wusste gar nicht, dass Kröten Tränensäcke und rote Augen haben können. Was ist das eigentlich für eine seltsame Farbe? Sieht aus wie irgendetwas Ausgekotztes.«

»Dann muss er heute Mellanie Wiedmayer zum Frühstück vertilgt haben«, sagte Hanno und wir mussten beide kichern. »Allerdings hat die Kröte sich bisher mehr für Schulliteratur, als für dicke Mädchen in lila Strickkleidern, interessiert. Als ich heute Morgen meine Schultasche packen wollte, hatte sie nämlich schon drei meiner Hefte und einen Teil des Geschichtsbuches verputzt. Das gesamte frühe Mittelalter ist jetzt praktisch ausgelöscht.«

»War ja auch eine brutale Epoche, mit den Kreuzrittern, der Inquisition und so«, versuchte ich etwas Humor einzuflechten.

»Ich finde das gar nicht witzig, Tim. Wenn das rauskommt, muss ich am Ende des Schuljahres das Buch ersetzen und dann kann ich mir den Todesstern endgültig abschminken. Weißt du, wie lange ich schon darauf spare?«

»Wenn das alles ist? Ich würde mir mal lieber Gedanken darüber machen, wie wir diesen Kistenzauber wieder loswerden können.«

»Gar nicht«, mischte sich Tim2 ein. »Wir werden jetzt für immer zusammen bleiben. Freust du dich?«

»Jaja, wie verrückt«, sagte ich, natürlich ohne es zu meinen. Tim2 wäre bei der Lösung dieses Problems jedenfalls keine Hilfe, dachte ich bitter.

»Der Ursprung ist zweifelsfrei bei der Kiste zu finden, da ist es doch nur logisch, wenn wir auch dort nach der Lösung suchen würden«, schlug Hanno vor.

»Ja, und bei unserem Glück gibt es mich dann plötzlich dreimal, deine Kröte hat sich verdoppelt und dein Rucksack beherbergt in Kürze eine komplette Krötendynastie, nachdem sich die Zwei darin fleißig fortgepflanzt haben.« Positives Denken gehörte nicht zu meinen Stärken. Hatte ich es schon erwähnt?

»Hast du eine bessere Idee?«, fragte Hanno genervt.

Hatte ich natürlich nicht, also machten wir uns gleich nach der Schule auf den Weg zu Schulzes Trödelladen.

Schulze

»Was habt ihr zwei Rotzlöffel hier zu suchen?« Schulze war nicht sonderlich erfreut, uns zu sehn. »Ich mag es nicht, wenn ihr Gören hier in meinem Laden herumlungert!« Ausgerechnet heute war er mal nicht in seiner Werkstatt.

»Wir interessieren uns für eine Holzschatulle», improvisierte ich.

»Hab ich nicht.«

»Doch, hier im Regal!«, sagte Hanno und zeigte nach oben.

»Wo?«, fragte Schulze, denn es war keine Holzkiste mehr zu sehen.

»Gestern war da noch eine», erklärte ich hastig. »Fünfeckig und mit einer eingeschnitzten 151 auf dem Deckel.«

»Stimmt nicht!«

»Doch!«, widersprachen Hanno und ich gleichzeitig.

»Die 151 stimmt nicht«, korrigierte Schulze. »Auf der Kiste stand eine 7.«

»Und wo ist die Kiste jetzt?« Ich wollte mich nicht über die Zahl streiten, vielleicht meinte er ja die Quersumme.

»Weg!«

»Wie weg? Verkauft?« So langsam machte mich seine wortkarge Art wütend.

»Nee, die hab ich gestern einem Experten zum Schätzen mitgegeben. Ist nächste Woche wieder da. Vielleicht hab ich ja Glück und das alte Ding ist ordentlich was wert. Ist mir immer noch ein Rätsel, warum mir dieses eigentümliche Stück noch nicht vorher aufgefallen war.«

»Nächste Woche?«, kreischte Hanno. «Das geht aber nicht. Wir brauchen die Kiste sofort.«

Schulze sah uns mit zusammengekniffenen Augen an.

»Ja, für seine Oma», änderte ich blitzschnell die Strategie. »Die hat nämlich morgen Geburtstag und hat sich genauso eine Kiste gewünscht.«

»Tja, dann muss deine Oma eben noch eine Woche auf ihr Geschenk warten.«