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Beschreibung

Im August des Jahres 1619 legt die White Lion an der Küste von Virginia an. An Bord sind die ersten zwanzig Menschen, die aus Afrika verschleppt und auf dem nordamerikanischen Kontinent als Sklav:innen verkauft werden. Viele Millionen werden ihrem Schicksal folgen.

In ihrem preisgekrönten publizistischen Projekt »1619« versammelt Herausgeberin Nikole Hannah-Jones Beiträge renommierter Autor:innen aus unterschiedlichsten Feldern, geschichtswissenschaftlich, soziologisch, dokumentarisch und poetisch, die eines gemeinsam haben: sie zeigen auf, wie grundlegend die Versklavung von Millionen verschleppter Menschen die USA prägte und wie dieses Erbe bis heute fortwirkt. Das Buch hat eine landesweite, inzwischen auch international geführte Debatte nicht nur über die Vergangenheit, sondern vor allem auch über die Gegenwart dieser Nation bewirkt.

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Seitenzahl: 985

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Zum Buch

Im August des Jahres 1619 legt die White Lion an der Küste von Virginia an. An Bord sind die ersten zwanzig Menschen, die aus Afrika verschleppt und auf dem nordamerikanischen Kontinent als Versklavte verkauft werden. Viele Millionen werden ihrem Schicksal folgen.

In ihrem preisgekrönten publizistischen Projekt »1619« versammelt Herausgeberin Nikole Hannah-Jones Beiträge renommierter Autor:innen aus unterschiedlichsten Feldern, geschichtswissenschaftlich, soziologisch, dokumentarisch und poetisch, die eines gemeinsam haben: sie zeigen auf, wie grundlegend die Versklavung von Millionen verschleppter Menschen die USA prägte und wie dieses Erbe bis heute fortwirkt. Das Buch hat eine landesweite, inzwischen auch international geführte Debatte nicht nur über die Vergangenheit, sondern vor allem auch über die Gegenwart dieser Nation bewirkt.

Zur Herausgeberin

Nikole Hannah-Jones, Pulitzerpreisträgerin und Journalistin, die für das New York Times Magazine über Rassismus recherchiert und schreibt, ist Schöpferin des »1619 Project«. Für ihre Arbeit über Ungleichheiten im Bildungswesen erhielt sie ein Mac-Arthur Foundation Fellowship. Zudem wurde sie mit dem Peabody Award, zwei George Polk Awards, drei National Magazine Awards und 2018 mit dem John Chancellor Award für herausragenden Journalismus von der Columbia University ausgezeichnet. 2016 gründete sie die Ida B. Wells Society for Investigative Reporting mit, eine Organisation, die sich der Ausbildung investigativer Journalist:innen of Color verschrieben hat. Für ihre erstmals in einer Sonderausgabe des New York Times Magazine veröffentlichte Einführung zum »1619 Project« wurde Nikole Hannah-Jones mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet.

Das »1619 Project« wurde im Jahr 2019, zum 400. Jahrestag des Beginns der Sklaverei in den USA, vom New York Times Magazine initiiert. Dessen Herausgeber Jake Silverstein sowie Ilena Silverman und Caitlin Roper zeichnen neben Nikole Hannah-Jones verantwortlich.

1619

Eine neue

Geschichte

der USA

Herausgegeben von Nikole Hannah-Jones,

Caitlin Roper, Ilena Silverman und Jake Silverstein

BLESSING

Originaltitel: The 1619 Project – An New Origin Story

Originalverlag: One World, Penguin Random House LLC, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Anfragen bezüglich jeglicher Abdruckgenehmigungen sind zu richten an:

The New York Times Company c/o Pars International,

telefonisch unter 01-212-221-9595 Durchw. 350 oder

per E-Mail [email protected].

Copyright © 2021 by The New York Times Company

Copyright © 2022 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München,

published by arrangement with One World,

an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC

Redaktionelle Mitarbeit: Yezenia León Mezu

Sensitivity Reading: Yolanda Rother & Shawn Williams,

Rother & Williams The Impact Company GbR

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, nach einer Idee von Michael Morris

Umschlagillustration: Lorna Simpson, Beclouded, 2018

Tinte und Siebdruck auf weiß grundiertem Holz, 274.3 x 243.8 x 3.2 cm

© Lorna Simpson. Courtesy of the artist and Hauser & Wirth (Foto: James Wang)

Layout und Herstellung: Ursula Maenner

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29242-3V001

www.blessing-verlag.de

Gewidmet den über dreißig Millionen Nachfahr:innen der amerikanischen Sklaverei

Die lyrischen und belletristischen Beiträge, die auf den Seiten zwischen den Sachtexten dieses Buches stehen, bewegen sich auf einer Zeitleiste, die sich chronologisch von 1619 bis heute erstreckt.

Die Sachtexte sind nicht streng chronologisch angelegt, aber im Sinne einer geschichtlichen Spanne geordnet.

Jedem Kapitel voran steht eine Fotografie, die sich auf das Thema des Sachtextes bezieht. Bei den Dargestellten handelt es sich nicht um bekannte Persönlichkeiten, in manchen Fällen sind auch ihre Namen nicht bekannt.

INHALT

VORWORT  URSPRÜNGE von Nikole Hannah-Jones

1619  Die White Lion, von Claudia Rankine

1619 – EINE NEUE GESCHICHTE DER USA

1  DEMOKRATIE von Nikole Hannah-Jones

1662  Töchter des Azimuth, von Nikky Finney

1682  Mich zu lieben, von Vievee Francis

2  RACE von Dorothy Roberts

1731  Besessen, von Honorée Fanonne Jeffers

1740  Ein Satz in Ghasel nach »My People … Hold On« von Eddie Kendricks und dem Negro Act von 1740, von Terrance Hayes

3  ZUCKER von Khalil Muhammad

1770  Der Aufstand des Ersten, von Yusef Komunyakaa

1773  beweis [an Phillis], von Eve L. Ewing

4  ANGST von Michelle und Leslie Alexander

1775  Freiheit gilt nicht für mich allein, von Robert Jones Jr.

1791  Andere Personen, von Reginald Dwayne Betts

5  ENTEIGNUNG von Tiya Miles

1800  Getrübte Wasser, von Barry Jenkins

1808  Verkauft in den Süden, von Jesmyn Ward

6  KAPITALISMUS von Matthew Desmond

1816  Fort Mose, von Tyehimba Jess

1822  Vor seiner Hinrichtung, von Tim Seibles

7  POLITIK von Jamelle Bouie

1830  Wir als Volk, von Cornelius Eady

1850  Ein Brief an Harriet Hayden, von Lynn Nottage

8  STAATSBÜRGERSCHAFTvon Martha Jones

1863  Das Lager, von Darryl Pinckney

1866  Das totale Massaker, von ZZ Packer

9  SELBSTVERTEIDIGUNG von Carol Anderson

1870  Wie das Rauschen eines mächtigen Windes, von Tracy K. Smith

1883  kein zugabteil für schwarze [+] damen (oder miss wells geht [auf] den schienen ab), von Evie Shockley

10  STRAFE von Bryan Stevenson

1898  Race Riot, von Forrest Hamer

1921  Greenwood, von Jasmine Mans

11  ERBE von Trymaine Lee

1925  The New Negro, von A. Van Jordan

1932  Böses Blut, von Yaa Gyasi

12  MEDIZINvon Linda Villarosa

1955  1955, von Danez Smith

1960  Hinter dem Tresen, von Terry McMillan

13  KIRCHE von Anthea Butler

1963  Jugendsonntag, von Rita Dove

14  MUSIK von Wesley Morris

1965  Alltägliches, von Natasha Trethewey

1966  Der Panther ist ein virtuelles Tier, von Joshua Bennett

15  GESUNDHEITSWESEN von Jeneen Interlandi

1972  Nicht gekauft, nicht bevormundet, ungestört, von Nafissa Thompson-Spires

1974  Verrückt, wenn du lächelst, von Patricia Smith

16  VERKEHR von Kevin M. Kruse

1984  Regenbögen sind nicht echt, oder doch?, von Kiese Laymon

1985  Ein Nachname zu Ehren ihrer Mutter, von Gregory Pardlo

17  FORTSCHRITTvon Ibram X. Kendi

2005  Im Superdome, nachdem der Sturm sich legte, von Clint Smith

2008  Mutter und Sohn, von Jason Reynolds

18  GERECHTIGKEIT von Nikole Hannah-Jones

2020  Progress Report, von Sonia Sanchez

DANKSAGUNG

MITWIRKENDE

Herausgeber:innen

Autor:innen

Übersetzer:innen

Fotos

Sensitivity Reader:innen

COPYRIGHTS FOTOGRAFIEN

ANMERKUNGEN

Editorische Notiz

In diesem Buch findet eine Vielzahl von Begriffen, die verschiedene Aspekte der Ära der Sklaverei beschreiben, Verwendung. In fast allen Fällen haben die Herausgeber:innen das Wort »Sklave/Sklavin« vermieden, um Menschen in Gefangenschaft zu bezeichnen, der alternative Begriff »Versklavte« trägt diesem Zustand angemessen Rechnung, ohne das einzelne Individuum seiner Menschenwürde zu berauben. In manchen Fällen, in denen der Ausdruck nicht auf eine Person angewendet wird, und in einigen fiktionalen oder lyrischen Passagen, die historischen Bezug haben, wird »Sklave/Sklavin« mithin gebraucht.

Die Herausgeber:innen haben außerdem versucht, möglichst solche Begriffe zu vermeiden, die bisweilen euphemistischerweise gebraucht werden, wie zum Beispiel »Plantage« oder »Master«, oder wenn möglich Bezeichnungen zu verwenden, die den historischen Kontext der Versklavung genauer beschreiben. Da dieses Buch das Werk zahlreicher Autor:innen aus unterschiedlichsten Fachgebieten ist, bleibt eine gewisse Heterogenität in der Art und Weise, wie diese Begriffe benutzt wurden.

Die Herausgeber:innen.

Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe

Die deutschen Übersetzungen orientieren sich so nah wie möglich an den Originaltexten. Der originale Text hat zum Ziel, den rassistischen Kern zu offenbaren, der das Erbe der Versklavung bis heute aufrechterhält. Vor allem bei Gedichten, wie auch Zitaten und Zeitzeug:innen-Berichten, besteht die Aufgabe der Übersetzung darin, eine Abschwächung oder Verzerrung der rassifizierten bzw. rassistischen Sprache zu vermeiden, um das Bloßstellen der Wirkmächte gelebter Realitäten wie Sprache – vor allem wenn diese essenziell für die Aussage des Gedichts/Texts und demnach dem historischen Gegenstand sind – beizubehalten.

Es wurde demnach und in Absprache mit den Herausgebenden, allen voran Nikole Hannah-Jones, für notwendig empfunden, bestimmte rassistische Begriffe, vor allem in historischen Dokumenten und Gedichten, auch in der deutschen Übersetzung beizubehalten. Das lässt sich als eine Verpflichtung gegenüber den Originaltexten sowie der gelebten Realität verstehen und entspricht dem Wunsch der Herausgeber:innen. Wo keine akkurate deutsche Übersetzung möglich war, wurden teils englische Originalbegriffe übernommen.

Alle rassistisch aufzufassenden Vokabeln in der Originalausgabe sowie in der Übersetzung wurden bewusst so verwendet, um dem historischen Kontext zu entsprechen bzw. um die Geschichte und Wirkung des Rassismus gezielt – auch ausdrücklich gezielt schmerzhaft – vor Augen zu führen.

Die aufgeführten Rassismen haben keineswegs Allgemeingültigkeit außerhalb des Kontextes dieses Werkes, sondern beziehen sich ausschließlich auf 1619 – Eine neue Geschichte der USA oder einzelne Texte daraus.

I am the American heartbreak –

The rock on which Freedom

Stumped its toe –

The great mistake

That Jamestown made

Long ago.*

LANGSTONHUGHES,

»AMERICANHEARTBREAK: 1619«

*  Ich bin der amerikanische Kummer / Der Fels, auf den die Freiheit stampfte – / Der große Fehler / Den Jamestown beging / Vor langer Zeit.

Vorwort

URSPRÜNGE

NIKOLEHANNAH-JONES

ÜBERSETZTVONTANJAHANDELS

Ich muss fünfzehn oder sechzehn gewesen sein, als mir die Jahreszahl 1619 zum ersten Mal begegnete. Wann immer ich an diesen Moment zurückdenke, steht sie mir als leuchtende Ziffern vor Augen, die sich dreidimensional von der Buchseite erheben. Natürlich waren sie in Wirklichkeit nur als schlichter schwarzer Text auf das billige Papier eines Taschenbuchs gedruckt. Aber auch wenn die Ziffern nicht buchstäblich leuchteten, weiß ich doch noch genau, wie ich mich auf meinem Stuhl zurücklehnte und auf diese Jahreszahl starrte, verwirrt und aus dem Gleichgewicht gebracht von dieser aufregenden Offenbarung, die sich mir da allmählich erschloss.

Die Vergangenheit fasziniert mich, seit ich denken kann. Schon als kleines Mädchen schaute ich mit Begeisterung Dokumentationen und Spielfilme über Ereignisse, die sich in vergangenen Epochen abgespielt hatten. In meiner Zeit auf der Middle School las ich alle Western von Louis L’Amour, die mein Vater besaß, und die komplette Unsere-kleine-Farm-Reihe, weil sie mich in die mythische Zeit der amerikanischen Frontier zurückversetzten. Ich hockte für mein Leben gern im Keller meiner Großeltern, blätterte in den alten Fotoalben mit den quadratischen Schwarz-Weiß-Fotos und wollte mehr über die längst verstorbenen Verwandten wissen, die auf den Bildern festgehalten waren. In der Schule waren meine Lieblingsfächer Englisch und Sozialgeschichte, und ich fragte meinen Lehrerinnen und Lehrern Löcher in den Bauch. Geschichte ließ mich die Bausteine der Welt erkennen, die ich bewohnte, sie bot mir Erklärungen dafür, wie Gemeinschaften, Institutionen und Beziehungen entstanden. Die Beschäftigung mit Geschichte half mir, die Welt zu verstehen. Sie schenkte mir die Mittel, all das zu entschlüsseln, was ich um mich herum beobachtete.

Schwarze Menschen allerdings fehlten großmehrheitlich in den Geschichtsbüchern, die ich las. Das Bild der Vergangenheit, das ich aus Schulbüchern, dem Fernsehen und unserem Museum für Lokalgeschichte mitnahm, präsentierte mir eine Welt, in der es – vielleicht ja ein Wunschtraum? – im Grunde keine Schwarzen gab. Die Geschichte machte Schwarze Menschen in den USA, Schwarze Menschen auf der ganzen Welt bestenfalls zur Fußnote und schlimmstenfalls unsichtbar. Wir traten nur dort in Erscheinung, wo es sich gar nicht vermeiden ließ: Im Kapitel über den verheerendsten Krieg im Land fand die Epoche der Versklavung kurz Erwähnung, danach verschwanden Schwarze für ein komplettes Jahrhundert, um dann wie von Zauberhand wieder aufzutauchen, als Martin Luther King Jr. eine Rede über seinen Traum hielt. Dieser gewaltige Zeitsprung erfüllte den Zweck, die Erfahrung Schwarzen Lebens fein säuberlich auf wenigen Seiten abzuhandeln, bot aber keinerlei Erklärung dafür, warum King, hundert Jahre nach dem Ende der Versklavung, den Marsch auf Washington überhaupt noch anführen musste.

Wir handelten nicht selbst, wir wurden verhandelt. Wir konnten nicht beitragen, nur empfangen. Wir wurden von Weißen versklavt, und wir wurden von Weißen befreit. Schwarze Menschen standen vor der Wahl, von dieser Freiheit entweder Gebrauch zu machen oder sie leichtfertig zu vergeuden, wie es nach Darstellung der Medien scheinbar so viele von uns taten.

Die Welt, die meine Bildung mir eröffnete, war eine weiße Welt. Und doch war meine ganz persönliche Welt – mein Viertel, die Freundinnen und Freunde, mit denen ich tagtäglich zwei Stunden im Schulbus saß, der uns zu unseren Schulen im weißen Teil der Stadt brachte, die ausgelassene Schar aus Tanten, Onkeln, Cousinen und Cousins, die sich zum Grillen und Kartenspielen bei uns zu Hause einfand – größtenteils Schwarz. In der Schule suchte ich verzweifelt nach Möglichkeiten, mich selbst in der Geschichte der USA zu verorten, die man uns beibrachte, mich – uns – als Menschen anerkannt und gespiegelt zu sehen. In der Bibliothek meiner Grundschule zog ich als Erstes Donnergrollen, hör mein Schrei’n von Mildred D. Taylor aus dem Regal, weil es das einzige Buch mit einem Schwarzen Mädchen auf dem Cover war. Und als wir auf der Highschool als Abschlussprojekt im Vertiefungskurs Englisch über eine berühmte Gestalt aus der amerikanischen Literaturgeschichte schreiben sollten, entschied ich mich für den einzigen Schwarzen Dichter, mit dem ich in Kontakt gekommen war: Langston Hughes.

An meiner staatlichen Highschool in Waterloo, Iowa, wurde ein halbjähriges Wahlfach mit dem Titel The African American Experience angeboten, das ich im vorletzten Schuljahr belegte. Im Klassenraum saßen ausschließlich andere Schwarze Jugendliche, und den Unterricht leitete der einzige Schwarze Lehrer, den ich jemals haben sollte. Mr. Ray Dial, spindeldürr, mit einer Haut wie Mahagoniholz und einem schallenden Lachen, das die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen sehen ließ, führte uns mit großem Geschick an die alten Reiche Mali, Songhai, Nubien und Ghana heran (von ihm lernte ich, dass sich die gängige Redewendung from here to Timbuktu eigentlich auf eine Gelehrtenhochburg Afrikas bezieht) und gab uns einen Überblick über die Kulturen, das Wissen und die Zivilisationen, die es in Afrika lange Zeit gegeben hatte, bis Europa beschloss, viele Millionen Menschen gewaltsam in den Frachträumen von Schiffen über die Weltmeere zu schaffen und zu Besitztum umzudeuten. Er brachte uns bei, dass Richard Allen die erste unabhängige Schwarze Gemeinde auf dem amerikanischen Kontinent begründete, und wie erbittert versklavte Menschen für das Recht kämpfen mussten, Dinge zu tun, die für alle anderen Bevölkerungsgruppen selbstverständlich waren, Lesen lernen zum Beispiel oder Heiraten oder die eigenen Kinder nicht aufgeben müssen. Er führte uns an Schwarze Widerstandsbewegungen und Schwarze Literatur heran. Er machte uns nicht nur mit Martin Luther King Jr. bekannt, sondern auch mit Marcus Garvey und Malcolm X, mit Mamie Till-Mobley und Fannie Lou Hamer.

Sein täglicher Unterricht gab mir das Gefühl, als hätte ich mein ganzes bisheriges Leben lang nach Atem gerungen, und nun versorgte mich endlich jemand mit Sauerstoff. Heute ist es mir regelrecht peinlich, wenn ich daran zurückdenke, wie ich staunte, dass es so viele Bücher über Schwarze Menschen und von Schwarzen Menschen gab, dass diese Schwarzen Menschen tatsächlich eine Geschichte hatten, die man studieren konnte. Ich spürte Zorn und Empowerment zugleich, und diese widerstreitenden Gefühle heizten einen bis heute unstillbaren Hunger nach Wissen über Schwarze amerikanische Geschichte an. Ich fing an, Mr. Dial nach Buchempfehlungen zu fragen, die über die verpflichtende Leseliste hinausgingen, verschlang sie alle und verlangte nach mehr.

»Doktor Hannah!«, rief er mir eines Tages zu und drückte mir mit seinem typischen breiten Lächeln ein Buch in die Hand: Before the Mayflower, ein Werk des Historikers und Journalisten Lerone Bennett Jr. Kaum war ich an dem Nachmittag zu Hause, setzte ich mich an den Esstisch und zog es aus meiner Schultasche. Nachdem ich ein paar Dutzend Seiten gelesen hatte, stieß ich auf diese Sätze:

Es durchquerte einen verheerenden Sturm und brachte eine Geschichte mit, die niemand glauben konnte. […] Ein Jahr vor der Ankunft der gefeierten Mayflower, 113 Jahre vor der Geburt George Washingtons und 244 Jahre vor Unterzeichnung der Emanzipations-Proklamation lief dieses Schiff in den Hafen von Jamestown, Virginia, ein und warf in den trüben Wassern der Geschichte seinen Anker. Den Männern, die diese »niederländische Galeone« in Empfang nahmen, war sofort klar, dass es sich bei ihr nicht um ein normales Schiff handelte. Aus heutiger Sicht erscheint vor allem bemerkenswert, dass niemand erkannte, wie ungewöhnlich sie wirklich war. Denn kein Schiff vor oder nach ihr entlud jemals eine folgenschwerere Fracht.[1]

Moment mal.

Ich war davon ausgegangen, der Titel Before the Mayflower beziehe sich auf die Geschichte Schwarzer Menschen in Afrika, bevor sie hier in unserem Land versklavt wurden. Aber als ich jetzt mit den Fingern die Sätze nachfuhr, wurde mir klar, dass der Titel keine ferne Geschichte Afrikas heraufbeschwor, sondern vielmehr eine amerikanische. Menschen vom afrikanischen Kontinent hatten hier gelebt, in diesem Land, das 1776 zu den Vereinigten Staaten werden sollte, seit die White Lion im Jahr 1619 an seiner Küste vor Anker gegangen war. Und sie waren ein Jahr vor dem legendären Schiff mit den Menschen aus England angekommen, denen die Anerkennung galt, das Land aufgebaut zu haben.

Warum hatte uns keine Lehrperson und kein Lehrbuch zur Geschichte von Jamestown die Geschichte des Jahres 1619 beigebracht? Natürlich kann keine Geschichtsschreibung jemals vollständig sein. Der Wandteppich der Vergangenheit eines Landes wird aus Millionen von Momenten und Tausenden von Daten gewebt. Und doch wusste ich sofort, instinktiv, dass es sich hier nicht um ein harmloses Versäumnis handelte. Das Jahr, in dem die weiße Bevölkerung von Virginia erstmals Geld für versklavte Menschen aus Afrika zahlte und mit dem folglich die Versklavung in Amerika ihren Anfang nahm, eine Institution, so maßgeblich und zerstörerisch, dass sie zugleich zur Entstehung des Landes beitrug und fast zu seinem Untergang führte, ist zweifellos ein grundlegendes historisches Datum. Und doch hatte ich bisher noch nie davon gehört.

Schon als Jugendliche begriff ich, dass das Fehlen der Jahreszahl 1619 in der gängigen Geschichtsschreibung Absicht sein musste. Irgendjemand hatte entschieden, uns über die Bedeutsamkeit dieses Jahres nichts beizubringen. Und daraus folgte, dass auch viele andere historische Fakten keine Beachtung fanden oder zurückgehalten wurden. Was hatte man uns noch alles nicht beigebracht? Allmählich reimte ich mir zusammen, dass die Versionen von Geschichte, die wir in der Schule oder beiläufiger über Populärkultur, Denkmäler und politische Reden kennenlernten, uns kaum je die Fakten lehrten, sondern immer nur bestimmte Fakten.

In den Vereinigten Staaten wird das an kaum einem Beispiel besser deutlich als an der Art, wie uns die grundlegende amerikanische Institution der Versklavung vermittelt wird. Eine Studie des Southern Poverty Law Center (SPLC) von 2018 mit dem Titel Teaching Hard History fand heraus, dass nur acht Prozent der Absolvent:innen US-amerikanischer Highschools die Versklavung als entscheidenden Auslöser des Bürgerkriegs nennen konnten und weniger als ein Drittel wusste, dass zu ihrer Abschaffung eine Verfassungsänderung nötig gewesen war. Die Mehrheit der Highschool-Schüler:innen wüsste nicht zu sagen, dass der berühmte Abolitionist Frederick Douglass selbst versklavt gewesen war, und kann auch keine genaue Definition der Middle Passage geben, im Zuge derer fast dreizehn Millionen Menschen zur Migration über den Atlantik gezwungen wurden und die die Existenz der USA wesentlich verändert beziehungsweise wohl überhaupt erst ermöglicht hat.[2]

Das alles wundert kaum, wenn man bedenkt, auf welch verwirrende, vernebelnde Art und Weise sich die Lehrpläne der Institution der Versklavung überhaupt annehmen. Es gibt zahllose Beispiele dafür. Noch vor sechs Jahren bezeichnete ein Geografie-Schulbuch von McGraw-Hill die Menschen, die im Bauch der Sklavenschiffe aus Afrika auf den amerikanischen Kontinent verbracht worden waren, nicht als Opfer einer Zwangsmigration, die mit Gewalt zum Arbeiten genötigt wurden, sondern als »Arbeitskräfte«, ein Wort, das ein einvernehmliches und vergütetes Erwerbsverhältnis impliziert.[3] In den letzten zehn Jahren wurde Harriet Tubman, die Frau, die dafür berühmt geworden ist, dass sie selbst der Versklavung entfliehen konnte und später andere dabei unterstützte, im Sozialkundeunterricht der fünften Klassen in Alabama als »beispielhafte« Amerikanerin präsentiert, ohne dass jemals von »versklavten Menschen« oder »Versklavung« die Rede war.[4] In Texas, das aufgrund seiner hohen Bevölkerungszahlen bei der inhaltlichen Gestaltung landesweit genutzter Schulbücher eine überbordende Rolle spielt, segnete der republikanisch geführte staatliche Bildungsausschuss Lerninhalte ab, die den Konföderiertengeneral Thomas »Stonewall« Jackson, der gegen die amerikanische Regierung kämpfte, mit Frederick Douglass gleichsetzten, als Beispiel dafür, wie wichtig effektive Führung in einer konstitutionellen Republik sei.[5]

Insgesamt behandeln die Lehrpläne die Zeit der Versklavung als Verirrung einer freien Gesellschaft, und die Schulbücher ignorieren im Großen und Ganzen den Umstand, dass zahlreiche bekannte Männer, Frauen, Branchen und Institutionen von ihr profitiert und sie geschützt haben.[6] Einzelpersonen, die versklavt wurden, bleiben, jenseits der gelegentlichen kurzen Erwähnung von Douglass, Tubman oder George Washington Carver, als vollwertige Menschen mit Gefühlen, Gedanken und Handlungskraft weitgehend unsichtbar.

Ein Grund dafür, dass amerikanische Kinder so schlecht über die Geschichte und das Erbe der Versklavung informiert sind, liegt darin, dass die mit ihrer Bildung betrauten Erwachsenen selbst viel zu wenig darüber wissen. Einer Online-Umfrage zufolge, die 2019 von der Washington Post durchgeführt wurde, ist nur der Hälfte aller erwachsenen Menschen in den USA überhaupt bewusst, dass in allen dreizehn Kolonien Versklavung betrieben wurde.[7] Selbst Lehrende haben ihre Mühe mit den grundlegenden historischen Fakten, wie die Studie des SPLC herausfand: Nur etwa die Hälfte aller Lehrkräfte in den USA begreift, dass in den Jahrzehnten nach der Gründung die Präsidentschaft vorherrschend bei Menschen lag, die andere versklavten, und dass diese bis zum Bürgerkrieg auch den Supreme Court und den Senat dominierten.[8] Von den mehr als siebzehnhundert Lehrkräften mit dem Fach Sozialkunde, die für die Studie befragt wurden, »gab nur eine sehr knappe Mehrheit an, sich für die Behandlung der Versklavung im Unterricht kompetent zu fühlen. Die meisten erklärten, sie fühlten sich von den verfügbaren Quellen und vorbereitenden Programmen alleingelassen.«[9] Der bekannte Versklavungshistoriker Ira Berlin formuliert es in seinem Essay in dem Band Slavery and Public History: The Tough Stuff of American Memory folgendermaßen: »Die schlichte Wahrheit ist: In den USA wissen die Menschen kaum etwas über die dreihundertjährige Geschichte der Versklavung auf dem nordamerikanischen Festland, sofern sie Menschen afrikanischer Herkunft betrifft, und praktisch nichts über ihre Auswirkungen auf die Mehrheit der weißen amerikanischen Bevölkerung.«[10]

Berlin, ein Weißer, der 2018 verstorben ist, trug zu der Welle wichtiger Studien und Forschungen der vergangenen fünfzig Jahre bei – vieles davon stammt von Schwarzen Historiker:innen –, die sich gegen den vorherrschend weißen Blick auf die amerikanische Geschichte wendet. Diese Wissenschaftler:innen sahen sich häufig veranlasst, ganz neue Fragen an unsere Vergangenheit zu stellen, indem sie sich auf Primärquellen konzentrierten, die vorangegangenen Generationen noch nicht zur Verfügung standen oder aber von ihnen ignoriert wurden, und ihre Arbeit hat klar gezeigt, welche zentrale Rolle der Versklavung und der Ablehnung Schwarzer Menschen bei der Entwicklung unserer Gesellschaft und ihrer Institutionen zukommt. Anderslautende Argumentationen gelten in Historiker:innenkreisen inzwischen flächendeckend als anachronistisch und ahistorisch.

Doch so unstrittig diese Forschungen im wissenschaftlichen Umfeld sind, so schwer fiel es ihnen oft, in das allgemeine Verständnis von amerikanischer Geschichte vorzudringen, das sich nach wie vor stark dem Mythos unserer »Gründerväter« als unantastbaren Helden und der Gründung der Nation als göttlichem Akt verschrieben hat. Wie ich von dem Historiker Jelani Cobb hörte, existiert »eine Lücke zwischen der akademischen und der übrigen Welt. Während also Wissenschaftler:innen ofColor ebenso wie progressive weiße Wissenschaftler:innen diese Kämpfe in akademischen und professionellen Kreisen seit Jahrzehnten ausfechten und größtenteils auch gewinnen, stehen sie im Rest der Welt auf verlorenem Posten.«[11] Die amerikanische Öffentlichkeit hat dadurch ein überholtes und unklares Bild von der Vergangenheit. Und doch kam die Umfrage der Washington Post 2019 zu dem Ergebnis, dass trotz ihres spärlichen Wissens zur Versklavung rund zwei Drittel der amerikanischen Bevölkerung der Ansicht sind, ihr Erbe wirke sich bis heute auf unsere Gesellschaft aus. Sie können sehen und spüren, dass es so ist – sie haben einfach nur nichts Historisches darüber gelernt, das ihnen dabei helfen könnte, das Wie und Warum zu begreifen.[12]

»Wir machen uns schulischer Sorgfaltsverletzungen schuldig«, sagt Hasan Kwame Jeffries, Historiker an der Ohio State University.[13] Jeffries war Vorsitzender des Beirats, der den Bericht des Southern Poverty Law Center, Teaching Hard History, betreut hat. »Unsere Vorliebe für Nostalgie und eine Geschichte, die es so nicht gab, bleibt nicht ohne Folgen«, schreibt er. »Obwohl wir [den Schüler:innen] beibringen, dass Versklavung stattgefunden hat […], spielen wir ihre Bedeutung vielfach doch so sehr herunter, dass wir ihre Auswirkungen – auf die Menschen ebenso wie auf das Land – bagatellisieren.« Dies sei, fährt er fort, »zutiefst verstörend«, denn es versage der amerikanischen Bevölkerung die Mittel, heutige rassistische Diskriminierungen zu begreifen, was wiederum zu Intoleranz führe und zum Widerstand gegen die Bemühungen, solche Diskriminierungen ebenso zu beseitigen wie das Erlassen von Gesetzen und Vorschriften, die der Schwarzen Bevölkerung und den USA insgesamt zum Nachteil gereichen. »Unsere beschränkte Kenntnis dieser Institution […] hindert uns daran, ihr langes Vermächtnis zu erkennen, und veranlasst die Politik, Menschen ändern zu wollen, anstatt die historisch verwurzelten Gründe für ihre Probleme in Angriff zu nehmen«, führt er aus.[14]

Mit anderen Worten: Wir leiden alle unter dem schlechten Geschichtsunterricht, den wir erhalten haben.

Anfang 2019, zweieinhalb Jahrzehnte nachdem ich in dem Buch, das ich von meinem Lehrer bekommen hatte, zum ersten Mal auf das Jahr 1619 gestoßen war, kannte der Großteil der amerikanischen Bevölkerung die Jahreszahl immer noch nicht. Je näher der vierhundertste Jahrestag im August rückte, desto klarer wurde mir, dass dieses folgenschwere Datum vermutlich einfach verstreichen würde, wie es mit der unbequemen Geschichte unseres Landes so oft geschah, ohne dass seine Bedeutung groß zur Kenntnis genommen würde. Ich selbst aber war 2019 längst nicht mehr bloß eine neugierige Teenagerin auf der staatlichen Highschool einer Kleinstadt im Mittleren Westen. Ich arbeitete inzwischen für eines der mächtigsten Medienhäuser weltweit. Und ich wollte versuchen, diese globale Plattform zu nutzen, um eine Konfrontation mit unserer Vergangenheit und den Fundamenten zu erzwingen, auf denen dieses Land erbaut worden war.

Also unterbreitete ich meinen Vorgesetzten einen schlichten Vorschlag: Das New York Times Magazine sollte anlässlich dieses vierhundertsten Jahrestags eine Sondernummer gestalten und darin den beispiellosen Auswirkungen der Versklavung afrikanischer Menschen auf die Entwicklung unseres Landes sowie den immer noch anhaltenden Auswirkungen auf unsere Gesellschaft nachspüren. Die Ausgabe sollte die Versklavung und die Beiträge Schwarzer Amerikaner:innen vom Rand der Geschichte der USA an den zentralen Platz rücken, der ihnen gebührt, und darlegen, dass die Versklavung und ihr Erbe das heutige amerikanische Leben grundlegend geformt haben, sosehr ihr Einfluss auch verschleiert oder diskreditiert wurde. Sie sollte die folgenden Fragen stellen und beantworten: Was würde es heißen, unser Verständnis der amerikanischen Geschichte neu auszurichten, indem wir 1619 als Ausgangspunkt unseres Landes benennen, als Geburtsstunde der Widersprüche, die uns definieren, als Keim von so vielem, das uns einzigartig macht? Wie könnte eine solche Neuausrichtung unser Verständnis der ganz speziellen Probleme unseres Landes heute verändern – die drastische wirtschaftliche Ungleichheit, die Gewalt, die weltweit führende Inhaftierungsrate, die schockierende Segregation, die politische Spaltung, das magere soziale Sicherheitsnetz? Wie könnte sie uns dabei unterstützen, die besten Eigenschaften unseres Landes zu erkennen, die es im jahrelangen Einsatz für Freiheit, Gleichheit und Vielfalt entwickelt hat, ein Einsatz, dessen DNA sich im Übrigen auch auf das Jahr 1619 zurückführen lässt? Wie könnte uns der Blick auf das heutige amerikanische Leben durch diese Brille helfen, die Beiträge Schwarzer Amerikaner:innen besser zu würdigen – nicht nur im kulturellen Bereich, sondern auch und gerade zu unserer Demokratie? Ich wollte anderen Amerikaner:innen das Gleiche ermöglichen, was die Lektüre von Lerone Bennetts Buch und das jahrzehntelange Studium Schwarzer amerikanischer Geschichte mir gegeben hat. Ich wollte, dass die Menschen vom Jahr 1619 erfuhren, dass sie darüber nachdachten, was es eigentlich bedeutet, dass die Versklavung allen anderen Institutionen der USA vorausging. Ich wollte, dass dieses Wissen sie veränderte, so, wie es mich verändert hat.

Sobald ich grünes Licht bekam, wandte ich mich an fast zwei Dutzend Wissenschaftler:innen, die sich in den Fächern Geschichte, Wirtschaft, Recht, Soziologie und Geisteswissenschaft auf die Versklavung und ihr Vermächtnis spezialisiert hatten, und rief sie zu einer ersten Brainstorming-Session in der Redaktion der New York Times zusammen. Ich bat sie, uns bei der Erstellung einer Liste heutiger amerikanischer Institutionen und Phänomene zu helfen, die sich bis in die Zeit der Versklavung zurückverfolgen ließen. Wir schrieben ein ganzes Whiteboard mit Ideen voll, und das Magazin verbrachte das folgende halbe Jahr damit, ein Projekt zusammenzustellen, das unerschrocken eine vierhundertjährige Geschichte erzählte und darin die Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart schlug.

Ich selbst spürte jeden Tag, wie schwer die Verantwortung wog und was alles auf dem Spiel stand. Ich versenkte mich in das Unglück und Leid von Millionen Schwarzer Menschen und die Verderbtheit derer, die sie solchen Leiden ausgesetzt hatten, aber auch in den kühnen Widerstand, in die Resilienz Schwarzer Amerikaner:innen. Ich las jedes einzelne Wort des ganzen Projekts, sah mir jedes einzelne ausgewählte Bild an. An dem Tag, an dem wir die Seiten der Ausgabe einzeln ausgedruckt und an die Wand geheftet hatten, um sie vor der Veröffentlichung noch einmal durchzugehen, drehte ich mich zu meinem guten Freund Wesley Morris um, der einen Essay über Musik für das Projekt geschrieben hatte. Wir umarmten einander und brachen in Tränen aus.

Am Abend vor der Veröffentlichung verweigerte mir der Schlaf mit höhnischem Lachen seine Gnade. Während ich wach im Bett lag, wanderten meine Gedanken zurück zu dem jungen Mädchen damals an der Highschool, Tochter und Enkelin von Menschen, die in einem umgenutzten Zwangsarbeitslager für Versklavte im tiefsten Süden zur Welt gekommen waren, Menschen, die sich nie hätten träumen lassen, dass ihre Nachkommen einmal in der Position sein würden, ein solches Projekt hervorzubringen. Aber ich war auch in Sorge: Was, wenn wir die Geschichte, die sich um Versklavung und Schwarze Amerikaner:innen drehte, jetzt erzählten, und dann las sie womöglich niemand? Was, wenn es, trotz all der Arbeit, am Ende doch niemanden interessierte?

Am Sonntag, dem 18. August, als das gedruckte Magazin erschien, poppten im ganzen Land Tweets, Instagram-Posts und Videos auf. Menschen berichteten, wie sie auf der Suche danach Laden um Laden abgeklappert hätten und die Sonntagsausgabe der New York Times überall ausverkauft gewesen sei. Ein Mann aus North Carolina postete ein Video von sich, freudestrahlend, mit dem Magazin in der Hand, und erzählte, er sei kilometerweit dafür gefahren, aber jetzt habe er endlich eine Ausgabe ergattert. Eltern horteten mehrere Exemplare, um sie für ihre Kinder aufzuheben. Ich bekam Zuschriften aus dem Gefängnis von Menschen, die es dringend haben wollten. In den Wochen danach riefen Leser:innen 1619-Lesezirkel ins Leben, und unter dem Hashtag #1619 auf Instagram waren Lehrkräfte zu sehen, die ihre Klassenzimmer mit vom Projekt inspirierten Kunstwerken dekorierten, und Familien, die 1619-Plätzchen buken. Landesweit fanden sich Menschen in Bibliotheken, Museen, Kulturzentren und Schulen zusammen, um über das Projekt und den Einfluss der Versklavung auf die USA zu diskutieren. Chuck Schumer, der damalige Minority Leader im US-Senat, hielt in der Emancipation Hall des Capitol Visitor Center eine Ansprache zu unserem Projekt und griff dabei die Geschichte meines Vaters und der amerikanischen Flagge auf, die ich in meinem Eröffnungsessay erzähle. Als die Präsidentschaftswahlen 2020 näher rückten, führten Demokrat:innen, die auf eine Nominierung hofften, das Projekt in ihre Reden an.

In allen fünfzig Staaten nahmen Lehrkräfte Unterrichtsinhalte auf Basis des Projekts in den Stundenplan, und ich begegnete vielen Hundert Highschool-Schüler:innen, die mir leicht atemlos von genau dem gleichen wirren Gefühl der Aufregung bei der Lektüre des 1619 Project berichteten, das ich empfunden hatte, als ich Before the Mayflower las. Vor allem Schwarze Schüler:innen erzählten mir, sie hätten zum ersten Mal in ihrem Leben etwas empfunden, das sonst meist weißen Amerikaner:innen vorbehalten bleibt: ein Gefühl von Besitzrecht an, von Zugehörigkeit zu und Einfluss auf die Geschichte der USA. Arterah Griggs, Schülerin an einer staatlichen Highschool in Chicago, einem der ersten Verwaltungsbezirke, der das Projekt in den Lehrplan aufnahm, erzählte der Chicago Sun-Times, was ihr dadurch klar geworden sei: »Die Gründerväter, das waren wir. Wir haben so viel in die Vereinigten Staaten investiert, und wir haben das Fundament gelegt.« Ein anderer Schüler, Brenton Sykes, kommentierte: »Jetzt, wo ich die komplette Geschichte der USA kenne, ohne irgendeine Form von Whitewashing, sehe ich die Dinge irgendwie in einem anderen Licht. Es kommt mir vor, als müsste ich mich ganz anders verhalten, seit ich weiß, was meine Vorfahren durchgemacht haben.«[15]

Nie werde ich die Frau vergessen, die ich nach einem Vortrag in New Orleans, einer der Städte mit dem brutalsten Menschenhandel im ganzen Land, kennenlernte. Sie war fast neunzig Jahre alt und kam zu mir nach vorn, umarmte mich mit Tränen in den Augen und dankte mir, dass ich ihr mit dem Projekt, dem ich ins Leben geholfen hatte, ermöglicht hätte, endlich die Scham loszulassen, die entsteht, wenn man ständig hört, wir Schwarzen hätten zu diesem Land nichts anderes beigetragen als unsere schlichte Arbeit. »Ich kannte die Wahrheit immer schon«, sagte sie. »Aber ich konnte nicht belegen, dass es so gewesen war.«

Auf einer meiner letzten Reisen vor der Pandemie nahm ich meine neunjährige Tochter Najya zu einem Vortrag an der von Thomas Jefferson gegründeten Universität in Charlottesville, Virginia, mit, einer Universität, die hauptsächlich von versklavten Menschen erbaut worden war, damit die Söhne der Männer, deren Eigentum sie waren, dort studieren konnten. Vor dem Vortrag spazierten wir über den Hauptplatz, der einmal der Schauplatz einer Auktion versklavter Menschen gewesen war, und standen staunend Hand in Hand vor ein paar Ziffern, die erst kürzlich auf einen Laternenpfahl gleich neben der Gedenkplakette gekritzelt worden waren: 1619.

Je mehr das 1619 Project an Reichweite gewann, desto schärfer wurden auch die Gegenreaktionen. Eine kleine Gruppe Historiker:innen unternahm den Versuch, das Projekt zu diskreditieren, indem sie seine historischen Deutungen anfochten und auf angebliche historische Fehler verwiesen. Sie waren nicht einverstanden mit unserem Ansatz, Versklavung und Schwarzenfeindlichkeit als Grundfesten der USA zu betrachten. Sie hatten etwas gegen unsere Behauptung, dass Schwarze Amerikaner:innen dem Land als besonders vehemente Freiheitskämpfer:innen gedient und ihre Kämpfe weitestgehend allein ausgefochten hätten, und gegen das Konzept, wie viel unseres modernen amerikanischen Lebens keineswegs von erhabenen Gründungsidealen, sondern vielmehr von schwerer Scheinheiligkeit geprägt ist. Vor allem aber hatten sie etwas gegen einen Abschnitt, den ich über die Beweggründe jener Kolonisten geschrieben hatte, die die Unabhängigkeit von Großbritannien erklärten.

»Ein Umstand, den unser Gründungsmythos stillschweigend ausspart«, so begann dieser Absatz, »liegt in der Tatsache, dass die Kolonisten ihre Unabhängigkeit von Großbritannien vor allem deshalb erklärten, weil sie die Institution der Versklavung schützen wollten.« Als Reaktion auf weitere Wissenschaftler:innen, die befanden, wir seien diesbezüglich nicht differenziert genug gewesen, und um klarzustellen, dass wir keinesfalls andeuten wollten, sämtliche Bewohner:innen der Kolonien hätten diese Motivation geteilt, änderten wir den Satz später dahingehend, dass nur noch von »einigen Kolonisten« die Rede war. Für viele unserer Kritiker:innen änderte das allerdings wenig. Die Verknüpfung der Amerikanischen Revolution mit der Versklavung war eine direkte Kampfansage an die Eckpfeiler nationaler Identität, die in unserer öffentlichen Geschichtsschreibung, den Narrativen, die uns in der Grundschule, in Museen und Gedenkstätten, in Hollywoodfilmen und auch in vielen akademischen Publikationen vermittelt werden, fest verankert sind.[16]

Die Aussagen zur Rolle der Versklavung innerhalb der Amerikanischen Revolution entsetzten auch große Teile unseres Lesepublikums. Aber diese Aussagen entstammten direkt den Werken von Historiker:innen, die diese Argumente schon seit Jahrzehnten geltend machen. Neu waren die historischen Thesen und Argumentationen des 1619 Project offensichtlich nicht.[17] Wir stützten uns dabei auf die reichhaltigen Forschungen, die das Gebiet der amerikanischen Geschichtsschreibung spätestens seit den 1960er-Jahren neu definieren, darunter Benjamin Quarles’ bahnbrechendes Werk The Negro in the American Revolution, das erstmals 1961 erschien, Eric Foners Reconstruction: America’s Unfinished Revolution, 1863–1877, Annette Gordon-Reeds The Hemingses of Monticello: An American Family und Alan Taylors The Internal Enemy: Slavery and War in Virginia, 1772–1832. Den heftigen Zorn zogen wir uns anscheinend vor allem dadurch zu, dass wir die Mauer zwischen akademischer Geschichtswissenschaft und dem öffentlichen Verständnis durchbrochen hatten, und das auch noch in der New York Times, dem Leitmedium schlechthin, im Rahmen eines groß angelegten Multimediaprojekts unter der Federführung einer Schwarzen Frau.

Das Projekt wurde einer so eingehenden Prüfung unterzogen, wie es bei jedem wichtigen Werk geschehen sollte, das althergebrachte Narrative zu stürzen versucht. Außerhalb der akademischen Sphäre wird Geschichte gern als etwas Beständiges betrachtet, als schlichte Wiedergabe von Ereignissen, die an einem bestimmten Datum eingetreten sind, und Nennung derer, die an den Vorfällen jeweils beteiligt waren. Aber Geschichte umfasst nicht nur die Geschehnisse, sondern auch, und das ist ebenso wichtig, was wir über die Geschehnisse denken, was wir sonst noch ans Licht bringen und was wir auswählen, um es im Gedächtnis zu behalten. Historiker:innen versammeln sich bei Konferenzen, präsentieren ihre Forschungsergebnisse und argumentieren, diskutieren und streiten ununterbrochen über verschiedene Interpretationen der Fakten und über Schwerpunktsetzungen. Regelmäßig werden wissenschaftliche Artikel publiziert, die die anerkannte und fachlich begutachtete Arbeit von Kolleg:innen analysieren, infrage stellen oder widerlegen. Mary Ellen Hicks, Historikerin und Expertin für Black Studies, formulierte es in einem Twitter-Thread folgendermaßen: »Die Debatten um das 1619 Project […] haben mir bewusst gemacht, dass wir als Historiker:innen womöglich die Gelegenheit versäumt haben, die Verfertigung akademischen Wissens für das Publikum zu entmystifizieren. Die Antwort ist leider nicht besonders sexy: Wir schaffen Interpretationen, die sich ständig weiterentwickeln – keine Fakten.« Hicks erläuterte weiter, dass verschiedene Historiker:innen dieselbe Ansammlung von Fakten – beispielsweise Präsident Lincolns öffentliche Äußerungen zur Idee der Kolonisierung – betrachten und zu ganz unterschiedlichen Schlüssen hinsichtlich der Frage kommen können, ob sich in seinen Reden seine persönlichen Ansichten zu dieser geplanten Neuansiedlung der Schwarzen Bevölkerung außerhalb der USA niederschlugen oder ob er sich einfach einer politischen Strategie bediente, um die gemäßigten Weißen nicht zu verschrecken, die sowohl gegen Versklavung als auch gegen Bürgerrechte für Schwarze waren. »In der Realität«, schloss Hicks, »kann es für beide Auslegungen dieser Frage valide Argumente geben.«[18]

Manche Gegner:innen des 1619 Project allerdings leiteten aus dem Widerspruch einiger weniger Wissenschaftler:innen zu bestimmten Thesen und Argumenten die Berechtigung ab, die gesamte Arbeit als faktisch falsch abzutun, selbst noch, nachdem andere, ähnlich angesehene Wissenschaftler:innen unsere Fakten und Auslegungen verteidigt und bestätigt hatten.

In Wahrheit befasste sich aber kaum eine der Auseinandersetzung rund um das Projekt tatsächlich mit den Fakten. Der Princeton-Historiker Allen C. Guelzo, ein besonders bissiger Kritiker, veröffentlichte diverse Artikel, die dem Projekt vorwarfen, es betrachte »die Versklavung nicht als Makel, den die Gründerväter widerwillig in Kauf nahmen […], nicht als bedauerliche Episode der fernen Vergangenheit, sondern als quicklebendiges Muster, auf dem das komplette gesellschaftliche Leben der USA fußt«. Im Anschluss äußert Guelzo sehr klar, dass seine Ablehnung nicht so sehr daraus entspringt, was das Projekt sagt, sondern vielmehr daraus, wer es sagt: »Es ist von einer besonders bitteren Ironie, dass das 1619 Project seine Verwünschungen gerade hier in den USA ausspricht, vom Thron des höchsten kulturellen Privilegs herab, denn in keiner anderen Gesellschaft wurden versklavte Menschen je so plötzlich in eine derart privilegierte Position versetzt, und das mit Billigung – ja, sogar unter dem Beifall – derer, die sie einst versklavt haben.«[19]

In den Monaten nach der Veröffentlichung entwickelte sich der Widerstand von Attacken seitens der Fachkritik zu Versuchen seitens der Regierung, das Projekt aus den Lehrplänen von Schulen und Universitäten fernzuhalten. Im Juli 2020 brachte der prominente US-Senator Tom Cotton mit dem Saving American History Act einen Gesetzesentwurf ein, der darauf angelegt war, staatlichen Schulen, die das 1619 Project unterrichteten, die Fördergelder zu streichen.[20] Mehr als ein Dutzend republikanisch geführte Staatsregierungen legten ähnliche Entwürfe vor, darunter auch die meines Heimatstaats Iowa und die von Mississippi, dem Heimatstaat meines Vaters. (Beide Vorschläge scheiterten, und auch Cottons Entwurf lief ins Leere.)

Im September 2020, nachdem sich den Sommer über die größte Protestbewegung gegen rassistische Ungerechtigkeit in der Geschichte unseres Landes formiert hatte, rief Präsident Trump, der bereits vorher gegen das 1619 Project gewettert hatte, über ein Dekret hastig einen Zusammenschluss ins Leben, den er 1776 Commission taufte. Die Gruppe stellte innerhalb weniger Wochen einen Bericht zusammen, den Trump dann, als eine seiner letzten präsidialen Amtshandlungen, am Martin Luther King Day präsentierte. Er war ohne jede Mitarbeit von wissenschaftlichen Expert:innen für amerikanische Geschichte verfasst worden und vor allem darum bemüht, die Sonderstellung unseres Landes zu unterstreichen und ein sogenanntes patriotisches Narrativ zu etablieren, das Rassismus und Ungleichheit kleinredet und eine Einheit auf Basis einer Sichtweise beschwört, die Versklavung, Segregation und fortdauernde rassistische Ungerechtigkeiten als Verirrungen einer von Grund auf gerechten und einmalig freien Nation betrachtet.[21]

Die Kommission sah sich mit breiter Verurteilung konfrontiert: 47 Historiker:innen-Vertretungen unterschrieben eine von der American Historical Association aufgesetzte Erklärung, die ihr vorwarf, einen Bericht veröffentlicht zu haben, der »nach zwei halbherzigen und tendenziösen ›Anhörungen‹ innerhalb eines Monats hastig verfasst wurde, ohne jegliche Konsultation professioneller historischer Instanzen der USA«, und dem es nicht gelinge, »dem reichhaltigen und dynamischen Forschungsschatz, der in den letzten siebzig Jahren angehäuft wurde, gerecht zu werden«.[22] Präsident Joe Biden kassierte als eine seiner ersten Handlungen im Amt das Dekret.[23] Trotzdem waren im Juli 2021 alle Vorschriften, die die Ideologie der 1776 Commission durchsetzen und/oder einen Unterricht auf Grundlage des 1619 Project sowie Lehrinhalte zum Thema Rassismus verbieten wollten, in 18 Staaten entweder bereits umgesetzt oder wurden zumindest erwogen.[24] Die republikanische Gesetzgebung in Texas wiederum stellte das 1836 Project vor, benannt nach dem Jahr, in dem Texas seine Unabhängigkeit von Mexiko erklärte, um eine Republik der Versklavung begründen zu können.[25] Das Projekt strebt die Etablierung einer »patriotischen Bildung« in staatlichen Schulen an. Mit anderen Worten: Viele Menschen wünschen sich die Verabschiedung von Gesetzen, die sicherstellen, dass Schüler:innen auch weiterhin die Version amerikanischer Geschichte vermittelt bekommen, die amerikanischen Kindern seit jeher beigebracht wird.

Solche Gesetzesvorlagen machen sehr klar, dass es bei den Auseinandersetzungen um das 1619 Project, wie bei so ziemlich allen Auseinandersetzungen der Menschheitsgeschichte, im Wesentlichen um Macht geht. »Wie sollten wir auch erwarten, dass die Machtstrukturen dieses Landes ein so dunkles und prägendes Kapitel unserer kollektiven Familiengeschichte auch nur anerkennen, geschweige denn sich damit arrangieren würden?«, schrieb der bekannte Historiker Peter H. Wood 1999 in einem Aufsatz über Versklavung und Leugnung. »Schließlich haben uns erst unlängst mehrere angesehene Vertreter der Wissenschaft in Erinnerung gerufen, dass Nationen stets die Kontrolle über das nationale Gedächtnis behalten müssen, weil eine Nation ihre eigene Gestalt nur bewahren kann, indem sie auch das Verständnis ihrer Bürgerinnen und Bürger von der Vergangenheit gestaltet.«[26]

Und Frederick Douglass schreibt 1892 in seiner Autobiografie: »Der Geschichte der Herren hat es nie an Erzählern gemangelt. Den Herren stand alles an Talent und Genie zur Verfügung, um ihre Geschichte zu erzählen, was Reichtum und Einfluss erkaufen konnten. Sie sind ausführlich zu Wort gekommen. Literatur, Theologie, Philosophie, Recht und Gelehrsamkeit waren ihnen bereitwillig zu Diensten, und mochten sie auch verdammt werden, so wurden sie doch nicht ungehört verdammt.«

Unser Part, so formuliert es Douglass, »war es, die Geschichte der Sklaven zu erzählen«.[27]

Nachdem die Sonderausgabe zum 1619 Project erschienen war und die Menschen über das ganze politische Spektrum hinweg darüber diskutierten, begannen wir mit den Überlegungen, ein Buch daraus zu machen. Mit mehr Zeit, das wussten wir, könnten wir eine noch viel umfassendere Version des Projekts umsetzen, mit zusätzlichen Beiträgen, die ein noch breiteres Themenfeld abdeckten. Wir wollten aus den Diskussionen lernen, die nach der Veröffentlichung des Projekts aufgekommen waren, und uns auch der Kritik stellen, die von wohlmeinenden Historiker:innen geübt worden war, sie als Wegweiser für weitere Forschungen nutzen. So wollten wir beispielsweise den Essay über Versklavung und den amerikanischen Kapitalismus um wichtiges Material zu den verfassungsmäßigen Grundlagen von Eigentumsrechten erweitern. Auch eine Passage über die Entwicklung von Präsident Lincolns rassistischen Ansichten in meinem Eröffnungsessay gestalteten wir nuancierter, und in anderen Kapiteln fügten wir Informationen zur Versklavung in anderen Teilen des amerikanischen Kontinents und schon vor 1619 hinzu. Wir ergänzten auch sieben neue Essays von Historiker:innen zu Themen, die von Versklavung im Kontext des Zweiten Zusatzartikels, den Kolonien der ersten Siedler und die Ausdehnung der Versklavung bis hin zu der Frage reichten, inwieweit die Haitianische Revolution die Furcht vor Schwarzen Amerikaner:innen tief in der nationalen Psyche verankerte.[28] Und wir ergänzten, überarbeiteten und verbesserten die ursprünglichen zehn Essays des Projekts beträchtlich und fügten noch einen abschließenden, von mir verfassten Essay zum Thema wirtschaftliche Gerechtigkeit hinzu, der das Buch mit Blick auf künftige Lösungen beschließt. Auch die literarische Zeitachse, die Momente aus der Geschichte der Versklavung, der Schwarzenfeindlichkeit, des Widerstands und des Kampfes reflektiert, wurde erweitert. Sie besteht jetzt aus 36 Werken aus den Bereichen Lyrik und erzählende Prosa, die von einigen der tiefsinnigsten Schwarzen Autor:innen unseres Landes exklusiv für das Projekt verfasst wurden. Sie unternehmen als Chor von Stimmen den Versuch, eine Geschichte der vergangenen vierhundert Jahre zu erzählen. Eröffnet wird das Buch mit einem Gedicht von Claudia Rankine über die Ankunft der White Lion im Jahr 1619, und es schließt mit einem Gedicht von Sonia Sanchez über die Ermordung George Floyds und die daraus hervorgegangene Protestbewegung des Jahres 2020. Außerdem haben wir eine Reihe fotografischer Porträts, manche aus ferner Vergangenheit, andere zeitgenössisch; sie zeigen ganz normale Schwarze Amerikaner:innen, die Nachkommen der amerikanischen Versklavung, die so viel Zeitgeschichte mit Resilienz, Schönheit, Stolz und einer Menschlichkeit durchlebt haben, die viel zu oft unerkannt bleibt.

Wie schon das ursprüngliche Projekt, so stützt sich auch das Buch stark auf historische Forschungen, es ist aber kein Geschichtsbuch im eigentlichen Sinn. Stattdessen kombiniert es Geschichte mit Journalismus, Kritik und literarischer Fantasie, um zu zeigen, wie Geschichte uns heute, in der Gegenwart, noch immer formt, beeinflusst und verfolgt. Dieses wesentliche Merkmal amerikanischen Lebens, die Art und Weise, wie unsere unversöhnte Vergangenheit in unsere Gegenwart hineinwirkt, wurde in den zwei Jahren seit der Erstveröffentlichung des 1619 Project besonders schonungslos offenbar. In dieser Zeit wurde das Land Zeuge der Ermordung von George Floyd, Breonna Taylor und vieler weiterer Menschen durch die Polizei, Schlaglichter auf das lange Erbe staatlich sanktionierter Gewalt gegen Schwarze Amerikaner:innen. Als die COVID-19-Pandemie ausbrach, mussten Schwarze Menschen unverhältnismäßig schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen erleiden, ein Spiegel des fortdauernden Erbes rassistisch geprägter Medizin und eines Missverhältnisses in der Gesundheitsversorgung: Im Jahr 2020 kappte COVID-19 die Lebenserwartung Schwarzer Männer um drei Jahre und machte damit zehn Jahre Fortschritt bei dem Versuch, die Lücke in der Lebenserwartung von Schwarzen und weißen Amerikaner:innen zu schließen, null und nichtig. Hinzu kamen die Anstrengungen von Präsident Donald Trump und seiner Gefolgschaft, 2020 eine freie und faire Präsidentschaftswahl zu sabotieren – bei der eine starke Schwarze Wahlbeteiligung in den Städten mit hohen Schwarzen Bevölkerungsanteilen maßgeblich über das Ergebnis entscheiden sollte. Zusammen mit der Einführung mehrerer hundert Gesetze zur Wahleinschränkung durch republikanisch geführte Regierungen war das nur ein weiterer Beleg für die Überzeugung mancher Weißer, dass Schwarze und andere nicht weiße Amerikaner:innen nicht zur Wahl berechtigt seien, eine rassistische und undemokratische Haltung, die das Land schon seit dem Ende des Bürgerkriegs geißelt. Aber auch das ist ein Nachhall der Vergangenheit: Angesichts solcher Entmündigungsversuche organisierten sich viele Schwarze Wähler:innen, sie überwanden alle Bemühungen, ihr Stimmrecht bei einer Wahl zu beschränken, von der viele fürchteten, sie werde das Land noch tiefer in den Autoritarismus führen, und demonstrierten damit erneut die lebendige und beispiellose Rolle, die Schwarze Menschen beim Erhalt unserer Demokratie einnehmen.

Das Erbe von 1619 umgibt uns, ob wir es nun anerkennen oder nicht. Aus diesem Grund haben wir bei der Zusammenstellung des vorliegenden Buches entschieden, die Geschichte, die es uns darbietet, als Ursprungsgeschichte zu erzählen. Wie alle Ursprungsgeschichten hat auch diese das Ziel, unserer Gesellschaft eine Erklärung für sich selbst zu bieten, eine Ordnung in die Ansammlung von Daten, Taten und Einzelpersonen zu bringen, die ein ganzes Land und seine Bevölkerung erschaffen haben. Dabei argumentieren wir, dass ein großer Teil der amerikanischen Identität, so viele der quälendsten Probleme unseres Landes, unsere niedrigsten Instinkte und die gefeierten, einzigartigen Beiträge zur Kultur unseres Landes nicht aus den Idealen von 1776 entspringen, sondern aus den Realitäten von 1619, aus den Widersprüchlichkeiten und ideologischen Kämpfen einer Nation, die sowohl auf Versklavung als auch auf Freiheit fußt. Die Geschichte des Schwarzen Amerika und die Geschichte Amerikas insgesamt lassen sich nicht entwirren, und alle diesbezüglichen Versuche haben uns nur gezwungen, uns selbst eine Geschichte voller Abwesenheiten, Ausflüchte und Lügen zu erzählen, die uns die Gesellschaft, in der wir leben, nicht zureichend erklären kann und uns zudem der Fähigkeit beraubt, die Gesellschaft zu werden, die wir sein wollen.

Die typische Ursprungsgeschichte der USA beginnt mit den aufmüpfigen Siedlern, die, beseelt von hehren Idealen, ihre Unabhängigkeit erklären und den Anstoß zur Amerikanischen Revolution geben. In dieser Version, so formulieren es die Herausgeber:innen der Anthologie Remembering the Revolution: Memory, History and Nation Making from Independence to the Civil War, »ist die Amerikanische Revolution eine zeitlose Geschichte von der Verteidigung der Freiheiten und Rechte der gesamten Menschheit«. Über Jahrhunderte hinweg fungierte diese Geschichte unter weißen Amerikaner:innen als kraftvoller Quell nationalen Zusammenhalts. »Heute erinnert man sich in den USA hauptsächlich an Erzählungen von einer Revolution unter der Führung einer Gruppe von ›Halbgöttern‹, die alle anderen Siedler überstrahlten, sie in den Krieg gegen die Tyrannei führten und eine demokratische Nation begründeten, in ihrem Trachten ganz darauf ausgerichtet, dass alle Menschen von ihrem Schöpfer mit den gleichen Rechten ausgestattet werden«, so die Herausgeber:innen weiter. »Vor allem anderen ist es die Geschichte der Gründung einer Nation.«[29]

Viele Historiker:innen haben sich von dem Wunsch verführen lassen, unsere Gründungsgeschichte zu lenken und unsere Identität als außergewöhnliche, grundlegend gerechte Nation zu schützen, als freiestes Land der Weltgeschichte. Dem Historiker Gary B. Nash zufolge sind »unsere Erinnerungen an die Vergangenheit häufig gelenkt und manipuliert«.[30] Die Zeit der Revolution bleibt »ein Heiligtum«.[31] »Selbst in weißen liberalen Historiker:innenkreisen ist die Revolution für viele das Letzte, wovon sie lassen wollen«, berichtet Woody Holton, dessen wissenschaftliche Arbeit die Rolle der Versklavung in der Amerikanischen Revolution zum Zentrum hat.[32]

Für Schwarze Amerikaner:innen allerdings klang diese traditionelle Ursprungsgeschichte noch nie nach der Wahrheit. Wir Schwarzen Menschen in den USA begreifen, dass uns die Geschichte eines Landes vermittelt wurde, das es so nicht gibt. Seit Veröffentlichung des ursprünglichen Projekts bekomme ich immer wieder die Rückmeldung, dass sich durch das 1619 Project für viele Menschen Amerika endlich richtig erschließt.

Ana Lucia Araujo, Historikerin an der Howard University, schildert in Slavery in the Age of Memory, dass öffentliche Geschichtsschreibung »trotz aller Bemühungen um Objektivität« immer von der Perspektive der mächtigsten Mitglieder einer Gesellschaft geprägt sei. Und in den USA sei die öffentliche Geschichtsschreibung eben sehr oft »rassifiziert, gegendert und von den Strukturen weißer Vorherrschaft durchsetzt«.[33] Trotzdem wird sie immer noch als objektiv dargestellt. »Geschichte ist die Frucht der Macht«, so formuliert es Michel-Rolph Trouillot in Silencing the Past: Power and the Production of History, und »vielleicht ist das ultimative Zeichen von Macht ja, dass sie unsichtbar bleibt, und die ultimative Herausforderung an sie das Freilegen ihrer Wurzeln.«[34] Indem es das belastete Wurzelwerk unserer Nation freilegt, fordert das 1619 Project uns dazu heraus, neu über ein Land nachzudenken, dessen Einzigartigkeit wir als unbestrittene Wahrheit betrachten. Es fordert uns auf, uns zu überlegen, wer unser gemeinsames nationales Gedächtnis formt und festlegt und wer beziehungsweise was davon ausgenommen bleibt. In Race and Reunion: The Civil War in American Memory schreibt der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Historiker David W. Blight, das »glorreiche Gedächtnis« unseres Landes laufe Gefahr, »von einer noch viel glorreicheren Bereitschaft zum Vergessen überflügelt«[35] zu werden.

Aber nicht alle Menschen in Amerika sind so bereit zu vergessen. Aufgrund unserer speziellen Erfahrungen in diesem Land und weil wir die Bereitschaft zum Vergessen am stärksten zu spüren bekommen haben, neigen wir Schwarzen Amerikaner:innen weit weniger als Weiße dazu, die amerikanische Vergangenheit zu mythisieren. Wie soll man auch eine Revolution verklären, die nur durch die Zwangsarbeit der eigenen Vorfahren überhaupt möglich wurde, die die Freiheit weißer auf der Versklavung Schwarzer Menschen gründete und das selbst nach den Worten Jeffersons – »Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind« – noch ein Jahrhundert lang aufrechterhielt? Als ich vor einigen Jahren über die erneute Segregation an Schulen in Alabama berichtete, habe ich es etwa so formuliert: Die weiße Bevölkerung der USA hat den Wunsch, von einer Vergangenheit befreit zu sein, an die sie sich nicht erinnern will, während die Schwarze Bevölkerung der USA an eine Vergangenheit gekettet bleibt, die sie nicht vergessen kann.[36]

Das ist auch der Grund, aus dem die Erinnerungen und Perspektiven Schwarzer Amerikaner:innen so oft marginalisiert und aus dem übergreifenden Narrativ dieser Nation entfernt werden: Wir fungieren als ungeschönte Mahnmale der Wahrheiten, die sie am meisten belasten. Acht von zehn Schwarzen Menschen wären gar nicht in den USA, wenn es in dieser auf den Idealen der Freiheit gründenden Gesellschaft nicht die Institution der Versklavung gegeben hätte. Unsere Nation verschleiert die Geschichte und redet sie klein, weil sie uns so beschämt. Während der Revolution und in den Jahrzehnten danach bedienten sich Schwarze Amerikaner:innen wie Sojourner Truth, John Brown Russwurm und Ida B. Wells jener Rhetorik der Freiheit und der unveräußerlichen Rechte, wie sie von weißen Siedlern befürwortet und in den Gründungsdokumenten verewigt wurde, um die massive Scheinheiligkeit dieser Nation aufzudecken. 1852, als das weiße Amerika seiner Gründung gedachte, rief Frederick Douglass ihm in Erinnerung, dass Millionen seiner Landsleute unter bedingungsloser Knechtschaft litten:

Was ist euer Vierter Juli dem amerikanischen Sklaven? Ich will es euch beantworten: ein Tag, der ihm mehr als jeder andere Tag im Jahr die eklatante Ungerechtigkeit und Grausamkeit offenbart, deren ständiges Opfer er ist. Eure Feierlichkeiten sind ihm nur Heuchelei; die Freiheit, mit der ihr prahlt, ist ihm ein unseliges Zugeständnis; euer nationaler Überschwang nur aufgeblasen und eitel; euer Jubel ist ihm leer und herzlos, euer Wettern gegen die Tyrannei verbrämte Dreistigkeit; eure Rufe von Freiheit und Gleichheit hohler Spott; eure Gebete und Loblieder, eure Predigten und Dankesreden samt allem religiösen Pomp und Ernst sind ihm bloß Bombast, Schwindel, Betrug, Gottlosigkeit und Heuchelei – ein dünner Schleier, um Verbrechen zu verhüllen, die einer Nation von Barbaren zur Schande gereichen würden. Auf Erden gibt es keine andere Nation, die sich erschütternderer und blutigerer Praktiken schuldig gemacht hätte als das Volk der Vereinigten Staaten zu dieser Stunde.[37]

Während des Zweiten Weltkriegs, als die weiße Bevölkerung sich stolz mit dem Kampf zur Befreiung Europas brüstete, starteten Schwarze Menschen die Kampagne Double V for Victory, um dem Land in Erinnerung zu rufen, dass Schwarze Soldaten, die in einer von den Jim-Crow-Gesetzen geprägten Armee im Ausland kämpften, auch nach dem Sieg über den Faschismus strebten, der ihnen zu Hause begegnete. Und in jüngerer Zeit, als Millionen weißer Amerikaner:innen sich entsetzt darüber zeigten, wie gewaltbereite Aufständische versuchten, in der »ältesten Demokratie der Welt« eine Wahl zu torpedieren, erinnerten ihre Schwarzen Mitbürger:innen sie daran, dass gewaltsame Versuche, die amerikanische Demokratie zu unterwandern, weder neu noch beispiellos sind und dass echte Demokratie in diesem Land erst seit 1965 gelebt wird, als der Kongress nach einem jahrzehntelangen, blutigen und todbringenden Schwarzen Freiheitskampf den Voting Rights Act, das neue Gesetz zum Wahlrecht, verabschiedete.

Unsere Mythen haben uns keinen guten Dienst geleistet. Unter den westlichen Demokratien sind wir die mit der größten Ungleichbehandlung. Wir sperren unsere Bürger:innen am häufigsten ins Gefängnis. Wir erleiden die größte Ungleichverteilung von Einkommen. Die Lebenserwartung in den USA ist niedriger als die der Menschen in den Vergleichsländern. Das 1619 Project möchte diese aktuellen Realitäten erklären und die Mythen anfechten, nicht, um sie niederzureißen oder das Land noch weiter zu spalten, wie es uns von der Kritik vorgeworfen wurde, sondern vielmehr, damit wir endlich das Land werden können, das wir bereits zu sein behaupten. Ob wir uns mit all den hässlichen Wahrheiten nun auseinandersetzen oder nicht, sie beeinflussen uns bis heute. Das 1619 Project ist nicht die einzige Ursprungsgeschichte dieses Landes – davon muss es zahllose geben –, aber es ist doch jene, die uns dabei hilft, die hartnäckigen Ungerechtigkeiten dieser Nation auf eine Weise grundlegend zu begreifen, wie es uns die geläufigere Ursprungsgeschichte nicht ermöglicht. Mit diesem Projekt arbeiten wir auf ein Land hin, das, wie Douglass es formuliert, »die Unabhängigkeitserklärung nicht Lügen strafen soll«.[38] Wenn wir wirklich so eine großartige Nation sind, kann uns die Wahrheit nicht zerstören.

Im Gegenteil: Die Konfrontation mit der Wahrheit macht uns frei dafür, die Gesellschaft zu errichten, die wir sein wollen. Zu der Kritik, die an unserem Projekt geübt wurde, zählte der Vorwurf, wir würden uns zu stark auf die Brutalitäten der Versklavung und das Erbe der Schwarzenfeindlichkeit in unserem Land konzentrieren. Für die Geschichte, die wir beleuchten wollen, ist es aber ebenso zentral, auf welche Weise es Schwarzen Amerikaner:innen gelungen ist, den USA aus den denkbar unmenschlichsten Bedingungen heraus einen Stempel aufzudrücken, zu ihren leidenschaftlichsten Freiheitskämpfer:innen und Kulturprägenden zu werden. Versklavte Menschen und ihre Nachkommen haben eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung unserer staatlichen Institutionen, unserer intellektuellen Tradition, unserer Musik, Kunst und Literatur, ja sogar unserer Demokratie gespielt. Wie sich Schwarze Amerikaner:innen dafür eingesetzt haben, dieses Land dazu zu bringen, seinen selbst gesetzten Idealen auch wirklich zu entsprechen, dient unterdrückten Menschen weltweit als Vorbild. Zu lange haben wir diese einmaligen Beiträge versteckt und übersehen. Sie bilden ein Vermächtnis, auf das jeder einzelne Mensch in den USA stolz sein kann.

Mir kommt eine Geschichte in den Sinn, die der angesehene Soziologe, Bürgerrechtler und Autor W.E.B. Du Bois in seiner soziologischen Studie Black Folk Then and Now von 1939 erzählt. Er berichtet von einem Vortrag vor dem Abschlussjahrgang der Atlanta University, bei dem der Gelehrte Franz Boas die Studierenden mit Geschichten von den Schwarzen Königreichen Afrikas bedachte. Du Bois hatte zu diesem Zeitpunkt bereits in Harvard promoviert, als erste Schwarze Person überhaupt, und unterrichtete an der traditionell Schwarzen Atlanta University. »Ich war so verblüfft, dass es mir die Sprache verschlug«, erinnert er sich. »Ich hatte das alles noch nie gehört, und im Nachhinein wurde mir klar, wie das Schweigen und die Nichtachtung der Wissenschaft Wahrheiten gänzlich verschwinden lassen oder sie sogar unbewusst verzerren kann.«[39]

Du Bois beschreibt hier genau die Erfahrung, die ich gut fünfzig Jahre später an der Highschool machte. Aber vielleicht werden kommende Generationen ja eine andere Geschichte erzählen. Seit dem vergangenen Jahr bietet meine einstige Highschool, nach Jahren ohne jede Unterrichtseinheit zum Schwerpunkt Schwarze Geschichte, das Wahlfach The African American Experience wieder an. Unsere Geschichte bleibt weiterhin optional: Man muss sich eigens dafür einschreiben. Aber die Schüler:innen lesen jetzt im Unterricht die Arbeiten eines Mädchens aus Waterloo, das vor vielen Jahren genau dieses Wahlfach belegt hat und durch die Jahreszahl 1619 für immer verändert wurde.

1619 – EINENEUEGESCHICHTEDERUSA

August 1619

Ein Schiff namens White Lion trifft in Point Comfort ein, einem Küstenhafen der zwölf Jahre zuvor gegründeten englischen Kolonie Virginia. An Bord befinden sich zwischen zwanzig und dreißig afrikanische Gefangene, die bei den Kolonisten von Virginia gegen Vorräte eingetauscht werden. Sie werden dadurch zu den ersten afrikanischen Versklavten der englischen Kolonien und späteren Vereinigten Staaten. Unter ihnen sind ein Mann namens Anthony und eine Frau namens Isabella, die ein paar Jahre später ein Kind bekommt, das William heißt.

Die White Lion

VONCLAUDIARANKINE

ÜBERSETZTVONMELLIERZUAH

Selbst die Dämmerung beginnt, bevor sie begonnen hat,

und doch einigen wir uns darauf,

dass der Beginn dieser Geschichte ihr Ende bereits vorwegnimmt –

weit entfernt vom Ndongo-Reich

kapern zwei englische Schiffe ein drittes,

die portugiesische São João Bautista,

und teilen untereinander die menschliche Beute.

Das erste Schiff,

das in Point Comfort am James River anlegt,

erreicht die Geschichte,

und so erreicht die Geschichte Virginia,

als zwanzig und noch was Negroes

von der White Lion abgeladen werden,

dem Kriegsschiff, das lebendiges Gut mit sich trägt,

Schwarze Menschen in christlichen Namen verzerrt.

Die White Lion, in ihrem Bauch ein Schicksal, von Menschen gemacht, legt an,

während Virginia, das gerade beginnt,

systematisch Land zu verteilen, weiße

Schuldknechte zu Weißen macht,

indem es ihnen Land schenkt,

Weiße zu Weißen macht, indem sie

Lebensmittel gegen die Gestohlenen,

umbenannt in unfreie transatlantische Arbeit, tauschen

(ihr Kummer vergänglich, im Grunde nicht der Rede wert),

zu Herren erklärt, als würde

jeder Schwarze Mensch, als könnte irgendwer,

den eigenen Wert, die Menschlichkeit,

dem Tabak, Zucker und der Baumwolle abtreten,

dem Ertrag des Bodens der Powhatan;

während Virginia sich kolonial schreibt

und das erste Grundbuch zwanzig und noch was

von den entwurzelten zwölf Millionen,

als Eigentum verzeichnet;

darunter Anthony und Isabella, die

aus dem Laderaum der White Lion

in diese Geschichte treten,

ihr erstes Kind gebären

und einstweilen die ersten Schritte

zu »African American«

in Virginia tun – William, so genannt,

frei geboren, sagen sie, doch

während Virginias Verbrechen

weiter durch die Jahrhunderte segeln,

und mit jedem Wellengang Totwasser ertränken, was Anthony und Isabella

William über die Liebe sagten,

in Liebe an in Kimbundu oder Kikongo, als könnten wir aufhören

zu wissen, was wir wissen.

Milton Hannah, der Vater von Nikole Hannah-Jones, Deutschland, 1960er-Jahre.

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DEMOKRATIE

NIKOLEHANNAH-JONES

ÜBERSETZTVONTANJAHANDELS

Mein Vater hisste immer die amerikanische Flagge im Vorgarten. Der blaue Anstrich unseres zweigeschossigen Hauses mochte hin und wieder abblättern, der Zaun, das Treppengeländer oder die Eingangstür konnten manchmal etwas verwahrlost wirken, aber die Flagge wehte immer makellos. Unser Eckgrundstück, das die Regierung für nicht kreditwürdig befand, lag direkt an dem Fluss, der den Schwarzen Teil unserer Kleinstadt in Iowa vom weißen trennte. Am Rand unseres Rasens, hoch oben an einer Aluminiumstange, erhob sich die Flagge, die mein Vater jedes Mal durch eine neue ersetzte, sobald sie auch nur die kleinste Spur von Verschleiß zeigte.