1689-Des Teufels Ränke - Markus Hellebrandt - E-Book

1689-Des Teufels Ränke E-Book

Markus Hellebrandt

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  • Herausgeber: 110th
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Ein kleines idyllisches Dorf im 17. Jahrhundert. Nach dem Tod des alten Großbauern Schmalborn scheint der Teufel höchstpersönlich seine Runde zu machen. Auf dem Hofe seines Schwiegersohns geschehen mysteriöse Dinge, man glaubt den Leibhaftigen dort gesehen zu haben und der Pfarrer wird von einem Rudel Wölfe gerissen. Schnell sind durch einen aufstrebenden Mönch die Schuldigen gefunden und die Hexenjagd beginnt in Form einer heiligen Inquisition. Nur knapp entkommt Tilmann Aichardt, der Schwiegersohn des Schmalborn, dem Tod und er holt sich bei seinem alten Freund, dem Advokaten Elander Schobart, Hilfe. Er soll alles aufklären und die Dorfbewohner von seiner Unschuld überzeugen. Im Rahmen seiner Ermittlungen ereilt ihn ein Verdacht, doch hierzu muss er nach Hamburg. In der Zwischenzeit eskalieren die Dinge im Dorf und Elander kommt der Wahrheit auf die Schliche, die in einer Tragödie endet.

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1689

Des Teufels Ränke

von

Markus Hellebrandt

Impressum

Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2015

EPUB ISBN 978-3-95865-706-9

MOBI ISBN 978-3-95865-707-6

Urheberrechtshinweis

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Kurzinhalt

Ein kleines idyllisches Dorf im 17. Jahrhundert. Nach dem Tod des alten Großbauern Schmalborn scheint der Teufel höchstpersönlich seine Runde zu machen. Auf dem Hofe seines Schwiegersohns geschehen mysteriöse Dinge, man glaubt den Leibhaftigen dort gesehen zu haben und der Pfarrer wird von einem Rudel Wölfe gerissen. Schnell sind durch einen aufstrebenden Mönch die Schuldigen gefunden und die Hexenjagd beginnt in Form einer heiligen Inquisition. Nur knapp entkommt Tilmann Aichardt, der Schwiegersohn des Schmalborn, dem Tod und er holt sich bei seinem alten Freund, dem Advokaten Elander Schobart, Hilfe. Er soll alles aufklären und die Dorfbewohner von seiner Unschuld überzeugen. Im Rahmen seiner Ermittlungen ereilt ihn ein Verdacht, doch hierzu muss er nach Hamburg. In der Zwischenzeit eskalieren die Dinge im Dorf und Elander kommt der Wahrheit auf die Schliche, die in einer Tragödie endet.

Der Autor

Markus Hellebrandt arbeitet im deutschen Auswärtigen Dienst und wechselt alle drei bis vier Jahre das Land, in das er entsendet wird. Bei seinen Reisen durch die Welt hat er bemerkenswerte Dinge erlebt, die zur Quelle seiner Inspiration wurden. Das Werk „1689-des Teufels Ränke“ ist sein bemerkenswertes Romandebüt.

1689-Des Teufels Ränke

Die langen Schatten des Spätsommer-Abends krochen behäbig über die staubige Straße und schlichen sich lautlos die grob verputzte Wand empor. Im unteren Teil war die weiße Farbe des Hauses braun befleckt von der morastigen Erde. Über die Jahrzehnte hatten Regenschauer den Boden vor der Wand immer wieder aufgeweicht. In die zähe Masse peitschten dann die Tropfen mit solcher Macht, dass kleine Fontänen aus Schlamm empor geschossen wurden, an die weiß gestrichene Lehmwand und die schwarzen Holzbalken des Fachwerks klatschten und in dunklen Streifen wieder hinab rannen. Nun, in der Hitze des Sommers, war der Schlamm längst zu Staub getrocknet.

Ein abgestorbener Ast an der Buche vor dem Haus reckte kahle Zweige wie die gichtigen Gliedmaßen des Unheils über den Querbalken der Tür, an der noch ein verdorrter Kranz aus Ähren hing. Die dürren Finger schienen bereit zu greifen, wer als erster über die Schwelle treten würde.

Aber die hölzerne Pforte öffnete sich nicht. Keine knarrenden Scharniere durchbrachen die Stille. Im ganzen Dorf regte sich Niemand. Die Wege waren verwaist. Ein leichter Wind spielte mit einem ersten abgeworfenen Blatt der Bäume, die um die kleinen Häuser und Höfe herum standen. Der Herbst kündigte sich an. Noch war es warm am Tage, aber der kühle Wind, der in den Abendstunden einsetzte, ließ die Frauen ihre Stolas überwerfen und die Männer Westen über die Hemden mit den bauschigen Ärmeln ziehen. Ein weiterer Windstoß fegte durch die Straße. Er packte das Blatt und wirbelte es empor, ließ es steigen wie einen Papierdrachen, bis es auf die Schindeln der Dächer blicken konnte. Dann sank es kreiselnd wieder hinab.

Kein Mensch plauschte nach getaner Arbeit. Kein Geschrei der Kinder war zu hören, die sonst zu dieser Zeit die Gänse am Dorfteich ärgerten und mit viel Gekreische davonliefen, wenn das Schnattern und Flügelschlagen begann. Es fehlte das melodische Kling-Klong, welches sonst aus der Schmiede zu hören war, wenn der Hammer ein rot glühendes Eisen auf dem massiven Amboss bearbeitete, weil der Schmied Beschläge für die hölzernen Räder der Kutschen herstellte.

Das Blatt wurde die Straße entlang getragen. Mal drehte es sich um die eigene Achse, dann glitt es auf den unsichtbaren Schwingen des Windes gerade voran, wie ein Boot, welches auf der Strömung des Flusses treibt. Es passierte das letzte kleine Haus des Dorfes mit dem Reetdach und legte sich sanft auf den erdigen Pfad zu den Wiesen. Über dem Weg schwebte eine staubige Wolke. Zu viel Staub, als das die schwache Brise, die Abkühlung von der Hitze des Tages brachte, diesen in die Luft zu blasen vermochte.

Kurz zuvor hatten viele Füße und ein großer Karren mit zwei Holzrädern, gezogen von einem Ochsen, die lose Erde durchfurcht. Und hier hörte man es. Eine Kakophonie aus Schreien und Rufen, dazu das Knarzen und Klappern des Karrens, der sich weg bewegte vom Dorf, hin zu den abgeernteten Stoppelfeldern.

Als wolle es Teil dieser Gemeinschaft sein, die sich einem unbekannten Ziel näherte, stieg das Blatt wieder einige Meter empor und folgte der Prozession, an der jede Seele des Dorfes teilnahm. Aus der Höhe hätte man den Zug erkennen können. Die Dorfbewohner, jung und alt, liefen am Schluss, eingehüllt in den Staub der voran schreitenden. Ihr Geschrei war nicht fröhlich. Sie erfreuten sich nicht an dem herrlichen Abend. Stattdessen brüllten sie zornig, reckten Fäuste drohend gen Himmel, als wollten sie die Wolken greifen, herab zerren aus ihrer Erhabenheit, und in den Staub werfen, in den sich nun das Blatt wieder senkte. Ab und an bückte sich einer von ihnen, um etwas aus der Ackererde zu klauben.

Ein Stein flog dann in Richtung des Karrens, dem sie folgten, noch beschleunigt durch die finsteren Flüche, von denen er getragen wurde. Meist prallten die Würfe an die hohen Latten, die den Holzkarren einzäunten. Manchmal jedoch flog ein Geschoss durch die Spalten und traf mit einem dumpfen Geräusch auf das Bündel, welches sich auf dem Wagen befand. Dann regte sich das in Lumpen gehüllte Wesen, stöhnte im Schmerz gegen den Abendhimmel. Durch die Bewegung klirrten die Ketten, mit denen die Arme an das Holz fixiert waren.

Der Ochse trabte in stoischer Gleichgültigkeit voran. Das Stöhnen des geschundenen Menschen hinter ihm bewegte ihn nicht. Zumindest empfand er aber auch keine Freude über die Qual, im Gegensatz zu dem Mob, der hinter dem Karren jauchzte, wenn ein Stein sein Ziel fand. Er trottete nur einer Hand voll Menschen hinterher, die mit grimmigen Gesichtern und in besserer Kleidung als das Dorfvolk einem Ziel entgegen strebten.

Ein Mönch mit brauner Kutte und einem schütteren weißen Haarkranz um den kahlen Schädel führte die Dorfgemeinschaft an. Mit beiden Händen hielt er einen goldfarbenen Stab, auf dessen Spitze ein schön geschnitztes hölzernes Kruzifix thronte. Hier, in den flachen Feldern ohne Schatten, erreichten die letzten Strahlen der Sonne noch das Kreuz. Der vergoldete Rand des Kruzifix blitzte in der Höhe und schien alles zu segnen, was an diesem Tag geschah.

Und dann rottete sich eine Gruppe Kinder zusammen. Sie liefen lachend neben dem Karren her, stachen mit Stöcken nach der Kreatur und stimmten ein Lied an. Mit hellen Stimmen, wie ein Chor der Engel, erklang der kindlich-melodiöse Singsang, den sie, erst leise und kichernd, dann immer lauter, wiederholten. Ganz so, wie sie an sonntäglichen Gottesdiensten Psalme über die Güte des Herrn sangen. Doch die Worte, die nun aus ihren kleinen Mündern drangen, ließen das Blut in den Adern gefrieren:

„Brennen, Hexe, wirst du fein

auf dem Scheiterhäufelein

deine Fratze wird zu Glut

aus den Ohren spritzt das Blut

und dein ganzer Wanst verkohlt

wenn Luzifer nach Haus dich holt“

*

In der Stube stand die Hitze. Die Luft war stickig. Es roch schlecht nach Schweiß und menschlichen Ausdünstungen, gemischt mit dem Duft von Weihrauch, der über dem Bett geschwenkt wurde. Viele Menschen drängten sich in dem Raum, zur offenen Türe schauten weitere herein. Brennende Kerzen erhellten die Umgebung nur dürftig. Man hatte sie auf den hölzernen Waschstand gegenüber dem Bett platziert. Die Marmorplatte, auf der die Keramikschüssel mit Wasser stand, bannte ein wenig die Feuergefahr.

In der Mitte des Raumes befand sich das Bett. Vier Pfosten ragten von den Ecken in die Höhe und hielten einen Baldachin aus leichtem Stoff. Einige, der um das Bett herum wartenden Menschen, trugen weitere Kerzen in Haltern aus Zinn mit einer Sammelschale für das abtropfende Wachs. Das flackernde Licht vertiefte die Falten und Pockennarben in manchem Gesicht.

Auf der anderen Seite des Bettes stand der Pfarrer des Dorfes, Ägidius Callsen. Er beugte sich über die Ruhestätte und den zwischen den Kissen liegenden Körper. Sanft öffnete er eine Hand des Alten, in die er ein kleines Kruzifix legte, bevor er die klammen Finger wieder schloss. Leises Murmeln aus seinem Mund gab dem Sterbenden Gottes Segen mit auf den Weg.

„Adalbert, es ist soweit. Der Alte geht“, sagte jemand.

Adalbert Schmalborn blickte auf seinen Vater. Er war bereits ein Leichnam. Seit Tagen hatte er nicht mehr gegessen, seit Wochen nicht mehr geredet. Wie eine Puppe lag er in dem weißen Bettzeug, das Gesicht so blass wie das Totenhemd, welches man ihm bereits übergestreift hatte.

Die Schmalborns waren die reichsten Leute in Weissau. Das bedeutete nicht viel. Weissau war ein kleines Dorf von vierzig Familien. Es lag in einem weitläufigen Tal. Die Felder der Bauern umschlossen das Land um die Siedlung bis hin an den Rand der schwarzen Wälder, aus denen man nachts die Wölfe heulen hörte.

Zweigte man von der Handelsstraße nach Markt-Falber ab und folgte dem schmalen Weg durch den Wald, gelangte man zu Pferde in einer halben Stunde nach Weissau. Doch sehr selten verlor sich ein Fremder an diesen Ort. Der Weg endete im Dorf, es führten nur noch einige Feldwege auf die Äcker und Wiesen. Und niemand außer den Weissauern hatte Grund, dort zu sein.

Wer hier reich war, bedeutete nicht viel in Handelsorten wie Markt-Falber, in denen Händler ansehnliche Vermögen erwirtschafteten. Die Bürger von Weissau jedoch verließen kaum jemals ihren Ort. Und in dieser kleinen Welt war Thaddäus Schmalborn König.

Vor über vierzig Jahren, nach dem Schluss des westfälischen Friedens, der endlich die dreißig Jahre lang von Krieg und Terror geschundenen Lande erlöste, kam er nach Weissau. Damals war der Ort fast menschenleer. Schwedische Truppen hatten grausam gewütet. Nicht einmal ein abgelegener und durch Wälder verborgener Ort wurde von den Söldnerheeren auf der Suche nach Nahrung und Beute verschont.

Auch Schmalborn hatte als Landsknecht gekämpft und auf seinen Reisen manche versteckte Münze erhalten. Die Bürger und Bauern, die er mit seinen Kumpanen abgriff, schwiegen nie lange über die Verstecke ihrer Habseligkeiten, wenn sie erst einmal an einen Stuhl gefesselt waren und die Flammenzungen eines Lagerfeuers an ihren Fußsohlen leckten. Konnten die armen Seelen aber wirklich nichts verraten, weil sie einfach nichts mehr besaßen, schon alles verloren hatten, blieben ihre Füße über dem Feuer, bis es erlosch und nur noch die Knochen aus den schwarzen Stümpfen ragten, während die Landsknechte besinnungslos vom Branntwein auf dem Boden lagen.

Vor allem bei der Einnahme feindlicher Städte wartete reiche Beute in den Bürgerhäusern. Geldbeutel, Silberbesteck und Schmuck wurde gierig in den Knappsack gesteckt. Es gab auch Streit bis zu Mord und Totschlag unter einander, wenn zu viele Soldaten in ein Haus eindrangen. Jeder wollte die wertvollsten Stücke für sich.

Ein großes Geschrei und Gelächter ertönte, wenn die Magd oder die junge Tochter des Hauses in einem Wandschrank oder unter einer Falltüre entdeckt wurde. Denn diese Beute teilten alle brüderlich.

Schmalborn war schlauer als viele andere Soldaten, die sich während der Plünderung besoffen, bevor sie Beute machen konnten. Auch war es ihm genauso wie den anderen Söldnern egal, auf welcher Seite er kämpfte. Er ließ sich von den protestantischen Schweden ebenso anheuern, wie von den kaiserlich-katholischen Truppen. Wer ihm das meiste zahlte, auf dessen Seite tötete er.

So kam Thaddäus Schmalborn mit einer Muskete und einem reich gefüllten Beutel in das verlassene Weissau. Ohne Widerstand übernahm er die besten Felder und einen stattlichen Hof. Einige in die Wälder geflohene Bauern kehrten zurück. Sie gaben ihre eigenen Höfe auf, da sie nun weder Vieh noch Geld besaßen. Sie waren nur mit dem nackten Leben davon gekommen. Schmalborn zahlte sie aus und stellte sie zu gutem Lohn an. Schon bald florierte sein Hof. Es gab keine Zwietracht in der Dorfgemeinschaft.

Aber es gab noch einen zweiten Großbauern, der überlebt und seinen Hof gerettet hatte. Gero Aichardt und Thaddäus Schmalborn halfen sich über die schweren Nachkriegs-Jahre. Sie respektierten und ehrten sich, bis vor drei Jahren der alte Gero starb. Dann übernahm sein Sohn Tilmann den Besitz.

Tilmann Aichardt hatte gute Felder von seinem Vater geerbt. Er war ein tüchtiger junger Mann, half jeder Seele im Dorf in der Not. Daher war er beliebt im Ort. Auch er weilte nun am Bett des Freundes seines Vaters. An der Türe setzte leises Murmeln ein. Die Körper schoben sich zur Seite und gaben eine schmale Gasse in den Raum frei. Dort hindurch schritt eine junge Frau von herber Schönheit.

Die blonden Haare trug sie am Hinterkopf zu einem Zopf geflochten und diesen zu einem Dutt gesteckt. Ihr Kleid war schlicht für eine Dame, aber es war aus Samt gefertigt, mit gebauschten Ärmeln. Tief dunkelblau wie der klare Nachthimmel schimmerte die Farbe, wenn der Schein der Kerzen auf den Stoff fiel. Die Frau erschien den Anwesenden in diesem Moment stolzer und größer als sonst. Der Eindruck wurde hervorgerufen durch die große, tellerartige Halskrause, die sie angelegt hatte. Diese kunstvolle Krause kam zwar langsam aus der Mode und passte nicht zu dem Kleid, aber sie verdeckte ihren Hals und den Ansatz des Busens, den man sonst hätte betrachten können. Die Frau wusste jedoch, was sich ziemte. Schließlich schritt sie soeben an das Sterbebett ihres Vaters.

„Eloise“, empfing sie der Pfarrer leise, „du kommst zur rechten Zeit. Nimm nun Abschied von deinem Vater.“ Bevor sie das Nachtlager erreichte, kreuzte sich ihr Blick mit dem Tilmann Aichardts. Nicht zuletzt um den Wohlstand zu mehren und die Geschicke der Schmalborns und Aichardts weiter zu verknüpfen, hatte Thaddäus Schmalborn seine Tochter Eloise an Tilmann Aichardt verheiratet. Dieser brachte kein Opfer, denn Eloise war eine schöne Frau, zurückhaltend, immer freundlich.

Tilmann fixierte seine Gemahlin. Er liebte ihre Unbekümmertheit und ihr bescheidenes Lächeln, welches er jeden Tag geschenkt bekam. Nun jedoch schritt sie aufrecht und grazil zwischen den Bauernkörpern hindurch, als würde sie schweben. So ernst und düster hatte er sie noch nie erlebt. Die Schatten der Trauer in ihrem Gesicht machten aus ihr ein anderes Wesen. Eine neue Frau, die er noch nicht kannte. Tilmanns Gedanken schweiften ab zu dem Körper unter dem blauen Samt. Er wurde unruhig und versuchte, die Vorstellungen zu verscheuchen. Dies war wohl die unpassendste Zeit und der schlechteste Ort, um Lust zu empfinden.

Er wollte den Satyr von seiner Schulter vertreiben, der ihm Einflüsterungen über Eloises Alabaster-Haut ins Ohr raunte. Daher blickte Tilmann dem neben ihm stehenden Adalbert ins Gesicht. Der Sohn des alten Schmalborn fixierte seinen Vater. Durch das gespenstische Licht war es schwer auszumachen, aber Aichardt fehlte die Trauer im Gesicht des Sohnes. Sicher, Adalbert hatte in den letzten Wochen reichlich Zeit, sich mit dem Unvermeidlichen auseinander zu setzen und sich zu verabschieden. Außerdem lag eine große Verantwortung auf ihm. Er würde schließlich den Hof und alle bescheidenen Reichtümer erben und das Gesinde übernehmen. Aber dennoch fehlte der Schmerz in seinem Antlitz. Da waren keine Tränen.

Eloise legte sanft ihren Handrücken auf die Wange des Vaters. Die Haut strahlte Kälte ab. Keine Reaktion von dem Körper in dem weißen Totenhemd. Auf der anderen Seite des Bettes griff ein Mönch in der Kutte der Benediktiner wortlos an die Schulter des Messdieners, der die Monstranz mit Weihrauch schwenkte. Sebastianus befand sich nur zufällig im Ort. An diesem Tage unterstützte er den Pfarrer Callsen bei der Seelsorge der Trauernden.

Es waren die letzten Augenblicke des Thaddäus Schmalborn.

Eloise umarmte ihren Bruder Adalbert.

Im Raum herrschte völlige Stille. Das Gesicht Thaddäus Schmalborns war gleich einer wächsernen Totenmaske. Man hielt einen Spiegel vor seinen leicht geöffneten Mund. Noch bevor man auf dem Glas einen Hauch seines Atems wahrnehmen konnte, erzitterte der Sterbende leicht. War es nur eine Täuschung, verursacht durch die flackernden Kerzen?

Da schoss der bleiche Körper nach oben, die glanzlosen Augen weit aufgerissen. Ein Schrei aus vielen Kehlen ertönte. Etliche schlugen das Kreuz vor der Brust. Einige andere drängten aus dem Raum und stießen gegen die, die am Eingang warteten. Die Schmalborn-Geschwister standen starr vor Schreck. Tilmann Aichardt konnte seinen Blick nicht von dem Gesicht des Alten lösen.

Schmalborns Unterkiefer hing herab, die blutleeren Lippen waren blau angelaufen. Unter der eingefallenen Haut stachen die Wangenknochen hervor. Dann, ohne Ansatz, griff seine knochige Hand den Jackenärmel seines Sohnes. Das Kruzifix, das ihm vorher in die Hand gelegt wurde, fiel auf die weiße Decke. Adalbert war geschockt. Er machte eine Bewegung, um sich dem Griff zu entziehen. Doch zu aller Erstaunen hielt der Alte fest.

Er drehte seinen Kopf ein wenig, bis er seinem Sohn in die Augen schauen konnte.

„Adalbert, all meine Güter sind nun dein. Ich will es. Gott will es.“

Adalberts Miene hellte auf. Eine Legitimation durch die letzten Worte des Vaters. Und viele Menschen im Raum als Zeugen. Der alte Thaddäus hatte zeitlebens ein geschriebenes Testament abgelehnt. Er hatte immer gesagt: „Egal, wie es um mich bestellt sein wird. Wenn die Stunde kommt, sprech' ich meinen Willen.“

Nun war jeder Makel, den man an einem Erbe ohne letzten Willen hätte finden können, beseitigt. Adalbert lächelte seinem Vater zu und legte seine Hand auf die Faust, die weiterhin verkrampft seinen Ärmel festhielt. Immer noch starrten alle, die im Raum verblieben waren, auf die gespenstische Szene. Da hob der Sterbende den linken Arm. Der knochige Zeigefinger deutete direkt in Tilmann Aichardts Gesicht.

„Du, Sohn meines Freundes Gero, hast bereits mein wertvollstes Gut erhalten. Du bekamst die Hand meiner Tochter Eloise.“ Adalberts Augen verengten sich zu Schlitzen. Was sprach der Alte nun noch den Aichardt an? Unbewusst presste seine Hand die Faust des Vaters, bis die Knöchel weiß wurden. Stirb endlich, schoss es ihm durch den Kopf. Eloise fixierte ihn und ahnte seine Gedanken. Der Mund des Alten öffnete sich wieder.

„Eine letzte Gabe übertrage ich dir, Tilmann Aichardt. Du erhältst meine Wiesen am Tannenbach zu deinem und meiner Tochter Wohle.“

„Was?“, schrie Adalbert außer sich.

Er riss mit Gewalt seinen Arm aus dem Griff.

Der Sterbende sackte erschöpft auf das Kissen zurück. Ein Tumult brach aus. Adalbert begann zu fluchen. Der Mönch schlug das Kreuz vor seiner Brust während der Messdiener sich hinter seiner Kutte verbarg. Ägidius Callsen breitete beide Arme aus und flehte die Menschen an, den Toten zu respektieren. Eloise starrte ins Leere und schien angestrengt nachzudenken.

Ihr Bruder fuchtelte mit den Armen und brüllte: „Die besten Wiesen? Das wertvollste Gut auf diesem Hof? An einen Fremden?“

Zwei der Bauern versuchten den Sohn zu beruhigen. Sie fassten ihn an der Schulter. Adalbert fuhr herum und schlug einem der Männer seine Faust an die Stirn. Der taumelte stöhnend zurück. Mitten im Chaos hauchte Thaddäus Schmalborn seinen letzten Atem und niemand bemerkte es.

*

Ägidius Callsen saß auf einer grob gezimmerten Holzbank unter der Akazie in seinem Kräutergarten. Die Pfarrei, in der er nun schon seit 26 Jahren lebte, war nicht größer als die anderen ein- oder zweistöckigen Fachwerkhäuser an der Straße durch den Ort. Man offerierte ihm, das Haus durch einen Anbau nach hinten zu erweitern, aber Callsen hatte das Angebot abgelehnt. Er deutete nur hinüber zu der kleinen Holzkirche neben seinem Haus und sagte, er könne doch nicht angenehmer wohnen als der Herr selbst. Nein, sein vordringlichster Wunsch war es, den Kirchenbau prächtiger und größer zu gestalten. Außerdem hätte der Anbau seinen geliebten Kräutergarten zerstört und die Akazie hätte gefällt werden müssen, unter deren ausladendem Dach er nun gerade wieder Schatten und Entspannung fand.

Der Pfarrer war klein von Statur aber mit einem gewitzten Geist. Die Menschen liebten ihn wegen seiner Ratschläge, guten Taten und manchmal auch derben Zoten, die die Leute erstaunten und verwirrten, weil sie so unerwartet und aus solch unbedarften Mund kamen, sie aber im nächsten Moment aus eben diesen Gründen zu schallendem Lachen brachten. Callsen sog die Luft geräuschvoll durch die Nase und erfreute sich an dem Geruch von umgegrabener Erde und würzigen Kräutern.

„Der Herr in seiner Güte hat uns wieder einen wunderbaren Tag beschert, findet ihr nicht, mein lieber Sebastianus?“ Der Mönch stand inmitten der Beete und verzog das Gesicht, als hätte er keine Zeit, über solch belanglose Dinge zu reden.

Er war hager, die Falten um seine Mundwinkel zeugten von Strenge gegen sich und Andere. Vielen war es unangenehm, von ihm fixiert zu werden. Manche Bauern behaupteten, seine eisgrauen Augen würden direkt in ihre Seelen starren und ein gleißendes Licht auf ihre geheimsten Gedanken werfen. Viele hofften, er würde bald wieder verschwinden. Erst vor ein paar Tagen war er in Weissau aufgetaucht. Er hatte eine Mission seines Ordens beim Bischof abgeschlossen und befand sich auf der Rückreise zu seinem Kloster. In Markt-Falber traf er auf Ägidius Callsen, der dort Besorgungen erledigte und den wandernden Mönch einlud, ein paar Tage Rast und Erholung in seinem Haus zu finden. Callsen hoffte auf geistreiche Gespräche und einige Neuigkeiten aus dem Umfeld des Bischofs, der einige Tagereisen von hier residierte. Jedoch merkte der Pfarrer recht bald, welche Sorte Gast er sich ins Haus geholt hatte und bereute seine gute Tat insgeheim.

„Dieser Tag und jeder andere, den der Herr uns gewährt, ist gut, denn der Herr hat entschieden ihn so zu gestalten, wie er ist. Und das können wir nicht ändern. Ihr jedoch solltet eure Gedanken auf das Seelenheil eurer Gemeinde richten, denn dort ist Änderung von Nöten“, sprach Sebastianus scharf. „Durch ehrloses Verhalten wurden die Sakramente eines Sterbenden entweiht. Das allein reicht aus, um einige Seelen zur Hölle fahren zu lassen!“, schob er noch nach. Callsen entschied sich, den dreisten Ton seines Gastes zu ignorieren.

„Die Menschen waren erschreckt, wer könnte ihnen ein wenig Aufregung nicht nachsehen“, sagte er beschwichtigend mit einem Lächeln. „Gott hält seine Hand über diesen Ort und seine guten Leute. Und ich bin überzeugt, ein jeder hier wird zu gegebener Stunde Einlass finden in sein Reich.“

Der Mönch verschränkte die Arme hinter dem Rücken und starrte auf die Pflanzen vor seinen Füßen. Dann hob er langsam den Kopf und sagte bedrohlich: „Und was ist mit dem Haberl, diesem kleinen Kind in einem Manneskörper? Wie alt ist er? Fünfzehn oder sechzehn Jahre? Aber zu dumm um auf den Feldern ehrliche Arbeit zu verrichten. Wird stattdessen von den Kindern mit Dreck beworfen und lacht noch dazu. Gottes Zorn ist schon zu Lebzeit über ihn und seine Eltern gekommen. Ich möchte die Sünden gar nicht wissen, die in diesem Hause begangen werden. Schon die Erzählung würde meinen Geist vergiften. Wie kann ein so altes Bauernpaar noch einen Jungen bekommen haben? Kein Wunder, dass dem Balg der Verstand fehlt. Nun, und die schwachsinnige alte Vogtlerin in der Hütte im Wald. Redet wirres Zeug bis anständige Leute Angst bekommen.“ Sebastianus trat einige Schritte auf die Bank zu und hielt erst, als er den Pfarrer fast berührte. Er beugte sich ein wenig hinunter bis seine Augen diesen unangenehmen Blick auf Ägidius Callsen werfen konnten. „Wer weiß denn schon, was die Alte da treibt in ihrer Hütte. Manche behaupten, sie hätten in stürmischen Nächten einen Schatten über ihre Dächer durch die Luft reiten sehen.“

Callsens Miene hatte sich während der Rede des Mönches erheblich verfinstert. So sah man den fröhlichen Pfarrer selten. Er hatte gute Worte für alle in der Gemeinde, auch die Schwachen und Alten. Und ganz besonders die letzten Worte des Sebastianus überschritten eine Grenze, vor der sich der Philanthrop Callsen fürchtete. Er wusste genau um die Gefährlichkeit einer Hysterie. Wenn dieser Mönch nun andeutete, die alte Vogtlerin sei eine Hexe, konnte das im Dorf sehr schnell einen Brand auslösen, der nur mit Blut zu löschen wäre. Nun verengten sich auch die Augen des Pfarrers zu Schlitzen. Der sonst die Seele erhellende, gütig-freundliche Unterton in seiner Stimme war einem drohenden Klang gewichen.

„Agnes Vogt war immer ein ehrbarer Pfeiler unserer Gemeinde bis das Alter und der Tod ihres Gatten sie verwirrten. Und der Haberl hat noch Niemandem etwas zu Leide getan, noch lästerliche Reden gegen andere geschwungen. Schon gar nicht, wenn er sie nur aus den Erzählungen geschwätziger Leute kennt. Manch einer hält sich für die alleinige Krone der Schöpfung und vergisst dabei, dass ein Vater ausnahmslos alle seine Kinder liebt wie sich selbst. Manch einer glaubt, mit Gott in Zwiegespräch zu stehen während er im Innern nur einen Monolog führt.“ Ägidius Callsen war aufgestanden. Der streitbare Mönch hatte genau verstanden, auf wen die Worte des Pfarrers zielten. Er war gekränkt, wurde rot vor Zorn.

„Ihr wollt behaupten, dass Schwachsinnige wie der Haberl und die Vogtlerin so nah an Gottes Seite sitzen wie, sagen wir einmal, der Bischof?“ Wie Pfeile trafen seine Blicke den Dorfpfarrer, dem er mit dieser Frage eine Falle stellen wollte.

Ägidius Callsen hätte beinahe erwidert, dass dies im Sinne der christlichen Lehre sei. Aber sein Verstand war wach genug, um mit der Antwort zurückzuhalten. Der Mönch hatte durch seine Mission gute Kontakte zum Bischof und würde sich nicht scheuen, ihm zukommen zu lassen, dass ein Dorfpfarrer den Kirchenfürsten auf eine Stufe mit Schwachsinnigen stellte. Das war Häresie und konnte Callsen vor ein Inquisitionsgericht bringen. Er zog es vor, überhaupt nicht auf die Frage einzugehen. Stattdessen drehte er sich abrupt um und lief um das Haus nach vorne. Vor der Eingangstüre blieb er stehen und dachte nach. Eine Finstere Stimmung machte sich in ihm breit.

Erst vor 15 Monaten endeten in Markt-Falber zwei Frauen auf dem Scheiterhaufen. Callsen weilte zu der Zeit in der Stadt und sah mit Entsetzen die Entwicklung. Nach den ersten Anschuldigungen eskalierte die Situation inflationär. Die Beschuldigten wurden verhaftet, dann unter der Folter befragt. Zwei Tage später wuchs die Liste mit den Namen der Hexen und Hexern, die bei den Folterungen genannt wurden. Die Geschundenen gaben immer mehr Personen als ihre Komplizen an, um von ihren Qualen erlöst zu werden.

In Markt-Falber gab es zu der Zeit im Stadtrat zwei Männer, die mit den Schriften von Friedrich Spee von Langenfeld und Pfarrer Johann Matthäus Meyfart gegen die Hexenprozesse und Folter bekannt waren. Callsen führte einige Gespräche mit den Räten. Sie waren von der Unschuld der verhafteten Frauen überzeugt, konnten aber die Hysterie in der Stadt nicht beruhigen. Ein öffentliches Partei-Ergreifen für die Hexen hätte sie selbst auf den Scheiterhaufen bringen können. Und so setzten diese Männer gegen ihre Überzeugung eine eilige Verurteilung und Verbrennung der beiden Frauen durch, um die Massen zu beruhigen und weitere Leben zu retten.

Ägidius Callsen wusste nur zu gut, dass derartige Tragödien durch ein einziges, unbedarftes Wort ausgelöst werden konnten. Er fuhr aus seinen Gedanken hoch, riss die Tür der Pfarrei auf und stürmte hinein, um gleich darauf mit einem übergeworfenen Mantel und schwarzem Hut auf dem Kopf wieder zu erscheinen. Schnellen Schrittes lief er die Ausfallstraße entlang. Er wollte zur Hütte der Agnes Vogt, um mit ihr zu sprechen.

Könnte er sie überreden, zur nächsten Messe in die Kirche zu kommen wie in früheren Zeiten, so wäre das ein kleines göttliches Wunder. Niemand käme dann darauf, sie der Hexerei zu bezichtigen. Und bei seiner Rückkehr würde er den impertinenten Mönch zum Dorf hinaus jagen. Durch diese beiden Taten vermochte er den Unfrieden im Keim zu ersticken.

Nach einiger Zeit erreichte der Pfarrer am Waldrand die Abzweigung auf den Pfad, der zur Hütte führte. Der verstorbene Carl Vogt hatte als Köhler im Wald gearbeitet und dort sein Heim errichtet. Außer Callsen selbst ging nie jemand aus dem Dorf zu der Vogtlerin. Man musste fast eine Stunde einem schmalen Pfad durch das Unterholz folgen. Als die Düsternis des Waldes ihn umfing und nur vereinzelt Sonnenstrahlen durch die Laubkronen wie gleißende Speere schossen, merkte der Pfarrer, dass er spät unterwegs war und auf dem Rückweg in die Dunkelheit geraten würde. Zur Umkehr war es noch nicht zu spät. Noch hätte er vor Anbruch der Nacht zumindest den Wald wieder verlassen und die Straße erreichen können. Aber seine Mission war wichtiger.

Er schritt schneller voran. Die Gedanken kreisten um die Frage, in welcher Verfassung er die Alte antreffen würde. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, konnte man in klaren Momenten mit ihr reden, Aber das war schon eine Weile her. Selbst wenn er sie heute zur Messe überreden könnte, wer wusste, ob sie wirklich am nächsten Sonntag im Dorf erscheinen würde. Vielleicht lebte sie auch schon gar nicht mehr und er fände nur ihren verfaulten Kadaver. Durch diesen plötzliche Einfall wurde ihm unbehaglich.

Callsen war schon eine Weile gelaufen. Die Sonne stand noch kurz über dem Horizont, doch hier im Wald hatten sich bereits die Schatten wie eine böse Ahnung über den Pfad des Priesters gelegt.

Es war nicht mehr weit bis zur Hütte und der Wald wurde lichter. Die hochgewachsenen Bäume standen nun weiter voneinander entfernt. Um die Stämme herum wuchsen grüne Farne, die wie ein eigener kleiner Wald wirkten.

Callsen wollte es sich nicht eingestehen, selbst der Rosenkranz, den er nun mit der Hand umklammert hielt, vertrieb nicht den Schauer über die Geschichten von Wesen, die hier hausen sollten. Er selbst hatte an manchem finsteren Winterabend in der einen oder anderen Bauernstube gesessen und mit eindringlicher Stimme von Gnomen, Werwölfen und Schattenwesen geredet. Erst als sich die Familien bleich und zitternd aneinander drängten, lachte er laut auf, nahm seinen Hut und verabschiedete sich. Er verließ die Bauernleute jedoch nicht ohne den Rat, noch einmal die Fensterläden und Türen zu kontrollieren. Auf dem Weg zur Pfarrei bat er wegen seiner groben Späße Gott um Vergebung.

Nun erinnerte er sich an seine eigenen Geschichten. Der einsame Wanderer fühlte sich sehr unwohl. Es war, als sei der ganze Wald ein riesiges, lebendes Wesen, das ihn bereits verschlungen hatte und bald verdauen würde.

In Gedanken versunken folgte er weiter dem Pfad. Unaufhörlich musste er sich umdrehen. Da erstarrte er in der Bewegung und wagte nicht zu atmen. Unter den Farnbüscheln lag ein faulender Ast. Davor standen sie. Eine Versammlung kleiner Wesen, Kobolde oder Nachtelfen. Sie hielten inne und starrten ihn an. Der Pfarrer wollte instinktiv flüchten, den Weg zurückrennen, so schnell es ging. Aber die Kobolde rührten sich nicht. Callsen kniff die Augen zusammen, um die Wesen besser zu erkennen. Sie hatten große Köpfe oder Hüte, er konnte es im Zwielicht nicht genau erkennen. Langsam trat er einen Schritt vor und deutete einen Tritt in Richtung der Gruppe an. Er erwartete helle Aufregung und hielt sich fluchtbereit. Aber die Wesen reagierten immer noch nicht. Der Pfarrer beugte sich nun vor und im gleichen Moment entwich ihm die angehaltene Luft mit lautem Stöhnen. Callsen stand vor einer Gruppe Fliegenpilze, die aus dem Waldboden gewachsen waren.

Kopfschüttelnd setzte sich der Pfarrer auf einen Baumstumpf. Den Schreck musste er erst einmal aus den Gliedern bekommen. Ob Gott nun wohl genau so über ihn lachte, wie er über die Bauern, die er gerne ängstigte? Der Gedanke trieb ein Lächeln in sein Gesicht. Er rieb sich die Waden. In kurzer Entfernung von ihm murmelte ein Bach bei seinem Lauf durch das Unterholz.

Für einen Moment vergaß er die Sorgen und lauschte auf das beruhigende Plätschern, das wie von der Natur in leichtem Takt komponierte Musik in seinen Ohren klang. Plötzlich gefror das Lächeln in seinem Gesicht. Ein entfernter, lang gezogener Ton legte sich über das melodische Murmeln des Wasserlaufs und störte es mit einer Dissonanz, welche die Sinne des Pfarrers alarmierte.

Langsam hob er den Kopf und lauschte in den Wald hinein. Sekunden vergingen, seine Miene entspannte sich wieder. Gerade wollte er sich erheben, da schallte es erneut durch den Wald. Sein Kopf fuhr herum. und Er hörte nun deutlich, was er zuvor nur wahrzunehmen glaubte. Ein schauriges Heulen hallte von den Stämmen und aus den Kronen der Bäume. Es übertönte das Gurgeln des Wassers im Bach und das Rauschen der Blätter im Abendwind. Callsens Augen weiteten sich. Das Heulen kam noch aus einiger Entfernung. Er gab sich einen Ruck, sprang auf und rannte los. Das Heim der Vogtlerin war in wenigen Minuten zu erreichen. Er war entschlossen, dort die Nacht zu verbringen und erst am nächsten Morgen nach Weissau zurückzukehren. Während er rannte - so schnell es sein Alter zuließ - schaute er immer wieder in die Richtung, aus der er das Heulen vernommen hatte. Jedoch geschah nichts weiter. Er sah keine Wölfe. Und dann sah er Licht vor sich im Wald. Dort vorne auf der Rodung stand die Hütte. Aus den Fenstern und der offenen Tür fiel der Schein von Lampen, in denen er die Silhouette der alten Frau erkennen konnte. Sie hinkte gerade auf den Eingang zu mit einem Bündel Holz unter dem Arm. Ein wohliger Schauer lief über seinen Rücken. Er hatte den gefährlichen Wald überstanden und war in Sicherheit. Bis die Sonne wieder am Himmel stand, würde er die Hütte nicht verlassen.

Während er noch rannte, rief er: „Meine liebe Agnes, wie gut dich zu sehen“.

Er lachte vor Erleichterung. Agnes blieb stehen und schaute in seine Richtung. Callsen verfiel nun erschöpft in einen Trab und winkte der Frau zu. Nachdem die Alte kurz zu dem Mann in Schwarz gestarrt hatte, der rufend und mit erhobenen Armen auf sie zu lief, machte sie zwei schnelle Schritte in das Haus und schloss die Türe. Callsen hörte den Riegel mit einem metallischen Geräusch einschnappen. Er blieb verblüfft stehen.

„Aber nein, Agnes, ich bin es doch, der Pfarrer Callsen“.

Es kam keine Antwort auf sein Rufen, aber zwei Arme griffen aus dem Fenster und zogen die hölzernen Läden zu. Callsen rannte in Richtung des zweiten Fensters, doch bevor er es erreichte, wurde es vor ihm zugeschlagen. Einen Moment überlegte der Pfarrer, was er tun sollte. Da ertönte wieder das Heulen. Es klang nun viel näher als zuvor. Das Rudel hatte seine Witterung aufgenommen.

Ein kalter Schauer lief über Callsens Rücken. Flehentlich rief er: „Agnes, um Himmels Willen, öffne die Türe.“ Er pochte und trat gegen das Holz in aufkommender Panik.

Da erklang die Stimme der Alten im Haus: „Verschwinde, du Dämon!“

Dann sagte er eindringlich: „Ich bin der Pfarrer Callsen aus dem Dorf. In Gottes Namen öffne die Türe und lass mich ein.“ In dem Haus wurde ein Stuhl über den Holzboden zur Tür geschoben.

Dann quäkte die Stimme der Alten wieder: „Ha, ein rechter Pfaffe wirst du sein, des nachts durch den Wald zu irren. Ich sah ein schwarzes Wesen aus der Dunkelheit kommen, um meine Seele zu holen. Eine wahre Närrin wäre ich, dich einzulassen.“ Dann begann sie, mit lauter, schriller Stimme eine alte Volksweise zu singen und klapperte mit den Töpfen an der Feuerstelle. Sie bereitete ein Abendmahl, während der Pfarrer um sein Leben bangte.

Mit panischen Augen stierte der Mann nun um sich. Dort drüben, der alte Schuppen neben der Holzhütte. Er rannte hinüber und heulte vor Entsetzen selbst wie ein Wolf. Die Türe war mit einem Schloss gesichert. An der Seite hatte die alte Vogtlerin einen Stapel Holzscheite und Reisig aufgeschichtet. Von da war es möglich, auf das Dach zu gelangen. Er stieg in Windeseile auf die Hölzer, lehnte sich an die Schuppenwand und streckte den Arm nach oben. Da brach das Reisig, welches ihn bis dahin federnd gehalten hatte. Sein Fuß rutschte ein Stück nach unten, traf schräg auf einen runden Holzscheit und der ganze Stapel geriet ins Rutschen. Callsen stürzte zu Boden.

Er erhob sich wieder, am ganzen Leibe zitternd. Dann griff er einen Knüppel und machte einige Schritte vom Haus weg auf den Wald zu. Hier war keine Rettung mehr zu erwarten. Die Alte würde noch zuschauen, wie die Wölfe ihn zerrissen. Wenn er in den Wald lief, konnte er mit Gottes Hilfe einen Baum finden, der zu erklimmen war.

Er rannte los, den Weg entlang, den er kurz zuvor beschritten hatte. Dann brach das Heulen über ihn herein. Aus verschiedenen Richtungen jaulten und knurrten die grauen Jäger. Sie stimmten ihre Taktik ab, trieben ihre Beute voran. Zwischen den Bäumen huschten die Schatten. Callsen rannte um sein Leben. Das Rudel zog den Kreis enger um ihr Opfer. Selbst über seinen keuchenden Atem konnte der Mann das Knacken der Äste im Unterholz hören, die von den Pfoten schwerer Körper in vollem Lauf zertreten wurden.

In seinem Rücken hörte der Mann ein Hecheln. Er warf den Kopf nach hinten, die Augen vor Panik weit aufgerissen. Noch bevor er erkennen konnte wie nah der Wolf hinter ihm war, stolperte er in vollem Lauf und schlug hart auf dem Waldboden auf.

Regungslos verharrte er, wohl wissend, dass es für jede Flucht zu spät war. Er hielt die Augen vor Angst geschlossen, wie ein Kind, welches sich unentdeckt glaubt, wenn es sich die Hände vor das Gesicht hält. Einen Moment passierte nichts. Atemlos lauschte er, während der Angstschweiß durch sein Gesicht rann, das Kinn hinabtropfte und dunkle Kreise in den sandigen Boden malte.

Dann tönte in seinen Ohren ein tiefes, kehliges Knurren. Mit einem Wimmern öffnete er die Augen und starrte in ein gefletschtes Gebiss, aus dem der Geifer tropfte. Dann fiel die Meute über ihn her.

*

Die Holzbohlen-Tür knarrte in den schweren Beschlägen, als sie mit Schwung aufgestoßen wurde. Tilmann Aichardt betrat sein Haus. Er ließ sich auf einen Holz- Schemel neben der Türe fallen und zog die von der Stallarbeit staubigen Lederstiefel mit den großen Stulpen aus. Sorgsam platzierte er sie an der Wand zwischen dem Schemel und der mit Blumenmotiven bemalten Eichenkommode, die diesen Vorraum zur Wohnstube zierte.

Aichardt erhob sich. Die Dielen knarrten unter seinen Schritten, als er sich anschickte, die Tür zur Wohnstube zu öffnen. Da wurde die Eingangstür erneut aufgestoßen. Eloise betrat den Vorraum und legte ein Bündel Reisig-Ruten ab. Sie trug ein grobes Kleid aus Leinen. Um die Hüfte gebunden hing eine Schürze herab, die vom Holzsammeln schwarze und braune Streifen aufwies. Die blonden Haare waren unter einer weißen Haube versteckt. Während Eloise die Türe schloss, kam ihr Mann von hinten an sie herangetreten und legte seine Arme um ihre Hüften.

„Ah, meine Gemahlin. Schön wie eine Madonna“, sprach er.

„Was tust du? Ich bin ungewaschen“, kam zur Antwort, „ich muss noch an die Spindel heut Abend. Der Winter ist nah.“ Seine Hände wanderten nach oben während sie sprach und legten sich über die vollen Brüste der Frau, die sich nur mühsam in das grobe Leinen gequetscht hatten. Sie wand sich ein wenig unter seinem Griff und drehte sich von der Tür weg in den Raum.

„Du willst ans Spinnrad heute? Dann gib Acht, dass dich die Spindel nicht sticht. Die harte Nadel kann leicht in dich eindringen, meine Schöne. Und dann wirst du stöhnen, dass dich die Knechte hören draußen im Hof.“ Er hielt sie immer noch umklammert. Seine Zunge spielte an ihrem Hals.

„Bist du ohne Verstand? Die Magd ist im Hause.“ Sie zierte sich scheinbar, jedoch der Griff ihrer Hand nach hinten in den Schritt des Mannes führte das Spiel weiter.

„Dann nehmen wir sie dazu“, rief Tilmann und lachte.

Er schob seine Gattin zwei Schritte vorwärts, bis ihr Oberkörper auf der bemalten Truhe lag. Dann bückte er sich schnell. Mit einem Griff nahm er ihren Rocksaum auf, der bis an die Fußfesseln reichte. Seine Hand strich die groben Wollsocken entlang, bis seine Finger die nackte Haut der Wade fanden.

„Wie kannst du mich Madonna nennen, jedoch derart mit mir verfahren, du Bock?“

Sie sprach leise und atmete schwer. Ihre Augen waren geschlossen, die Lippen leicht geöffnet. Er fiel auf beide Knie und sein Kopf glitt unter den Rock. Sein Mund sog sich fordernd an ihrem Innenschenkel fest. Ein lautes Stöhnen drang aus ihrem Mund. Die Beine zitterten, der Körper bebte vor Lust. Da erhielt Tilmann unvermittelt einen schweren Schlag gegen den Kopf. Er fiel zur Seite und rollte unter ihrem Rock hervor.

Verblüfft schaute er in das Gesicht von Eloise, das rot angelaufen war. Er konnte nicht sagen, ob die Röte Erregung, Wut oder Scham war. Dann zischte sie: „Es ist nicht Gottes Wille, dass wir uns gebärden wie die Hunde. Bist du des Teufels, dass du mich hier verführen willst?“ Tilmann sprang auf die Beine. Die Enttäuschung machte ihn wütend, genau so wie der Schlag seiner Frau gegen seinen Kopf.

„Du bist mein Weib und ich habe Rechte an deinem Körper“, brüllte er zurück, „Gott selbst hat unseren Bund gesegnet mit seinem Sakrament. Wann haben wir uns überhaupt das letzte Mal vergnügt? Ich weiß es nicht mehr, so lange ist es her. Nicht einmal ein Kind haben wir. Ich brauche einen Erben, aber dir ist die Beichte beim Pfaffen wichtiger.“ Eloise bekreuzigte sich.

„Du versündigst dich. Du setzt unser Seelenheil aufs Spiel für deine Wollust.“

Da stürmte Tilmann an ihr vorbei. Hart stieß er die Tür zur Stube auf. Sie öffnete sich nur halb und prallte gegen ein Hindernis. Es gab einen dumpfen Schlag und einen Schmerzensschrei. Auf dem Boden lag die Magd Maria. Sie rieb sich die Stirn.

„Was ist es mit den Weibern in diesem Haus? Ich sollte dir eine Maulschelle verpassen“, brüllte der Aichardt aufgebracht und stürmte weiter. Maria sprang auf und begann schüchtern an ihren Herrn gewandt: „Aber ich habe nicht gelauscht. Ich wollte...“

Als dieser nicht zuhörte und durch den Raum lief, wandte sie sich an die Frau des Hauses, welche gerade eintrat. Noch bevor Maria weiter reden konnte, klatschte Eloises Hand an ihre Wange. Die Magd schluchzte laut auf. Sie rannte durch den Vorraum zur Tür hinaus auf den Hof. Eloise stürmte durch die Stube an ihr Spinnrad. Sie stieß geräuschvoll mit dem Fuß den Hocker in Position und ließ sich darauf fallen. Viel schneller als üblich trat sie in das Pedal, um das Rad zu drehen. Ihr Mann saß in seinem Schaukelstuhl und hatte die Knöpfe an seiner Weste geöffnet. So verging eine Stunde, ohne das jemand ein Wort sprach.

Aichardt hatte seine Keramik-Pfeife mit dem langen, schlanken Stiel und dem Zinndeckel entzündet. Das Kraut beruhigte seine Nerven. Er blickte in Gedanken dem blauen Dunst nach, der seinem Mund entwich. Durch die in Blei gefassten runden Butzenscheiben fielen scharf gebündelt die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Wie die Schwerter der Erzengel zerschnitten sie die Dunkelheit der Stube.

Aichardts Gedanken drehten sich um die Wiesen am Tannenbach, die er in dieser glücklichen Fügung des Schicksals erhalten hatte. Zufrieden ließ er den Schaukelstuhl leicht vor und zurück wippen. Die brennenden Holzscheite im Ofen an der Wand knackten. Mit grünen Kacheln bedeckt, reichte der Ofen bis unter die Decke der Stube. Er war so groß wie ein Schrank. Zwei Stufen luden ein, an kalten Wintertagen sich zu setzen und die Hitze direkt in den frierenden Körper aufzunehmen.

Leise öffnete sich die Stubentür. Ein Lufthauch, der den Dunst der Pfeife kurz um sich selbst drehen ließ, sog ihn dann in eine Richtung am Kopf des Rauchenden entlang. Durch den Spalt der Türe schlüpfte die Magd Maria herein. Sie hatte aus den Reisig-Bündeln Kehrbesen gearbeitet. Nun huschte sie schnell durch den Raum, um die Besen in die Küche des Hauses zu bringen. Sie wollte nicht auf sich aufmerksam machen. Noch schmerzte die Stirn von der Tür und der Stolz von der Backpfeife der Herrin. Da die Stimmung wieder friedlich schien, kehrte sie aus der kalten Küche zurück und setzte sich leise in der warmen Stube auf einen alten Schemel neben der Tür. Weder Herr noch Herrin hatten Notiz von ihr genommen. Beide waren tief in Gedanken versunken.

Das Klappern des Spinnrades, einige Schritte von Tilmann Aichardt entfernt, war während der vergangenen Stunde eine Untermalung, die sich in ihrer Eintönigkeit unter seine Gedanken legte und sich nach und nach in die Düsternis der Stube einblendete, bis seine Ohren sie nicht mehr wahrnahmen. Nun jedoch verstummte das Geräusch abrupt und ließ ihn aufschrecken. Für Eloise wurde es zu dunkel, um noch weiter an der Bekleidung für den kommenden Winter zu arbeiten.

Sie stand auf und schritt durch den Raum zu ihrem Mann. Dann setzte sie sich auf den mit Kissen gepolsterten Stuhl für die Hausherrin neben ihren Gatten. Ihre Hand legte sich auf die seine. Kein Licht fiel mehr durch das kleine Fenster. Ihr Gesicht lag im Schatten und ihre Augen konnte man nur erkennen, weil sie noch schwärzer waren als das Tuch der Nacht, das ihre Gestalt verstecken wollte. Zusammen mit den blauen Wölkchen seiner Pfeife war auch längst Tilmann Aichardts Zorn verraucht. Er freute sich nun über die Nähe seiner schönen Frau.

„Was denkst du über die Wiesen?“, fragte sie leise und unvermittelt.

Er antwortete ohne zu zögern, da er soeben eine ganze Weile darüber nachgesonnen hatte.

„Nun, die Wiesen sind für alles gut. Ich habe noch nicht entschieden, was ich aus ihnen machen werde. Aber sie mehren unseren Besitz erheblich. Vielleicht sollte ich auch den Bach stauen.“ Der Griff ihrer Hand um die seine wurde stärker.

Sie lehnte sich etwas vor, um näher an seinem Gesicht zu sein und ihren Worten mehr Intensität zu verleihen: „Du solltest die Wiesen nicht annehmen. Es ist nicht Recht, sie zu erhalten.“ Der Schaukelstuhl wippte auf seine Spitze, als sich Tilmanns Körper verspannte.

„Aber Frau, bist du närrisch? Gott hat uns unerwartet und reichlich beschenkt. Wie können wir so etwas zurückweisen?“

„Nicht Gott hat uns beschenkt. Es war mein Vater. Und er war längst nicht mehr bei Sinnen, als er die Worte sprach. Das weiß ein Jeder hier im Dorf.“

Ihr Mann starrte kurz zu ihr herüber, dann begann er zu lachen.

„Immer ist es Gottes Wille und Vorsehung bei dir, selbst wenn der Löffel auf den Boden fällt. Nun geschieht etwas Wunderbares zu unserem Vorteil und du sagst, Gott hätte kein zutun.“

„Nicht alles Wirken kommt von Gott. Manche Worte flüstert der Antichrist in schwache Ohren.“ Sie hob seine Hand von der Lehne des Schaukelstuhls und ergriff sie mit beiden Händen. „Tilmann, ich sorge mich. Es wird Zwietracht geben mit meinem Bruder. Er war sehr erregt an meines Vaters Sterbebett. Auch habe ich geträumt von kommendem Unheil.“ Tilmann lächelte und schüttelte den Kopf.

„Es ist alles rechtens. Dein Vater sprach seinen letzten Willen und alle haben es gehört. Es war der Respekt und die Freundschaft zu meinem alten Herrn, die aus dieser Tat sprach. Und für dich wollte er ebenso das Beste. Er machte ein Geschenk an uns beide. Dein Bruder wird kein armer Mann dadurch. Nein, Eloise, wie könnte ich den letzten Willen eines Sterbenden missachten?“

Resigniert erkannte Eloise, dass ihr Mann nicht umzustimmen war. Sie ließ seine Hand gleiten und stand auf. Mit einem zufriedenen Lächeln um den Mund erhob sich auch Tilmann Aichardt. Ohne die Magd auf dem Schemel zu bemerken, verließ das Paar den Raum, um die Treppe in die oberen Schlafgemächer zu ersteigen. Da pochte es heftig an die Türe. Aichardt hielt auf der Treppe inne und lauschte. Kaum wurde von Maria geöffnet, erklangen aufgeregte Stimmen. Aichardt schritt die Stufen wieder hinab und durchquerte die Stube. Noch bevor er das Vorzimmer erreichte, trat Maria auf ihn zu.

„Herr, schlechte Kunde bringen die Leut'“, sagte sie und senkte den Kopf.

Aichardt trat auf die drei Männer zu, die sich im Hausflur versammelt hatten. Zwei seiner Knechte standen dort, die er am Morgen zur Suche des Ägidius Callsen abgestellt hatte. Die dritte Person war Arndt Hollweg, Tilmanns persönlicher Freund und Vorsteher des Dorfrates. Er packte Aichardt am Arm und sprach: „Wir haben den Pfarrer gefunden. Nachdem wir den ganzen Ort abgesucht haben, sagten einige Kinder, sie sahen ihn zum Dorf hinausgehen. Da er kaum zu Fuß nach Markt-Falber läuft, konnte er nur zur Agnes Vogt in den Wald gegangen sein. Nicht weit entfernt von der Hütte der Vogtlerin haben wir dann seine Überreste gefunden, nur ein paar Meter vom Weg entfernt im Wald.“

Aichardt kniff die Augen zusammen.

„Seine Überreste?“

Die Knechte schauten betreten zu Boden. Arndt schien sich den Anblick noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Ein Schauer lief durch seinen kräftigen Körper und seine Muskeln spannten sich.

„Tilmann, es blieb nicht viel von ihm übrig. Sein Torso war ausgehöhlt und bis auf die Rippen abgefressen. Das Gesicht, es war verbissen und unkenntlich. Er...“ Da ertönte vom Eingang zur Stube ein unterdrückter Schrei, in dem man das Entsetzen über die gesprochenen Worte hören konnte. Eloise war ihrem Mann gefolgt und hatte Hollwegs Bericht gelauscht.

„Was ist geschehen? Hat jemand mit der Alten in der Hütte gesprochen“, fragte sie mit großen Augen. Tilmann Aichardt blickte von seiner Frau zurück auf seinen Freund.

Der sagte: „Wir sind gleich zur Hütte gelaufen und haben die alte Agnes befragt. Sie sprach etwas von einem schwarzen Dämon in der Nacht. Unverständliches Zeug. Sie war keine Hilfe, aber sie weiß ja auch nicht mehr was sie sagt. Wir haben uns dann an der Stelle umgesehen, an der wir den Leichnam fanden. Überall im lockeren Waldboden fanden sich Spuren von Wolfstatzen. Es war ein großes Rudel. Und die Tiere müssen schwer sein.“

Tilmann konnte kaum glauben, was er von dem Mann vor ihm hörte. Er rang nach Worten, dann sprach er: „Der letzte Wolfsangriff in unseren Wäldern fand 1678 statt, vor elf Jahren, als der kleine Moritz Brunner beim Pilze sammeln gerissen wurde. Ich kann mich noch an die große Treibjagd erinnern, bei der wir etliche erlegten. Sogar Freiherr von Algern stellte einige Männer ab und kam höchst selbst zur Jagd. Seit dem hatten wir Frieden in den Wäldern. Woher kommen sie nun?“

Einer der Knechte trat einen Schritt aus dem Rücken von Arndt Hollweg.

„Nun, Herr, sie waren nie weg. In manchen Nächten hört man sie heulen, dass einem das Blut gefriert.“

„Wohl wahr,“ sagte Aichardt, „aber sie hielten sich fern von Behausungen und Menschen.“

Eine kurze Stille trat ein. Jeder hing seinen Gedanken nach. Dann rührte sich der pragmatische Arndt Hollweg wieder. Er schwenkte seinen federgeschmückten Hut mit ausladender Geste und sagte: „Nun, wir veranstalten wieder eine Jagd. Die großen Felle werden sich gut machen in unseren Stuben.“ Dabei lächelte er zuversichtlich.

Kaum schien sich die Stimmung der Männer entspannt zu haben, hob die Frau ihren Kopf, schaute in die Runde und sagte mit düsterer Miene: „Ihr könnt den Teufel nicht jagen. Er jagt euch.“ Tilmann Aichardt trat einen Schritt auf seine Frau zu. Seine beiden Hände ergriffen die ihren.

„Eloise, meine liebe, gute Frau. Es sind Wölfe, keine Dämonen. Sorge dich nicht unnötig um ein paar Kreaturen im Walde.“ Er strahlte sie an, um ihre dunklen Gedanken zu vertreiben.

Sie aber blickte die Männer einzeln an, um dann leise aber scharf zu erwidern: „Ihr solltet besser alle flehen um Gottes Gnade. Die grauen Bestien sind zurück. Sie sind grösser als vorher und zahlreicher, und...“ sie griff an das Kruzifix an der Kette um ihren Hals „...ihr bedenkt nicht, wen sie zuerst gerissen haben: Den Pfarrer. Der Stellvertreter Gottes, unser Schild gegen das Böse, wurde zerfleischt. Ihr glaubt es waren Wölfe, Bestien ohne Verstand. Ich sage euch, es waren Dämonen, von Satan gesandt.“ Sie küsste das Kruzifix und bekreuzigte sich mehrmals. Dann drehte sie abrupt um und verschwand in der Dunkelheit der Wohnstube.

Die Männer standen betreten da. Beide Knechte waren blass im Gesicht und schlichen rückwärts aus dem Haus, ihre Hutkrempen mit den verkrampften Händen an die Brust drückend. Tilmann Aichardt und Arndt Hollweg schauten sich kurz an.

Dann fragte Aichardt: „Wer wird für die Seelsorge der Gemeinde eintreten? Wer soll am Sonntag die Messe lesen?“

Hollweg strich sich über das Kinn und meinte: „Ich werde es mit dem Rat abstimmen, aber was bleibt uns übrig. Morgen frage ich den Mönch, ob er der Gemeinde dienen kann bis wir einen neuen Pfarrer zugeteilt bekommen.“ Tilmann lachte kurz auf.

„Der Gemeinde dienen? Wohl eher wird die Gemeinde ihm dienen.“

„Fürwahr ist er keine angenehme Gesellschaft. Aber unter diesen Umständen ist sein Erscheinen doch eine Fügung Gottes, welche die Dinge hier beruhigen kann“, sann der Dorfrat und fuhr fort: „Kaum auszudenken, wenn vom Teufel gemunkelt wird und wir ohne den Beistand des Herrn wären. Da vertrauen wir uns besser dem Mönch an. Nun geh nach oben und sieh nach deiner Frau, Tilmann. Sie ist fromm und gottesfürchtig. Ihre Gebete werden sicher helfen.“

Sebastianus hatte sich auf dem Stuhl des Pfarrers zurückgelehnt. Seine ganze Haltung brachte die empfundene Selbstzufriedenheit zum Ausdruck. Arndt Hollweg und die beiden anderen Ratsmitglieder, die in dem Raum vor dem Schreibtisch standen, waren ärgerlich darüber, wie unverfroren der Mönch bereits das Haus des verstorbenen Pfarrers übernommen hatte, ohne dass er dazu aufgefordert oder berechtigt worden wäre. Und hier standen die drei Männer nun und mussten dieses dreiste Handeln im Nachhinein mit ihrem Ansinnen legitimieren.

„Ich bin ein Diener Gottes. Wenn man mich in der Not ruft, so werde ich erscheinen“, sprach der Mönch. Erschienen bist du bereits ohne unsere Bitten, aber werden wir dich wieder los, schoss es durch Arndt Hollwegs Kopf. Er zweifelte nun doch, ob es der rechte Schritt war, diesen Fremden zum vorläufigen Bleiben zu überreden.

Sebastianus hob noch einmal die Stimme: „Ich werde für das Seelenheil der armen Sünder in diesem Ort Sorge tragen, auch wenn es keine leichte Aufgabe ist, die der Herr mir überträgt.“ Er hob den Blick und nahm wohlwollend die tiefe Verbeugung der drei Männer an. Nach dieser Ehrbezeugung drehten sie sich um und verließen den Raum.

Gerade, als Arndt Hollweg durch die Türe treten wollte, hob Sebastianus noch einmal die Stimme: „Als neues geistiges Oberhaupt dieser Gemeinde werde ich gleich heute Morgen mit meiner Arbeit beginnen. Gebt im Dorfe Bescheid, dass ich noch vor dem nächsten Sonntag von jeder lebenden Seele eine Beichte erwarte.“

Hollweg hatte sich umgedreht. Er stand noch immer unter dem Türbalken. Seine Augen blickten auf den Mönch, als er sagte: „Mit Verlaub, ist es nicht einfacher, ihr verkündet euer Anliegen über die Kanzel, wenn die Gemeinde ohnehin versammelt zur Messe erschienen ist? Heute ist Donnerstag und jedermann bei der Arbeit.“

Der Mönch setzte sich aufrecht in den Stuhl und sprach mit unangenehm herablassender Stimme: „Verehrter Magister, glaubt ihr nicht, ich kann in Glaubensdingen besser urteilen als ihr? Wie sollte die Gemeinde am kommenden Sonntag die heilige Kommunion empfangen, wenn ihr vorher nicht die Sünden vergeben wurden? Ein jeder Gläubige hat vorher zu erscheinen und mir seine Verfehlungen zu gestehen. Wer heute auf den Feldern ist, kann morgen kommen. Oder am nächsten Tag. Die Familien werden es schon weitergeben.“ Hollweg machte eine erneute Verbeugung.

„Wie ihr wünscht. Ich werde es ausrufen lassen.“ Abrupt drehte er sich auf dem Absatz um und verließ die Pfarrei bevor der Mönch ihn erneut zurückbeordern konnte.

Sebastianus stand auf und trat an das Fenster zum Garten, in dem er vorgestern noch mit dem Pfarrer gestritten hatte. Konnte es wirklich eine unglückliche Fügung des Schicksals sein, dass der Vertreter Gottes von einer Horde wilder Wölfe gerissen wurde? Oder zogen dunklere Mächte die Fäden? Es war das Glück der Menschen hier, dass Gott ihn, Sebastianus, sandte bevor der Teufel Seelen ernten konnte. Durch die bevorstehenden Beichten würde er mehr erfahren über die Machenschaften einiger Bewohner.

Eine Weile stand er so am Fenster und sinnierte.