Ferne Himmel - Markus Hellebrandt - E-Book

Ferne Himmel E-Book

Markus Hellebrandt

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Beschreibung

Markus Hellebrandt arbeitet im deutschen Auswärtigen Dienst und wechselt alle drei bis vier Jahre das Land, in das er entsendet wird. Bei seinen Reisen durch die Welt hat er bemerkenswerte Dinge erlebt. Lustiges und Trauriges, Seltsames und Aufregendes ist ihm widerfahren und es wäre schade, wenn diese Episoden nicht erzählt werden würden (bebildert mit vielen Originalfotos von den einzelnen Aufenthaltsorten).

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FERNE HIMMEL

…von einem, der auszog,

die Welt mit anderen Augen zu sehen.

 

 

Impressum:

Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-279-8

MOBI ISBN 978-3-95865-280-4

 

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Es handelt sich im folgenden Buch um private Ansichten und Äußerungen des Autors, die nicht dem Auswärtigen Amt zuzuordnen sind.

Kurzinhalt

Markus Hellebrandt arbeitet im deutschen Auswärtigen Dienst und wechselt alle drei bis vier Jahre das Land, in das er entsendet wird. Bei seinen Reisen durch die Welt hat er bemerkenswerte Dinge erlebt. Lustiges und Trauriges, Seltsames und Aufregendes ist ihm widerfahren und es wäre schade, wenn diese Episoden nicht erzählt werden würden (bebildert mit vielen Originalfotos von den einzelnen Aufenthaltsorten).

Vorwort

Erinnerungen - manchmal geschieht etwas Seltsames mit mir. Das Glitzern eines Sonnenstrahls im Wasser, der Duft einer wilden Blume am Ackerrand oder auch nur die Stille bei einem Spaziergang an einem Sommerabend rufen längst vergessene Ereignisse in mir wach. Oft geht das Erinnern zurück bis in die früheste Kindheit. Und es sind keine großen, prägenden Erlebnisse, die mir einfallen. Ich erlebe noch einmal das Quietschen eines Rades an einem Spielzeug oder den Geruch von Pappeln an dem Bach damals.

Wegen dieser Erinnerungen, die ich seit vierzig Jahren nicht mehr vor Augen hatte, bin ich mir sicher, dass unser gesamtes Leben, jede Kleinigkeit eines jeden Tages, noch im Gehirn gespeichert ist. Man kann sie nur nicht abrufen. Unsere Hard Disk „Gehirn“ ist riesengroß, aber unser Arbeitsspeicher zu gering.

Ich arbeite auf der mittleren Ebene des deutschen Auswärtigen Dienstes und wechsle alle drei bis vier Jahre das Land, in das ich entsendet werde.

Bei meinen Reisen durch die Welt habe ich bemerkenswerte Dinge erlebt. Lustiges und Trauriges, Seltsames und Aufregendes ist mir widerfahren und es wäre schade, wenn diese Episoden in die dunklen Ecken meines Bewusstseins verschwinden würden.

Als ich mit dem Schreiben begann, zweifelte ich erst, ob ich überhaupt genug Seiten füllen könne. Wunderbarerweise ergab ein Wort das andere und immer mehr Erinnerungen kamen aus dem Dunkel der Zeit zurück. Ich habe nun die wichtigsten und interessantesten Erlebnisse aus meinen Reisen gebündelt und kann auch in zwanzig Jahren noch auf den Schatz dieser bewahrten Gedanken zurückgreifen.

Dies soll vor Allem meiner Tochter Isabella zu Gute kommen. Ich hoffe, dass sie einmal mit Interesse liest, wie es mir in meinem Leben ergangen ist. Ich selbst habe sechsundzwanzig Jahre mit meinem Vater gelebt und weiß doch zu wenig über ihn. Er hat nie viel über seine Vergangenheit erzählt und ich habe nie viel gefragt. Heute bereue ich es und wünschte, ich hätte noch eine Stunde mit ihm. Der Tod ist zu endgültig.

Ein weiterer Grund für die Aufzeichnungen ergibt sich aus meiner Liebe zum Lesen von Reiseberichten und Biographien. Für mich gibt es nichts Spannenderes als Berichte aus anderen Zeiten an anderen Stätten der Erde und wie es den Erzählern dort ergangen ist. Es müssen nicht immer dramatische Ereignisse sein. Das alltägliche Leben und die einfachen Menschen sind genauso faszinierend.

Wie sah das Leben vor 150 Jahren für einen nepalesischen Sherpa aus? Wie verbringen Indianer im brasilianischen Regenwald ihren Tag? Darüber erfahre ich viel lieber etwas als über das Leben von Königen und Feldherren.Daher glaube ich, dass für Menschen mit ähnlichen Interessen meine Erzählungen über den Alltag in verschiedenen Ländern der Erde nicht uninteressant sind.

Ich sehe davon ab, zu viele Details über Stätten, Gebäude und dergleichen zu beschreiben. Wie zum Beispiel die Geschichte der Tempel von Angkor Wat oder die Grundlagen der Voodoo Religion. Bei Interesse kann der Leser sich diese leicht im Internet selbst aneignen. In dem vorliegenden Buch versuche ich eher, Interesse zu wecken. Ich will beschreiben, wie ich die Welt sah. Was ich zu der Zeit empfand, Stimmungen, Begegnungen und Erlebnisse.

Sowjet-Union

Lingerie und Kakerlaken (1988 - 1989)

Es war ein Abenteuer, in das ich frohen Mutes startete. Ich hatte damals noch nichts von der Welt gesehen. Mein einziger Auslandsaufenthalt war ein Jahr in Paris. Aber Frankreich würde ich eher nicht als exotisch und abenteuerlich bezeichnen. Nun jedoch trug mich eine Lufthansa-Maschine direkt in das pulsierende Herz des Feindes. 1988 war die Sowjetunion zwar im Niedergang begriffen, aber für uns Kinder des kalten Krieges immer noch das Zentrum des Bösen. Dieses Reich war verschlagen und gefährlich. KGB-Spione in jedem Hauseingang, unter jedem Torbogen. Jedes lächelnde Mädchen eine Agentin. Diese Zustände glaubte ich zu erwarten, als ich in Moskau eintraf. Wie konnte ich auch ahnen, dass die Realität noch extremer war? Bewohner der Stadt aus nicht-kommunistischen Ländern wurden in Ghettos aus hohen Plattenbauten untergebracht. So wurde die Überwachung vereinfacht und ein Kontakt zur Bevölkerung erschwert. Vor jedem Hauseingang waren Polizisten postiert, Tag und Nacht. Offiziell waren sie dort zu unserem Schutz. Aber wir alle wussten, dass jedes Verlassen des Hauses aufgezeichnet wurde. Dann setzte die weitere Überwachung ein. Wir konnten sicher sein, bei jedem Schritt unsichtbar beobachtet zu werden. Das war keine Einbildung auf Grund der Geschichten, die man uns erzählte. Von Zeit zu Zeit machte zum Beispiel der Polizist vor unserem Haus mit einem Augenzwinkern eine kurze Bemerkung. Etwa zu einem Kollegen über die Anzahl der Wodkas, die dieser am Vorabend in einer zwielichtigen Bar konsumiert hatte. Wir waren dann ziemlich perplex und überlegten, woher er das wissen konnte. Jedes kleine Vergehen gegen die zahlreichen Regeln und Verbote wurde irgendwo registriert. Brachte Jemand eine Russin mit nach Hause, tauschte man Schwarzgeld oder kaufte man antike Samoware oder Ikonen, schwebte man in Gefahr. Bekam die deutsche Seite Wind davon, wurde man mit dem nächsten Flug nach Hause geschickt. Denn etwas Verbotenes tun bedeutete, erpressbar zu sein. Die Russen hingegen wussten, dass wir bei einer Ablösung viel Geld und die Chance auf weitere Auslandseinsätze verspielen würden und erbaten sich Gefälligkeiten, wenn sie von einer Meldung der Verfehlung absahen. Sagte man bei einer solchen unbedeutenden Informationsbeschaffung erst einmal zu, steckte man ganz tief im Schlamassel. Denn dann gingen die Erpressungen erst richtig los. Der Kraken-Arm des Geheimdienstes schlang sich um den Hals und drückte zu. Man wurde in immer zwielichtigere Aktionen gedrängt. Und ehe man sich darüber bewusst wurde, war man in Fälle verwickelt, die das deutsche Strafgesetz als Landesverrat mit bis zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe ahndet.

Man belehrte uns, auch in den eigenen vier Wänden nicht über dienstliches Geschehen zu reden und überhaupt auf jedes Wort zu achten. Es war eine Tatsache, dass die uns zugewiesenen Dienstwohnungen in allen Räumen mit Abhörgeräten gespickt waren. Selbst auf der Straße sollten wir auf unsere Worte achten, da wir mit Richtmikrofonen aus der Ferne belauscht werden konnten. Dass natürlich alle Telefonate aufgezeichnet wurden, braucht hier kaum noch der Erwähnung. Selbst im Botschaftsgebäude war das gesprochene Wort nicht sicher. Für vertrauliche Gespräche, die die russische Seite auf keinen Fall mitbekommen sollte, existierte eine abhörsichere Kabine, die hermetisch verschlossen wurde. Aus diesem Raum, mit einem Tisch und einigen Stühlen, drang kein Geräusch nach außen. Auch Richtmikrofone versagten hier. Man kann nun, glaube ich, nachvollziehen, dass wir nach einiger Zeit eine regelrechte Paranoia aufbauten. Ironischer Weise war es meine Aufgabe, dieser Paranoia entgegenzuwirken.

Zu der Zeit wurde ein neues Botschaftsgebäude errichtet. Die Arbeiten wurden natürlich von russischen Handwerkern ausgeführt und wir fragten uns erst gar nicht, wie viele KGB-Angehörige unter den Arbeitern eingeschleust wurden. Ich war damals noch nicht beim Auswärtigen Amt tätig, sondern gehörte zum Bundesgrenzschutz, der heutigen Bundespolizei.

Wir landeten in Dunkelheit und Kälte. Gerade so, wie es meine naive Vorstellung vorausgesehen hatte. Zusammen mit meinen beiden mitreisenden Kollegen bahnte ich mir den Weg durch die Einreisekontrollen, bis wir schließlich unseren Abholer fanden. Die Fahrt durch die Stadt drückte meine Stimmung etwas. Alles sah irgendwie fremd und abweisend aus. Ich überlegte, was das Stadtbild in Köln, Hamburg oder München anders erscheinen ließ und plötzlich fiel es mir ein: Es gab keine Reklamen. Die bunten Poster, die uns mit lachenden Gesichtern um unser Geld betrügen sollen, fehlten. Es gab keine fluoreszierenden Buchstaben aus Neon-Röhren, die den Schnee in kräftigen Farben schillern ließen. An Bushaltestellen fehlten die leuchtenden Kästen. Ich konnte es kaum glauben, aber ich vermisste die westliche Werbung.

Ich wurde mit mehreren Kollegen in einer Wohnung untergebracht. Jeder hatte sein Zimmer. Es gab einen Aufenthaltsraum und eine Gemeinschafts-Küche. Die Wohnungsausstattung war karg, aber erträglich. Unerträglich fand ich die Kakerlaken. Sie waren überall. Das Hauptquartier befand sich in der Küche, von wo aus sie auf Erkundung in alle Zimmer liefen. Ich kaufte das teuflischste Gift, das ich für Rubel erstehen konnte und legte mehrere Sperrgürtel des weißen Todes in den Flur vor meine Zimmertür. Es diente eher meiner persönlichen Beruhigung, denn Kakerlaken sind nicht so sehr an die Horizontale gebunden wie wir. Sie konnten auch über die Decke in meinen Raum eindringen.

Wir überwachten die Bauarbeiter in Schichten. Einer der daheim Gebliebenen kochte das Essen für die zurückkehrende Schicht. Ich erinnere mich noch gut an die Vorfreude auf eine Gans, die wir einmal auf einem Markt fanden. Ein solcher Festschmaus war selten. Meist gab es, wie im folgenden Kapitel über Usbekistan noch ausführlicher erläutert, Schaschlik. Unser bester Koch, Birger, blieb daheim. Ein Kollege schob eine Doppelschicht für ihn, damit er sich voll auf die Gans konzentrieren konnte. Als wir von der Arbeit kamen, roch die ganze Wohnung nach köstlichem Braten. Wir brachten schnell noch eine Schüssel Kartoffeln auf den Tisch, dann trug Birger das goldgelbe Geflügel auf einer Platte herein. Wir schauten mit großen Augen wie Kinder auf die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum. Die Platte wurde wie ein Ornament in die Mitte des Tisches gestellt und von allen bewundert. Birger nahm ein Messer und eine Gabel, um das köstliche Fleisch anzuschneiden. Es knirschte knusprig als das Messer die Haut anritzte. Da lief aus dem Braten eine Kakerlake hervor, rannte zum Tischrand und verschwand. Die andächtige Stille wurde nicht unterbrochen. Wortlos legte Birger das Besteck wieder zur Seite, nahm die Platte auf und kippte den Braten in den Abfalleimer. Der kurze Moment, als die Gans aus dem Ofen geholt und in der Küche abgestellt wurde, hatte der Schabe gereicht, um in das Schlaraffenland einzudringen und uns ein weiteres Abendmahl mit Brot und knorpeldurchsetzter Wurst zu bescheren. Jeder von uns musste noch einige Male an dem Abfalleimer vorbei laufen und warf verstohlen einen wehmütigen Blick auf die Überreste der Gans, die uns mit ihrem köstlichen Duft lockte wie der Ruf der Sirenen den Odysseus. Bevor es jedoch soweit kam, dass wir mit schwarzer Krawatte und Blumen in der Hand unseren Abschied an dem Eimer zelebrierten, erbarmte sich einer von uns und trug den Abfall hinaus.

In der Nacht gehörte die Küche den Schaben. Wenn man die Tür öffnete und das Licht anschaltete, bewegte sich der ganze Raum. In alle Richtungen rannte dieses lichtscheue Getier. Sie schienen auch unzerstörbar zu sein. Manchmal musste man zwei- oder dreimal auf eine Schabe treten, bis endlich der Chitin-Panzer mit einem lauten Knacken zerbrach und sie sich nicht mehr bewegte. Mich schaudert noch der Gedanke an die Nacht, als ich mit einem Kollegen die Küche betrat und wieder einmal alles um uns herum wimmelte. Eine Kakerlake saß auf dem Rand einer der zwei Pfannen, die auf dem Herd standen. Ich wollte eigentlich den Raum schnell wieder verlassen, bevor ich den Schaben die Tür zu meinen Träumen öffnete. Doch als mein Kollege den Herd einschaltete, verfolgte ich das Experiment gebannt. Die Pfanne wurde warm und die Kakerlake setzte sich langsam in Bewegung, den Metallrand umrundend. Je mehr die Hitze stieg, desto schneller bewegte sich das Tier, immer im Kreis rennend. Wohin sollte sie auch? Das Fett in der Pfanne brutzelte schon und am Außenrand der Pfanne leckten die Gasflammen. Wir schauten ungläubig und erstaunt auf den Lauf in irrsinniger Geschwindigkeit, den das Insekt aufführte. Dann schossen unter dem Panzer zwei Flügel hervor und mit einem großen Satz sprang die Kakerlake vom heißen Rand der Pfanne, nur um in der zweiten Pfanne zischend zu verbrutzeln. Das Ganze war so eklig anzusehen, dass ich anstelle befürchteter Alpträume erst gar nicht einschlafen konnte. Bis zu diesem Tag war mir nicht einmal bewusst, dass Kakerlaken fliegen können. Vom ethischen Standpunkt war diese Aktion sicher zu verurteilen. Aber wir befanden uns in ständigem Krieg mit diesen kleinen Ungeheuern. Und im Krieg geschehen Scheußlichkeiten.

Hatte man im Mittelalter den Hexenhammer gegen Zauberinnen, so benutzte Birger den Schabenhammer. Der war aber kein Buch, sondern ein metallener, massiver Fleischklopfer. So manches Mal sauste er in der Küche auf eine vorwitzige Kakerlake herab und übertönte mit seinem Donner gnädig das Knacken des Insekten-Panzers. Mich packte oft der Ekel, wenn ich den Kühlschrank öffnen wollte. Aus der Spalte zwischen Tür und Gefrierfach ragten zwei- oder drei Fühlerpaare hervor und sondierten die Umgebung. War man unaufmerksam und öffnete die Tür, liefen die Schaben pfeilschnell und unaufhaltsam in den Innenraum zwischen die Lebensmittel. Immer wieder fand man erfrorene Tiere hinter der Butter.

Wenn wir in Moskau unterwegs waren, bereitete es oft Schwierigkeiten, ein Taxi nach Hause zu finden. Die Fahrer waren sehr wählerisch. Immer musste man erst fragen, ob es dem Chauffeur recht war, in die gewünschte Richtung zu fahren. Das war es oft nicht und er ließ den Bittsteller am Straßenrand stehen. Vor Allem bei eisiger Kälte im Winter oder in strömendem Regen wirkte sich das sehr unangenehm aus. Und je später die Stunde, desto weniger Chancen hatte man, überhaupt auf ein Taxi zu treffen. Da es so auch allen anderen Bewohnern der Stadt erging, hatte sich ein allgemeiner Service entwickelt. Einfach jeder, der sich ein paar Rubel verdienen wollte, sammelte die Leute am Straßenrand ein und brachte sie nach Hause. Das beschränkte sich nicht nur auf Privatfahrer in ihren kleinen Ladas und Wolgas. Während meiner Zeit sind Kollegen mit Tanklastern vorgefahren oder aus einem Krankenwagen ausgestiegen. Geld konnte halt jeder gebrauchen.

Das Essen in Moskau war ideal für Menschen, die erheblichen Gewichtsverlust beabsichtigten. In den Supermärkten musste man kaufen, was gerade vorhanden war. Ich habe erlebt, dass ein ganzes Geschäft fast ausschließlich Fischkonserven anbot.

Schon eine Stunde in einem lokalen Supermarkt gewährt tiefe Einblicke in die Gewohnheiten, Hierarchien und Abläufe einer Gesellschaft. Meine Beobachtungen über die Einkaufsgepflogenheiten der Russen will ich im folgenden Abschnitt erzählen. Unter der Lupe der Ironie blähen sich die Ereignisse etwas auf, aber die meisten meiner Einkaufstouren verliefen tatsächlich so oder ähnlich: Ich erinnere aber daran, dass die nachfolgend beschriebenen Erfahrungen im Moskau des Jahres 1988 gemacht wurden. Ob der Einkauf heute noch so abläuft, entzieht sich meiner Kenntnis.

Shopping in Moskau. Der grundlegendste Unterschied zwischen Einkaufen in Moskau und anderen Ländern, in denen ich mich aufgehalten habe, ist wohl folgende: In Moskau geht man nicht zum Einkauf, wenn man etwas braucht, sondern wenn es etwas gibt. Erwägt man, längere Zeit in dieser Stadt zu verbringen, sollte man schon seine Wohnung nach taktischen Gesichtspunkten in Bezug auf die Einkaufslage auswählen. Ideal ist eine etwas erhöhte Unterkunft, vielleicht im dritten Stock, mit Sicht auf die Eingangstüre eines Supermarkts. Das hat in etwa den Effekt eines Hochsitzes am Waldrand, den der Jäger nutzt, um sich einen Hasenbraten zu organisieren.

Supermarkt

Man sollte jede Stunde einmal einen Kontrollblick tun. Bemerkt man dabei, dass sich eine Menschenmenge vor der Tür auf der Straße staut, darf man keine Zeit verlieren. Man sollte sofort das am Wohnungseingang deponierte Geld und das Einkaufsnetz greifen und die Haustreppe hinunter stürzen. Um den Zeitverlust zu minimieren, darf man daher auch nicht höher wohnen als im vierten Stock. Die Zeit, die man braucht, um noch ein weiteres Stockwerk zurückzulegen, kann schon über Erhalt der Ware oder totaler Enttäuschung entscheiden. Die Schlange vergrößert sich derweil in der gleichen Geschwindigkeit wie die Lippen von Rihanna nach zärtlicher Berührung der Fäuste von Chris Brown. Schafft man es in kopfloser Panik über die Straße, ohne von einem Lada überrollt zu werden, hat man seinen Platz gesichert. Aus dem gegriffenen Einkaufsnetz mit Notausrüstung holt man dann Tolstoi’s Krieg und Frieden und liest es zur Hälfte durch, bis man an der Reihe ist. Manchmal spricht sich sogar herum, worauf man eigentlich wartet. Wer aber, wie ich, nur die russischen Worte für Automobil und Strip Club kennt, wird wohl noch lange Zeit nicht wissen, warum er hier steht. Denn, dass im Supermarkt gerade Automobile im Angebot sind, ist eher unwahrscheinlich. Und meine Erfahrungen mit russischen Supermarkt-Kassiererinnen lässt mich nicht auf einen Striptease hoffen. Irgendwann kann es dann passieren, dass man vor einem leeren Regal steht und nach Hause geschickt wird. Die Hälfte der russischen Supermarkt-Kunden wissen nicht einmal, was sie nicht bekommen haben. Es bleibt nur die Leere, dass etwas wirklich Wichtiges verpasst wurde. Und der Entschluss, sich nächsten Dienstag, nachts um drei Uhr, prophylaktisch vor die Ladentür zu stellen. Vielleicht hat man Glück. War man weit genug vorne in der Reihe, kann man seine Beute greifen. Meist hofft man auf Lebensmittel. Hat man zwei Paprikaschoten erbeutet, macht man sich noch im Laden die ersten Gedanken darüber, wie man diesen seltenen Schatz so zubereitet, dass man am längsten davon hat. Oft aber stehen die Menschen nicht um Lebensmittel an. Dann kommt man an ein Regal, in dem Schachteln gestapelt liegen. Da es sich meist um einen grauen Pappkarton mit kyrillischen Schriftzeichen handelt, der rundum so verklebt ist wie der Mund meiner Tochter nach einem Honigbrot, weiß man immer noch nicht, wofür man seine Rubel ausgibt. Erst wenn man zu Hause mit dem Messer den Karton aufritzt, weiß man, ob sich der Tag gelohnt hat. Hm, ein Wecker aus Baku. Den stelle ich gleich neben die Wecker aus Sotchi und Irkutsk. Ich betrachte so etwas eher sportlich als die russische Variante eines Überraschungseis für Erwachsene. Der Check-Out an der Kasse verläuft in der Regel unspektakulär und emotionslos. Man sucht sich eine von zwei geöffneten Kassen aus und stellt sich ans Ende der Menschenmenge, die sich auch dort gebildet hat. Sein Paket haltend, liest man den Rest von Krieg und Frieden. Nachdem der Kunde vor einem bezahlt hat, starrt man auf das Schild, dass von der Kassiererin auf das Warenband gestellt wird. Pause, Urlaub oder Todesfall in der Familie - ganz egal was dort in kyrillisch als Grund für den überstürzten Aufbruch der Kassiererin genannt wird: Das Ereignis trat so plötzlich auf, dass es unmöglich war, die anstehenden Kunden vorher über die Schließung der Kasse zu warnen. Man läuft also wieder in den rückwärtigen Teil des Supermarktes, um sich an der zweiten Kasse hinten anzustellen und hofft, dass man diese erreicht, bevor der Laden geschlossen wird, während man sich noch überlegt, für den nächsten Einkauf die drei Bände des Herrn der Ringe in das Einkaufsnetz zu stecken. Und hier gelangen wir an eine weitere Besonderheit in der Prozedur des russischen Einkaufs. Will man beispielsweise einen Zirkelkasten für sein Kind kaufen, läuft das folgendermaßen ab: Man tritt vor die Verkaufs-Theke, unter deren Glas man das Objekt der Begierde entdeckt hat und versucht, eine Verkäuferin auf sich aufmerksam zu machen. Dies ist nicht ganz einfach. Ich hatte oftmals den Eindruck, in solchen Läden würden nur Taubstumme mit erheblicher Sehbehinderung eingesetzt. Da auch viele andere Personen dort stehen und ebenfalls hoffen, die Gunst einer Verkäuferin zu erlangen, geht es zu wie im Zirkus. Es wird gerufen, gepfiffen und Taschentücher geschwenkt. Hat die Verkäuferin lange genug durch die Kunden hindurchgesehen, um dann doch jemanden zu erwählen, deutet dieser auf das gewünschte Objekt, das vor ihn zur Begutachtung auf den Tresen gestellt wird. Möchte man trotz der Möglichkeit der Prüfung das kommunistische Qualitätsprodukt erwerben, gibt man es wieder zurück. Die Verkäuferin verstaut es wieder an den Ort, von dem es kam. Dann dauert es eine Weile, aber schließlich bekommt man einen Bon in die Hand gedrückt. Mit diesem Bon stellt man sich in eine weitere Schlange, diesmal an der Kasse. Hat man endlich gezahlt, geht man mit dem gestempelten Gutschein wieder an den Tresen und der Balztanz um die Verkäuferin beginnt von Neuem. Der Bon wird dann gegen die Ware getauscht und mit etwas Glück schafft man es vor Einbruch der Nacht nach Hause.

Die Arbeit auf der Baustelle war für mich damals wie das Herumtollen auf einem Abenteuer-Spielplatz. Ob in den Kellern oder auf den Dächern der Rohbauten, überall konnte man kriechen, klettern und herumlaufen. Oft wurden auch junge Arbeiterinnen oder Studentinnen aus Leningrad auf die Baustelle beordert. Dann überwachten wir die Arbeiten mit großem Interesse. Besonders im heißen Sommer, wenn die Mädchen es mit der Arbeitskleidung nicht so genau nahmen. Wegen der Hitze legten sie schon einmal Jacken, Blusen oder T-Shirts ab und wir stellten erstaunt fest, dass man auch in Russland sehenswerte Lingerie und Bikini-Oberteile finden konnte. Ich fragte mich dann immer, ob solche kleinen Strip-Einlagen nicht vom KGB inszeniert waren, um unsere Aufmerksamkeit auf die Probe zu stellen. Vielleicht hoffte man, wir würden die zwei tätowierten, grobschrötigen Georgier vergessen, die im Keller Leitungen verlegten, wenn sich eine Etage höher die Olgas und Swetlanas in Spitzen-BH’s lachend mit dem Schlauch abspritzten und dann in der Pause die feuchtglänzenden Körper in der Sommer-Sonne trockneten. Diese Absicht war jedoch einfach zu durchschauen. So bewirkte das Herumtollen der Mädchen nur, dass wir in die entlegensten Winkel der Baustelle ausschwärmten und den Arbeitern dort mit erhöhter Aufmerksamkeit auf die Finger sahen.

Neben der versuchten Ablenkung durch weibliche Reize hatten wir auch mit den Unbilden der Witterung zu kämpfen. In der Tau-Periode nach dem Winter luden unter Schlamm verborgene Gulli-Öffnungen zu einem unfreiwilligen Besuch der Unterwelt Moskaus ein. Im Winter musste man auf jeden Schritt achten, da sich unter dem Teppich aus Schnee auch immer wieder glatte Eisflächen befanden. Landete man auf ebenem Boden nur schmerzhaft auf der körpereigenen Sitzpolsterung, hätte so ein Ausrutscher auf den Dächern unangenehmere Folgen haben können. Einige russische Arbeiter hatten sich an einer besonders schwer zugänglichen Stelle verschanzt. Wollte man sie dort kontrollieren, musste man einen schmalen Grat am Rand des Daches entlang laufen. Allein die Sturmböen, die über das Dach sausten, machten diesen Weg schon riskant. Wir hatten lange Steppmäntel gegen die Kälte erhalten und der Wind setzte alles daran, den Stoff als Segel zu nutzen, um mich vom Dach zu befördern. Tastete ich mich weiter vor, gelangte ich an eine Stelle, die durch einen aufgeschütteten Haufen Metallschellen den Weitergang verwehrte. Gleich hinter diesem Haufen zweigte im rechten Winkel ein Erker aus dem Haus, der als Dach eine ebene Betonplatte aufwies. Um weiter vorwärts zu kommen, musste ich nun einen kurzen Hüpfer von meinem schmalen Grat auf die Betonfläche machen. Es war kein großer Sprung, man benötigte keinen Anlauf dafür. Aber der Abgrund, über den man hüpfte, war 15 Meter tief, das Dach und die Betonplatte waren mit Schnee bedeckt und es pfiffen unkontrolliert heftige Windböen. Das ausgerechnet an dieser Stelle die Schellen aufgeschüttet waren, konnte grobe Unachtsamkeit sein. Mich aber machte es misstrauisch und ich schaute öfter als von den Arbeitern erwartet dort vorbei. An zwei Tagen machte ich mehrmals den kurzen Sprung bevor endlich so viele Metallschellen verbraucht waren, dass der Haufen kleiner wurde und man daran vorbei gehen konnte.

nach dem Sprung

Die russischen Arbeiter waren zum Teil wilde Gesellen. Ich erinnere mich noch, dass sich einer unter Gejohle und Geklatsche der anderen an den Haken eines Kranes hing, sich hochziehen ließ in schwindelerregende Höhe und nach einer viertel Umdrehung auf einem Dach abgesetzt wurde. Was beklage ich mich da über einen Sprung auf eine Eisfläche in 15 Meter Höhe?

In manchen Nächten kam es vor, dass die Streife einer Horde wilder Straßenhunde begegnete. Ich blieb davon verschont, aber ich kann mir gut vorstellen, wie unangenehm es sein musste, in der Dunkelheit bedrohliches Knurren zu hören. Dann die schnellen Bewegungen zu allen Seiten zu spüren. Und schließlich die gefletschten, spitzen Zähne etlicher ausgehungerter Hunde vor sich zu haben. Hatte man bei den Hunden wenigstens den Feind vor Augen, so waren die Angriffe der Ratten heimtückischer. Meist sah man sie nur herumstreifen, wenig scheu, doch uns aus dem Weg gehend. Manchmal trieb man sie dennoch unbeabsichtigt in die Enge. Es saßen häufig Ratten in den Abfalleimern vor unserem Aufenthalts-Container. Manche Kollegen wurden angesprungen, wenn sie den Deckel öffneten. Ein Biss wäre sicher sehr unangenehm geworden. Ich möchte lieber nicht wissen, welche Krankheitserreger diese Nager mit ihren Zähnen übertragen hätten. Auch wenn man nachts durch den Bauschutt streifte, rannten oft Ratten darunter hervor und an uns vorbei. Ich hoffte immer, sie würden nicht mein Hosenbein als Fluchthöhle nutzen.

Die nächtlichen Streifengänge im Winter waren allein schon durch die Kälte eine Tortur. Wir hatten am Tage 25 Grad unter null. In der Nacht wurde es noch viel kälter. Würde ich nach der schlimmsten Nacht meines Lebens gefragt, könnte ich auf eine solche Wache in Moskau verweisen. Bei Schichtbeginn war ich nur erkältet. In der Nacht kam dann hohes Fieber und Schüttelfrost hinzu. Der Aufenthalts-Container war stark geheizt, doch ich fröstelte trotzdem. Ich starrte auf das Schneetreiben vor den dunklen Silhouetten der Rohbauten auf den Überwachungs-Monitoren, während die anderen Backgammon spielten. Um vier Uhr nachts zog ich einen weiteren Pullover, Schal, Handschuhe und Mantel an, um für den Rundgang in der eisigen russischen Nacht gerüstet zu sein. Ich fühlte mich im Gebäude schon elend, übermüdet und fröstelnd. Als mein Kollege dann die Tür öffnete und ich aus den gut 25 Grad plus in die minus 30 Grad kalte Schwärze trat, glaubte ich auf der Stelle zu sterben. Der Wind schnitt mir ins Gesicht als würden Rasierklingen durch die Luft wirbeln. Mein Körper schüttelte sich wie in einem Anfall und meine Zähne klapperten laut und unkontrolliert. Das Schlimmste kam allerdings erst noch. Wir mussten ein Gittertor passieren, welches nachts mit einer Eisenkette und einem großen Schloss gesichert war. Ich versuchte kurz, mit meinen Fausthandschuhen den Schlüssel in meiner Jackentasche zu greifen, gab aber bald auf. Um den Schlüssel zu erreichen, musste ich die Handschuhe abstreifen. In meiner Benommenheit war ich so unachtsam, das Schloss zu berühren. Sofort froren meine Finger am Metall fest. Ich musste sie äußerst schmerzhaft losreißen und verlor dabei Hautstücke an den Fingerkuppen.

Während einer einzigen Nacht im März stieg dann das Thermometer auf 0 Grad. Als wir am Morgen das Dienstgebäude verließen, um die Tore für die LKW zu öffnen, glaubten wir, die Erdachse habe sich verschoben und uns an den Äquator verschlagen. Die null Grad ließen uns Jacken und Hemden in die Ecke werfen und mit T-Shirt oder nacktem Oberkörper die Sonnenstrahlen auf der Haut fühlen. Nach den eisigen Temperaturen der letzten Monate erschien das Wetter wie in der Karibik. Die nächsten Tage kletterte die Quecksilbersäule weiter. Aber dadurch taten sich neue Probleme auf. Die Erde, die monatelang tief gefroren war, taute nun auf und vermischte sich mit dem geschmolzenen Schnee zu einem zähen, klebrigen Brei. Wenn wir das Gelände überquerten, sanken wir oft knietief ein. Aus solchen Fallen musste man von einem Kollegen gerettet werden, denn allein konnte man sich kaum befreien. Der Partner zog einen dann aus dem Sumpf und aus den Gummistiefeln, die im Morast einfach stecken blieben. Die Stiefel wurden dabei vom Schlamm verschüttet. Vielleicht werden sie in tausend Jahren von Archäologen ausgegraben, die sich darüber streiten, ob wir in unserer Zeit bei Fertigstellung eines Gebäudes Menschenopfer im Morast versenkten.

Schlamm

Um von der Baustelle zu unseren Wohnungen und zurück zu gelangen, waren zwei VW-Busse eingesetzt. Diese versanken mehrmals bis über die Radkappen im Schlamm. Sie mussten dann von uns mühsam frei geschaufelt werden. Diese Übergangszeit bis zum Sommer war noch unangenehmer als der eisige Winter. Als dann die Hitze kam und der Boden ausgedörrt und hart war, schluckten wir Staub bei jeder Windböe. Die ideale Jahreszeit scheint es in Moskau nicht zu geben.

Wir arbeiteten in Schichten und hatten immer wieder mehrere Tage zusammenhängend frei. Diese Zeit nutzten wir, um zu reisen. Ziele gab es in einem riesigen Reich wie der Sowjet Union genug. Allerdings musste jeder Ausflug beantragt und genehmigt werden. Ich reiste mehrmals nach Leningrad, besichtigte Sagorsk, flog nach Alma Ata, Odessa und Jalta. Leider muss ich einige Vorurteile bestätigen: Die Flüge mit AeroFlot waren freudlos und unkomfortabel. Einmal gerieten wir in Streit mit russischen Reisenden, weil wir zu laut lachten. Vermutlich störten wir sie dabei, wie sie sich den Bordfilm vorstellten. Denn real gab es auch bei 7 stündigen Flügen keine Unterhaltung. Es sei denn, man betrachtete das geschmierte Butterbrot, das als Mahlzeit serviert wurde, als Witz. Auch waren die Stewardessen eher Aufseher als Service-Leistende.

Ich beschließe das Kapitel über Russland mit einem kleinen Ereignis auf einer dieser Reisen. Vier meiner Kollegen und ich flogen nach Alma Ata, dem heutigen Almaty in Kasachstan. Obwohl die Kasachen zu den Turk-Stämmen gehören, sah die Stadt von der Bauweise sehr russisch aus. Unsere Kollegen wollten das organisierte Besuchsangebot mit Rundum-Überwachung nutzen, aber Birger und ich waren entschlossen, uns abzusetzen und eigene Erkundungen vorzunehmen. Als wir durch die Außenbezirke der Stadt wanderten, kamen wir in das ursprüngliche Russland. Die Vorstadt, durch die wir liefen, mutete an wie ein kleines Dorf. Man traf keine Kasachen mit ihren mongolisch geprägten breiten Gesichtern. Diese Dorfgemeinschaft war ur-russisch. Es gab einen Platz in der Mitte, nur bestehend aus Kies und Erde. So wie auch die Straßen. Asphaltierte Wege gab es dort nicht. Die typischen Häuser mit kleinen Fenstern standen um diesen Platz, auf dem sich eine Pumpe mit Schwengel befand. Wir pumpten und erfrischten uns an dem kalten Wasser, das direkt aus dem Grund kam. Dann zogen wir weiter, eine Allee mit alten Bäumen entlang. Es war warm, in der Sonne tanzten Schmetterlinge um uns herum. In einem Garten sahen wir eine junge Frau, die in einem Holzbottich die Kleidung der Familie auf einem Waschbrett scheuerte.

Dorfplatz

Nur ein kurzes Stück weiter saß ein altes Paar auf einer einfachen Holzbank vor ihrem kleinen Haus und lächelte den Fremden in die Kamera. Und dann blieb ich vor einem Bretterzaun stehen und lauschte, wie im angrenzenden Garten irgendjemand Balalaika spielte. Ich glaubte, um hundert Jahre in der Zeit zurück versetzt zu sein. Birger und ich fühlten uns zum ersten Mal im Russland, wie wir es uns vorgestellt hatten. Diese kleine Dorfgemeinschaft schien direkt aus einem Roman Dostojewski’s oder Gogols zu entstammen. Ich bin bis heute froh, dass wir damals die kleine Wanderung in einen langweiligen Vorort gemacht haben, in dem es keine Sehenswürdigkeit gab, kein Denkmal, keine Errungenschaft des Kommunismus. Und der mich doch für einen Moment fühlen ließ, ich könne in die Seele dieses Volkes schauen.

Usbekistan

Seidenstraße und Handgranaten (1992 - 1994)Das erste Bild, das sich in meinem Kopf formt, wenn ich an Usbekistan denke, ist eine wilde Bergwelt. Fast wie der Titel eines Buches versucht die Quintessenz dessen Inhalts zu sein, so komprimiert die Vorstellung der schroffen Felswände meine gesamte Zeit in dem Land auf einen Punkt.

Es ist die Essenz in einem kleinen Flacon, der aus dem Bottich meiner Erlebnisse in Zentralasien geschöpft wurde. Ein Filmposter, das versucht, Inhalt und Handlung auf einen Blick zu vermitteln und den flüchtig Hinsehenden einzufangen, ihn hinein zu saugen in die Geschichte, die es erzählt.

Das Plakat in meinem Kopf zeigt steile, tiefe Schluchten mit reißenden Flüssen. Berggipfel mit weiß glänzenden Kuppen. Und dann spüre ich auch schon die scharfen Winde an meinen Kleidern reißen. Nur nicht zu nah an den Abgrund treten. Diese Natur wurde von Dämonen geformt. Man hört sie kreischend lachen, wenn man Acht gibt. Dann weiß man, dass wieder ein heftiger Stoß erfolgen wird durch die Unholde dieser Bergwelt, die sich ihre Menschenopfer selbst holen. Man sagt, es seien Fallwinde und Stürme im Gebirge, die jemanden wie einen Spielball vor sich her treiben. Doch ich weiß es besser. Die Geister toben durch ihr Reich.

Ich verbrachte vierzehn Monate in Usbekistan.

Meine Frau Christina, wir hatten nur Tage vor meiner Ausreise geheiratet, konnte entgegen unserer Pläne nicht nach Taschkent ziehen. Sie war schwanger und unsere kurz darauf geborene Tochter Charlotte hatte schwerste Behinderungen. Sie blieb in einem Kinderhospital in Liverpool, dem Geburtsort von Christina.

Es folgte eine schwierige und belastende Zeit, da ich über die Entwicklungen daheim nur mittels schlecht funktionierender Telefonverbindungen von meiner Frau unterrichtet wurde. Ich konnte Christina in ihrer ständigen Angst um Charlotte nicht beistehen. Operationen und düstere Ärzteprognosen, ganze Wochen am Krankenbett, ohne dazwischen einmal nach Hause zu kommen, musste sie alleine tragen, nur von ihrer Mutter unterstützt.

Die Liebe zum Kind war eine Droge, die ihr die übermenschliche Kraft verlieh, ständig neue schlechte Nachrichten zu verarbeiten und um die bestmögliche Behandlung und die kompetentesten Doktoren zu kämpfen, mit Wutausbrüchen, Weinen und Verzweiflung.

Ich flog so oft es ging nach England. Aber diese kurzen Besuche konnten kaum den Druck von Christinas Schultern nehmen. Charlotte blieb im Krankenhaus, angeschlossen an Maschinen, am Leben erhalten durch den unbändigen Willen ihrer Mutter. Und ich verbrachte alleine die Zeit in Usbekistan.

1992 brachte mich eine türkische Passagiermaschine in die Hauptstadt Taschkent. Nachdem ich bis dahin in Paris, Moskau und Helsinki gelebt hatte, erhielt das Wort „exotisch“ eine erweiterte Bedeutung. Die Menschen waren anders gekleidet. Frauen trugen überaus bunte Kleider in typischen Mustern und Kopftücher. Die Männer waren in dunkelblaue oder schwarze Steppmäntel gehüllt, an den Füßen Lederstiefel und auf dem Kopf die traditionelle Tjubeteika, eine eckige kleine Mütze. Viele Gesichter wiesen einen starken mongolischen Einschlag auf und seinen Reichtum führte man gerne in Form von Zahngold vor. Immerhin, wenn man schon reich ist, möchte man es anderen auch zeigen. Und das geht am besten über ein Lächeln.

Ich bestaunte Gebäude im zentralasiatischen muslimischen Baustil. Meist handelte es sich dabei um Medresen, alte Koranschulen, die mit blauen Kacheln verziert sind.

Kuppeln

Leider waren nicht allzu viele dieser Gebäude mehr erhalten. Die Stadt Taschkent wurde im Jahr 1966 von einem Erdbeben nahezu vollständig zerstört. Danach wurde es im Plattenbau-Stil der Sowjetunion wieder aufgebaut, wodurch weite Teile der Stadt ihren Charme arabischer Märchenstätten verloren und auf mich deprimierend wirkten.

Mit Ausländern kannte man sich 1992 noch nicht aus, Usbekistan wurde erst im August 1991 unabhängig. Niemand wusste recht, in welche Richtung sich die neue Freiheit von der Sowjet-Unterdrückung entwickeln würde. Auf der einen Seite war die allgemeine Stimmung der Leute selbstbewusst, man zeigte sich liberal. Ich nahm sogar einmal als geladener Gast an einer Modenschau teil. Andererseits sah ich im Flughafengebäude, wie eine Frau von Sicherheitskräften zu Boden geschlagen und an den Haaren hinter eine Holztür gezerrt wurde. Jahrzehntelanges Denken kann nicht über Nacht demokratisiert werden, Exekutivkräfte nicht durch eine Unabhängigkeitserklärung zu Verteidigern der Menschenrechte mutieren.

Für die zahlreichen Russen in Usbekistan änderte sich nicht viel. Zwar existierte kurze Zeit eine antirussische Grundstimmung. Diese wurde aber nie bedrohlich und ebbte bald ab. Zumindest war das mein Eindruck in den vierzehn Monaten, in denen ich dort lebte. Ich habe auch nie von Übergriffen oder Pogromen gehört.

Bei meiner Ankunft befand sich die Botschaft noch in einem Hotel mit dem einfallsreichen Namen „Usbekistan“. Ein Flügel des Hotels war dort angemietet, in dem sich die Büros ebenso wie die Privatzimmer der Diplomaten befanden, bis schließlich Monate später ein Botschaftsgebäude gefunden wurde.

Hinter dem Hotel lag ein Park. Im Herbst wurden die Blätter der Bäume dort zu großen Haufen gekehrt und angezündet. Die aufsteigenden Qualmwolken brachen sich an der Fassade des Gebäudes und drangen in alle Zimmer.

Natürlich konnte man nicht in so kurzer Zeit die 66 Jahre unter Sowjetherrschaft über Bord spülen und so fühlte ich mich oft an meine Zeit in Moskau erinnert.

Eines Abends klopfte es an meine Zimmertüre. Ich öffnete und vor mir stand ein unbekannter Mann. Wortlos stieß er mich zur Seite und stürmte in meinen Raum. Ich war völlig perplex. Er schaute sich kurz um. Als ich meine Stimme wieder fand und lautstark zu protestieren begann, lief er, weiterhin schweigend, durch die Tür und verschwand um die Ecke des Flurs.

Als ich am nächsten Morgen die Episode in der Botschaft berichtete, schien niemand überrascht zu sein. Es wurde auch kein Protest an das Hotel gerichtet. Da wurde mir klar, dass ich mit solchen Dingen in diesem Land zu rechnen hatte.

Im Hotelrestaurant gab es zumeist Suppen mit Namen wie Lagman oder Borscht. Das mag in usbekischen Ohren Appetit anregend klingen, meine Phantasie wird jedoch eher bei Worten wie Minestrone, Bouillabaisse oder auch Mangoldcreme-Suppe beflügelt.

Lagman und Borscht assoziiere ich eher mit Worten, die ich in höchster Erregung ausrufe, wenn gerade ein Sattelschlepper mit allen zehn Reifenpaaren durch die Pfütze an der Ampel gerast ist, an der ich auf grünes Licht warte.

Diese Suppen schmeckten genauso, wie ihre Namen vermuten ließen. Sie waren sehr ölig und wenn man Glück hatte, schwamm ein großes Stück Fett mit ein wenig Fleisch im Teller. Später konnte man im Restaurant noch Hühnchen a la Kiev ordern, was ich fast jeden Abend tat. Der Portion angemessener wäre wohl der Name Küken a la Kiev gewesen, aber wer schon einmal Kommunismus erlebt hat, weiß, dass Nachbestellungen oder doppelte Portionen nicht gern gesehen werden.

Ein bizarres Ritual spielte sich dann bei der Getränkewahl ab. An den Wänden in dem großen Raum gab es ein Regal, das rundum lief und mit Pepsi-Flaschen gefüllt war. Es müssen hunderte gewesen sein. Ich orderte eine Flasche Pepsi zu meinem Hühnchen. Darauf erhielt ich die Antwort, es gäbe keine Pepsi. Ich zeigte dann mit einem Gesichtsausdruck höchsten Erstaunens auf die Parade der Flaschen an den Wänden. Ohne sich umzudrehen erwiderte der Kellner, diese Flaschen seien nur für Gruppen. Mit meiner Russland-Erfahrung aus dem Jahr, das ich vorher in Moskau zugebracht hatte, war mir klar, dass er wohl Reisegruppen des staatlichen Reisebüros Intourist meinte, stellte mich aber unverständig. Stattdessen erhöhte ich meine Order auf Gruppengröße und bestellte fünf Pepsi, nur um wieder die monotone Antwort zu erhalten, Pepsi werde nur an Gruppen ausgeteilt. Ich wollte dann wissen, wie viele Personen eine Gruppe zählen musste, um Pepsi serviert zu bekommen. Seien es fünfzehn, so würde ich eben fünfzehn Flaschen bestellen. Der Kellner verstand nicht worauf ich hinaus wollte und versicherte mir nur stoisch, ich sei keine Gruppe.

Aber auch die Anzahl der Personen verhalf in Usbekistan nicht zum begehrten Gruppenstatus. Einmal gingen wir zu fünft zum Abendessen in das Restaurant. Freudig bestellten wir fünf Pepsi, nur um wiederum durch den Kellner die Bestätigung zu erhalten, dass wir keine Gruppe seien. Letztendlich war es uns lieber, als fünf Individuen wahrgenommen zu werden, als eine kommunistische Gruppe zu bilden. Und so hat es nie einer von uns geschafft, eine Pepsi Cola im Hotel Usbekistan zu trinken.

Vielleicht fragt man sich nun, warum wir nicht einfach in ein anderes Restaurant gingen, wenn der Service im Hotel doch so bescheiden war. Nun, der Service im Hotel war immer noch der Beste, den man erhalten konnte. Es gab zu der Zeit eine Hand voll anderer Restaurants, die einem eine herrliche Menükarte vorlegten. Nach der Lektüre konnte man kaum die Bestellung aufgeben, ohne das Wasser, welches einem im Mund zusammen gelaufen war, vom Kinn wischen zu müssen. Das war aber nicht schlimm, denn es spielte keine Rolle, was man orderte. Immer lautete die Antwort: