17 Tage in Wales - B.J. Tosyl - E-Book

17 Tage in Wales E-Book

B.J. Tosyl

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Beschreibung

Es sollte eine langweilige Reise zu ungeliebten Fast-Schwiegereltern werden und wurde ein aufregender Roadtrip zu wunderschönen walisischen ­Kostbarkeiten - Mord inklusive. Die irre Tour eines Lehrers aus Deutschland ins wilde Wales und in seine eigene, trauma­tische Vergangenheit. Voller abstruser Erlebnisse, erzählt mit vielen Sidekicks und hintergründigem Humor.

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Seitenzahl: 558

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Wenn du wissen möchtest, wie man ein Buch schreibt, schreibe ein Buch.

(Als Weisheit auf viele Lebenslagen übertragbar.)

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1 – Samstagmorgen

KAPITEL 2 – Samstagnachmittag

KAPITEL 3 – Montagmorgen, sechs Wochen später

KAPITEL 4 – Montag

KAPITEL 5 – Montag

KAPITEL 6 – Montag

KAPITEL 7 – Montag

KAPITEL 8 – Dienstag

KAPITEL 9 – Dienstag

KAPITEL 10 – Dienstag

KAPITEL 11 – Mittwoch

KAPITEL 12 – Mittwoch

KAPITEL 13 – Mittwoch

KAPITEL 14 – Mittwoch

KAPITEL 15 – Mittwoch

KAPITEL 16 – Donnerstag

KAPITEL 17 – Freitag

KAPITEL 18 – Freitag

KAPITEL 19 – Samstag

KAPITEL 20 – Sonntag

KAPITEL 21 – Sonntag

KAPITEL 22 – Montag

KAPITEL 23 – Montag

KAPITEL 24 – Montag- auf Dienstagnacht

KAPITEL 25 – Montag

KAPITEL 26 – Montag

KAPITEL 27 – Montag- auf Dienstagnacht

KAPITEL 28 – Dienstagabend

KAPITEL 29 – Dienstagvormittag

KAPITEL 30 – Mittwoch

KAPITEL 31 – Mittwoch

KAPITEL 32 – Mittwoch

KAPITEL 33 – Mittwoch, Donnerstag

KAPITEL 34 – Donnerstag, Freitag

KAPITEL 35 – Sonntagmorgen

KAPITEL 36 – Sonntagabend

KAPITEL 37 – Sonntag- auf Montagnacht

KAPITEL 38 – Mittwoch

KAPITEL 39 – Sonntag- auf Montagnacht

KAPITEL 40 – Sonntag

KAPITEL 41 – Sonntag

KAPITEL 42 – Sonntag- auf Montagnacht

KAPITEL 43 – Montagmorgen

KAPITEL 44 – 1985

KAPITEL 45 – 1985

KAPITEL 46 – 1985

KAPITEL 47 – 1985

KAPITEL 48 – 1985

KAPITEL 49 – Montagmorgen

KAPITEL 50 – Montagmorgen

KAPITEL 51 – Dienstagabend

KAPITEL 52 – Mittwochmorgen

KAPITEL 53 – Sonntag

KAPITEL 54 – Sonntag

KAPITEL 55 – Montag

KAPITEL 56 – Mittwochmorgen

KAPITEL 1 – Samstagmorgen

Das Monster stampfte den begrünten Hügel hinunter. Laut kreischend und furchteinflößend. Die Erde bebte unter den Füßen des roten Drachen. Auf der grob gepflasterten, aus antiken Zeiten stammenden Straße, die die Anhöhe durchschnitt und auf der sich sonst Pferdewagen mit schweren Ladungen den Hang hinunter tasteten, weil der Weg so steil war, dass die Kutscher aufpassen mussten nicht zu schnell zu werden, damit Wagen und Gespanne sich nicht zu gefährlichen Geschossen für das kleine Dorf, mit seinen rauchenden Schloten, unterhalb des Hügels verwandelten, auf diesem Weg schleppte sich das laut fauchende und keuchende Ungeheuer hinunter. Eskortiert von drei wild aussehenden, mit Schildplatten gepanzerten, schwer bewaffneten, fürchterlich schreienden, an Hässlichkeit nicht zu überbietenden Orks, den willigen Vollstreckern der Mächte des Bösen. Das Ungetüm walzte auf die spärliche Siedlung zu und saugte alles sich in den Weg Stellende in seinem gewaltigen Hintern ein. Kühe, Schweine, Menschen, schwarze Tonnen, alles wurde ein Raub der Bestie.

„Chayenne, Achtung, da vorne ist eine Tonne links“, schrie der eine Ork.

„Alles klar, Luigi, hab’ sie gesehen“, brüllte das andere, ein Weibchen.

Ali, der Dritte im Bunde dieser wilden Horde, krakeelte: „Kann ich mit unserem Schätzchen ein Stück nach rechts? Passt das mit den Autos?“

„Jo, passt“, plärrte das Weibchen.

Bestie? Aufsaugen? Orks? Autos? Thorsten erwachte. Die Augen geschlossen, aber mit den Gedanken im Diesseits angekommen, checkte er die Lage: „Wo bin ich? Im Bett. Was ist heute für ein Tag? Samstag. Was sind das für elend laute Geräusche da draußen vor meinem Fenster, die mich aus dem Schlaf reißen? Die Müllabfuhr.“

Thorsten wurde sich der Sachlage bewusst. Es war Samstag, er lag im Bett und draußen auf der Straße lärmten die Mitarbeiter des von der Stadt Frankfurt beauftragten Müllentsorgers, wie wenn sie alle Werktätigen, die nur von Montag bis Freitag arbeiten mussten, dafür bestrafen wollten, dass diese noch im Bett lagen und sich ihre verdiente Mütze Schlaf ein Stündchen länger genehmigen wollten. „Was ist los mit den Entsorgungsfachkräften? Ist das Bösartigkeit? Halten die sich für Nachtwächter, die durch die Stadt ziehen, die Bürger zu wecken und den Anbruch des Tages zu verkünden?“ Thorsten hatte geträumt und in diesen Traum den Krach eingebaut, der an sein Ohr drang.

Die Müllwerker hatten in den letzten Tagen gestreikt und mussten nun in Überstunden den Unrat wegräumen, der sich in der ganzen Stadt angesammelt hatte.

„Wie viel Uhr ist es?“, überlegte Thorsten, schob seinen linken Arm unter der Bettdecke hervor, fingerte mit der linken Hand nach seinem Smartphone auf dem Nachttisch neben dem Kopfende des Betts, hob das Handy dicht vor sein Gesicht und öffnete sein rechtes Augenlid gerade so weit, dass er einen Blick auf das Display werfen konnte. „6 Uhr 28 – am Wochenende“, stöhnte Thorsten innerlich und schloss das Auge wieder.

Er hatte registriert, dass es im Schlafzimmer schon hell war. Kein Wunder, es war Mai, der Wonnemonat, Sommerzeit, Uhren vorgestellt, Thorsten hörte die Vögel zwitschern. Das Schlafzimmer hatte keine Rollläden an den Fenstern, nur Jalousien. Thorsten war es lange Jahre nicht gewohnt, in einem Raum ohne Rollläden schlafen zu müssen, doch mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt und konnte gerade am Wochenende seine Nachtruhe bis weit nach 11 Uhr vormittags ausdehnen – wenn man ihn denn ließ.

Aus seiner Rückenlage drehte er sich langsam und behäbig auf seine rechte Seite. Die rechte Gesichtshälfte ins Kissen gepresst, öffnete er das linke Auge und erkannte dort im Bett neben sich Jennifer, seine Freundin. Jennifer atmete tief und gleichmäßig. Sie schlief, hatte nichts von der johlenden Meute auf Müllfang mitbekommen.

Thorsten und Jennifer waren seit knapp zwei Jahren ein Paar, seit sie in Frankfurt am Main ihre neue Heimat gefunden hatten. Sie lebten wirklich am Main, das letzte Jahr gemeinsam. Eckhardtstraße, eines dieser Neubauviertel aus den 2000er-Jahren. Würfelförmige weiße, rote oder braune Einheitsbauten, mit Flachdächern, großen Fenstern und Balkonen Richtung Fluss, wie sie überall in Frankfurt und ganz Deutschland aus dem Boden sprießten. Schlichte, doch teure moderne Architektur für Freunde des Zauberwürfels und dem Hang zum Pseudobauhaus, dem man schnell überdrüssig wurde. Für Thorsten Ravedahl, das Nordlicht aus Hamburg, war es nicht die Elbe und nicht die Alster, aber es war am Wasser.

Der 38-Jährige hatte in der Hansestadt nach dem Abitur Deutsch, Englisch und Geschichte auf Lehramt studiert, danach das Referendariat absolviert, dann an verschiedenen Schulen im Stadtstaat unterrichtet und sich eines Tages entschlossen, rauszugehen aus Hamburg. Er landete in Hessen, da er den Süden der Republik erkunden wollte, aber vor der Überquerung des Weißwurstäquators zu großen Respekt besaß. Für den Urlaub war Bavaria okay. Aber dauerhaft oans, zwoa, gsuffa? Das zuständige hessische Kultusministerium machte in jedem Fall schnell Nägel mit Köpfen, als es um die Anstellung einer wechselwilligen Lehrkraft der gymnasialen Oberstufe aus einem anderen Bundesland ging.

Jennifer hatte er bei einem Kochkurs für Singles kennengelernt. Einem jener überkandidelten Kurse, die dem weltgewandten Großstadtmenschen die Verarbeitung von landestypischem Yakmilch-Käse aus der Bergregion Nepals näherbringen sollen und das traditionelle tansanische Huhn Nyama-Kuku als das einzig wahre Rezept zur Zubereitung von gebratenem Geflügel preisen. Für Thorsten war das Kochen in dem Kurs damals Nebensache gewesen. Ihm ging es um Bekanntschaften knüpfen, Dating für Singles ohne Anhang, analog, ohne App. Und Thorsten bekam Anschluss. Ganz leicht. Er musste nur, wie zufällig, die Absonderungen des nepalesischen Yaks auf Jennifers weißer Bluse verteilen. Ganz easy. Wer trägt schon eine weiße Bluse beim Kochen? Jennifer tat das.

Sie war vor drei Jahren aus England nach Frankfurt gekommen. Wegen eines Top-Jobs als Fachanwältin für Steuerrecht, den sie trotz ihrer damals erst 32 Jahre bei der Europäischen Zentralbank ergattert hatte. Fußläufig von der Wohnung in sieben Minuten erreichbar. Jennifers Deutsch war perfekt, ebenso ihr Körper. Training lohnt sich. Ihrer Digitalwaage drohte sie mit Hungerstreik, wenn diese das falsche Gewicht anzeigte. Jennifer sah immer „high class“ aus, selbst wenn sie ein Bekleidungsteil bei H&M gekauft hätte, was sie niemals tat. Die 35-Jährige wusste genau, was ihr stand und auf was sie stand. Thorsten gehörte definitiv dazu.

Jennifers lange blonde Haare lagen perfekt auf dem fluffigen Kissen. Thorsten schaute sie, wie sie da lag annähernd ein goldenes Schneewittchen, einen Moment lang bewundernd einäugig an. Dann drehte er sich zurück auf den Rücken. Er war wach, konnte nicht mehr einschlafen. Das einfallende Tageslicht ließ es zu, dass er im mintgrün gestrichenen Schlafzimmer seinen Blick schweifen lassen konnte. Er begutachtete Tyssedal, sah hinüber zu Knapper, nahm Kallax in Augenschein, wunderte sich über Nymåne. Hinter dem bodenlangen Fenstervorhang im Schlafzimmer von Jennifer und Thorsten spielte kein Quartett frühmittelalterlicher Nordmänner Verstecken. Die beiden hatten auch keine Kuscheltier-Armada in ihren Gemächern sitzen. Jennifer war schlicht ein großer Ikea-Fan. Die Ausstattung der gesamten Wohnung bestand aus Möbeln des schwedischen Einrichtungshauses. Wenn Freunde Jennifer und Thorsten besuchten, sagten sie nicht „Wir gehen heute Abend zu Jennifer und Thorsten.“ Nein, sie sagten: „Wir gehen heute Abend zu Ikea.“ Thorsten konnte sich nicht erklären, weshalb Jennifer, ganz im Gegensatz zu ihrem sonstigen, im Widerspruch stehenden Habitus, siehe ihre Anti-H&M-Haltung, so eine riesige Anhängerin des blau-gelben Möbelgiganten war. Einmal pro Woche, meistens, zum Leidwesen von Thorsten, wenn die Schlangen vor den arbeitsplatzvernichtenden Selbstscankassen besonders lang waren, pilgerten sie nach Nieder-Eschbach vor den Toren Frankfurts, nach Wallau oder Hanau. Irgendetwas fand sich immer in den Köttbullar-Filialen der Rhein-Main-Region für die heimischen vier Wände, das Thorsten hernach zusammenschrauben musste.

Daher lag er jetzt auf seinem Bett Dunvik, begutachtete den Kleiderschrank Tyssedal, sah hinüber zum Standspiegel Knapper, nahm das Regal Kallax in Augenschein, wunderte sich über die Hängeleuchte Nymåne – eine wirklich hässliche Leuchte für ein Schlafzimmer, die aussah wie halbierte Autoreifen des Micky-Maus-Mobils. Thorsten war die Einrichtungsart der Wohnung egal und er hatte im Laufe der Zeit Spaß daran entwickelt, sich die genauen Artikelnamen der Möbelstücke zu merken. So wurden sie irgendwie zu vertrauten Mitbewohnern. Jennifer fand, er habe einen Knall.

Gerade als Thorsten überlegte, ob er aufstehen und Frühstück vorbereiten sollte, räkelte sich Jennifer auf ihrer Dunvik-Seite. Ohne die Augen aufzuschlagen spürte sie, dass ihr Bettgenosse wach war. Es war Samstag, doch sie musste zur Arbeit. Einer der Nachteile, wenn man karrierebesessene Führungskraft der oberen Gehaltsklasse war, bestand darin, am Wochenende nicht immer frei zu haben. Sie öffnete schwach die Lider und reckte ihren Kopf nach rechts hinten, dorthin, wo der Reisewecker Vikis stand. 6 Uhr 43, etwas Zeit hatte sie noch. Die attraktive Natur-Blondine, deren glatte, lange Haare sich auf Höhe ihrer Brüste in schwungvolle Locken verwandelten, drehte ihren Körper nach rechts und lag mit dem Rücken zu ihrem Freund. Sie wusste genau, dass Thorsten ihre Wendung registriert hatte. Sie griff mit der linken Hand rüber auf die Brust ihres Freundes und wollte, dass dieser sich zu ihrem Geliebten verwandelte. Sie zog seinen nackten Körper an ihren heran, bis seine erstarkte Männlichkeit anklopfte. Sie spürte, wie sehr Thorsten für sie dahinschmolz. Er war Wachs in ihren Händen. Leise stöhnte Jennifer. Thorsten liebte dieses sachte, lustvolle Stöhnen seiner Freundin über alles.

Nach einigen gefühlvollen, asynchronen Bewegungen, die für Jennifer nur das Vorspiel markieren sollten, zwang sie ihre linke Hand zwischen ihren und Thorstens heißen Leib. Jennifer drehte sich nach links zu ihm um. Sie wollte ihren gutaussehenden Prinzen jetzt innig küssen.

Thorsten sah tatsächlich gut aus. Ein Grund für Jennifers Auswahl. Entgegen der weit verbreiteten Meinung, dass große, dunkelhaarige, blauäugige Männer per se umwerfend aussehen, ist das tatsächlich eher selten der Fall. Es gibt große, dunkelhaarige, blauäugige Männer, die konterkarieren dieses Stereotyp auf ganzer Breite. So groß, dass sie in keine S-Bahn passen. So dunkelhaarig, dass man ahnt, dort wo jetzt die Kopfhaut durch schütteres Haar glänzt, sei früher einmal dunkles gewesen. So blauäugig, dass sie jeder Frau glauben, die behauptet, sich nur auf der Toilette die Lippen nachziehen zu wollen und dann durch den Restaurant-Hinterausgang vom ersten Parship-Date verschwindet. Nicht so Thorsten. Er hatte wohlgeformte Gesichtszüge, volles kurzes Haar und eine Ausstrahlung, die völlig fremde Frauen an der Bushaltestelle unbewusst seine Nähe suchen ließ, da er eine beruhigende Wirkung auf seine Umgebung verströmte und selbstsicher daherkam. Selbst wenn er das nicht war.

Jennifer drapierte ihre Zunge zwischen ihre Lippen. Die Augen geschlossen, öffnete sie den Mund sinnlich. Thorsten stöhnte unweigerlich, verzog das Gesicht angewidert und neigte den Kopf zur Seite.

„Was ist los?“, hauchte Jennifer in Thorstens Ohr.

„Ich kann nicht“, antwortete dieser. „Du stinkst.“

Jennifer roch eklig.

Jennifer wich mit ihrem Kopf ein Stück zurück und sah ihn mit großen Augen an: „Was soll das heißen, ich stinke?“

Wenn etwas Thorsten abturnte, dann war es der Gestank von faulem Morgenatem, bei dem jeder einzelne Zahn nach Frühjahrsputz schreit und der Rachen mit Mundwasser ausgekärchert werden möchte. Jennifer hatte sogar noch ihre Zahnschutzschiene an, die sie vor zahnzersetzendem Knirschen schützen sollte, aber aussehen ließ wie eine Federgewichtkämpferin im Boxring. So müssten morgendliche Liebesakte in Hollywoodstreifen gedreht werden, wie aus dem echten Leben: zerknautschte Gesichter, wirre Haare, belegte Zähne. Nicht mit aufgebrezelten Sexbomben und aufgeputschten Muskeladonissen im perfekten Look.

Thorstens Fahnenmast sank unweigerlich auf Gartenschlauchbeschaffenheit: „Na ja, dein Atem, der riecht nicht gut.“

„Deiner aber auch nicht“, fauchte sie. „Trotzdem bin ich geil.“

„Ja, schon, ich ja auch. Aber du weißt doch, dass ich so geruchsempfindlich bin“, warb Thorsten um Verständnis. „Wenn wir vielleicht schnell ins Bad gehen und den Mund ausspülen, dann...“

„Bei dir piepts wohl“, sagte Jennifer ärgerlich und tippte sich mit dem rechten Zeigefinger an die Schläfe.

„Dann hole ich uns ein Glas Wasser runter?“, versuchte Thorsten eine zweiten Anlauf.

„Du kannst dir gleich selbst einen runterholen“, keifte Jennifer böse und ihre akkurat gezupften Augenbrauen stießen beinahe aneinander.

„Atemspray?“ Thorsten wippte mit dem Kopf in Richtung Nachttisch.

„Leck mich“, zischte Jennifer scharf, warf sich nach rechts und stieg aus dem Bett auf.

„Das wird jetzt schwierig“, erwiderte Thorsten in Gedanken.

Die nackte Schönheit drehte sich vor dem Bett nochmals um, strich sich mit den Händen knapp an ihrem Körper entlang und bemerkte spitz: „Das wäre ihr Preis gewesen.“ Dann wendete sie und entschwand ins Badezimmer.

Thorsten blieb liegen. Es brachte nichts, zu ihr ins Bad zu gehen und sie besänftigen oder gar umstimmen zu wollen. Jennifer war beleidigt und das blieb sie für gewöhnlich eine ganze Weile. Thorsten schloss wieder die Augen, lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Rücken und hörte einen leisen Furz aus der Schüssel.

Nach einigen Minuten öffnete Jennifer die Badezimmertür einen Spalt und rief halblaut: „Regnet es draußen?“ Das Bad hatte zwar ein Fenster, aber eines mit Milchglas.

„Ich glaube, ich habe gerade die Scheibenwischer bei einem vorbeifahrenden Auto gehört“, entgegnete Thorsten.

Jennifer schmiss die Tür wieder zu. Thorsten grinste und lachte sich innerlich schlapp. „Was für ein super Spruch“, freute er sich. Dass er so witzig sein konnte.

Natürlich regnete es nicht, es herrschte herrlicher Sonnenschein. Aber was wollte Jennifer von ihm? Ihre weibliche Schmolldauer war deutlich zu kurz. Thorsten bekam die Antwort prompt: „Heute Abend gehen wir mit Jana, Marc, Agnes und Roman ins Theater“, tönte es energisch durch die geschlossene Tür. „Da gibt es ein tolles neues, modernes Stück.“

Thorstens Alarmglocken schrillten lauter als die Wohnungsalarmanlage des Nachbarn, die auf Luftzug reagierte und ständig ohrenbetäubende Fehlalarme produzierte. Das war also Jennifers Ansinnen, modernes Theater.

„Ein tolles neues, modernes Stück“ bedeutete für Jennifer Prosecco, Bussi-Bussi mit den Schickimicki-Freunden aus der EZB und oberflächliche Smalltalks darüber, wie bewusstseinserweiternd die Vorstellung gewesen sei. Thorsten war dabei ihr vorzeigbarer 1-Meter-85-Kavalier, der dank seiner Lehrerausbildung auch intellektuell glänzen konnte.

Doch Thorsten bereiteten Besuche im Schauspiel Frankfurt körperliche Schmerzen. Hin und wieder hatte er Jennifer den Gefallen getan und war in den Theatertempel am Willy-Brandt-Platz mitgegangen, hatte den kulturbeflissenen Schoßhund gemimt. Mit der Zeit konnte er seine Unlust aber immer weniger verbergen und das letzte Mal hatte ihn von solcherlei Ausflügen kuriert. Wenn bei „Warten auf Godot“ drei Stunden auf jemanden gewartet wurde, der nicht kam und das Publikum vor Langeweile dahinsiechte, dann war für Thorsten die Grenze der guten Unterhaltung überschritten. Er stand kultureller Bildung durchaus offen gegenüber, mal Ballett oder ein literarischer Vortrag, war kritischer Satire nicht abgeneigt. Aber er vergnügte sich tausendmal besser, wenn er abends ins Kino ging, ein Rockkonzert besuchte oder zu Hause Bildungsfernsehen schaute, statt zeitgenössischem Schauspiel beizuwohnen. Nein, seine Freizeit wollte er nicht im Theater und mit diesen Hirnsaugern, die Jennifer „Freunde“ nannte, vergeuden. Doch was sollte er Jennifer zur Antwort geben?

Jennifer kam gestylt und hochgejazzt aus dem Bad zurück, vor das Bett. Sie trug einen marineblauen, eleganten Hosenanzug mit Blazer und hoch geschlossener weißer Bluse sowie eine strenge Hochsteckfrisur. Sie verzichtete auf größeren Schmuck, hatte nur kleine Solitaire-Ohrstecker mit je einem winzigen Brillanten, denen man nicht ansah, wie teuer sie waren, und einen schlichten, dazu passenden Ring am linken Ringfinger angelegt, was bedeutete, sie hatte heute einen Termin mit ihrer Chefin und wollte nicht zu sexy erscheinen – was ihr allerdings nicht gelang.

Durch Thorstens Kopf schossen drei rettende Szenarien. Erstens: Er würde im Laufe des Tages krank werden und könnte am Abend nicht ins Theater. Das wiederum bedeutete aber, dass er auch am Sonntag krank spielen musste, da eine spontane Wunderheilung als unglaubwürdig enttarnt worden wäre. Doch am Sonntag wollte er Bouldern im Taunus. Die Idee „krank“ fiel somit aus. Zweitens: Er könnte behaupten, am Nachmittag einem Freund beim Umzug zu helfen und abends kaputt auf der Couch liegen zu müssen. Doch welchem Freund? Wer zog heute um, von dessen Wohnortwechsel Thorsten Jennifer nicht schon im Laufe der Woche erzählt hätte? Außerdem war solch eine Behauptung ein zu schwaches Argument gegen den Theaterbesuch und bei Dritten überprüfbar. Diese Ausrede war daher ebenfalls ungeeignet. So entschloss sich Thorsten in aller Kurzfristigkeit für Möglichkeit drei.

„Schatz, ich kann heute nicht. Ich muss unbedingt die letzte Englisch-Klassenarbeit der 8c kontrollieren. Du weißt doch, es sind nur noch vier Wochen bis zu den Sommerferien und die Noten müssen für die Zeugnisse festgesetzt werden. Das wird mit Sicherheit den ganzen Tag bis in den Abend dauern. Ich hab’ dir doch erzählt, wie schlecht die in Englisch sind.“ Thorsten versuchte bei seiner Notargumentation einen Tonfall zu treffen, der den inneren Zwang, in dem er sich befand, ausdrücken sollte, der möglichst überzeugend herüberkommen musste, doch nicht unrealistisch bedauernd klingen durfte. Sein Blick hätte Hunde neidisch gemacht.

„Du hast nur keinen Bock. Du bist heute Morgen echt ein Arsch“, blaffte Jennifer ihn an, drehte sich wütend um und ging über den Flur in die Koch-Esszimmer-Kombination im Schwedendesign. Sie war spät dran. Das Modelstyling hatte länger gedauert als geplant und Thorstens Schlaffi-Performance auch nicht zur Aufhellung ihrer Stimmung beigetragen. Jennifer steuerte den wunderbar teuren Kaffeevollautomaten an, der chromstrahlend als Prunkstück im Mittelpunkt des Küchentresens stand. Dieses Meisterwerk der Ingenieurskunst ermöglichte ihr mit spielend leichter One-Touch-Handhabung im TFT-Display und den frei wählbaren Spezialitäten der Feinschaumtechnologie in bester Barista-Qualität einen Flat-White-Cappuccino, den die Cafés in der Via Vittorio Veneto in Rom nicht besser zaubern konnten.

Viel schneller, als es dem kunstvollen Heißgetränk zugestanden hätte, leerte Jennifer ihre Manufactum-Porzellantasse, stellte diese auf der Spülmaschine ab, – Thorsten räumt die weg –, ging zur Wohnungstür und schlüpfte in die farblich auf den Hosenanzug abgestimmten, marineblauen Brunello-Cucinelli-Loafer mit Logo-Prägung im Fußbett. Es war 7 Uhr 33, sie musste sich beeilen. Auch wenn der Weg hinüber zur EZB kurz war, um 8 Uhr stand ein Meeting an und sie durfte nicht zu spät kommen. Keinesfalls wollte sie gehetzt oder geschwitzt erscheinen. Sie schnappte ihre schwarze Konferenzmappe und verließ das Apartment, nicht ohne Thorsten zuzurufen: „8 Uhr heute Abend Theater!“

„Was für ein Mist“, dachte sich Thorsten, als er die Tür ins Schloss fallen hörte. Da hatte er sich in eine Scheißsituation manövriert. Heute die Klassenarbeiten zu kontrollieren stand überhaupt nicht auf seiner To-Do-Liste. Chillen, Biken, Balkongrillen waren viel eher die Beschäftigungen, die er für diesen Tag ohne Jennifer geplant hatte. Jetzt musste er am Nachmittag bei Jennifers Rückkehr einen Arbeitsnachweis abliefern. Darauf hatte er wahrlich keine Lust.

Die Klassenarbeiten der 8c der Carl-Schurz-Schule in Frankfurt-Sachsenhausen waren wirklich eine Katastrophe. Nicht nur, dass diese Klasse schlecht in Englisch war, sie war auch faul und unbegabt. Während seines Studiums hatte Thorsten an die hehren Ziele der schulischen Bildung geglaubt. Kindern etwas beizubringen, schien ihm ein lohnendes Investment für das gesamtgesellschaftliche Wohl, für das zu arbeiten löblich sei. Leider hatte er nicht bedacht, dass Schüler auf ihrem Weg von süßen, witzigen Kleinkindgeschöpfen hin zu modernen, aufgeschlossenen Erwachsenen die Phase der Pubertät durchlaufen und sich in dieser Zeit zu bildungsfernen Null-Bock-Teenies entwickelten. Diese hatten es einfach nicht verdient, dass er seine wertvolle Freizeit für sie opferte. Das hatte er sich im Verlauf der letzten Arbeitsjahre abgewöhnt.

Thorsten, der Lehrer für Deutsch, Englisch und Geschichte, bekam Aggressionen, wenn er die Umgangssprache der Schulstuhl-Besetzer vernehmen musste. „Ich bin Konsti“, bedeutete nicht etwa, dass das 14-jährige Pickelgesicht auf den Namen Konstantin hörte. Nein, es sollte eine Ortsangabe sein, die in korrektem Deutsch etwa „Ich bin an der U-Bahn-Haltestelle Konstablerwache“ gelautet hätte. Thorsten unterrichtete an einem Gymnasialzweig. Wie war denn der Ton an Schulen mit bildungsferner Kundschaft?

Für solche Schwachmaten sollte Thorsten sich am sonnigen Samstag hinsetzen und Schularbeiten kontrollieren? Nein, das kam nicht in Frage. Die Klassenarbeiten wollte er in einigen Freistunden in der Schule korrigieren. Andererseits, was blieb ihm übrig? Der Gewittersturm Jennifer drohte ihm die Beziehung zu verhageln. Thorsten sank niedergeschlagen tiefer in seine Matratze Hövåg und schlief wieder ein.

KAPITEL 2 – Samstagnachmittag

Mittlerweile war es 16 Uhr. Der Samstag strahlte noch immer so sonnig, als wolle er Thorsten verhöhnen, dass dieser seit vier Stunden im Arbeitszimmer an seinem Schreibtisch saß und die englischen Ergüsse seiner Schüler bewertete. „Komm doch zu mir, wärme dich an mir“, rief die Quelle allen Lebens ihm zu und Thorsten fiel es schwerer und schwerer, nicht diesem zu folgen.

Thorsten war um halb zehn aufgestanden, hatte ausgiebig weiße Bohnen und Speck (so schön ungesund, wie Jennifer es nicht mochte), Müsli (aber ohne Rosinen), Ciabatta-Brötchen, Marmelade und Eszet-Schnitten über ordentlich Butter gefrühstückt. Danach trödelte er eine ganze Weile herum, zappte im TV-Programm und schlich immer wieder um den Tisch mit dem Stapel an Schularbeiten. Er verhielt sich wie ein lustloser, satter Löwe, der kein Verlangen nach der alten, zähen Antilope hat, die schwer verwundet vor ihm im Staub der Savanne mit dem Tode kämpft, unwillig, dem verwundeten Opfer den Todesbiss zu setzen.

Er saß gebückt und las die ersten englischen Zeilen aus dem Tätigkeitsaufsatz, Teilaufgabe 4b, von Oberschicht-Leon (einer von 16 L’s in einer Klasse: Leon, Luis, Louis, Linus, Luca, Luka, Leander, Leonardo, Leandro, Luise, Lara, Laura, Lena, Lia, Lea und Liselotte), Vater Arzt, Mutter Staatsanwältin, Sohn muss Abitur machen: I putted my book into the cupboard. Thorsten ließ den roten Korrekturstift aus seiner rechten Hand fallen und legte erschöpft seinen Kopf auf der weiß lackierten Tischplatte ab. Die Arme hingen neben seinem Körper schlaff herunter. Womit hatte er das verdient? Er war so eine arme Sau. Einen Moment verweilte er mit geschlossenen Augen in dieser Sitzposition.

Gerade, als er im Englischverben-Massaker von Leon weiterlesen wollte, klingelte sein Handy auf dem Schreibtisch und riss ihn aus seiner Lethargie. Es war der Jennifer zugewiesene Warnton „Sparkle“, eine Art Bongo-Trommel-Klingelton, mit dem jeder Gottesdienstbesucher, der damit das Orgelkonzert stört, sofort aus der Kathedrale hinausgeworfen und exkommuniziert würde. Die Lautstärke war durchdringend – so wie Jennifer eben.

„Na du Arsch, was machst du gerade?“, fragte Jennifer mit einem charmant-ironischen Unterton. Sie schien wieder besser gelaunt zu sein.

„Ich sitze hier und korrigiere die Arbeit von Leon, dem Vollpfosten. I putted my book ...“

„Oh, du armer.“

„Wie lief dein Tag mit der Chefin?“

„Oh ja, lief gut. Sie ist voll meiner Meinung bei dem Fall Banco de España, unterstützt mich und hat mir eine eigene Projektverantwortung zugeteilt“, sagte Jennifer deutlich positiv gestimmt.

„Na ist doch super“, antwortete Thorsten unaufgeregt. „Und heute Abend dann Theater?“

„Deswegen rufe ich an. Du hast Glück, ich muss unser Date für heute Abend absagen. Ich treffe mit meiner Chefin nachher so einen Typen vom belgischen Finanzministerium. Sicher gehen wir mit dem was essen und dann schaffe ich es nicht mehr rechtzeitig um acht. Jana, Marc, Agnes und Roman habe ich schon eine ,Whats-App‘ geschrieben. Tut mir leid. Dir aber bestimmt nicht.“

Thorsten hätte in dem Moment am liebsten in sein Handy gebissen oder Jennifer als doch nicht ganz so satter Löwe aus der Savanne angebrüllt. Den ganzen Nachmittag hatte er an diesen blöden Klassenarbeiten gesessen und jetzt, wo der Tag fast gelaufen war, rief sie an und teilte ihm mit, dass die Verabredung, vor der er sich zu drücken versuchte, ins Wasser fiel? Das hatte sie definitiv mit Absicht gemacht, ihn so lange zappeln zu lassen. Thorsten unterdrückte seinen Ärger und erwiderte so cool, wie es ihm gerade möglich war: „Ja stimmt, tut mir nicht leid. Wir sehen uns dann später, wenn du nach Hause kommst.“

Thorsten drückte in der Smartphone-Anzeige das BeendenIcon und legte es auf den Tisch.

Was sollte er tun? Es war kurz nach vier am Nachmittag. Die Sonne lachte und er musste raus an die frische Luft, den popeligen Main, die Ersatz-Elbe, hinaus zu Wasser und Wind. Joggen? Biken? Cabrio fahren? Keine Sekunde wollte er mehr verdrießlich am Schreibtisch hinter der spiegelnden Fensterfassade den Menschen bei ihrem Amüsement zuschauen. Er wollte dabei sein.

Thorsten ging schnellen Schrittes ins Schlafzimmer, riss Tyssedals linke Flügeltür auf und suchte nach seiner schwarzen Radlerhose mit eingenähtem Sitzpolster. Passend dazu hatte er im selben Regalfach ein türkisfarbenes Radlertrikot ohne blödsinnige Werbung für Tütensuppen oder Energydrinks. Der schwarze Radlerhelm samt Visier lag auf dem Schrank. Daneben die unerlässlich griffigen Schuhe, ebenfalls in türkis. Die Krönung des Ganzen, das Fahrrad, stand jetzt im Frühling unter einer Plane auf dem Balkon. Wobei, es war ein Specialized S-Works Stumpjumper ST 29 aus Carbon mit zwölf Gängen und Vollfederung. Das Wort „Fahrrad“ verbot sich hier.

Thorsten war voll ausgestattet und wollte so schnell es ging hinaus ins Freie. Er hatte keine Zeit mehr für eine lange Tour, aber das war nicht wichtig. In Windeseile griff er alles, zog sich um, ein kurzer Kontrollblick im Knapper, – er sah in seinem Outfit so viel besser aus, als die unsportlichen E-Bike-Pärchen in ihren Presswurst-Partnerlooks –, lief aus dem Schlafzimmer hinüber zum Wohnzimmer und auf den Balkon, holte das Bike und suchte an der Garderobe neben der Wohnungstür nach der Dreiecksrahmentasche. Er verstaute Wohnungsschlüssel, ein paar Euro Kleingeld und sein Handy. Handy? Wo war das Handy? Ach ja, auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer. Thorsten lief hinüber und nahm das Phone mit der linken Hand. In diesem Moment klingelte das Teil, nicht mit dem Jennifer-Alarmton, sondern mit dem unverdächtigen Klang „City Lights“, den er allen nicht gespeicherten Anrufnummern zugeteilt hatte. Ohne auf das Display zu schauen strich Thorsten mit dem rechten Zeigefinger über das AnnahmeIcon und hielt das Gerät an sein linkes Ohr.

„Hi Thhhsssorsten“, schallte es aus dem Höröffnung.

„Oh Scheiße“, dachte sich Thorsten und hätte das Handy am liebsten durch das geschlossene Fenster in den Main gefeuert, was sicher einen Rekordwurf für den im Jahr 2000 in Finnland erfundenen Sport Handyweitwurf ergeben hätte.

„Ich versuche schon den ganzen Tag my Jennifer-Darling zu erreichen. Sie reagiert nicht auf meine Anrufe und nicht auf meine Whats-App. Weißt du was da los ist? Where is my Schätzchen?“, plärrte die allzu bekannte Frauentröte.

Die unangenehme Kreischstimmlage gehörte zu Millie Staniforth, Mutter von Jennifer, Ehefrau von Joseph. Joseph Staniforth war eine große Nummer im Londoner Finanzwesen, Hedgefonds-Manager, 69 Jahre alt, oben kahl, gepflegter grauer Bart und stinkend reich. Millie war vier Jahre jünger und Abteilungsleiterin im britischen Außenministerium gewesen. Eine Karrierediplomatin, deren krächzende Überdrehtheit so gar nicht zu ihrem passablen Äußeren und der mit ihren 65 Jahren erstaunlich blonden, schulterlangen Naturfrisur passen wollte. Von wem Jennifer, der ganze Stolz ihrer Eltern, ihre Schönheit geerbt hatte, war klar erkennbar.

„Hi Millie. Jennifer musste heute den ganzen Tag arbeiten und ist noch in der EZB. Sie hatte ein ganz wichtiges Meeting mit ihrer Chefin und heute Abend ein Geschäftsessen. Wahrscheinlich hatte sie deshalb keine Zeit an ihr Handy zu gehen“, erläuterte Thorsten klar, doch mit einem sehr genervten Ausdruck in seiner Stimme.

„Oh Thhhsssorsten, my Jenny-Darling ist ja so tüchtig und erfolgreich“, frohlockte Millie.

Millie sprach gutes Deutsch aus irgendeinem längeren Aufenthalt in Deutschland, wenn auch mit unverkennbar englischem Akzent. Eines aber konnte sie sich nicht abgewöhnen oder machte es nur, um Thorsten zu ärgern: Sie betonte Thorstens Name immer mit einem völlig deplatzierten Ti-äitsch und zog dieses dazu künstlich in die Länge. Sie wusste ganz genau, dass man seinen Namen einfach nur mit hartem T aussprach, aber auf diese Art konnte sie ihm immer wieder ihre Abneigung zeigen.

Millies und Josephs Leben schien perfekt. Beide seit Jahrzehnten erfolgreich im Job, millionenschwer, Penthouse in London, Herrschaftssitz auf dem Land. Sie lebten nach dem Motto „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“. Ihre schöne und intelligente Tochter mit einem Renommee versprechenden Job bei der EZB, angekommen in den Etagen, von denen aus die Gondel der Fensterputzer nur einen kurzen Seilweg zu nehmen hatte und glänzenden Zukunftsperspektiven. Es hätte für die Brexit-Befürworter Staniforth zwar nicht unbedingt die Europäische Zentralbank sein müssen, bei der ihr Sonnenschein die Karriereleiter erklomm, aber es war das deutlich kleinere und irgendwann veränderbare Übel gegenüber diesem Deutschen, der sich als Lehrer mit dem Gesindel der Straße abgab, nie eine Privatschule von innen gesehen hatte und den ihre Tochter seit mittlerweile zwei Jahren datete. Viel lieber hätten es die Millionäre gesehen, wenn ihre Tochter standesgemäß einen englischen Adligen auserwählen und diesen möglichst bald vor den Traualtar führen würde. Denn ein englischer Adelstitel, der Türöffner in die englische Aristokratie, war das Einzige, das sie nicht mit Geld kaufen konnten.

„Na gut, dann sage ich es dir, falls Jenny meine Nachricht noch nicht gelesen hat. Jo und ich möchten, dass ihr im Juli zu uns nach St. Austell kommt. We want Josephs Siebzigsten groß feiern, auch wenn er erst im November Geburtstag hat. Aber im Sommer ist das Wetter much better. Wie bei der Queen.“ Es war nicht so, dass Millie Thorsten unbedingt dabeihaben wollte. Nein, sie hätte sehr gut auf ihn verzichten können. Doch sie wusste, dass Jennifer auf die Anwesenheit ihres Freundes bestehen würde. Es war daher sinnlos, den Versuch zu starten, Thorsten auszuladen. Wogegen dieser allerdings nichts gehabt hätte. „Sie soll mich auf jeden Fall zurückrufen. It’s urgent. Sag ihr das,“ ergänzte Millie nachdrücklich.

„Alles klar, ich sag’s ihr“, schloss Thorsten das Gespräch mit einem deutlich Resignation ausdrückenden Gemurmel und presste den Beenden-Button.

Demoralisiert, mit hängendem Kopf, schlich er ins Wohnzimmer zurück und ließ sich mit seinem schicken Mountainbike-Outfit in den Sessel Was-weiß-ich-was-das-verschissene-Teil-für-einen-scheiß-Schwedennamen-hat fallen. Was war nur los mit diesem Samstag? Thorstens Pläne alle zunichte gemacht. Die für diesen Tag, dieses Wochenende und für die anstehenden Sommerferien.

Die coronabedingten Schulstörungen der letzten Jahre hatten Thorsten schwer gestresst. Gegen seine Natur musste er vollen Unterrichtseinsatz zeigen. Seine tatsächliche Lehrerarbeitszeit war überprüfbar geworden, da Helikoptereltern in Online-Meetings, Skype-Chats und Zoom-Videokonferenzen die Einheiten digital aufzeichneten. Für diese Sommerferien hatte er daher umfassende sechswöchige Reisepläne geschmiedet. Die von den unsichtbaren Viren verursachten Strapazen mussten kompensiert werden. Thorsten, der geimpfte Lehrer, hatte sich wahnsinnig auf die Ferien gefreut.

Drei Wochen wollte er alleine einen Segeltörn und Aktivurlaub rund um Korsika verbringen, zwei Wochen solo Mountainbiken und Klettern in den französischen Alpen und eine Woche mit Jennifer in Nizza ausspannen. Sie war ohnehin immer busy, immer mit einem Auge auf dem Smartphone-Bildschirm, immer mit einer Hälfte ihres geschäftigen Gehirns bei ihrem Job. Sie schaffte nie mehr als eine Woche Leisure Time und wollte dann rasch wieder zurück zu Schreibtisch und Glaspalast. Es hätte so schön werden können. Stattdessen jetzt Cornwall, England, Langeweile. Nervige Möchten-Niemals-Schwiegereltern, die ihn in etwa so duldeten, wie Katzen die zu schnelle Maus das eine Mal davonkommen lassen. Joseph, der ihm stundenlang im riesigen englischen Garten des geradezu kitschigen Rosamunde-Pilcher-Herrschaftssitzes, dem nur noch eine Bronzestatue seiner selbst fehlt, jeden Grashalm einzeln erklären würde, wo Thorsten doch schon die kleinen Schrebergärten rund um Frankfurt als „Strebergärten“ geißelte. Und Millie, die ihn bestenfalls ignorierte, schlechtestenfalls aber mit ewigen Vorträgen über das British Empire quälte und die angesammelten Wertgegenstände im Haus ausgiebig abfeierte.

Natürlich hätte Thorsten ablehnen und auf die bereits gebuchten Urlaubsreisen verweisen können. Doch da gab es keine Chance. Wenn Vater und Mutter riefen, dann folgte Jennifer einerseits unbeirrt und schwebte zurück an den heimischen Herd – oder besser den Herd der Dienerschaft. Dass Joseph jede Art von Reiseausfall-Gebühren aus der Portokasse zahlte, um sein geliebtes Goldstück in die Arme schließen zu dürfen, verstand sich von selbst.

Ein Verzicht Jennifers auf Thorsten war andererseits gleichermaßen ausgeschlossen. Sie würde ihm die Hölle heißmachen, wenn er sich weigerte mitzukommen. Thorsten war ihr Elternzum-Trotz-Freund, etwas, das Jennifer als rigide Warnung ins elterliche Schloss stellte, bei dem Mum and Dad nicht reinreden konnten. Nicht zu anhänglich, ließ er ihr Raum für ihre Karriere, formulierte keinen Kinderwunsch und tanzte an, wenn er gebraucht wurde. Seine besten Eigenschaften neben seinem Aussehen. Thorsten wehrte sich dagegen nicht. Er hatte eine hübsche Freundin mit Geld, die nicht zu viel Zeit für ihn hatte, so dass er seine Freizeit und Freiräume auskosten durfte. Aber leider nicht jederzeit und nicht in diesem Sommer. Er hatte keine Chance.

Wie ein überdimensionierter, begossener, schwarz-türkisfarbener Kuschelbär von der Jahrmarkt-Losbude hing der gerade noch hyperaktive Möchtegern-Freizeitradler mit seiner hautengen Passform-Kombi traurig im Sessel und sackte apathisch tiefer und tiefer in diesen ein. Sein schicker Helm rutschte ihm vom Kopf.

KAPITEL 3 – Montagmorgen, sechs Wochen später

Thorsten stand in der architektonisch imposanten Bahnsteighalle aus Stahl und Glas des Frankfurter Kopfbahnhofs und begutachtete einen Moment lang die interessante Fünf-Bögen-Dachkonstruktion, die die Gleisanlagen mit Tageslicht durchflutete. Er blickte hinauf zu den Tauben, die sich ein Stelldichein im Stahl-Gebälk gaben und war mit seinem kleinen schwarzen Hartschalen-Koffertrolley und seinem ebenfalls kleinen schwarzen Ausflugsrucksack – Wäsche und persönliche Dinge für eine Woche mussten nicht in riesigen Koffern transportiert werden und großes Gepäck war äußerst unpraktisch – bereit zur Abfahrt nach England. Während Jennifer heute mit Daddys Privatjet flugs den Ärmelkanal zum Newquay Cornwall Airport überquerte, danach 25 Autominuten nach St. Austell fuhr und zur Mittagszeit in der elterlichen Residenz die Lunchtime genoss, hatte sich Thorsten für die deutlich längere und mühselige Reise mit der Bahn wappnen müssen. Thorsten litt unter Flugangst. Einer schlimmen Form der Flugangst, die aus seiner Kindheit rührte, als damals Jugendliche den sechsjährigen, kleinen Spielplatz-Hopser mit einem Modellflugzeug aus der Luft gejagt und angegriffen hatten, bis dieser schließlich Schutz in einem alten Baumstumpf fand und dort eine Nacht lang ausharrte. Als Thorsten Jahre später endlich seine Angst überwinden wollte und unter großem psychischen Druck einen Flieger nach Mallorca bestieg, war es ausgerechnet jenes Flugzeug, das in heftige Turbulenzen geriet und gefühlt kilometertief in Luftlöchern absackte. Thorsten bekam damals nicht nur Panik, dass er nie aus einem Eimer mit Strohhalmen Sangria saufen könne. Seitdem hatte er schon Angst einen Flughafen nur betreten zu müssen, um liebe Freunde dort abzugeben. Etwas, auf das er an diesem Montagmorgen freilich verzichtete. Er brachte Jennifer nicht zum Airport, ihre Wege trennten sich bereits hinter der Wohnungstür, da beide in etwa zur selben Zeit ihr Domizil verließen – sie zum Jet, er zum Zug.

Thorstens Reiseplan sah vor: 8 Uhr 16 Frankfurt Hauptbahnhof, ICE, Gleis 14. Über Frankfurt Flughafen Fernbahnhof, Limburg Süd, Montabaur, Köln, Aachen, Liège-Guillemins, Bruxelles-Nord nach Bruxelles Midi, Ankunft 11 Uhr 35. 12 Uhr 52 Abfahrt mit dem Eurostar ab Bruxelles-Midi, Lille, durch den Tunnel, Ebbsfleet, London St. Pancras, Ankunft 14 Uhr 05. Übergang mit dem öffentlichen Personennahverkehr nach London Paddington. 15 Uhr 04 Abfahrt ab London Paddington mit dem Schnellzug, Reading, Taunton, Tiverton Parkway, Exeter St. Davids, Newton Abbot, Totnes, Plymouth, Liskeard, Bodmin Parkway, Par, St. Austell, Ankunft 19 Uhr 14. Insgesamt zehn Stunden, 58 Minuten, wenn alles gut ging. Glück hatte er, wenn er dort am Bahnhof abgeholt wurde. Mehr Glück, wenn er aus der Küche des Prachtbaus noch etwas Warmes zum Essen bekam und sich nicht nur den Magen mit Ginger-Teegebäck füllen musste, bis es am nächsten Morgen ein „Full English Breakfast“ gab.

Sechs Wochen lag die verhängnisvolle Entwicklung zur Urlaubsumdisponierung mittlerweile zurück. Leon hatte die Versetzung geschafft – wiedermal. Thorsten musste sowohl Korsika als auch die Alpenwanderung streichen, weil der Cornwall-Trip sich genau mit beiden Zeiträumen überschnitt. Und den Nizza-Aufenthalt hatten sie gecancelt, weil Jennifer maximal eine Woche von ihrem Job fernbleiben wollte. Geld hatte Thorsten für die Stornierungen dabei nicht von Joseph gefordert. Dafür war er sich zu stolz.

Richtig eingeschätzt hatte Thorsten Jennifer, als sie an besagtem Samstagabend vom Geschäftsessen mit dem Abgesandten des belgischen Finanzministeriums nach Hause kam und Thorsten in seinen Radlerklamotten im Sessel vorfand. Grußlos war sie ins Arbeitszimmer gegangen und hatte den Schreibtisch nach erledigten Klausurkorrekturen untersucht. Erst als sie diese unzweifelhaft vorgefunden hatte, setzte sie sich auf die Armlehne zu Thorsten, tätschelte sein Knie und ließ sich vom Anruf ihrer Mutter Millie und der ausgesprochenen Einladung zu Josephs Geburtstagsvorfeiersommerparty berichten. Sie war entzückt und rief sofort ihre Mutter zurück.

An diesem Montagmorgen stand der Lehrer auf Urlaub in der Bahnhofshalle und hatte noch eine halbe Stunde Zeit bis zur Abfahrt seines Zuges und dem Beginn seines Mammuttrips. Das Bahnticket hatte er in der Innenseite seiner nussbaumbraunen Outdoor-Jackentasche verstaut. Ein Ticket zu einem Preis, der vermuten ließ, dass Thorsten gleich alleine im exklusiven Orientexpress gen Großbritannien reisen dürfe. Wie die Deutsche Bahn bei solchen Preisen in Konkurrenz zu den Fluglinien treten und die Kundschaft zum klimafreundlichen Umstieg auf die Schiene animieren wollte, war ihm ein Rätsel. Offensichtlich mussten Sie das 9-Euro-Regionalticket querfinanzieren. Thorsten suchte sich eine etwas ruhigere Ecke am Eingang zu Gleis 14 und beobachtete die Szenerie um ihn herum.

Das Gepäck fest mit den Händen umklammert, versuchte er mit seiner Nase zu differenzieren, wonach es im Bahnhof roch. Da war der angenehme Duft von frisch aufgebackenen Kirschplunderstückchen, der vom Backshop herüberwehte. Die Aromaschwaden des Fritten-Glaskastens durchzogen ebenso die Halle, was ihn erstaunte, da es früh am Morgen war. Es schien tatsächlich Leute zu geben, die schon morgens um acht Pommes aßen. Auch den Geruch von Schmieröl und Bremsgummi-Abrieb der tonnenschweren Triebköpfe nahm Thorsten war. Er hatte das Gefühl, dass Metall Ausdünstungen verursachte. Desgleichen die Tauben mit ihren Exkrementen, die die Stahlspitzen zu ihrer Abwehr auf Lampen und Plakattafeln umtanzten. Die tausenden Menschen, die sich an diesem Ort versammelten, bildeten eine beißende Geruchsmelange aus Parfüm, Haarspray, Deodorant, Zahnpasta, Mundwasser, Hautcreme und Schweiß. Thorsten sah den Menschen in ihre Gesichter.

Ob sie wieder Spaß am Reisen hatten und sich darauf freuten unterwegs sein zu können, um Familie und Freunde zu treffen, das Urlaubsziel anzusteuern, persönliche Geschäftsmeetings abzuhalten, war schwer in ihren Mienen abzulesen. Zu voll, zu gedrängt, zu unpünktlich waren viele Züge aufgrund des 9-Euro-Tickets, maroder Infrastruktur, unterbesetztem Personal. Und Corona erlebte einen Sommer im Auftrieb. Omikron ließ die Zahlen erneut steigen. Omikron, Megatron, Cybertron, noch krank machendere, transformierte Varianten waren zu befürchten. Das Virus attackierte ganzjährig. Wie stark jeden einzelnen und jede einzelne, war höchstens vom persönlichen Impfstatus abhängig.

Im Zug galt weiterhin die Maskenpflicht. Thorsten war darauf vorbereitet. Er hatte mehrere saubere FFP2-Masken eingepackt. Dass er sie tragen musste, daran glaubte er allerdings nicht. Von Fahrten mit den Frankfurter S-Bahnen wusste er, dass die Passagiere der Pflicht zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung stillschweigend und selbstverständlich ein „Unter“ beigefügt hatten. Pflicht zum Tragen einer Unter-Mund-Nase-Bedeckung, die die Ohren segeln und das Doppelkinn halten ließ. Oder sie wurde ganz weggelassen, weil bei der Personenbeförderung Döner, Hamburger, Pizza, Eis, vielleicht Zuckerwatte der Verdauung zugefügt wurden.

Endlich fuhr Thorstens ICE ein. Im weißen Triebkopfnasenmundschutzdesign mit dem an Gummiband erinnernden, nicht mehr wie früher roten, sondern, weil laut Marketinggurus Klimafreundlichkeit signalisierend, grünen Mittelstrich. Die Bahn war pünktlich. Fernzügen ist immer die Vorfahrt vor billigen Regiomassenviehtransportern zu gewähren.

Thorsten hatte im ICE einen Platz in einer Vierersitzgruppe reserviert, mit einem Tisch zwischen den Sitzgruppenpaaren. Ob er in Fahrtrichtung saß oder rückwärts fuhr, war ihm egal. Wichtig war, dass er einen Fensterplatz hatte. Thorsten liebte die Aussicht auf die vorbeiziehenden Landschaften vor seinem Zugfenster. Wenn er den Blick starr hielt, verschwamm die Landschaft zu einer abstrakten Linienstruktur. Es war ein, trotz der Geschwindigkeit, entschleunigtes Reisen, welches den Weg würdigte und nicht nur die schnellstmögliche Erreichung des Bestimmungsorts zum Ziel hatte. Thorsten empfand vor diesem Hintergrund das Handicap der Flugangst weit weniger schlimm. Er reiste viel bewusster und freute sich über erlebnisreiche Fahrten. Man konnte sich dabei wunderbar auf das Reiseziel einstimmen und mit Vorfreude den spannenden Menschen in unbekannten Gefilden entgegenfiebern – wenn es nicht gerade der Landsitz der Familie Staniforth in St. Austell war.

Während Thorsten auf einem Zweite-Klasse-Bahnsitz, in Fahrtrichtung links am Fenster, mit Reservierung bis Bruxelles Midi saß, hatten die Plätze um ihn herum nur Reservierungen bis Köln oder waren gänzlich ohne Reservierung. Scheinbar wollte niemand außer ihm nach Aachen, Lüttich und Brüssel. Herrlich. Da ihm die Landschaften Hessens und Rheinland-Pfalz’ bis Montabaur allzu bekannt waren, beobachtete Thorsten, die Knöpfe mit dem neusten, gestreamten Album der Killers im Ohr, die Leute um ihn herum, wie er es vorher auch in der Bahnhofshalle getan hatte.

Die Sitze neben und direkt gegenüber von Thorsten waren leer. Schräg versetzt saß am gleichen Tisch ein sehr wohlgenährter Mann mit einem ungleich gewachsenen Drei- bis Sechs-Tage-Bart, dicker, schwarzer Rahmenbrille und einer dunkelblonden, strähnigen Pferdeschwanzfrisur. Seine weiße OP-Maske baumelte am Handgelenk. Die leicht fettige, blasse Haut glänzte im Kunstlicht des ICE-Innenraums. Der Mann, geschätzt Ende vierzig, zog Thorstens Blicke auf sich, weil er selbstbewusst ein T-Shirt trug, wie es nach Thorstens Meinung nur Männer ohne Modegeschmack, sprich IT-Nerds, besaßen, die nicht darauf vertrauen konnten eine Ehefrau zu Hause zu haben, die sie vor den schlimmsten Modesünden beim Verlassen der Wohnung bewahrte. Statt eines kleidsamen Shirts von Hollister, Boss oder Walbusch trug der Kerl ein schwarzes Mottoshirt, mit der „lustigen“ Aufschrift: „Nur keine Panik. Ich Schaf das.“ Dazu aufgedruckt ein Hammel, der, um offensichtliche Copyright-Probleme mit „Shaun das Schaf “ zu vermeiden, grenzdebil verfremdet eine Lach-Fratze zog. Thorsten dachte mitleidig an seinen Freund Mike, dem beim Junggesellenabschied vor drei Jahren auf der Reeperbahn ein T-Shirt mit einer Hitler-Bärtchen tragenden Braut und dem Spruch „Unter neuer Führung“ übergezwungen wurde.

In der anderen Vierersitzgruppe gegenüber saß am Fenster rückwärtsfahrend nur eine Frau, die bereits mit ihrem Bluetooth-Headset telefonierte, als Thorsten in Frankfurt zugestiegen war. Handyfreie Abteile waren eine gute Idee – an die sich niemand hielt. Nervös zupfte sie ständig an ihrer cremefarbenen Seidenbluse mit Perlen-Muschelmuster und feuerte ein monotones Stakkato an verbalen Salven ab. Eine Atemmaske störte da nur. Der Ehemann war ein Trottel, der Sohn ein fauler Sack, der Chef ein Idiot, der Vater ein Taugenichts, der Liebhaber eine sexuelle Enttäuschung. Thorsten rätselte, wer die Adressatin des Trommelfeuers der Dame in den Fünfzigern war. Die beste Freundin, die Tochter, die Vorzimmerkollegin, die Mutter oder die gehörnte Rivalin?

Schräg hinter der tratschenden Frau, in der nächsten Sitzreihe, hatte ein Herr Platz genommen, dessen übergeschlagenes Bein in den Gang hineinragte und auf dem er einen Laptop balancierte. Thorsten hatte ihn gut im Blick. WWK stand auf dem Hemdkragen, was klarmachte, dass es sich um einen Versicherungsvertreter handelte, den Thorsten auf etwa vierzig Jahre schätzte. Jeans, weißes Hemd, Werbeaufdruck, eine Maske steckte in der Brusttasche, schwarze Schuhe. Schuhe mit zwei Tassel-Enden auf dem Rist, wie winzige, lustig wackelnde Wildschweinschwänzchen. Wann waren diese Schuhe zuletzt modern? Jede Berufsgruppe hatte ihre spezifische Arbeitskleidung. Weshalb fiel die Wahl von Versicherungsfuzzies auf diesen abgelatschten Vertreter-Style? Warum fanden Arbeitgeber die Bestickung von Hemdkragen mit Werbebotschaften ästhetisch? Und was hieß eigentlich WWK? Wir würgen Kunden?

Bis Köln stiegen sie alle aus. Das schafe T-Shirt, das männerhassende Handy, das würgende Wildschweinschwänzchen. Stattdessen marschierten die Kölner Karnevalsbands für ihren Auftritt in den ICE-Motivwagen ein.

Der Zug war pünktlich in den Kölner Hauptbahnhof eingefahren, um 9 Uhr 43 sollte es von hier aus Richtung Belgien weitergehen. Bei der Einfahrt über die Hohenzollernbrücke konnte Thorsten gut den Kölner Dom sehen – wie vorteilhaft war doch ein Fensterplatz –, der direkt neben dem Bahnhof stand. Leider hatte er es bislang nie geschafft, diesem imposanten Bauwerk, dessen Anfänge auf das 13. Jahrhundert zurückgehen, einmal einen Besuch abzustatten. Mit Vorfreude packte er sein selbst belegtes Dinkel-Mayonnaise-Käse-Salami-Salat-Tomate-Ei-Pinienkerne-Brötchen aus der umweltfreundlichen, weil kompostierbaren Pappverpackung aus und freute sich auf sein zweites Frühstück an diesem Tag, als er hinter sich eine hohe Frauenstimme älteren Semesters ausrufen hörte: „Aaaach, wie schön, da sitzen wir ja mit einem netten, jungen Mann zusammen. Lassen Sie sich ihr Frühstück gut schmecken!“

Nun, genau genommen rief die Frau: „Aaaach, wie staats, do setze m’r ija met enem netten, junge Kääl beienein. Losse Se sich ehr Frühstück jood schmecke!“

Thorsten blickte sich erschrocken um. Hinter ihm defilierte ein Quintett gestandener, resoluter Anfang-siebzig-Weiber durch den Zug, Marke Senioren-Tauziehverein, und steuerte genau auf Thorstens Sitzgruppe zu. Der Blick auf ihre Kukident-Beißer wurde nicht durch Mundschutzmasken verstellt. Drei Damen nahmen die Plätze um Thorstens Tisch herum ein, zwei setzten sich gegenüber des Gangs in die gleiche Reihe in Fahrtrichtung. Die Reservierungsanzeiger über den Köpfen hatten auf „Brüssel“ gewechselt. Auch der Rest des Reisewagens füllte sich merklich.

Thorsten sprach als Hamburger praktisch keinen Dialekt. Er stolperte nicht einmal über einen spitzen Stein, der seine norddeutsche Herkunft sofort verraten hätte. Es fiel ihm daher ganz allgemein schwer, Dialekte in Gänze zu verstehen. Besonders schwer tat er sich mit dem bayerischen Idiom und eben mit dem kölschen.

„Däht et ihnen jet usmaache, wann m’r der Plätze maggele künnte?“, wendete sich die Größte der fünf an Thorsten.

„Wie bitte?“

„Na, würde es ihnen etwas ausmachen, wenn wir die Plätze tauschen könnten? Mir wird beim Rückwärtsfahren immer schlecht und Inge, Maria und Ruth sitzen ja schon auf den Plätzen in Fahrtrichtung“, sagte die Frau, die sich hörbar bemühte Hochdeutsch zu reden, ohne den kölschen Singsang in ihrer Stimme verbergen zu können.

„Nein, selbstverständlich, ist kein Problem“, antwortete Thorsten gentlemanlike, doch innerlich knirschte er über den Verlust seines Panoramablicks. Die Plätze wurden gewechselt. So schnell saß er also rückwärts am Gang.

„Wohin jöcke Se dann? Also, wohin fahren Sie denn?“, fragte die eben erwähnte Ruth, auf die die Große gedeutet hatte. Und ohne Thorsten Antwort abzuwarten ergänzte sie: „Also wir wollen nach London, Klassenfahrt“

„Klassenfahrt!“, kreischten die anderen vier belustigt. „Ah-haha-ha-ha!“

„Sie müssen wissen, wir fünf kennen uns schon seit der Schulzeit, haben im gleichen Viertel gewohnt, haben dort geheiratet, Kinder großgezogen und heute holen wir endlich unsere Schulabschlussfahrt nach, die wir nie machen konnten. Ohne unserer Mannsbilder.“

„Mannslück! Ah-ha-ha-ha-ha!“

„Ich, nach Cornwall, über London“, entgegnete Thorsten bittersüß.

„Cornwall! Rosamunde Pilcher! Ah-ha-ha-ha-ha!“

„Oh, dann sind wir ja für längere Zeit Reisegefährten“, sagte die Grauschwarzhaarige, die bislang nichts von sich gegeben hatte und jetzt direkt neben Thorsten saß.

„Hoffentlich nur bis Brüssel“, dachte sich Thorsten, lächelte seine Sitznachbarin gequält stumm an und suchte in der Musik-App einen Song, der ihm spontan zu guter Laune verhelfen sollte.

Endlich setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Aachen und Lüttich hießen die nächsten Zwischenstationen bis Brüssel. Thorsten wollte bei der Fahrt nicht nur aus dem Fenster schauen – was er nun nicht mehr konnte – sondern hatte sich auch mit allerlei Unterhaltsamem ausgestattet, mit dem er sich die Zeit vertreiben wollte: Musikalben gelikt auf YouTube-Music, drei Romane bei Amazon Prime Reading auf sein Handy mit großem Display heruntergeladen, zwei Kinofilme aus Netflix downgeloadet, Smartphone-Spiele zum Zocken in verschiedenen Apps, einen Gedichtband in Buchform, vielleicht ein bisschen schlafen, Thorsten hatte einiges für den Zeitvertreib geplant. Allerdings, er kam in den folgenden knapp zwei Stunden bis zum Umsteigehalt Brüssel zu nichts. Die fünf kölschen „Mädcher“ feuerten einen bunten Reigen der angeregten Unterhaltung ab, bei dem es unmöglich war, irgendetwas anderes zu hören als deren Gespräche und sich auf irgendwelche eigenen Dinge zu konzentrieren. Das hatte er nun von seinem Wunsch nach einer erlebnisreichen Fahrt.

Thorsten erfuhr aus den Gesprächen der Damen, dass er mit Inge, Maria, Ruth, der großen Barbara und der grauschwarzhaarigen Elisabeth Bekanntschaft gemacht hatte. Piccolöchen, hartgekochte Eier, „Leberwurstbrütche“, Käse, Trauben, Gurken und noch mehr Piccolöchen machten die Runde und auch Thorsten musste kräftig zugreifen, was er in diesem Fall, dem dritten Frühstück des Tages, jedoch nicht bedauerte. Als der ICE die deutschbelgische Grenze hinter Aachen passierte, intonierten die Freundinnen schamlos und ohne sich vom spontan herbeieilenden Zugbegleiter zum Schweigen verurteilen zu lassen:

„Du bist meine Liebe –

Meine Stadt un mein Verein

Es gibt ein Million Gründe –

Um auf dich stolz zu sein

Nur du bist meine Liebe –

Meine Stadt un mein Verein

Ich bleib dir ewig treu –

Ich lass dich nie allein.

Kölle, du versteihs mich“

Thorsten verstand nur maximal ein Drittel von dem, was die Frauen sich erzählten, tratschten und belachten. Für ihn klang alles nach den Kölner Mundart-Bands, die in der Rosenmontagsfernsehsitzung aus dem Kölner Gürzenich im Ersten Fernsehprogramm ihre Schlager zum Besten geben. Und weil er die lustigen Weiber vom Kölner Dom so schwer verstand, gab er sich anderen Hirngespinsten hin und fantasierte herum, dass hier die Mütter der Folkloretruppen Höhner, Bläck Föös, Kasalla, Brings, und Räuber ihren Auftritt hätten (obwohl das Lied beim Grenzübertritt von den „Domstürmern“ stammt). Das machte für ihn die Unterhaltungen nicht verständlicher, aber es hob vorübergehend seine Stimmung.

Elisabeth: „Echte Fründe ston zesamme, ston zesamme su wie eine Jott un Pott.“

Inge: „Drink doch ene met, stell disch net esu ann.“

Barbara: „Du un ich, mer passe su joot zoenander, Joldfisch un Piranha, Pommes un Champagner.“

Maria: „Mir sin besoffe, mir sin besoffe, besoffe vör Glück.“

Ruth: „Dat es Heimat, dat es Heimat, dat es Kölle, rut un wies, zweschen Nümaat, Dom un Heumaat, han mir Kölsche et Paradies.“

Und wenn Thorsten etwas gefragt wurde, dann nickte er höflich, zog den Mund in die Breite, dass es wie ein Lächeln wirkte und antwortete, Anteilnahme vorgaukelnd: „Ja, ja.“

„Wusstest de, Kölsche Junge bütze joot, wie die Stars in Hollywood?“

„Ja, ja.“

„Nä, wat wor dat dann fröher en superjeile Zick, mit Träne in d’r Auge loor ich manchmol zurück.“

„Ja, ja.“

„Weißt de wo isch herkomme? Ich kumm us der Stadt met K, ich kumm us dä Stadt met K.“

„Ja, ja.“

„Denn he hält m’r zosamme, ejal, wat och passeet, en uns’rem Veedel.“

„Ja, ja.“

„Kumm loss mer fiere, net lamentiere, jet Spass un Freud dat hät noch keinem Minsch jeschad.“

„Jaaaaa, jaaaaa.“

So gingen zwei Stunden vorbei. Zwei Stunden, die Thorsten länger vorkamen als zwei Stunden Deutsch, zwei Stunden Englisch und zwei Stunden Geschichte hintereinander in der Klasse 8c. Er saß entnervt in seinem Zweite-Klasse-Bahnsitz, von dem er sich längst wünschte, dass dieser ein Schleudersitz sei, mit dem er sich senkrecht aus dem Zug katapultieren könne. Ihm schwirrte der Kopf. Ein schwarzes Mottoshirt für jede der Frauen mit dem Spruch „Irrenhaus auf Wandertag“ wäre die treffende Rudel-Bekleidung gewesen. Doch irgendwann erreichten sie endlich Bruxelles Midi. Alaaf!

KAPITEL 4 – Montag

Thorsten ließ, wie es sich für einen Mann mit guten Manieren gehörte, beim Ausstieg aus dem ICE seinen fünf ergrauten Kurzzeitbekanntschaften den Vortritt und alle suchten mit dem Betreten des Bahnsteigs mit wachen Augen nach den Hinweisschildern für den Eurostar-Check-in. Zunächst mussten sie vom Bahngleis mit der Rolltreppe nach unten fahren, da die Gleise sich über der Bahnhofshalle befinden, auf einer Art Viadukt, während die Haupthalle auf Straßenniveau unter den Gleisen liegt. Einem offensichtlich blinden, mitreisenden Senior mit weißem Stock, gelber Armbinde und dunkler Heino-Sonnenbrille bot Thorsten seine Hilfe an, indem er ihn anbrüllte: „Kann ich Ihnen helfen bei der Rolltreppe?“ Der Sehbehinderte aber schimpfte: „Ich bin blind, nicht taub, schreien Sie mich nicht so an“, und nahm souverän die Rolltreppe. Thorsten war sich selbst peinlich.

Die Reisenden mit Ziel London erspähten, unten angekommen, seeadlerblickmäßig die notwendigen Schilder und folgten in einer Herde mit zwei Dutzend Anderen den Zeichen Richtung Eurostar-Terminal, was ein bisschen so aussah, als würden die olympischen Geher mit Koffern und Trolleys eilig der Ziellinie entgegenwackeln.

Bruxelles Midi ist ein moderner Durchgangsbahnhof mit einer schicken, von gelben und anthrazitfarbenen Stehlen unterbrochenen Glasfassade, die von außen betrachtet genauso gut ein Einkaufszentrum oder eine Multifunktionshalle verbergen könnte. Innen ist er nicht so hübsch. Die Haupthalle ist ein breiter und düsterer Durchgang auf Straßenebene unter allen Gleisen. Zu jeder der 22 Plattformen gibt es Rolltreppen, Treppen oder Aufzüge. Bei seinen bisherigen zwei Besuchen in St. Austell war Thorsten bislang mit dem Auto und der Fähre zwischen Calais und Dover gefahren. Dies war sein erster Bahntrip.

Zu den Eurostar-Zügen gelangt man nur über ein separates, vom übrigen Bahnverkehr getrenntes Terminal. Analog zum Luftverkehr ist ein Check-in sowie eine Pass- und Sicherheitskontrolle erforderlich, bevor man an Bord gehen darf. Passagiere müssen sich spätestens 30 Minuten vor der geplanten Abfahrt im Eurostar-Terminal eingefunden haben und sich dort mit ihrem Ticket für die Abfertigung anmelden. An den Passkontrollen nach dem Check-in verlässt man für die Ausreise bereits hier bei den „Super-Flics“ Belgien und reist bei den „Bobbies“ dahinter quasi nach Großbritannien ein.

Glücklicherweise war der Zug aus Deutschland pünktlich in Brüssel angekommen, so dass Thorsten über eine Stunde Zeit hatte, um zum Eurostar-Terminal unterhalb der Gleise 1 und 2 zu schlendern, er nicht mit der Geher-Brigade mitwackelte und die Check-in-Formalitäten in Ruhe hinter sich bringen konnte. Zwar war er noch nie in Brüssel gewesen und es hätte ihn durchaus gereizt, sich die Hauptstadt Belgiens und der Europäischen Union einmal genauer anzuschauen, zumal Jennifer bereits für einige Geschäftsmeetings hier gewesen war, doch eine Stunde bedeutete in jeder Hinsicht zu wenig Zeit.

Thorsten legte der automatisierten Fahrscheinkontrollmaschine sein QR-Code-Handyticket zum Abscannen vor und wurde von den geschäftsmäßig blickenden Grenzern beider Länder danach kritisch in Augenschein genommen. Sicher kein Vertrauen konnte Thorsten bei den Beamten mit seinem, nach Jennifers Meinung, unmöglichen Army-Rasierfrisur-Foto im Reisepass aufbauen, einem Überbleibsel aus der frisörfreien Coronazeit. Dennoch ging alles fix und trotz erfolgtem Brexit nach wie vor visafrei. Als letztes musste er die Sicherheitsdurchleuchtung über sich ergehen lassen, bei der der Sicherheitsmitarbeiter, der ihn natürlich zusätzlich latexbehandschuht abtasten wollte und auf dem Ausziehen von Gürtel und Schuhen bestand, mit Zahnspange und Pubertätspickeln auf Thorsten nicht den Eindruck machte, ein Sicherheitsingenieur mit jahrelanger Terroristenbekämpfungserfahrung zu sein. Als Mister Hochsicherheitstrakt endlich alle Hosentaschen auf links drehen und die Schnürsenkel gar aus den Ösen friemeln gelassen hatte – Gott sei Dank hatte der Milchbubi nicht ausschließlich auf Schuhen mit Klettverschlüsseln zum Betreten des Zuges bestanden, weil man mit den Schnürsenkeln ja jemanden erwürgen könnte –, war es für Thorsten geschafft. Alle Kleidungsstücke wieder an den rechten Platz gerückt, betrat er die Eurostar Departure Lounge. Er gönnte sich einen einfachen Milchkaffee an der Bar und fühlte sich schon ein bisschen England nahe, dem Land, in dem er einst in Eastbourne an der Südküste vor zig Jahren einige lehrreiche Monate während seines Lehramtsstudiums verbracht hatte und für das er große Sympathien empfand.

Erstaunt war Thorsten, wie gut orientiert, schnell und zielstrebig Barbara, Elisabeth, Inge, Maria und Ruth vor ihm zu den Durchgangskontrollen gelangt waren und diese zügig hinter sich brachten. Keine Spur von Alterssenilität. Hier in der Lounge verlor er die fünf Frauen aber fürs Erste aus den Augen. Thorsten zückte sein Handy und nutzte das kostenlose Wifi-Angebot, um Jennifer eine WhatsApp-Nachricht zu schreiben: „Bin in Brüssel. Läuft alles planmäßig. Tolle Bekanntschaften im Zug gemacht. Zwinkersmiley.“ 15 Minuten vor der Abfahrt um 12 Uhr 52 war der Eurostar „ready for boarding“. Thorsten wollte nicht der Erste im Zug sein, denn dann musste man nur länger als alle anderen sitzend auf die Abreise warten. Er stellte sich deshalb ganz langsam am Ende der Schlage an, fuhr die Rolltreppe hinauf zum Bahnsteig und wurde von Schildern und Zugbegleitern zu seiner Wagennummer geleitet, um den Inselzubringer zu betreten.

Die Wagen des grau-gelb-blauen Eurostar (ohne Mundschutzdesign) waren absolut modern. Auf Thorsten wirkten sie dennoch eigenartig, anders eben als die gewohnten deutschen Regionalzüge oder ICEs. Thorsten überkam eine Art von wohligem Gefühl für das Fremde, wie eine innere Freude, die er als aufkommendes Reisefieber deutete, welches ihn trotz des unattraktiven Zielorts packte. Thorsten hatte das Standard-Premier-Paket gebucht, inklusive geräumigen Sitzplätzen und einer Mahlzeit am Platz. Beim Betreten des Wagens hatte er seinen kleinen Koffer, versehen mit einem vorgeschriebenen, gut lesbaren Kofferanhänger, in der Ablage deponiert. Seinen Rucksack in der Hand haltend, suchte er in den blaugrauen Reihen den von ihm reservierten Sitz. Der Wagen war voll, es war Ferien- und Hauptreisezeit. Ein lautes Stimmengewirr aus englischen, französischen, niederländischen, italienischen, polnischen, dänischen und deutschen Sprachfetzen drang an seine Ohren.

„Wo ist denn mein Platz? Wo ist was frei? Bin ich überhaupt im richtigen Wagen?“ Gerade, als Thorsten sich suchend umblickte und diese Fragen durch seine Hirnwindungen kreisten, hörte er eine helle Stimme, die alle anderen deutlich übertönte: „Ah, do es jo uns freundlicher Reisebegleiter met d’r jode Maniere widder.“ Thorsten hatte den Jackpot geknackt, dabei hatte er nie Glück im Spiel. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit gewesen, dass er mit den gleichen Nervtöterinnen zusammentraf, die ihn schon seit Köln die selbigen geraubt hatten? Er wusste es nicht, er war schließlich kein Mathelehrer, aber er saß wieder mit den lustigen Mundart-Müttern zusammen: Inge, Maria, die ihn hektisch herbeigewinkt hatte, Barbara und Elisabeth saßen an einem Gruppentisch, Ruth dahinter in einem Zweiersitz-Paar und daneben nun Thorsten, wenigstens aber am Fenster.

„Dat es ävver staats, dat m’r zusammensitzen. Su en Zufall. Dann han m’r jo jetz bes London noch e Hauf Feez“, jauchzte Ruth.

„Ja, was für ein Spaß“, grummelte Thorsten in sich hinein. Er wollte gerade etwas freundlich Gelogenes antworten, als die englische Zugdurchsage einer weiblichen Stimme krächzend aus dem Lautsprecher die Aufmerksamkeit der Passagiere erforderte: „Unsere Abfahrt verzögert sich um wenige Minuten. Grund dafür ist ein Leck in einem Wassertank in unserer Bordküche. Es handelt sich nicht um ein Sicherheitsproblem. Wir bitten um ihr Verständnis.“

Auch nach der gleichen Durchsage auf Französisch und Niederländisch blieb Thorsten gelassen. Für solche Probleme hatte er sich genügend Luft für den Umstieg in London gelassen. Er kramte sein Handy hervor und las sich die Ausflugspunkte durch, die er rund um St. Austell besuchen wollte, um während der einwöchigen Zusammenkunft nicht zu sehr im Fokus von Jennifer, aber auch nicht ihrer Eltern Millie und Joseph, zu stehen. Bei Cornish Classics Motorcycle Hire in Penryn hatte er für vier Tage bereits eine mintfarbene Royal Enfield 500cc EFI gemietet, um Cornwall per Motorrad zu erkunden. „Lizard Point“, malerische Felsenklippen mit einem Wanderweg und südlichster Punkt des englischen Festlands, stand ebenso auf seiner Liste wie „Golitha Falls“ plus „Stowes Hill mit Cheesewring-Felsen“, urige Wasserfälle mit Stromschnellen in märchenhaftem Wald plus Felsen in einer Hochmoorlandschaft mit prähistorischen Hügelgräbern und Steinkreisen. Erfreulicherweise war Ruth, abgekapselt von den vor ihr sitzenden vier Freundinnen, ruhiger geworden, überließ Thorsten sich selbst und verschlang vertieft ihren Rosamunde-Pilcher-Roman „Wolken am Horizont“. Pilcher, das war England für sie. Sie ließ nur hin und wieder ein „Wann jeht et endlich loss?“ vernehmen.

Genau, wann ging es endlich los? Thorstens Seelenruhe verflog allmählich, als die Durchsage drei weitere Male wiederholt wurde. Mittlerweile waren fast 30 Minuten vorüber, er konnte die niederländische Durchsage „Ons vertrek is enkele minuten vertraagd. De reden hiervoor is een lek in een watertank in onze kombuis. Dit is geen beveiligingsprobleem. We vragen uw begrip.“ nun auswendig aufsagen, doch der Schnellzug machte noch immer keine Anstalten, sich wenigstens im Schneckentempo in Gang setzen zu wollen. Thorstens Verständnis schwand und er beabsichtigte nicht mehr die sich abzeichnende Verspätung zu entschuldigen, selbst wenn die mittlerweile für ihn nervige Stimme aus den Deckenlautsprechern dauernd dreisprachig darum bat. Thorsten hatte für den Übergang von London St. Pancras, wo der Eurostar ankam, nach London Paddington, dem Abfahrtsbahnhof nach St. Austell, 59 Minuten eingeplant. Der Weg war realistisch zu Fuß und mit der U-Bahn in knapp 20 Minuten zu schaffen. 30 der 59 Minuten waren aufgezehrt. Hoffentlich bekam er kein echtes Problem. Gerade als Ruth wieder fragte „Wann jeht et endlich loss?“, durchfuhr ein Impuls den gesamten Zug, der sich damit in Bewegung setzte.

Der nächste Zwischenstopp der Reise sollte Lille sein, kurz hinter der belgisch-französischen Grenze. Auf dem Weg dorthin sprintete der Zug mit schönem Tempo, so dass Thorsten die Hoffnung hatte, ein klein wenig von der Verspätung sei wieder aufzuholen. Am Fenster vorbei flogen die grünen Wiesen und Felder der vom Mensch gemachten waldarmen Natur Mitteleuropas, die auch die Wallonie prägt und die in keiner Weise verrät, dass man sich in einem anderen Land als Deutschland befindet. Doch die häufig nur einstöckigen, mit roten oder braunen Klinkern aufgemauerten, mit gleichfarbigen Ziegeln gedeckten Häuser und die Schilder an Straßen und Bahnübergängen signalisierten dem aufmerksamen Reisenden, dass er ausländische Umgebung betrachte