1957 - Jule Peuckmann - E-Book

1957 E-Book

Jule Peuckmann

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Beschreibung

Im Jahre 1957 erhält eine kleine, erfolglose Detektei am Rande Londons einen mysteriösen Auftrag. Die Detektive sollen ein aus der Psychiatrie entflohenes Mädchen finden. Dafür winkt dem Alkoholiker Scott Hotch und seinem schüchternen Mitarbeiter Campbell Mansington ein Honorar, dessen Höhe alle Zweifel ausräumt. Was zunächst eine Routinearbeit zu sein scheint, stellt sich rasch als lebensgefährliche Mission dar. Dem Mädchen stehen offenbar besondere Kräfte zur Verfügung, die es ohne Hemmungen gegen ihre Mitmenschen einsetzt.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

05/2023

1957

© by Jule Peuckmann

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

Umschlaggestaltung: © 2023 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

Lektorat: Eva Jung, Nicky DeMelly

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Paul Lung

Coverbild ›Puppenmoor‹

© 2021 by Creativ Work Design, Homburg

Stock-Fotografie-ID: 869402154, Bildnachweis: PatriciaDz

Stock-Fotografie-ID: 91740398, Bildnachweis: toxawwwCoverbild ›Die Präsenz‹

© 2022 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

ISBN 978-3-96741-218-5

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Printed in Germany

Jule Peuckmann

1957

Horror

Für alle Zombiefanatiker und Schreiberlinge da draußen.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel      7

2. Kapitel      15

3. Kapitel      32

Die Suche      42

4. Kapitel      44

5. Kapitel      56

6. Kapitel      72

7. Kapitel      88

8. Kapitel      114

9. Kapitel      141

10. Kapitel      156

Die Erweckung      196

11. Kapitel      208

12. Kapitel      219

13. Kapitel      228

14. Kapitel      251

Nancy Lewis und der Orden der Elemente      279

15. Kapitel      281

Die Nacht der Vorbereitung      326

Der Untergang      345

16. Kapitel      347

17. Kapitel      378

18. Kapitel      394

19. Kapitel      409

Danksagung      7

Die Autorin      10

Hybrid Verlag …      11

 

1. Kapitel

Campbell »Junior« Mansington

09. April 1957

Scotts Büro — Hertford Rd 10, East Finchley

Als ich an diesem Morgen das Londoner Büro betrat, empfing mich neben dem aufgestauten Zigarettenqualm ein süßlicher, unbekannter Duft, dessen Ursprung ich zunächst nicht ausmachen konnte. Er drang in meine Sinne ein und zog mich magisch an.

Die Sekretärin, Vera Port, die den Rauch verursachte, schien nicht die Quelle des Geruchs zu sein. Die Frau war ein Hingucker. Ich beobachtete sie häufiger, wenn sie sich über den Schreibtisch lehnte. Sie legte ihre Arme immer dicht neben ihre Brüste und drückte sie ein wenig zusammen, was sie zumindest etwas größer wirken ließen. Wenn ein Klient hereinkam, übertrieb sie diese Geste noch deutlicher.

»Guten Morgen, Kleiner.«

Ich zuckte zusammen. Auch wenn man ihr richtiges Alter durch die Schicht Make-Up kaum erkannte, war sie nur ein wenig älter als ich. Zwar war auch ich erst vierundzwanzig, aber der Spitzname Kleiner fühlte sich trotzdem ungerecht an.

Sie zog an der Zigarette und pustete mir den Rauch ins Gesicht, ehe sie mich verheißungsvoll anlächelte. »Es gibt was zu tun für euch.«

Ich erwischte mich dabei, wie hypnotisiert auf ihr freizügiges Dekolleté zu starren, als sie sich demonstrativ nach vorn beugte. Mir schoss das Blut in den Kopf. Eilig wandte ich mich ab. Wieder erlangte dieser Geruch meine Aufmerksamkeit. Er drang aus Scott Hotchs Büro zu mir herüber.

Vera wies ebenfalls in diese Richtung und ich folgte ihrem Fingerzeig. »Scot Hotch« stand auf der Glastür. Das zweite »t« war in den zehn Jahren, in der die Detektei existierte, verloren gegangen. Ich atmete tief durch, wobei zu viel Rauch in meine Lunge geriet. Hustend machte ich mich auf den Weg zu Hotch.

Dort drohte mich dieser neue Gestank zu erschlagen.

Scott Hotch lächelte, als er mich bemerkte: »Komm rein, Junge. Setz dich.«

Es versetzte mir einen Stich. Junge gefiel mir nicht viel besser als Kleiner. Aber schließlich bezahlte mich der Säufer, da musste ich das wohl ertragen.

Dem Boss gegenüber saß eine ältere, dickliche Dame. Je näher ich ihr kam, desto klarer wurde, dass sie der Ursprung des Geruchs war.

Die Klientin besetzte den einzig anderen Stuhl im Raum, da hätte Hotch sich seinen Spruch auch schenken können. Also beließ ich es bei einem Schlendern durch das Büro und beendete meinen Rundgang bei der Fensterbank, an der ich versuchte, mich lässig anzulehnen.

»Campbell Junior Mansington. Darf ich dir unsere heutige Klientin vorstellen? Maria Santos.«

Die Dame nickte zufrieden, als sie ihren Namen vernahm und strich über das silberne Kreuz um ihren Hals. Außer der Klientin wirkte noch etwas anders an diesem Morgen. Die Flasche Scotch fehlte auf dem Schreibtisch, und das dazugehörige halbvolle Glas ebenso.

Das Notizbuch und der Stift vor Scott komplettierten diese ungewöhnliche Situation. Normalerweise überließ er das Schreiben anderen Personen. Vorzugsweise mir. Doch heute hielt er den Stift bereits in der Hand. Der alte, beleibte Cowboy wirkte beinahe wie ein aufgeregter Schuljunge. »Guten Tag«, sagte Maria Santos in meine Richtung. Ihre Stimme klang kalt. Sie ließ das Kreuz los und zog stattdessen eine Bibel aus ihrer Tasche, die sie vorsichtig auf ihrer schwarzen Kutte ablegte. »Ihr Partner ist so aufgeregt, da ich ihm eine gewisse Summe anbiete. Eine Summe, die hauptsächlich Ihre Diskretion sichern soll.«

Auf einmal wurde mir warm, es bildete sich Schweiß auf meiner Stirn. Die Frau sah mich direkt an und trommelte mit ihren knochigen Fingern auf dem Buch herum.

»Bevor ich Ihnen mehr verrate, müssen Sie mir diese garantieren«, fuhr sie fort. »Außerdem erwarte ich eine schnelle Lösung meines Problems.«

Ich erschauerte. Schnell waren wir beim besten Willen nicht.

»Ihr Partner zuckte ebenso, wie Sie das gerade tun. Ich habe mich vorher informiert und bin durch reine Mundpropaganda an alle möglichen Detekteien gelangt, die mir jedoch nicht diskret genug wirkten.«

Diskret waren wir wahrscheinlich, wenn, dann aber nur sehr unfreiwillig.

»Was genau meinen Sie mit den anderen Detekteien fehle es an Diskretion, wenn ich fragen darf?«, hakte ich also nach.

Sie lehnte sich zurück und warf mir einen strengen Blick zu. »Allein, dass diese Detekteien wesentlich bekannter sind als Ihre, schreckt mich ab. Von Ihnen habe ich noch nie gehört. Nur durch Zufall habe ich mich unter Ihrem Vordach vor einem Regenschauer schützen wollen und dabei dieses winzige Werbeschild gesehen. Sonst hätte ich Sie wahrscheinlich nie gefunden. Ich nehme an, dass Sie das Geld gut gebrauchen können, wenn ich mir Ihre Räumlichkeiten ansehe.« Sie schnippte ein Staubkorn von ihrer Stuhllehne und knirschte dabei mit den Zähnen.

An Scotts veränderter Art erkannte ich, dass ihm dieser Fall etwas bedeutete. Er wirkte klar, saß beinahe aufrecht und ich meinte sogar das ein oder andere höfliche Kopfnicken gegenüber unserem Gast wahrzunehmen. Auch ich wollte, ohne die Summe zu kennen, diesen Fall annehmen. Die Situation wirkte wie aus einer guten Detektivgeschichte: eine mysteriöse Frau, eine hohe Geldsumme und die Geheimniskrämerei. Ich musste grinsen.

Frau Santos öffnete die Bibel und nahm einen Umschlag heraus. Sie legte ihn mit einer unnötig diskreten Bewegung auf den Tisch. Scott nahm ihn an sich und reichte ihn schmunzelnd zu mir durch. Ich öffnete das Kuvert und spähte hinein. Es lagen mindestens Zehntausend darin, wenn ich das richtig überblickte. Doch ehe ich die Scheine zählen konnte, riss Scott mir den Umschlag wieder aus der Hand. Er warf einen Blick hinein und schloss ihn in einer Schublade seines Schreibtisches ein. Den Schlüssel ließ er in seinem befleckten Hemd verschwinden und fuhr sich sichtlich zufrieden durch seine zurückgegelten Haare.

Santos saß reglos vor uns, bis Scott seinen stummen Sieg ausgiebig ausgekostet hatte. Er nickte und bewegte seine Lippen, so als ob er sich selbst zu diesem Erfolg gratulierte.

»Sie werden also diskret sein?« Sie beäugte mit hochgezogener Augenbraue den Schrank voller Flaschen, der sich in der rechten Ecke des Zimmers befand.

Scott und ich nickten gleichzeitig, wie zwei Wackeldackel. Santos warf einen Blick in den Flur, in dem Vera so tat, als würde sie Akten sortieren, aber immer wieder wenig unauffällige Blicke in das Büro warf.

Unsere Klientin ließ die Bibel wieder in ihrem schwarzen Gewand verschwinden. »Ich würde das ungern hier weiter besprechen. Es wäre mir recht, wenn Sie uns in der Klinik besuchten. Passt Ihnen morgen?«

Scott zog einen Kalender aus einer anderen Schublade und schlug ihn auf. Aus meinem Blickwinkel erkannte ich, dass er von 1954 und außerdem leer war.

Santos schien dies nicht aufzufallen.

»Uns passt morgen. Welche Klinik?«

»Saint Christian.« Sie stand auf. »Morgen um 10:00 Uhr.« Langsam stolzierte sie zur Tür. Im Vorraum beugte sich Vera vor und entblößte ihre Brüste. Sie versuchte der Frau die Hand zu geben, doch diese ignorierte die Geste demonstrativ und warf einen abfälligen Blick auf Veras Ausschnitt. Ihr Charme wirkte eben nicht bei allen.

Scott sprang auf, sobald Santos das Gebäude verlassen hatte.

»Das müssen wir feiern!« Er nahm seinen Cowboyhut von der Lehne, bevor er sich auf eben jenen Schrank zubewegte, den Santos noch vor wenigen Sekunden kritisch beäugt hatte.

»Was denkst du, worum es geht?« Ich versuchte nicht allzu aufgeregt zu klingen.

»Was weiß ich denn. Die Bezahlung stimmt, da frage ich nicht weiter.«

»Ist das Saint Christian eine katholische Klinik?«

Zu meiner Überraschung lachte Scott. Der Mann bewarf sonst jeden mit Gläsern, der ihn auch nur nach seinem Tag fragte. Heute hingegen schien er gut gelaunt zu sein und außerdem meine Gedanken zu erraten. »Keine Sorge, Junior. Ich werfe schon nichts nach dir.«

»Nicht schon wieder …«, murmelte ich.

»Das eine Glas kannst du mir ja wohl nicht übelnehmen. Außerdem habe ich durchaus mitbekommen, dass du die kleine Narbe an deiner Stirn den Damen als Kriegsandenken verkaufst.« Nun kicherte er beinahe. »Das Saint Christian ist eine Irrenanstalt mitten im Epping Forest, Campbell Junior.«

Die Information mit der Irrenanstalt — also der Psychiatrie — ließ mich aufhorchen.

»Eine schlechte Irrenanstalt, um genau zu sein. Seit Jahren erzählt man sich hier, dass sie bald geschlossen werden wird. Wahrscheinlich haben die wieder Scheiße gebaut und brauchen unsere Hilfe, damit das nicht an die große Glocke gehängt wird.« Scott leerte sein Glas und starrte gedankenverloren auf die Flasche.

Ich musterte ihn und erkannte plötzlich eine Art jugendlicher Agilität im Funkeln seiner Augen.

»Du solltest ins Archiv der Bibliothek gehen und dich über das Saint Christian informieren.« Er füllte das Glas erneut. »Willst du auch?«

»Nein.« Ich neigte den Kopf beiseite und sah ihn an. Sein Heiligtum zu teilen, sah ihm nicht ähnlich.

»Wir sollten vorbereitet sein.« Er ließ sich in seinen Sitz fallen. Diese Position würde er bis morgen wohl nicht mehr groß verändern. Er lebte in seinem Büro und einem Zimmer darüber.

Nickend stieß ich mich von der Wand ab. »Gut.«

Bei meinem Weg zur Tür warf ich noch einen flüchtigen Blick auf den Notizblock. Dort standen lediglich zwei Worte: Saint Christian. Na, wenigstens etwas.

Nachdenklich verließ ich das Büro. Es lag außerhalb von East Finchley, einem Stadtteil Londons, der nicht zu den besten, aber auch nicht zu den schlechtesten gehörte. Die restlichen Wohnungen des Gebäudes waren verlassen, die Fassade bröckelte. Das passte nicht in diese mittelständische Gegend. Ein Plakat mit der Aufschrift »Zu verkaufen« zierte entsprechend lange schon eine der Außenwände. Es hatte bereits bei Antritt meiner Stelle in Scotts Büro vor einem Jahr dort gehangen.

Die East Finchley Library und das dazugehörige Archiv lagen nicht unweit unseres Büros, weshalb sie zu unserer Hauptquelle mutiert waren. Öffentlichen Besuchern war es nicht gestattet, das Stadtarchiv einzusehen. Dank einer Vereinbarung zwischen Scott und dem Besitzer, die einen Whiskey-Handel beinhaltete, galt das Verbot aber nicht für uns.

Ich erreichte das Gebäude und betrat die Eingangshalle. Das hohe Gewölbe, welches bis oben hin mit Bücherregalen zugestellt war, wirkte trotz seiner Größe beengend auf mich. Ich ließ meinen Blick durch die leeren Gänge schweifen. Zwar hatte ich keine Besucher erwartet, aber normalerweise war zumindest ein Mitarbeiter vor Ort, um einen Anschein von Interesse zu erwecken.

»Hallo?«, rief ich.

Der kleine Mann, der auch sonst diese heiligen Hallen besetzte, sprintete um die Ecke. Sein Hemd von Schweiß getränkt, selbige Flüssigkeit wischte er sich auch hektisch aus dem Gesicht.

Peter reichte mir die Hand. »Hallo Campbell. Wie kann ich dir helfen?« Grinsend rückte er seine Fliege zurecht und wies glucksend auf sein Namensschild: »Ich bin Peter und werde Sie heute bedienen.«

»Ich weiß, Peter. Ich brauche die Akten über das Saint Christian.«

Er atmete hörbar ein und gluckste erneut. Dann wies er mich an, ihm zu folgen.

Nach kurzer Recherche in der einzig vorhandenen Akte, stellte ich fest, dass es hier nicht wirklich etwas zu holen gab. Ein Artikel über die Entstehung und ein ursprünglicher Gebäudeplan halfen nicht weiter. Wir mussten wohl den morgigen Termin abwarten.

2. Kapitel

Campbell »Junior« Mansington

10. April 1957, 10:00 Uhr

Saint Christian — Epping Forest, London Epping Forest District

Das Saint Christian lag eine halbe Stunde außerhalb von London im Epping Forest. Je weiter wir uns von der Stadt entfernten, desto mehr verfestigte sich mein Eindruck, in eine dunkle, unausweichliche Sackgasse zu fahren. Die Zweige der Bäume schienen von allen Seiten nach uns zu greifen, die dichten Baumkronen tauchten die bemooste Straße in gruseliges Dämmerlicht, undurchdringbar selbst für die Scheinwerfer. Ein unangenehmer Kloß bildete sich in meinem Hals. Ich wünschte mir Licht herbei.

Die Bäume sorgten nicht nur für nächtliche Stimmung. Ebenso schirmten sie das Gebäude vor neugierigen Blicken ab. Über dem Tor, das den Eingang zum Vorplatz markierte, prangte der Name der Psychiatrie. Das Schild schien jeden Moment nach vorne kippen zu wollen. Die Buchstaben wurden bereits von hartnäckigem Efeu angegriffen, der die Tafel als letzte Barrikade zusammenzuhalten schien. Der Anblick erinnerte mich auf erschreckende Weise an Bilder von Konzentrationslagern. Mein Kloß wurde größer und drohte, mir die Luft zu rauben.

Die schwarzen Steine des Hauses ließen nur Platz für kleine, vergitterte Fenster. Mein Atem wurde schwerer und ich begann zu schwitzen. Ich fühlte mich erdrückt und wünschte, mich unter meinem Sitz verstecken zu können. Mit einer beiläufigen Handbewegung trocknete ich meine Stirn und warf einen raschen Blick zu Scott hinüber. Hoffentlich bemerkte er meine Nervosität nicht.

Sein Cowboyhut bedeckte seine Augen und würde er nicht manchmal eine Melodie anstimmen, hätte ich ihn wohl für tot gehalten.

Ich hatte den Wagen neben dem Pförtnerhaus angehalten, aus dem nun ein Mann trat. Er trug verschlissene, dunkle Kleidung. Sein Gesicht war zur Hälfte von einem unkontrollierten Bartwuchs verdeckt, ein Baseballcap übernahm den oberen Bereich. Widerwillig kurbelte ich das Fenster herunter und zwang mich zu einem Lächeln.

»Haben sie einen Besucherausweis?«, murmelte er.

»Nein.« Ich erschrak über die Angst, die in meiner Stimme mitschwang. Dabei war er nur ein Mann, der ein Gebäude bewachte. Wie hatte Vater immer gesagt: Angst ist etwas für Kinder.

»Wir haben einen Termin bei Maria Santos«, funkte Hotch dazwischen, der mittlerweile seinen Hut wieder auf seinem Kopf platziert hatte.

»Ok.« Der Mann schlurfte zurück in sein Häuschen. Das Tor ächzte und öffnete sich langsam.

»Siehst du, Junior. Man muss nur mit den Leuten reden.« Ich nickte nur und wischte mir Schweiß von der Stirn. Langsam bog ich auf den Hof ein und hielt neben einem Geländewagen, der unnötigerweise quer auf mehreren Parklücken stand. Santos trat aus dem Haupteingang und beobachtete mein Einparkmanöver, hielt es aber nicht für nötig, uns entgegenzukommen.

Als wir sie erreichten, rang sie sich ein kühles Lächeln ab und gab uns die Hand.

»Willkommen. Es wäre am besten, wenn wir alles in meinem Büro besprechen.«

Die Kälte des Gebäudes setzte sich im Inneren fort. Ein kleines Foyer empfing uns. Von den Wänden bröckelte der Putz auf den schmutzigen Boden. Eine erschreckend große Spinne verschwand hinter dem Tresen, als Santos den vergitterten Durchgang aufschloss. Dahinter folgten wir einem Flur, an dessen Seiten Türen abführten. An einer Wand hing ein Gemälde von Santos. Es sah lebendiger aus als die Frau selbst.

Neben dem Gemälde führte eine Tür in ihr Büro.

»Setzen Sie sich doch.« Sie wies auf die Stühle vor ihrem Schreibtisch. »Vor einer Woche floh eine Patientin«, sagte sie in ihrer üblichen Emotionslosigkeit, noch bevor sie selbst Platz nahm.

»Sie ist geflohen?« Scott ließ sich auf dem knarzenden Stuhl nieder, den er beinahe verfehlte.

»Ja. Sie sollen sie finden.« Santos verzog nicht einmal die Miene. Es wirkte, als wäre ihr Gesicht Teil einer perfekt funktionierenden Maschinerie, welche sich keine Fehler erlaubte. Den Grad der Diskretion, welchen sie verlangte, konnte ich plötzlich gut nachvollziehen. Würde sicher der Reputation des Hauses schaden, wenn ihnen eine Patientin so einfach verloren gehen konnte.

»Wer ist sie denn?« Scott schmatzte und lehnte sich so weit in seinem Stuhl zurück, dass sein Körper eine gerade Linie bildete.

»Ein junges, verwirrtes Mädchen namens Delilah Hoffner.« Der Name sagte mir nichts. Santos schob sich aus ihrem Sessel und nahm eine Akte aus dem Regal. Diese legte sie vor uns nieder. Ich öffnete sie und begutachtete das Bild des jungen Mädchens. Mein Blick fiel auf ihre tiefschwarzen Augen, die noch dunkler wirkten als die Steine ihres ehemaligen Gefängnisses. Es überkam mich ein unangenehmes Gefühl, als wollte das Mädchen gleich aus der Fotografie springen und mich erwürgen. Schnell schob ich die Akte zu Hotch.

»Was passierte mit ihr?«, fragte dieser.

»Sie selbst passierte sich. Vor drei Jahren, sie war achtzehn, verlegte man sie in unsere Klinik. Diagnostiziert wurde autoaggressives und selbstverletzendes Verhalten. Zunächst lebte sie mit einer anderen Patientin in einem Doppelzimmer, aber das funktionierte nicht. Sie verletzte sich an den Gegenständen im Raum. Außerdem versuchte sie häufig auszubrechen. Wir setzten sie daraufhin auf eine strikte Tablettentherapie, um sie ruhigzustellen, aber das funktionierte bedauerlicherweise auch nicht. Vor einigen Wochen mussten wir sie in eine Sicherheitszelle verlegen. Als die Schwester vor zwei Tagen nach ihr sehen wollte, war sie weg.«

Ich nahm meinen Notizblock aus der Tasche. »Könnte sie noch im Gebäude sein?«

»Nein. Wir haben bereits jeden Zentimeter des Gebäudes, des Geländes und des Waldes abgesucht.«

Wie kann sie aus einer Zelle geflohen sein? Das macht keinen Sinn. Wie lange war sie bereits verschwunden gewesen, bevor es jemandem aufgefallen war? Und wieso ist mir immer noch schlecht?

Santos riss mich aus den wirren Gedanken. »Wie ist Ihre Vorgehensweise?«

Unsere was? Wir kannten noch keine etablierte Vorgehensweise in solch einer Situation. Unsere Fälle beschränkten sich meistens auf Taschendiebstahl und Ehebetrug. Vor allem alte, frustrierte Hausfrauen, die ihren Männern eine Affäre nachweisen wollten, schienen sich von Hotch angezogen zu fühlen. Wieso auch immer. Aber eine Flucht aus der Psychiatrie war doch etwas anderes.

Santos musterte mich. Unwillkürlich ließ ich mich tiefer in den Stuhl sinken.

Glücklicherweise nahm Hotch mir die Antwort ab. »Wir müssen erstmal die Akte studieren, um ein besseres Bild von ihr zu erhalten. Außerdem werden wir mit den anderen Patienten reden, vor allem mit denen, die sie vor ihrer Zeit in der Sicherheitszelle kannten. Insbesondere mit ihrer ehemaligen Zimmergenossin.«

Die Titulierung der Mitpatientin kam mir in dieser Einrichtung unangebracht vor.

»Ihre Zimmergenossin verstarb leider.« Der Tonlage nach zu urteilen, schien auch Santos diese Betitelung zu missfallen.

Ich wartete auf eine Erklärung für die Todesursache der Frau, doch für sie schien das Thema damit abgeschlossen.

Für Hotch jedoch nicht. »Wie?«

»Delilah ermordete sie.« Sie verzog keine Miene.

Mir wurde kotzübel. Also war nicht nur ein junges, verwirrtes Mädchen entflohen, sondern eine Mörderin. Sie müsste schon längst London erreicht haben. Möglicherweise war ich ihr bereits begegnet. Ich sog die Luft ein und verschluckte mich.

»Wie?«

Ich könnte Scott für diese erneute Frage in den Hintern treten, als Maria Santos uns die Fotos des Opfers vorlegte. Er verzog angewidert das Gesicht. Ich starrte fassungslos auf das Bild und schob meinen Stuhl ein wenig zurück. Als ob ich so dem Grauen entkommen könnte. Das Bild, das offensichtlich im Zimmer der beiden gemacht worden war, zeigte einen weiblichen Körper auf einem der beiden Betten. Das Gesicht war entstellt. Es sah aus, als hätte Delilah ihre Fingernägel tief in die Wangen gebohrt und mehrere Male bis zu ihrem Unterkiefer gezogen. Was nichts war im Vergleich zu dem Bauch des Opfers. Die tiefe Wunde klaffte weit auseinander und gab den Blick auf die Eingeweide frei. Ihr Darm schien einige Meter herausgerissen worden zu sein. Er hing bis auf den Boden herunter und hinterließ eine inzwischen getrocknete schwarzrote Lache auf den Fliesen. Ein Bettpfosten steckte in ihrem Unterleib, aber das erklärte nicht die Plünderung der Magengrube.

»Sie aß ein Stück der Niere und entfernte weitere Organe, die sie lediglich im Zimmer verteilte, bevor wir sie fanden«, erwiderte die Leiterin. Sie wirkte immer noch tiefenentspannt.

Eine junge, verwirrte Mörderin und Kannibalin. Mit zitternder Hand ließ ich den Stift auf den Tisch sinken und konzentrierte mich darauf, meinen Würgereflex zu unterdrücken.

»Ich nehme das Foto, Junior.« Scott lachte trocken auf. »Mein Gott. Das Essen hier muss miserabel sein, wenn sie auf so radikale Methoden zurückgreift.«

Er drehte und wendete das Bild, um jeden Blickwinkel einzufangen. Die Faszination in seinem Blick erschreckte mich. Hart schluckend schätzte ich den Weg zum Mülleimer ab, aber diese Blöße wollte ich mir nicht geben.

»Wir müssten mit den Angestellten und Patienten reden. Stellen Sie uns dafür einen Raum zur Verfügung?« Wieder fiel sein Blick auf das Bild, wobei nach wie vor seine Augen glänzten.

Santos nickte. »Ich werde Sie in den Speisesaal führen. Reden Sie erstmal mit den Angestellten. Es sind vier, mit mir fünf, wobei ich unser Sicherheitspersonal nicht dazuzähle. Die beiden Männer kennen sich mit unseren Patienten nicht aus.«

Eigentlich sollten wir auch mit diesen Männern reden, doch ich traute mich nicht, gegen die Leiterin ein Machtwort zu richten. Mit Sicherheitspersonal meinte sie sicher den Mann vor dem Tor im Pförtnerhaus.

Mein Magen beruhigte sich wieder, nun, da ich mich mit dem Fall beschäftigen konnte. Erneut nahm ich meinen Stift auf. »Dürften wir uns hier auch nochmal genauer umsehen? Vor allem in ihrer ehemaligen Zelle … ähm, also ihrem Zimmer, versteht sich.«

Ihre Antwort: nur ein kaltes Nicken. Ich schrieb einige Wörter nieder: Kannibalin, Speisesaal, Tunnel(?). Den Begriff Tunnel fügte ich aus reiner Spekulation hinzu, um den Anschein zu erwecken, gedanklich schon eine Spur zu verfolgen.

Der Speisesaal war eine leere, verdreckte Halle, die mit ziemlicher Sicherheit ewig keinen Menschen mehr gesehen hatte. An den Tischen hingen Spinnweben und auf dem Boden klebten einige Essensreste, wobei ich mich fragte, wieso sie auf dem Boden und nicht auf den Tischen verrotteten. Die vergitterten Fenster lagen kurz unter den morschen Dachbalken, sodass es keine Möglichkeit gab, einen Blick hinauszuwerfen. Ein unangenehmer Druck, der nichts mehr mit dem Foto zu tun hatte, machte sich in meinem Magen breit, als ich mich auf einen der Holzstühle sinken ließ.

Die Liste mit den aktuellen Patienten und Mitarbeitern lag vor mir.

Eine ältere Dame, die so tat, als würde sie Dreck beseitigen, bot uns etwas zu essen an. Dankend lehnte ich ab. Scott hingegen nahm einen Teller undefinierbarer Pampe entgegen und schlang sie in sich hinein.

»Ich denke, wir sollten zuletzt mit ihr reden.« Er deutete auf die Köchin.

Santos betrat den Raum und führte einen jungen Mann herein. Er schien mein Alter zu haben. Sie drückte ihn auf die Bank uns gegenüber und setzte sich neben ihn.

»Wir würden gerne mit ihm allein reden«, blaffte Scott und spuckte dabei auf die Tischplatte. Das konnte die hygienischen Verhältnisse aber auch nicht mehr verschlimmern.

Santos schüttelte den Kopf: »Das kann ich nicht tun. Ich bin für meine Angestellten verantwortlich. Aber ich werde nichts sagen. Betrachten Sie mich als passiven Teilnehmer an diesem Gespräch.«

Mich störte ihre Anwesenheit, doch Scott nickte und wandte sich an den Mann. »Wie heißen Sie?«

»Danny Certo.«

»Wie lange arbeiten Sie hier schon?« Scott schmatzte ungeniert.

»Seit zwei Jahren.« Er wirkte nervös. Seine Antworten schossen nur so aus ihm heraus, als hätte sie ihm jemand zuvor eingebläut.

»Ich bin zweiundzwanzig und komme aus Reading.«

Ich hob eine Augenbraue und schielte zu Hotch hinüber. Auch ihn schien diese plötzliche Offenheit zu irritieren, zumindest ließ er jetzt von seinem Teller ab.

Er beugte sich vor. »Kannten Sie Delilah Hoffner?«

Ein dünner Schweißfilm bildete sich auf Dannys Stirn. Er senkte den Blick und schwieg. Hotch lehnte sich noch weiter nach vorn. »Kannten Sie sie?« Seine Stimme klang ungeduldig. Während Danny ein Stück in sich zusammensackte, zog Scott eine Zigarette aus seiner Schachtel und zündete sie genüsslich an.

Der junge Mann hielt den Kopf gesenkt. »Ich war ihr Pfleger. Also, jeder kannte sie. Wir sind jetzt auch nicht so viele Angestellte, deswegen kennt sie eigentlich jeder. Jeder kennt jeden, will ich damit sagen.«

Es würde mich nicht wundern, wenn sein hochrotes Gesicht in seine Einzelteile zerspränge. »Delilah war nicht groß, anders als die meisten hier. Sie hat nie viel gesagt. Die meiste Zeit verbrachte sie in einer Ecke ihrer Zelle und starrte die Wand an.«

»Ist es normal, wenn Patienten ihre Zimmernachbarn umbringen und verspeisen, oder was ist das für ein Laden hier?« Scott blies eine Rauchwolke in Dannys Richtung.

Mein Magen meldete sich erneut, als mir das Bild des Massakers in den Kopf schoss.

»Was? Nein, natürlich nicht.« Danny spielte nervös an seinem Oberteil. Für eine Schrecksekunde sah er sogar Scott direkt in die Augen, doch lang hielt er seinem Blick nicht stand. »Wir haben hier auch alle heftig diskutiert, also wir mit der Polizei, ob man sie in ein Gefängnis verlegen sollte, aber die von der Met meinten, dass sie hierbleiben und in einem Einzelzimmer untergebracht werden sollte.« Er starrte auf seine Beine. »Sie war fast nie wütend, nur an diesem Tag.«

Als er seinen Redeschwall beendet hatte, schien er erleichtert zu sein. Er keuchte, als hätte er einen Marathonlauf hinter sich gebracht.

»Passierte an diesem Tag etwas Besonderes? Etwas, das diesen Wutausbruch erklärt?«, fragte ich und sah direkt zu Hotch hinüber, doch er billigte mein Eingreifen. Danny kratzte sich nervös am Arm, wirkte inzwischen aber etwas entspannter.

»Es ist schwer, in die Köpfe dieser Menschen zu blicken, aber ich erinnere mich noch an eine Situation, die man hier vielleicht als besonders bezeichnen könnte. Wir haben einige Bücher aus einer Bibliothek geschenkt bekommen. Ich ging damit durch die Zimmer und jeder durfte sich eins aussuchen. Delilah wollte keins, aber ihre Zimmernachbarin nahm eine Bibel. Später, als die Schwester reinkam, las Delilah etwas daraus vor. Also, sie schrie es eher laut. Die andere Frau aus dem Zimmer saß zusammengekauert in einer Ecke und hielt sich die Ohren zu. Als Delilah meine Kollegin bemerkte, warf sie das Buch nach ihr. Wahrscheinlich war sie gläubig, also sie ist wahrscheinlich gläubig, aber ich fragte sie nie danach. Aber wer ist in diesen Zeiten nicht gläubig, … also ich bin gläubig.« Sein Kopf senkte sich wieder.

Ich hielt nicht viel von Religionen, aber an etwas zu glauben verstand ich. Meine Eltern hatten mir die Religion gründlich ausgetrieben mit ihrem ewigen Kirchgängertum. Die beiden behaupteten noch heute, ich wäre gläubiger Christ. Es bereitete mir Kopfschmerzen, an die vielen Sonntage in der Kirche zu denken.

»Was wissen Sie denn sicher über sie?«, drängte Scott ungeduldig.

»Ich glaube, sie war einsam. Hatte wohl eine schwere Kindheit, das teilte uns zumindest das andere Krankenhaus mit.«

»Das, in dem sie ursprünglich lag?« Ich notierte schlechte Kindheit.

»Ja. Sie machte schon dort einige Probleme, habe ich gehört.«

Santos lehnte sich zu ihrem Angestellten und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Er muss jetzt wieder gehen. Mittagessen verteilen. Aber er wird Liliana holen.«

Santos kontrollierte ihre Angestellten und wenn sie entschied, dass er genug gesagt hatte, hatte er genug gesagt. Ich fragte mich, wie diese Frau überhaupt dazu kam, ein Krankenhaus zu leiten. Aus irgendeiner naiven Vorstellung heraus hatte ich wohl gedacht, dass man ein Menschenfreund sein müsse, um Menschen zu helfen.

»Schick sie rein.« Santos wischte Danny mit einer Handbewegung von der Bank.

Danny nickte und es würde mich nicht wundern, wenn er vor ihr auf die Knie ging, um ihr Antlitz anzubeten, aber er tat nichts dergleichen.

Eine junge, zierliche Frau trat ein. Ebenfalls in meinem Alter und wirklich hübsch. Ihre langen schwarzen Haare zähmte sie mit einer Flechtfrisur, die ihre weichen Gesichtszüge offenbarte. Ich war mir sicher, dass sie kein Make-Up trug. Als ich bemerkte, dass mein Mund geöffnet war, klappte ich ihn eilig zu und spürte, wie mir das Blut in die Ohren schoss.

Sie ließ sich auf die Bank fallen, auf welcher Danny eine Pfütze aus Körperflüssigkeiten hinterlassen haben musste, und betrachtete uns eingehend, bevor sie etwas sagte.

»Sie werden sie nicht finden. Ich weiß nicht, wo sie ist, aber ich weiß, wieso sie ging. Haben Sie sich den Laden mal angeguckt? Jeder will hier weg. Ich weiß nicht, wo sie ist oder ob Delilah vorhat zurückzukommen, aber ich verstehe sie. Sie ist ein schrecklicher Mensch, aber sie war auch unglaublich verloren und verwirrt. Kann ich gehen?« Obwohl sie ihre Rede in einem kühlen Ton bestritt, büßte ihre Miene nichts an Anmut ein. Schweigend starrte ich sie an. Scott schien ihre Schönheit auch nicht entgangen zu sein. Seine Beine rutschten auseinander, er lehnte sich an den Tisch und lächelte sie an. Santos wirkte zwar genervt, ließ die junge Frau aber gewähren.

Ich schluckte hart, wieder rebellierte mein Magen.

»Darf ich gehen?«, fragte sie erneut. Ich räusperte mich und schlug meinen sinnfreien Notizblock auf.

»Nein. Wir hätten da schon noch ein paar Fragen«, sagte Scott und brachte mich damit zum Schwitzen. Provokant lehnte sie sich über den Tisch. Eine Geste, die mich unangenehmerweise an Veras Ritual erinnerte.

»Ich muss arbeiten, also beeilen Sie sich bitte.«

»Das sind laufende Ermittlungen. Es wäre einfacher und ginge vor allem auch schneller, wenn sie kooperativ sind.« Ich wünschte mir Danny zurück, der uns jegliche Information und auf Nachfrage wahrscheinlich auch all sein Geld und seine Autoschlüssel gegeben hätte.

»Bin ich.« Sie verdrehte ihre Augen und ließ sich gegen die Lehne ihres Stuhles fallen.

Santos schnaubte nun wesentlich lauter. »Liliana, wenn du den beiden Herren nicht augenblicklich Respekt zeigst, kannst du dich morgen nach einer neuen Arbeit umsehen.«

Liliana sah ihre Arbeitgeberin kurz an. »Ach ja und wie erklären Sie das meiner Mutter?«

»Deine Mutter weiß auch, dass du ein Nichtsnutz bist«, zischte Santos.

»Was ist mit Ihrer Mutter?«, unterbrach Scott. Beide Frauen drehten sich nach vorne.

»Das geht Sie nichts an.« Das war Santos.

»Hä, ist doch egal. Meine Mutter hat ihr das Leben gerettet. Hat sie in einen Bunker verfrachtet, bevor ihr Haus in die Luft gegangen ist.« Mit ihren Händen malte Liliana eine Explosion nach. Als sie den Blick ihrer Arbeitgeberin bemerkte, senkte sie jedoch ihren Kopf.

»Wie könnte sie geflohen sein?«, stammelte ich, um das Gespräch wieder in die richtige Richtung zu lenken.

Liliana schnaubte. »Das ist es doch, was Sie herausfinden müssen.«

»Wir kennen dieses Gebäude nicht so gut, wie Sie das tun.« Liliana sah uns kurz an, seufzte genervt und sprang auf. Vor Schreck ließ ich meinen Stift fallen.

»Dann kommen Sie mit.«

Santos’ Blick zeigte deutlich, dass das nicht in ihrem Skript stand. Sie schien sich sehr schuldig gegenüber Lilianas Mutter zu fühlen, wenn sie so etwas durchgehen ließ …

Liliana, dicht gefolgt von Santos, führte uns einen Gang entlang. Ihr Selbstbewusstsein schien mit jedem ihrer Schritte zu schrumpfen. Zumindest senkte sie den Kopf und wurde immer langsamer.

Wir stoppten kurz hinter der Rezeption und Santos schloss eine Tür auf. Eine Treppe führte in die Tiefe. Es wirkte nicht wie ein Teil des Hauses, sondern wie das Tor zur Unterwelt.

Unten angekommen, empfing uns ein tristes Bild. Die Wände im oberen Teil der Klinik waren vergleichsweise sauber gewesen. Einzelne Glühbirnen baumelten an der Decke und der Boden wirkte matschig. Ich traute mich aber nicht, meinen Blick zu senken. Irgendwo tropfte ein Wasserhahn und es stank nach Verwesung. Doch das, worauf sich meine Aufmerksamkeit richtete, war die Tür am Ende des Ganges. Das Zimmer dahinter ließ sich wohl ohne Frage als Zelle identifizieren.

Liliana schaltete sich wieder ein. »Das ist der einzige Raum für Patienten hier unten. Hinter den restlichen Türen befinden sich lediglich Lagerräume und Technikanlagen. Wenn sie noch nicht vorher verrückt gewesen wäre, hätte der Aufenthalt in diesem Zimmer ihr den Rest gegeben. Ich kenne niemanden, dem es nicht so gehen würde.«

Sie schlug die Augen nieder, als Santos ihr einen vernichtenden Blick zuwarf. Es wunderte mich, dass sie die Tirade nicht schon früher unterbrochen hatte.

Der Anblick des Kellers beunruhigte mich. Ich kannte keine Menschen mit geistiger Behinderung oder zumindest niemanden, der es offen zugab. Es war nur logisch, dass nach dem Krieg einige nicht mehr klar im Kopf waren. Manchmal vermutete ich es auch bei meinem Vater. Ob ihnen hier die richtige Hilfe zuteilwurde, schien mir in diesem Moment fragwürdig.

»Öffnen Sie den Raum«, wies Scott Santos an.

Eine deutliche Regung durchzuckte ihr Gesicht, nämlich blanke Wut. Es dauerte nur kurz an, schon wich die Mimik wieder ihrer Fassade.

Scott trug dasselbe Blitzen in den Augen, dieselbe widerwärtige Faszination, die er schon bei den Aufnahmen gezeigt hatte.

Als sich die Tür öffnete, schlug uns ein Gestank entgegen, den nicht mal das süßliche Parfüm der Leiterin überdeckte. Es war auch kein Geruch, den ich einem bestimmten Gegenstand oder einem Ereignis zuordnen konnte. Er kroch in Mund und Nasenlöcher und ließ mich erstarren. Der Wunsch, einfach umzukehren und nie wiederzukommen, machte sich in mir breit.

Dem Geruch folgte ein Geräusch. Ein leises Tropfen und dann ein Klicken. Santos betätigte einen Schalter und der Raum hellte sich auf. Nun erkannte ich den Ursprung des Geräuschs, welches ein Leck in der Decke darstellte. Kaum zu erkennen im Dämmerlicht der einzelnen Glühbirne.

Ich betrat vorsichtig die Kammer. In der Ecke lagen eine zusammengefaltete Decke und ein Kissen. Dem gegenüber befand sich ein Loch im Boden, welches wohl eine Art Toilette darstellte.

Kein Mensch hat das verdient.

Plötzlich empfand ich Mitleid für ein junges, verwirrtes Mädchen, welches hier unten noch schlimmeren Dingen als dem Wahnsinn verfallen sein musste.

»Das ist alles?«, fragte Scott, für den sich neben mir kein Platz mehr in dem Raum fand.

»Ich nehme an, dass es keinen Weg hier heraus gibt, außer über diese Tür?« Erneut eine gute Frage von ihm, aber wiederum eine offensichtliche.

»Keinen, der mir bekannt ist«, warf Liliana ein.

Ich wagte einen Schritt weiter an das Loch im Boden. »Was ist hiermit?«

»Das führt nirgendwo hin. Darunter ist nur eine Kiste, die alle paar Tage geleert wird.«

Mir wurde wieder schlecht und ich zog mich ein wenig aus der Kammer zurück.

Das arme Mädchen.

Hier gab es keinen anderen Weg hinaus, was gleichzeitig bedeutete, dass sie jemand herausgelassen haben musste. Der erste Gedanke, der mir kam, war der an Liliana, welche die Flucht geradezu befürwortete, was ich mittlerweile verstand. Mein Partner zog mich aus der Zelle, um selbst in den Genuss zu kommen, sie zu betreten.

»Raus da, Junior.«

»Sie heißen Junior?« Lilianas Grinsen war unerträglich und mein Kopf lief hochrot an. Doch noch peinlicher war Scotts Antwort. »Er heißt Campbell Junior. Ich kenn seinen Vater, der heißt auch Campbell. Irgendwie muss man die ja unterscheiden können. Eigentlich gehört der Gute auch gar nicht zu mir. Er ist Polizist, oder war es besser gesagt.«

»Wieso sind Sie weggegangen?«

»Er ging nicht freiwillig da weg, Süße. Am liebsten wäre er dageblieben. Mit seiner schicken Uniform und den anderen Männern in ihren schicken Uniformen. Aber eben diese Männer beschlossen, dass er den Dienst quittieren sollte, nachdem er betrunken einen Streifenwagen in die Themse setzte, als ihn seine damalige Freundin verließ.«

Während er mein zerrüttetes Leben vor einer Fremden darlegte, grinste er und sah zwischen mir und Liliana auffordernd hin und her.

Ernsthaft? Wir suchten eine Mörderin und Scott und Liliana amüsierten sich gleichzeitig über mein Leben?

Wut kochte in mir hoch.

»Wie hieß sie?«, fragte Liliana mit einer neugewonnenen Ernsthaftigkeit. Ich wollte ihren Namen nicht sagen, der ging niemanden etwas an. Doch wie befürchtet, wusste Scott ihn noch aus Erzählungen meines Vaters.

»Susie Q.«

»Susie«, setzte ich nach. Ich fand es ihr gegenüber unhöflich, dieses Kürzel stehen zu lassen, welches sie verabscheut hatte.

»Ist er deshalb so unglücklich? Wegen Susie Q?«

Das durfte doch nicht wahr sein! Meine Gefühlslage ging sie noch weniger an als Susie Quentins Name. Es nervte mich, dass sie über meinen Kopf hinweg redeten.

»Ich bin nicht unglücklich«, stellte ich klar. Dieser Ort verlor langsam seinen Schrecken und mir wurde bewusst, dass die beiden sich in dieser Lage nicht unprofessioneller verhalten konnten.

»Doch, bist du, Campbell Junior.« Scott lachte. »Das hat sie gut erkannt. Ich glaube, er wollte Susie Q heiraten, aber die zog es vor, in mein Heimatland Amerika zu gehen. Wo der Honig sprießt und die Polizisten Marken tragen.«

Dass er sich sonst nichts merkte, aber all diese Dinge von vor einem Jahr behielt, war absurd.

Außerdem hatte ich ihn angelogen. Susie war nicht weggezogen. Sie lebte in London. Doch wenn er von dieser Information Kenntnis hätte, würde ich keine ruhige Minute mehr verbringen, bis er sie kennenlernte.

»Halt die Klappe, Scott«, erwiderte ich und nahm dabei dieselbe Kühle an, die Santos in all ihre Aussagen legte.

»Schon gut, Junior. Wir müssen arbeiten.«

Auch Liliana schien sich an ihre Fassade als besorgte Menschenhelferin zu erinnern. »Falls Sie vorhaben, etwas durch die anderen Helfer, Schwestern oder Patienten zu erfahren — das ist Zeitverschwendung. Ich persönlich glaube, dass sie nach Hause gegangen ist. Die einzigen Male, in denen sie etwas zu mir sagte, sprach sie von ihrer Mutter.«

Scott nickte zufrieden und schlug mir auf die Schulter.

»Na los, Junior. Der Sache sollten wir auf jeden Fall nachgehen.«

Ich stolperte nach vorne, konnte aber immerhin den sich anbahnenden Hustenreiz unterdrücken.

3. Kapitel

Campbell »Junior« Mansington

10. April 1957

Rosies Diner — 470 Long Ln, East Finchley, London N2 8JL

Rock around the Clock dröhnte aus dem Radio. Guter Song. Scott lehnte sich über den Tisch und deutete auf meinen Teller. »Willst du nichts?«

Beim Anblick des Burgers war mir der Appetit vergangen. Das vor Fett triefende Fleisch erinnerte mich an Mageninhalt und die Eindrücke der Fotos vom Morgen. Scott begann Zucker in seinen Kaffee zu kippen, welcher mit der Flüssigkeit aus seinem Flachmann verfeinert war.

Es war seine Idee gewesen, uns nach dem aufwühlenden Morgen erst einmal eine Pause zu gönnen. Das Diner, welches Scott beinahe täglich ansteuerte, war nicht weit von unserem Büro entfernt. Eine gute Anlaufstelle für Scott, der nie einen Führerschein besessen hatte. Zwar ließ er sich meistens von mir fahren, doch an den Tagen, an welchen ich mich schnell genug dieser ungeliebten Aufgabe entzog, fand er selbst seinen Weg hierher. Scott war kein Alkoholiker. Er genehmigte sich gerne einen Drink, hatte sich aber erstaunlich gut im Griff. Er wusste, wann er aufzuhören hatte. Auch jetzt nahm ich an, dass er nur aufgrund der Erlebnisse trank. Die dürften nicht mal ihn kalt lassen.

Die Wirtin des Diners kannte uns, vorrangig jedoch Hotch. Ihr Name war Rosie und ich beobachtete sie gerne, während sie ihrer Arbeit hinter der Theke nachging. Sie schien nie stillzustehen. Selbst wenn wir die einzigen Gäste in ihrem Laden waren und unsere Bestellung bereits vor uns stand, wirbelte sie umher, wischte die Tische ab, sortierte die Körbe und wirkte möglichst nicht ansprechbar. Ich legte eine Pommes zurück, um erneut meinem Würgereflex Stand zu halten. Ohne Hotch um eine weitere Nachfrage zu bemühen, schob ich ihm den Burger rüber.

»So wirst du nie ein Mann, Junior.« Lachend nahm er mein Geschenk an.

»Was ist unser nächster Schritt?« Es brachte mich zwar nicht weiter, den Fall mit Scott zu diskutieren, aber noch weniger ertrug ich es, ihn beim Essen zu beobachten. Wie er einzelne Krümel auf den Tisch spuckte und dieses Schmatzen.

»Wir werden in ihrer Kindheit rumschnüffeln. Ihre Eltern befragen und so Sachen.« Er stieß lautstark auf.

Der Geruch von Pfannkuchen und Burger kroch in meine Richtung und vernebelte mir kurzzeitig die Sinne.

Augenrollend wandte ich mich der Krankenakte zu und blätterte zwischen den Papieren hin und her. »Maria Santos überlässt uns zwar die Informationen, die sie über das Mädchen besitzt, aber das sind nur wenige. Nicht einmal eine alte Adresse gibt es. Wenn sie vermuten, dass sie nach Hause ging und sich nicht einmal die Mühe machen, die Adresse oder ihre Herkunft zu erfragen … das ist doch merkwürdig.«

»Wieso durchkämmen wir nicht erstmal den Wald? Es ist nicht unsere Aufgabe, die Santos zu verstehen, nur das Mädchen zu finden. Wir könnten uns aufteilen«, spuckte Scott heraus. »Ich fahre durch den Wald und befrage ein paar Leute in der Umgebung.«

»Nimm doch Vera mit. Zwar kann sie in der Zeit keine Anrufe entgegennehmen, aber ich glaube, das verkraften wir.«

Er nickte zustimmend.

»Außerdem kann Vera den Wagen fahren.« Diese Bemerkung konnte ich mir nicht verkneifen.

Sofort spiegelte sich Wut in seinem Gesicht wider, die er offensichtlich nur herunterschluckte, da er gerade beinahe an einem Stück Burger erstickt wäre. Er hatte nie erzählt, wieso er keinen Führerschein hatte, aber es schien etwas dahinter zu stecken, da es ihn immer wütend machte, wenn man ihn darauf ansprach.

»Ja, sie kann den Wagen fahren«, schnaubte er und beendete mit einem letzten Bissen sein Mittagessen.

Ich packte die Blätter zurück in die Akte und ließ sie in meiner Tasche verschwinden. »Ich beschaffe einige Informationen über ihr Leben, was uns dabei helfen könnte, ihre nächsten Schritte nachzuvollziehen.«

»Wenn wir sie nicht vorher einfach unter irgendeinem Ast eingeklemmt im Wald entdecken«, brummte Hotch und schnipste genervt in die Luft, um Rosie an unseren Tisch zu befördern. Doch sie war beschäftigt mit was auch immer, und bequemte sich nicht her. Scott schlug auf die Tischplatte, was uns nur einen wütenden Blick ihrerseits einbrachte.

»Oh Mann«, murmelte er und legte einen Schein auf den Tisch, der nicht einmal seine Rechnung deckte. Ich glich den Betrag an und ließ auch einige Pfund Trinkgeld zurück.

»Junior? Wir haben es doch eilig, dachte ich. Nicht, dass die verrückte Schlampe noch jemanden umbringt, bevor wir sie finden.« Rosie trat bei den letzten Worten auf die Bildfläche und beäugte Scott kritisch.

»Ich komme ja schon.«

Nachdem ich Scott bei der Detektei abgesetzt hatte, machte ich mich auf den Weg zu meinem vorherigen Arbeitgeber. Als ich auf den Parkplatz der Metropolitan Police Station einbog, wurde mir übel. An meinen Abgang erinnerte ich mich leider noch allzu gut. An dem Abend, als Susie mich verlassen hatte, war ich nicht mehr ich selbst gewesen. Stockbesoffen von Vaters Alkohol hatte ich einen Streifenwagen genommen und versehentlich in der Themse versenkt. Es war jetzt schon eineinhalb Jahre her und trotzdem blieb dieses Gefühl, dass jeder Police Officer hier auf dem Parkplatz mich erkannte und auslachte.

Ich stellte den Wagen ab und eilte mit gesenktem Kopf die Treppen hinauf, als könnten sie mich so nicht erkennen. Auch im Inneren des Gebäudes ließ mich das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden, obwohl ich keinen erkannte. Abgesehen von dem Mann hinter dem Infoschalter. Kurz überlegte ich, einfach umzudrehen und mir einen anderen Plan zu überlegen.

»Hi Campbell«, sagte der Beamte und nahm mir die Wahl.

»Hi Toby.« Meine Stimme brach und mein Gesicht fühlte sich unerträglich warm an. Ich räusperte mich und brachte ein Lächeln hervor. Toby und ich hatten gemeinsam die Police Academy absolviert.

»Ich habe eine Bitte.«

Toby sah mich fragend an. Er schien mich nicht für die Ereignisse von damals zu verurteilen. Es war einfach nur dieser verwirrte Blick, den er schon während der Polizeiakademie beherrscht hatte.

»Ist John noch in der Aktenkammer tätig?« Sicherheitshalber räusperte ich mich, bevor ich weitersprach. »Ich würde gerne mit ihm reden.« John war mein Freund gewesen und ich bezeichnete nicht viele Menschen als solche. Ich wusste nicht, ob ich ihn noch als Freund sehen durfte, nachdem ich ihn die letzten anderthalb Jahre ignoriert hatte.

»Ja, klar. John kriegt man kaum aus der Kammer da unten weg!« Unter sein Lachen mischte sich immer noch dieses Grunzen, weswegen man ihn schon in der Akademie aufgezogen hatte. »Was brauchst du denn von ihm?« Er zog seine Mütze zurecht und fixierte mich dabei.

»Ich brauche eine Akte. Es geht um einen Mord im Saint Christian vor einiger Zeit. Mich interessiert, ob ihr noch weitere Informationen über die Mörderin gesammelt habt.« Toby sprang auf und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Ich war dabei, Campbell. Du glaubst es nicht. Das war eine Sauerei! Ich habe sogar einmal mit diesem Mädchen gesprochen. Mit dieser Delilah.«

»Wirklich?« Begeistert zückte ich meinen Notizblock.

»Ja, also gut, ich stellte ihr Fragen und sie antwortete nicht. Sie fasste sich immer nur an ihren Rücken und kratzte sich.« Er ahmte diese Bewegung nach.

»Wir haben ein Bild von ihrem Rücken gemacht. Der war vernarbt, als wäre sie mit Ästen geschlagen worden.«

Er zog einen Schlüssel unterm Tisch hervor und wies mich an, ihm zu folgen. Es überraschte mich, dass er nicht versuchte, weitere Details über meine Beweggründe in Erfahrung zu bringen, oder zumindest meine Berechtigung hinterfragte, diese Akte einzusehen.

»Ich arbeite jetzt bei der Zeitung. Beim Daily Telegraph.« Die Lüge, die ich mir im Auto zurechtgelegt hatte, klang unglaubwürdiger als beabsichtigt. Sofort ärgerte ich mich, sie ausgesprochen zu haben, aber ich war so darauf vorbereitet gewesen, mich zu erklären, dass sie einfach aus mir heraussprudelte.

»Ach, echt?« Toby wandte sich zu mir um. »Meine Mutter meinte, dass deine Mutter meinte, dass du bei einem Freund deines Vaters aushilfst.«

»Das habe ich auch, aber jetzt nicht mehr«, stammelte ich.

»Journalist passt zu dir. Viel besser als Polizist.«

Kurz überlegte ich, Tobys Waffe zu nehmen und mir in den Kopf zu schießen. Mit gesenktem Kopf kratzte ich mich an der Stirn, um möglichst unerkannt den Gang entlangzugleiten. Graue Wände und Teppichboden weckten Erinnerungen in mir. Einige Bilder von Absolventen und hochrangigen Offizieren schmückten die Zwischenräume der Türen. Dahinter befanden sich die Büros der Ermittler. Inspector Schubers Tür versuchte ich besonders schnell hinter mir zu lassen. Seit meiner ersten Woche hier hatte er mich unterstützt. Doch selbst seine Verteidigung vor Captain Wheeler hatte mich nicht vor der Kündigung bewahrt.

Toby blieb vor der Tür zum Treppenhaus stehen und öffnete sie. »Der Gast zuerst«, sagte er und lächelte.

Er meinte es vielleicht nett, aber bei dem Wort Gast lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Kommentarlos zwängte ich mich an ihm vorbei ins Treppenhaus, das uns Zugang zu der Asservatenkammer und den Aktenräumen verschaffte. Meistens hatte man dort unten nur John getroffen. Dessen Gesicht hellte sich auf, als er mich erblickte. Er duckte seine massige Gestalt unter der Tischplatte hinweg, wobei er für einen Moment drohte, zwischen Tisch und Boden stecken zu bleiben. Mit einem Ruck befreite er sich und wackelte auf mich zu. Seine Erscheinung erinnerte an einen Teddy-Bär und ich musste grinsen.

»Campbell. Oh mein Gott. Was für eine Freude, dich hier zu sehen«, sagte er mit seiner hohen Fistelstimme. »Es ist nicht mehr dasselbe ohne dich.«

Toby beobachtete uns. »Er ist beim Daily Telegraph.«

Johns Lächeln intensivierte sich weiter, wenn das überhaupt möglich war. »Wow. Journalist. Das passt gut zu dir, fast noch besser als …«

»Jaja, ich weiß.« Genervt wedelte ich mit der Hand. »Ich brauche deine Hilfe, alter Freund.«

Leicht boxte ich ihm gegen die Schulter und hoffte, dass es das war, was Freunde auszeichnete. Er knuffte zurück und brachte mich damit fast zu Fall. John war schon immer wesentlich stärker als ich gewesen.

»Wie kann ich denn da helfen?«

»Ich brauche Informationen über einen Fall von euch.«

»Delilah Hoffner«, funkte Toby erneut dazwischen.

John verzog angeekelt sein Gesicht. »Üble Bilder, ganz üble Bilder, sag ich dir.« Plötzlich wurde er ernst. »Die kann ich dir aber nicht einfach so geben. Du arbeitest nicht mehr hier.«

Scheiße. »Ich muss nicht alles einsehen. Es würde mir schon reichen, wenn ihr eine alte Adresse von ihrer Familie habt.«

»Tatsächlich beschäftigte sich Inspector Rowan damals auch sehr mit ihrer Person und versuchte ihre Akte zu vervollständigen. Man wusste gar nichts über sie. Es gab da eine alte Adoptionsmappe über eine Delilah Hoffner im Archiv, aber ihr Vater …«, John zeichnete Gänsefüßchen in die Luft, »… meinte, dass sie sein Kind sei. Er behauptete, es müsse eine Verwechslung wegen der Adoption vorliegen, aber es ist der gleiche Name und seine Adresse, sag ich dir. Die angegebene Mutter ist unauffindbar.«

Rowan konnte mich nicht leiden, zumindest damals nicht. Von ihm würde ich keine Auskunft erhalten, also blieb mir nur die Möglichkeit, mich weiterhin an John und Toby zu halten.

»Rowan war bei ihrem Vater?«

»Ja, er ist da hingefahren. Düstere Zustände, sag’ ich dir. War so ein Kloster. Da wäre jeder verrückt geworden. Was genau willst du denn schreiben?«

»Eine Enthüllungsstory über das Saint Christian«, merkte Toby an.

Seine Anwesenheit begann mich zu nerven. Er war schon damals nicht mein Favorit gewesen.

»Das waren auch schlimme Zustände da.« John schüttelte angeekelt den Kopf und sah sich vorsichtig um. Dann winkte er mich näher zu sich und ich beugte mich vor.

»Ok. Ich helfe dir, indem ich dir die Adresse gebe, aber mehr kann ich nicht für dich tun. Ich meine aber, dass in der Zeitung auch was zu dem Mord stand. Das wurde aber später revidiert. Ich glaube, da wurde was vertuscht, sag’ ich dir. Vielleicht hilft dir das weiter, wenn du da nochmal weiterforschst.«

John verschwand im Aktenraum und kehrte kurz darauf mit einem Papier zurück. Vor meinen Augen knüllte er den Zettel in seiner Handfläche zusammen und drückte ihn in meine. Eine unnötige Geste, da außer Toby, ihm und mir keine Personen anwesend waren. Ich musste wieder grinsen und ließ den Zettel in meiner Hosentasche verschwinden.

»Wenn aber rauskommt, dass du das von mir hast, dann mach’ ich dir die Hölle heiß, sag’ ich dir.«

»Ich glaube aber auch, dass man die Adresse im Bürgerbüro rausbekommen kann«, murmelte Toby.

»Nee. Da gab es nichts. Wahrscheinlich sucht Campbell auch nach mehr als nur der Adresse, sag’ ich dir.« John lachte. »Aber jetzt kannst du ja mal erstmal dieser Spur nachgehen.«

»Fast wie ein richtiger Polizist.« Der Stimme nach zu urteilen, wollte Toby mich aufmuntern.

»Danke, Leute«, presste ich hervor und spürte, wie ein Mix aus Trauer und Wut in mir aufstieg. Wenn ich noch länger hier verweilte, würde ich Tobys Kopf an die Gitterstäbe der Asservatenkammer schlagen und nicht aufhören, bis sich sein ganzer Kopf samt dieser dämlichen Mütze auf dem Boden verteilt hatte.

»Ich muss dann wieder los.«

»Komm uns doch mal öfters besuchen. Wir vermissen dich, sag’ ich dir.«

Ich nickte nur und lief schleunigst in Richtung Treppenhaus.

»Hey. Ich muss dich hoch begleiten. Du darfst hier nicht allein rumlaufen«, rief mir Toby nach, doch die Tür fiel ungewöhnlich schnell ins Schloss. Als hätte ein Windstoß meine Situation begünstigt.

Ich atmete einige Male tief ein, bevor ich den Zettel aus meiner Tasche angelte und die Worte darauf las:

Ashgrove Rd, Sevenoaks TN13 1ST

Viel Glück, John.

Das warme Gefühl der Dankbarkeit überkam mich. Vor allem wegen der Tatsache, endlich etwas Handfestes zu haben. Dann hatte ich jetzt etwas zu erledigen.

Es war doch nicht so schlimm gewesen, zurückzukehren. Eigentlich hätte ich gedacht, dass sie mich verhöhnten, doch das Gegenteil war der Fall gewesen. Vielleicht hatte ich sie unnötigerweise gemieden. In dem Moment nahm ich mir vor, John zu fragen, ob er mal mit mir essen gehen wollte.

Die Suche

4. Kapitel

Campbell »Junior« Mansington

11. April 1957, 07:30 Uhr

East Finchley Library — 226 High Rd, East Finchley, London N2 9BB

 

Mord im Irrenhaus

 

Ein Mord mag für London nichts Neues sein, doch ereignete sich die unschöne Tat am Rande unserer Gesellschaft: im Saint Christian. Für alle, die diese Einrichtung nicht kennen, möchte ich sie kurz beschreiben: als heruntergekommene Ruine. Das Gebäude wirkt baufällig und ich wäre beinahe daran vorbeigefahren, als ich den Tatort besuchen wollte. Das Haus ist von Moosschichten bedeckt und sieht von außen unbewohnt aus.

Die Täterin, Delilah Hoffner, wurde von der Leitung, Maria Santos, als »verlorene Seele« bezeichnet. Dieses Mädchen wuchs angeblich in einem Kloster in Sevenoaks auf. Dort wurde sie von einem Pater und dessen Frau streng gläubig erzogen. Über die echten Eltern konnte ich nichts weiter erfahren.

Vermutlich ist sie eine Kriegswaise. Sie entfernte dem Opfer, der 43-jährigen Samantha Rose, diverse Organe und aß sie. Die Fotos waren erschreckend, möchte ich an dieser Stelle anmerken.

Delilah Hoffner wird seitdem in einer Einzelzelle untergebracht und man kann nur hoffen, dass die Tür gut verschlossen ist …«

Daily Mirror, Clay Orson

 

Der Artikel wirkte mehr wie eine private Notiz des Schreibers als ein seriöser Artikel. Aber Clay Orson schrieb eigentlich nur so einen Schund, also wen wunderte es. Er beschrieb die Tat fortführend in einzelnen Details und baute noch einige Zitate der Polizei ein, die hauptsächlich zeigten, dass es schrecklich gewesen war.

Die Recherche zu der Adresse stellte sich als ein schwierigeres Projekt heraus. Es schien tatsächlich ein anglikanisches Kloster zu sein, welches der Church of England angehörte, doch es gab keine genaueren Aufzeichnungen dazu. Ein Pater, der vor wenigen Jahren dort noch tätig gewesen war, trug den Nachnamen Hoffner. Das dürfte mit Delilah zusammenhängen.

Ein anderer Artikel berichtete über ein großes Feuer in Sevenoaks, bei dem die Frau des Paters ums Leben kam. Durfte ein Pater überhaupt eine Ehe führen? Er bildete den Vorsitz und schloss sich dadurch vielleicht selbst von den Regeln aus, denen sich die Nonnen im Kloster freiwillig unterwarfen. »Pater« war eine ungewöhnliche Anrede für einen Anglikaner, möglicherweise war er nicht einmal vereidet.

Eine kleine Anzeige in einer Lokalzeitung dokumentierte, dass der Pater verschwunden sei, gemeinsam mit einer anderen Glaubensträgerin des Klosters. Sollte das implizieren, dass er mit einer Affäre geflohen war? Der Artikel war schlecht geschrieben von einem Autor namens Todd Wesley. Die Überschrift klang schon unprofessionell: Ein heiliges Durcheinander.

---ENDE DER LESEPROBE---