The Hike - Lucy Clarke - E-Book + Hörbuch
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The Hike Hörbuch

Lucy Clarke

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Beschreibung

Vier Frauen in Norwegens Wildnis. Nur drei kehren zurück. Ein meisterhaft konstruierter Spannungsroman vor Norwegens wilder Natur für Fans von Psychothrillern und weiblicher Spannung sowie Leser*innen von Lucy Foley, Claire Douglas und Julie Clark. Kannst du deinen engsten Freundinnen auch im Kampf ums Überleben noch trauen? Die SPIEGEL-Bestsellerautorin und »Queen of Destination Thrillers« Lucy Clarke entführt uns in die norwegische Wildnis: Der perfekte Ort, um dem Alltag zu entkommen – und der perfekte Ort, um zu verschwinden … Um dem Alltag zu entfliehen, gehen die vier Freundinnen Maggie, Liz, Helena und Joni in der norwegischen Wildnis wandern. Zwischen steil aufragenden Bergen, glasklaren Seen, grünen Wäldern und einsamen Blockhütten sind die Freundinnen auf sich allein gestellt. Es ist eine Wanderung, die die vier Frauen an ihre Grenzen bringt und ihre Freundschaft auf eine harte Probe stellt. Denn die Wildnis hat auch eine dunkle Seite: Vor einem Jahr ist in den Bergen eine Frau spurlos verschwunden. Und irgendwo da draußen weiß jemand genau, was mit ihr geschehen ist, und wird alles dafür tun, dass es ein Geheimnis bleibt … »Atmosphärisch, wendungsreich, raffiniert!« Claire Douglas »Zerbrechliche Frauenfreundschaften, eine schöne, aber gefährliche Landschaft und dunkle Machenschaften vor Ort führen schließlich zu einer Tragödie. Dieses Buch fesselt von Anfang bis Ende!« Gilly Macmillan »Machen Sie sich auf Cliffhanger und Nervenkitzel gefasst!« Nita Prose

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Zeit:10 Std. 12 min

Sprecher:Stephanie Kellner; Carolin Sophie Göbel; Sabine Menne; Mayke Dähn; Leon Sandner

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Über das Buch

Vier Freundinnen in der Wildnis Norwegens. Nur drei kommen zurück.

 

Um den Alltag endlich einmal hinter sich zu lassen, gehen Maggie, Liz, Helena und Joni in der rauen Schönheit Norwegens wandern. Zwischen steil aufragenden Bergen, glasklaren Seen, grünen Wäldern und einsamen Blockhütten sind die Freundinnen auf sich allein gestellt. Es ist eine Tour, die die vier Frauen an ihre Grenzen bringt und ihre Freundschaft auf eine harte Probe stellt. Denn es dauert nicht lange, bis alte Konflikte aufbrechen. Und auch die Wildnis hat eine dunkle Seite: Vor einem Jahr ist in den Bergen eine Frau spurlos verschwunden. Und irgendwo da draußen weiß jemand genau, was mit ihr geschehen ist, und wird alles dafür tun, dass es ein Geheimnis bleibt …

Lucy Clarke

The Hike

Roman

Für Matt Clarke

Prolog

Ihr Körper liegt zerschmettert auf dem Berghang. Er ruht auf einem dunklen Felsbett. Unter ihrem gebrochenen Schädel befindet sich ein dünnes Kissen aus grünen Flechten.

In ihren Augen spiegelt sich der Himmel. Wolken wandern über ihre ausdruckslosen Pupillen. Ihr Gesicht ist auf beinahe verstörende Weise unversehrt, ihre Haut blass und makellos. Der Wind riecht nach Erde, Salz und Blut. Er spielt mit einer Haarsträhne an ihrer Schläfe und zupft am Kragen ihrer Jacke. Ansonsten ist sie völlig regungslos.

Über ihr ragt der Berg Blafjell auf, ein teilnahmsloser, brachialer Zeuge. Er hat alles gesehen, wird aber nichts preisgeben.

In ein paar Stunden wird die erste Person vor Ort ihren Puls prüfen und über Funk Bericht erstatten.

Der- oder diejenige wird darüber spekulieren, was schiefgegangen ist und sich fragen, wo ihr Rucksack liegt, weshalb sie getrocknetes Blut unter den Fingernägeln hat und was die vier herzförmigen Blutergüsse an ihrem linken Oberarm verursacht haben könnte.

Die Polizei wird nach der letzten Person suchen, die die junge Frau lebend gesehen hat.

Die Einheimischen werden wissen wollen, was diese Wanderin ganz allein auf dem Berg gemacht hat.

Hinterbliebene werden auf der Suche nach Antworten mit schweren Schritten zu der Stelle pilgern.

Im Moment ist ihre Leiche allein. Noch hat niemand sie entdeckt.

Die Berge geben keines ihrer Geheimnisse preis. Doch irgendwo dort draußen, in einer der Felsfalten, verbirgt sich jemand, der genau weiß, wie diese Frau gestorben ist.

Und aus welchem Grund.

Ankunftstag

1Liz

Liz band die Schnürsenkel ihrer Wanderstiefel zu und betrachtete sich im Flurspiegel. Ihre Freundinnen würden sie damit aufziehen, dass sie die klobigen Stiefel am Flughafen trug, doch sie passten nicht in ihren Rucksack. Liz hatte sehr sorgfältig gepackt. Es machte ihr Spaß, dabei auf möglichst große Effizienz zu achten und jedes überflüssige Gramm zu vermeiden. Sie mochte die Tatsache, dass sie mit allem, was sie brauchte, auf dem Rücken die Wohnung verlassen konnte. Es verschaffte ihr ein Gefühl der Unabhängigkeit, das ihr gefiel. Vielleicht gefiel es ihr sogar ein bisschen zu gut.

Sie sah auf die Uhr. Wenn sie jetzt losfuhr, würde sie fünfzehn Minuten früher als ausgemacht bei Helena eintreffen. Ihr Rucksack lag im Auto, und der Tank war voll. Ihre Checkliste war komplett abgehakt. Nun musste sie sich nur noch verabschieden.

Kaum zu glauben, dass sie in wenigen Stunden mit Helena und Maggie in Norwegen sein würde. Diesmal hatte sie bestimmen dürfen, wohin die Reise ging. In früheren Jahren hatte sie sich für Korfu, Madeira und Südfrankreich entschieden. Sie mochte Strandurlaube – die Sonne, die gemeinsame Zeit mit ihren Freundinnen, die entspannten Tage am Pool –, doch in letzter Zeit sehnte sie sich nach etwas anderem. Sie war dreiunddreißig, Ehefrau, Mutter und Hausärztin. Ihr Alltag war straff organisiert und komplett durchgetaktet. Was sie brauchte, war ein Abenteuer.

»Ist das dein Ernst?«, hatte Helena gestöhnt, als Liz vier Tage Wandern und Wildcampen in Norwegen vorschlug.

Es war Liz ernst gewesen. »Ich wollte schon immer die Fjorde und Berge sehen.«

»Dann mach doch eine Kreuzfahrt.«

Ein paar Monate zuvor hatte ein kaputter Keilriemen in ihrem Auto Liz dazu gezwungen, zu Fuß zur Arbeit zu gehen. Während sie lief, geschah etwas beinahe Magisches: Mit jedem Schritt schien sie das morgendliche Chaos aus verlegten Hausaufgaben, hastig gepackten Pausenbrotboxen und fehlenden Schuluniformteilen immer weiter hinter sich zurückzulassen. Sie winkte ihren Nachbarn zu, nahm das Gezwitscher der Vögel wahr und beschäftigte sich mit den Namen der Bäume, die sie passierte. Wenn sie schließlich in der Praxis eintraf, fühlte sich ihr Kopf freier an und ihr Körper beweglicher. Sie hatte sich Wind und Wetter ausgesetzt und ein Gefühl für den Tag bekommen. Schritt für Schritt einen Fuß vor den anderen zu setzen, belebte sie und erfüllte sie mit frischer Energie.

Wie es ihre Art war, hatte Liz die körperlichen Vorzüge des Gehens wissenschaftlich durchdringen wollen und sich die entsprechenden Studien vorgenommen. Dabei hatte sie herausgefunden, dass regelmäßiges Gehen das Immunsystem stärkte, den Cholesterinspiegel senkte und ganz allgemein das Wohlbefinden steigerte. Diese Erkenntnisse gab sie an ihre Patienten weiter und verschrieb ihnen tägliche Spaziergänge. Sie waren einfach durchzuführen, kostenlos, für die meisten machbar und in einigen Fällen lebensverändernd.

Und im Moment brauchte Liz dringend etwas Lebensveränderndes.

Sie sah zur Küche und hörte die allmorgendliche Frühstückssinfonie. Schüsseln wurden auf dem Tisch abgestellt, der Wasserhahn rauschte, Stuhlbeine scharrten, die Stimmen der Zwillinge – Evies höher als Daniels –, Patrick, der die beiden besänftigte.

Liz ging auf die vertraute Geräuschkulisse zu. In den Wanderstiefeln mit ihren dicken Sohlen fühlte es sich merkwürdig an. Unbemerkt stellte sie sich in die Küchentür, und einen verstörenden Moment lang war es, als wäre sie nur ein Zaungast. Sie fragte sich, wie sehr sie alle vermissen würden. Patrick kannte den Familienalltag in- und auswendig: Er war derjenige, der das Pausenbrot machte, die Kinder zur Schule brachte und ihnen bei den Hausaufgaben half.

Evie, deren Haare noch vom Schlafen zerzaust waren, sah sie als Erste. »Mom! Gehst du jetzt?«

»Ja«, erwiderte sie und merkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie hatte lange Abschiede noch nie gemocht.

Patrick drehte sich zu ihr um, wich aber ihrem Blick aus. »Du holst wahrscheinlich erst Helena ab und dann Maggie, oder?«

»Ja, und dann geht es ab nach Norwegen.« Liz versuchte, fröhlich zu klingen, doch es gelang ihr nicht.

Er grinste. »Mach bitte ein Foto von Helena mit ihrer Wanderausrüstung!«

Liz ging zu ihrem Sohn, der an der Frühstückstheke saß und Cornflakes in sich hineinschaufelte. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und spürte, wie sich seine Kiefermuskeln unter ihren Lippen bewegten.

Evie legte den Löffel weg und wackelte an einem Vorderzahn. »Glaubst du, dass der rausfällt, bis du wieder da bist?«

Liz nickte. Wahrscheinlich würde bei ihrer Rückkehr zwischen den perfekten Milchzähnen ihrer Tochter eine neue Lücke klaffen. Und sie würde nicht da sein, um in Evies dunkles Zimmer zu schleichen und den ausgefallenen Zahn gegen ein poliertes Geldstück auszutauschen.

Liz war es gewohnt, wichtige Entwicklungen zu verpassen. Evies erstes Wort (Dan-dan), Daniels erste Schritte durchs Wohnzimmer – die in Patricks Armen endeten –, die erste Schwimmstunde der Zwillinge. Doch bei vielen anderen Ereignissen war sie dabei gewesen, und sie wusste, dass es nur zu Schuldgefühlen führte, die versäumten gegen die erlebten Momente aufzurechnen.

»Passt aufeinander auf, während ich weg bin.« Sie küsste die beiden auf den Kopf, schnupperte ihren Geruch ein und sagte ihnen, dass sie sie lieb habe.

Patrick begleitete sie durch den Flur und machte die Haustür für sie auf, was ihr erneut das Gefühl gab, nur ein Gast in ihrem Haus zu sein. »Aufgeregt?«, fragte er.

Liz blickte in den sonnigen Septembermorgen hinaus, zwang sich zu einem Lächeln und nickte. »Wir sehen uns, wenn …« Sie zögerte. Bei ihrer Rückkehr würden sie sich nicht sehen. Sie hatten sich auf eine einmonatige Trennung auf Probe geeinigt und würden abwechselnd zu Hause die Stellung halten, damit die Kinder nicht darunter zu leiden hatten. Erst würde sie eine Woche in Norwegen sein, dann er eine bei seinem Bruder. Den Rest der Zeit würden sie nach Liz’ Rückkehr organisieren. Einen Monat ohneeinander, um zu entscheiden, wie es zwischen ihnen weitergehen würde.

Was willst du?, dachte sie und sah kurz Patrick an.

»Mach’s gut, Liz«, sagte er und beugte sich vor, um sie auf die Wange zu küssen. Er roch nach Toast, Kaffee und Zuhause.

Liz wurde von einem eigenartigen Schwindelgefühl ergriffen und verspürte den Drang, die Hand auszustrecken und sich an ihm festzuklammern, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Blinzelnd sah sie auf ihre ordentlich geschnürten Wanderstiefel hinunter. Dann holte sie tief Luft, drehte sich um und trat aus ihrem Leben heraus.

2Helena

Helena betrachtete ihren Rucksack. Er lehnte mit frecher Arroganz an ihrer Vordertür und versperrte ihr den Weg. Sie hatte ihn so vollgepackt, dass die Schnallen und Riemen bis zum Zerreißen gespannt waren. Am Morgen hatte sie das Preisschild abgeschnitten und sich dabei mit der Nagelschere in den Daumen gestochen. Ein einzelner Blutstropfen war auf den Rucksack getropft und hatte einen winzigen dunklen Fleck darauf hinterlassen. Wenn Maggie ihn bemerkte, würde sie ihn für ein schlechtes Omen halten. Doch Helena glaubte nicht an Omen. Ihr sagte der Fleck nur, dass sie vorsichtiger mit Scheren umgehen musste.

Sie nippte an ihrem Americano und genoss sein intensives, samtiges Aroma, wohl wissend, dass er für eine Weile ihr letzter AeroPress-Kaffee sein würde. In einer Tasche ihres Rucksacks steckten vier Beutel Instantkaffee, einer für jeden Morgen ihrer Wandertour. Sie hatte Espressokannen gegoogelt und sich vorgestellt, wie romantisch so ein Gerät auf einem zischenden Campingkocher vor der wunderschönen Landschaft Norwegens wirken würde. Dieses Bild hatte ihr gut genug gefallen, um auf Kaufen zu klicken. Doch als die Kanne angekommen war und Helena sie neben die restlichen beinahe täglich eintreffenden Artikel aufs Gästebett legte – wasserdichte Beutel, eine imprägnierte Hose, Merinosocken, das Zweipersonenzelt und den Daunenschlafsack, eine leichte Luftmatratze, ein Campingkocher, eine Gaskartusche –, hatte sie sich eingestanden, dass sie das zusätzliche Gewicht nicht wert sein würde.

Vorsichtig näherte sie sich dem Rucksack und legte ihm eine flache Hand auf die Seite, als wäre er ein scheuendes Pferd, das es zu beruhigen galt. Würde sie dieses Ding wirklich vier Tage lang durch die Wildnis schleppen?

Das Ganze war so absurd, dass sie laut auflachen musste. Sie, Helena Hall, flog zum Wildcampen nach Norwegen!

Verdammte Liz. In diesem Jahr hatte sie das Urlaubsziel bestimmen dürfen. Als Helena vor drei Jahren dran gewesen war, hatte sie sich für Ibiza entschieden. Selbst Joni war damals mitten in ihrer Tournee für zwei Übernachtungen eingeflogen und hatte sie mit VIP-Club-Pässen versorgt. Zu viert hatten sie ein paar Tage lang in der Sonne gefaulenzt, waren in felsigen Buchten geschwommen und hatten bis zum Morgengrauen gefeiert.

Wandern in Norwegen?

Das wird ein Abenteuer, hatte Liz ihnen versichert und verkrampft gelächelt.

Helena hatte darauf zwar überhaupt keine Lust, aber sie würde auf keinen Fall allein zu Hause bleiben, während die anderen miteinander verreisten. Wenn man über dreißig und Single ist, ergreift man jede Chance, mit seinen Freundinnen einen draufzumachen. Egal, wohin es geht.

Vor ein paar Tagen hatte sie Liz mitten in der Nacht eine Nachricht geschrieben: Toiletten! Wohin gehe ich, wenn ich mal groß muss? Liz hatte ihr daraufhin zwei Emojis geschickt, einen Kackhaufen und einen Wald – und dazu einen Link zu einer Maurerkelle.

Na egal, es würde schon alles gut gehen.

Helena trank den Kaffee aus, spülte die Tasse ab und stellte sie mit dem Henkel nach vorn ins Regal zurück. Anschließend wischte sie sich die Hände an den Oberschenkeln ab und sah sich um. Die Granitarbeitsfläche war leer und das Licht unter den Oberschränken ausgeschaltet.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Liz würde in fünfzehn Minuten da sein.

Helena ging ins Schlafzimmer und schaute wehmütig durch das offene Fenster auf die Stadt hinaus. Die Septembersonne verbreitete warmes goldenes Licht. Der Sommer lag in den letzten Zügen. Ihre Stadt – Bristol – roch nach Diesel, Beton und warmen Mülleimern. Sie atmete den Geruch tief ein. Ach, die Schönheit von gepflasterten Gehwegen, Gebäuden, Verkehr und klappernden High Heels. Nirgends waren Wanderstiefel oder ein Kleidungsstück aus Fleece zu sehen. Zögernd schloss sie das Fenster.

Ihr Blick fiel auf eine Tüte auf ihrem Schminktisch, in der sich eine kleine Schachtel befand. Sie betrachtete sie einen Moment lang nachdenklich mit zusammengepressten Lippen und spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Schließlich nahm sie die Tüte und zog den Schwangerschaftstest widerwillig heraus.

Sie wollte den Test nicht machen. Sie wollte ihn nicht einmal anschauen. Doch sie musste es hinter sich bringen, damit sie die Sache abhaken und ihren Urlaub genießen konnte. Das Ganze würde eine nette kleine Anekdote für den Flug abgeben. Liz und Maggie könnten sich dann über ihr nichtsnutziges Singledasein lustig machen.

Sie riss die Schachtel auf und nahm den Beipackzettel heraus. Lesen musste sie ihn nicht. Sie wusste auch so, dass sie auf den Stick pinkeln und anschließend drei Minuten lang nervös warten würde.

Als Helena den Test ins Badezimmer trug, stellte sie verärgert fest, dass ihre Hände zitterten. Sie war nicht einmal sicher, ob sie überhaupt pinkeln konnte.

Kaum hatte sie ihren Slip runtergezogen und sich auf die Toilette gehockt, klingelte es an der Tür.

Fluchend sprang sie von der Klobrille auf, zog sich den Slip wieder hoch und machte auf dem Weg zur Wohnungstür den Reißverschluss ihrer Hose zu.

»Ich bin’s!«, drang Liz’ fröhliche Stimme aus der Gegensprechanlage. »Ich stehe draußen.«

Natürlich war Liz zu früh da.

»Bist du schon fertig?«

Helena warf einen Blick auf den unbenutzten Schwangerschaftstest. Sie ärgerte sich über die Unterbrechung, war aber auch erleichtert. Es kam ihr vor, als wäre sie nur knapp von einer Kugel verfehlt worden.

Sie beugte sich zur Gegensprechanlage vor. »Ich bin bereit.«

3Maggie

Maggie sah ihre Tochter an, die mit ihrer kleinen Faust ein Stück Kreide umklammert hielt und die Zungenspitze konzentriert aus dem Mundwinkel schob.

Draußen knirschten Reifen auf dem Kies. Phoebe sah mit großen Augen auf und runzelte die Stirn. »Daddy?«

»Ja«, erwiderte Maggie betont heiter und warf einen Blick auf die Küchenuhr. Er war eine Stunde zu spät. Arschloch.

»Ich will nicht gehen.«

»Ich weiß«, sagte Maggie. Sie schloss Phoebe in die Arme und drückte das Gesicht an ihren süß duftenden Hals.

Phoebe hatte noch nie bei Aidan geschlafen. Bislang hatte Maggie es immer wieder aufgeschoben, anfangs weil sie ihre Tochter stillen musste und später mit der Begründung, dass Phoebe ohne sie nicht einschlafen könne. Doch mittlerweile war Phoebe drei, und Aidan hatte darauf bestanden, sie nun endlich auch mal über Nacht bei sich zu haben. Maggie wusste, dass es ihm gegenüber nur fair war. Und sie wollte ja auch, dass Aidan und Phoebe eine Beziehung zueinander aufbauten – doch die Vorstellung, von ihrer Tochter getrennt zu sein, bereitete Maggie quälende, körperliche Schmerzen. Ihr Bedürfnis, sich jede Nacht an ihre Tochter zu schmiegen und durch den Baumwollpyjama ihren Herzschlag zu spüren, kam ihr wie ein Urinstinkt vor.

Deswegen fand die Reise nach Norwegen genau zum richtigen Zeitpunkt statt. Maggie hätte unmöglich ohne Phoebe in ihrem kleinen Häuschen bleiben können, in dem sie jeder Winkel an ihre Tochter erinnerte: die mit verschlungenen Bildern bemalte rustikale Eingangstür, der Kiefernholztisch, an dem sie nachmittags Milch tranken und Kekse aßen, der riesige Sitzsack, in dem sie es sich zum Vorlesen gemütlich machten, das Fensterbrett, auf dem sie in winzigen Pappmaché-Töpfen Kresse zogen.

Das Auto hielt vor dem Haus, und der Motor verstummte. Eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Auf dem Kies ertönten Schritte.

Maggie setzte ein breites Lächeln auf und trug Phoebe zur Tür. »Du wirst eine richtig lustige Woche haben.«

Es klingelte.

Maggie umfasste die Klinke und versuchte, ruhig zu bleiben.

»Tante Helena!« Phoebe wand sich strahlend aus Maggies Umarmung.

Helena stand in einer schwarzen Caprihose und mit rotem Lippenstift vor der Tür. Ihr dunkler Bob saß makellos. Sie ging in die Hocke und empfing Phoebe, die auf sie zustürmte, mit ausgebreiteten Armen.

»Wir haben geglaubt, du bist Daddy!«, rief Phoebe.

»Frechheit«, erwiderte Helena grinsend. »Ich sehe viel besser aus als Daddy.«

Liz trat in kompletter Wandermontur hinter ihr hervor und schloss Maggie fest in die Arme.

Helena sah Maggie fragend an. »Ist er noch nicht da?«

Er verspätet sich, formte Maggie mit den Lippen.

Helena verdrehte die Augen.

»Ich habe Angst«, sagte Phoebe und griff nach dem goldenen Hufeisen, das Helena an einer feingliedrigen Kette um den Hals trug. »Bist du ein Pony?«

»Heute nicht, weil Ponys nicht durch die Sicherheitskontrolle am Flughafen dürfen. Manchmal aber schon.«

Phoebe nickte ernst.

»Und jetzt erzähl mir mal, wovor du Angst hast.«

Phoebe deutete auf den hellroten Koffer und die zusammengefaltete Bettdecke im Flur. Obenauf saß ein flauschiger Leopard, der aussah, als würde er das Gepäck bewachen. »Ich gehe zu Daddy nach Hause und will vielleicht wieder heim.«

Maggie spürte, wie sich ihr Herz verkrampfte. Nur mit Mühe schaffte sie es, Phoebe nicht an sich zu ziehen und ihr zu sagen: Du musst nicht gehen. Wir bleiben hier! Mummy wird nicht wegfahren!

»Ah«, sagte Helena und schaute ebenso ernst drein wie Phoebe. »Ja, so fühle ich mich auch manchmal. Ehrlich gesagt«, sie senkte die Stimme, »fühle ich mich gerade so.«

»In echt?«

»Ja, in echt. Weißt du, Liz zwingt mich dazu, nach Norwegen zu fliegen und in den Bergen zu campen – und das habe ich noch nie getan, und ich habe auch ein bisschen Angst, dass ich vielleicht wieder heimwill.«

Phoebe neigte den Kopf zur Seite und sah Liz forschend an.

»Es stimmt nicht, dass ich sie dazu zwinge«, sagte Liz.

Phoebe wirkte nicht überzeugt. Nach kurzem Nachdenken ging sie zu ihrem Koffer, nahm den Leoparden herunter und hielt ihn Helena hin. »Du kannst dir Leopold ausleihen.«

Maggie biss sich auf die Unterlippe. Leopold war Phoebes liebstes Kuscheltier. Beim Schlafen klemmte sie ihn sich immer unter das Kinn. Sein Nackenfell war vom vielen Knuddeln schon ganz abgewetzt.

»Ach, du Süße«, sagte Helena. »Das ist wirklich wahnsinnig lieb von dir. Aber Leopold macht es vielleicht auch nervös, an einem neuen Ort zu sein. Tu mir den Gefallen und pass ganz doll auf ihn auf, okay?«

Ein Motorgeräusch erklang. Helena und Liz drehten sich um. Aidans roter Sportwagen kroch durch die schmale Gasse. Maggie wusste, dass er so langsam fuhr, weil er auf keinen Fall den Lack zerkratzen wollte.

Er parkte hinter Liz’ Ford und stellte den Motor ab. Einen Moment später stieg er mit weit ausgebreiteten Armen und strahlendem Lächeln aus. »Phoebe!«

Phoebe presste sich an Maggie und krallte die winzigen Finger in den Stoff ihres zitronengelben Kleids.

»Hallo, Aidan«, sagte Maggie und rang sich ein möglichst aufrichtiges Lächeln ab.

Er nickte. »Maggie. Liz. Helena.«

Helena bedachte Aidan mit einem abfälligen Blick, den sie extra für ihn reserviert zu haben schien. Dabei hob sie das Kinn ein wenig höher als normal, sodass sie buchstäblich auf ihn herabschaute, wie sie es auch im übertragenen Sinne tat.

Er betrachtete Maggies Terrasse und bemerkte bestimmt den abblätternden Anstrich, unter dem der Putz zum Vorschein kam, und den zugewucherten Blumenkasten, den sie bisher noch nicht gejätet hatte. Was er nicht sehen konnte, war der Spaß, mit dem Phoebe und sie im Frühling Blumensamen in »geheime« Beete gepflanzt und anschließend die Hände in einem Waschbecken voll warmem Wasser gewaschen hatten. Lachend hatten sie mit ihren schmutzigen Fingernägeln die Seifenblasen auf der Wasseroberfläche platzen lassen. Aidan hatte schon immer nur Chaos gesehen, wo Maggie vor allem Freude sah.

»Bist du bereit, Supergirl?«, fragte er und kam näher, um Phoebe die Haare zu zerzausen. »Im Auto wartet eine Überraschung für dich.«

Und schon gehen die Bestechungsversuche los, dachte Maggie.

»Dann gehen wir dich mal anschnallen«, sagte sie tapfer und hob Phoebe hoch. Auf dem Weg zum Auto drückte sie ihre Tochter noch einmal ganz fest an sich, als wollte sie ihre Liebe in sie hineinpressen. »Ich hab dich so lieb, mein Schatz«, sagte sie, während sie den Gurt schloss. »Ich werde dich vermissen. Gib auf Leopold acht, ja?«

Phoebe nickte. »Und gib du auf Tante Helena acht«, flüsterte sie. »Sie hat Angst vor den Bergen.«

»Das werde ich machen«, erwiderte Maggie lächelnd und überschüttete Phoebe mit Küssen, bevor sie widerwillig die Tür schloss, ihre Tochter durch die Seitenscheibe ansah und »Ich hab dich lieb«murmelte.

»Maggie klettert wirklich auf einen Berg?«, hörte sie Aidan hinter sich fragen und drehte sich um.

»Im Vergleich zu den zwei Jahren Ehe mit dir«, erwiderte Helena lächelnd, »wird ihr die Bergtour sicher wie ein Sonntagsspaziergang vorkommen.«

Maggie hätte ihm gern noch tausend Dinge mit auf den Weg gegeben. Wenn Phoebe nachts aufwacht, dann sing ihr am besten »Der Mond ist aufgegangen« vor. Wenn sie zu viel Zucker isst, kriegt sie einen Anfall. Setz sie nicht einfach vor den Fernseher, wenn du dich mit ihr langweilst. Trink nicht zu viel, während du mit ihr zusammen bist. Doch stattdessen sagte sie nur: »Pass bitte auf sie auf.«

Phoebe blickte mit feuchten Augen durch das Seitenfenster und hielt Leopold fest an die Brust gedrückt.

Nein, das konnte sie nicht tun. Sie konnte sie nicht gehen lassen. Als Maggie einen Schritt vortrat, ergriff Helena ihre Hand. Auf der anderen Seite hakte Liz sich bei ihr unter. Ihre Freundinnen hielten sie aufrecht.

Aidan ließ den Motor an. Phoebe presste eine Hand an die Scheibe, als versuchte sie auszubrechen.

»Der Tanz«, sagte Helena und warf wie ein Revuegirl das linke Bein in die Höhe. »Mach den Tanz.«

Maggies Kehle schnürte sich zusammen, und sie spürte, wie ein Schluchzer in ihrer Kehle aufstieg.

»Schnell, Maggie. Mach den Tanz.«

Der Tanz, den sie meinte, stammte aus einem Musical, das sie sich im vergangenen Winter zu dritt angesehen hatten. Phoebe hatte sich vor Lachen gar nicht mehr eingekriegt, als Tante Helena und ihre Mom anschließend die Cancan-Schritte und ausgreifenden Gesten nachgemacht hatten.

Helena warf das andere Bein in die Höhe. »Jetzt mach schon!«

Maggie zwang sich, im Gleichtakt mit ihren Freundinnen erst das linke und dann das rechte Bein hochzuwerfen. Ihr Kleid bauschte sich im Wind.

Helena spreizte die Finger. »Na also! Wir tanzen! Wir bleiben immer schön in Bewegung! Wir machen Jazz-Hände, und wir winken!«

Phoebes kleiner Mund verzog sich zu einem Lächeln. Sie löste die Finger von der Scheibe und winkte ebenfalls mit Jazz-Händen.

Während Aidan langsam durch die Gasse zurückfuhr, tanzten sie weiter, bis das Auto mitsamt Phoebe außer Sicht war.

»Sie sind weg, Mags«, sagte Helena. »Du kannst jetzt mit dem Tanzen aufhören.«

Maggie sackte zusammen und musste von ihren Freundinnen gestützt werden.

Liz drückte ihr die Hand. »Der Abschied ist das Schwerste. Und den hast du schon mal hinter dir. Ab jetzt kannst du dich auf deine Heimkehr freuen, okay?«

 

Maggie saß während der Fahrt zum Flughafen auf dem Rücksitz. Seit ungefähr zwanzig Meilen weinte sie nicht mehr, wurde aber noch immer von Kopfschmerzen geplagt.

Im Türfach entdeckte sie ein vergilbtes Buch aus ihrer Schulzeit. Auf dem Einband stand in runden rot-weiß-blauen Lettern N-O-R-W-E-G-E-N, darunter die Namen Liz und Joni.

»Euer Geographieprojekt!«, sagte Maggie und legte es sich auf den Schoß. »Du hast es gefunden!«

»Es war im Speicher«, sagte Liz.

Unter dem Titel war das Bild einer Frau zu sehen, die auf dem Gipfel eines steilen Berges stand, die Arme vor dem blauen Himmel ausgebreitet. Auf einer Seite erstreckte sich das blaue Meer, unter ihr floss ein silberner Strom durch eine sanfte Hügellandschaft.

»Das ist der Berg, den wir besteigen werden, oder?«, fragte Maggie.

Liz nickte. »Ganz genau. Der Blafjell.«

Maggie erinnerte sich, dass Liz und Joni als Teenager während einer Geographiestunde einen Pakt geschlossen hatten. Eines Tages würden sie zu diesem Ort wandern. Es war ein drückend grauer Februar gewesen, eine Welt voller Schulgongs, durchweichter Schulranzen und nasser Gehwege. Die Berge hatten wie eine andere Welt ausgesehen – eine, die sie erkunden wollten. Maggie hatte beobachtet, wie die beiden über ihre Schulbänke hinweg die Finger verhakt hatten, um das Versprechen zu besiegeln.

»Hast du immer noch nichts von Joni gehört?«, fragte Maggie.

»Nein«, erwiderte Liz.

Maggie sah im Rückspiegel Helenas hochgezogene Augenbrauen.

Damit würde Joni im zweiten Jahr in Folge nicht an ihrem Urlaub teilnehmen. Sie hatte sich seit Wochen aus ihrem Gruppenchat ausgeklinkt.

»Sie ist auf Tournee«, sagte Liz, gewohnt loyal, doch Maggie war klar, wie enttäuscht sie sein musste. Joni war immer eine Bereicherung. Sie machte bei allem mit und hätte sicher mit Freuden einen Rucksack übergestreift und gelacht, wenn sie sich im Wald hätte erleichtern müssen. In ihrer Begleitung wäre ihre Reise strahlender und lustiger geworden.

»Los, wir schicken ihr ein Foto«, sagte Maggie und reichte Helena ihr Handy nach vorne.

Helena lehnte sich in die Mitte, sodass all ihre Gesichter auf der Aufnahme zu sehen sein würden, und schürzte die roten Lippen zu einer übertriebenen Entenschnute. Liz nahm kurz die Hand vom Lenkrad, um zu winken. Maggie machte das Peace-Zeichen. Das Kameraklicken ertönte.

Helena reichte das Handy wieder nach hinten, und Maggie warf einen Blick auf das Bild. Sie tippte: Noch ist Zeit. Dann drückte sie auf Senden.

4Joni

Nur mit einem schwarzen Tanga bekleidet taumelte Joni durch die Hotelsuite und suchte nach ihrer Lederjacke. Sie ging an einem verspiegelten Tisch voll leerer Champagnerflaschen, Gläsern mit Lippenstiftabdrücken und den Überresten von Koks-Lines vorbei. Auf der Chaiselongue lag eine junge Frau mit falschen Wimpern, die sie noch nie gesehen hatte.

Durch die offene Schlafzimmertür hörte sie Kais unregelmäßiges Schnarchen, vermischt mit brummenden Verkehrsgeräuschen und Musik, die aus irgendeinem Lautsprecher drang.

Joni kniff die Augen zusammen. Was für eine Stadt ist das? In welchem Land bin ich?

Ihre Schläfen schmerzten, ihre Kehle fühlte sich wie trockene Rinde an. Gestern Abend hatte sie sich vor dem Gig nicht aufwärmen können. Sie war spät dran gewesen, weil …

Berlin! Zu ihrer Erleichterung fiel es ihr wieder ein. Genau! Sie hatten im Huxleys gespielt. Die Halle war brechend voll gewesen. Während des letzten Songs war ein Mädchen auf die Bühne gestürmt. Mit schweißnassem T-Shirt …

Sie entdeckte ihre Jacke auf dem Boden, kniete sich auf den dicken Teppich und klopfte die Taschen ab. Ihre kurzen Nägel waren schwarz lackiert, ihren linken Daumennagel zierte zusätzlich ein Blitz. Sie hatte ihn nicht gewollt. Jonis Visagistin Rhianne hatte nicht gewusst, dass sie schreckliche Angst vor Gewittern hatte, und war zusammengezuckt, als Joni ihr die Hand entriss. »Aber ich habe doch erst einen Blitz fertig!«, hatte Rhianne protestiert.

Joni hatte auf ihre feuchten Nägel geblickt und mit den Achseln gezuckt. »Der eine muss reichen.«

Sie hätte ihn gern entfernt und sich das Haarspray aus den dunklen gewellten Haaren gespült. Sie wollte sich den Schweiß und den Sex der letzten Nacht vom Körper waschen, unter einer dampfenden Dusche stehen und jeden Hinweis auf ihr Leben von sich abschrubben.

Da! Sie zog die Tüte mit dem Koks aus der Brusttasche. Dabei fiel auch ihr Handy heraus. Der Stoff reichte nur noch für ein paar Lines. Sie sagte immer, sie würde nur zum Spaß Drogen nehmen. Eine Line und ein paar Shots vor einem Konzert, um gut draufzukommen. Anschließend Champagner und noch mehr Koks, um die Stimmung hochzuhalten. Zuletzt ein bisschen Gras und ein paar Pillen, um chillen und schlafen zu können. Und was war dann das hier? Eine Line, um sich morgens in Schwung zu bringen? Sie kannte so einige, die diesen Weg eingeschlagen hatten. Und sie würde ihnen bestimmt nicht folgen.

Ich gleite ab.

Durch das offene Fenster drang Kinderlachen. Sie sah hinaus und kniff die Augen gegen das Sonnenlicht zusammen. Sie wollte einen Blick auf das Kind und seine Eltern erhaschen. Hielten sie sich an den Händen? Gingen sie frühstücken? Oder einkaufen? Joni wollte es wissen und sie beobachten. Warum, konnte sie nicht sagen. Vielleicht musste sie sich vergewissern, dass nicht die ganze Welt schlecht war.

Ihr Handy piepte. Sie öffnete die eingegangene Nachricht und sah ein Foto von Liz, Helena und Maggie, die sich in Liz’ Auto zusammenquetschten. Sie strahlten in die Kamera. Ihre Gesichter wirkten sauber und frisch. Und so verdammt schön! Liz hatte eine Hand am Lenkrad, die andere zum Gruß erhoben. Helenas glänzende schwarze Haare waren zu einem kinnlangen Bob geschnitten. Sie schürzte die Lippen. Maggie beugte sich vor und machte das Peace-Zeichen. Ihre Wangen waren mit Sommersprossen übersät, ihre freundlichen haselnussbraunen Augen funkelten. Joni spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog. Genau in diesem Moment waren die drei zu einem gemeinsamen Abenteuer unterwegs.

Ein eigenartiges, verstörendes Gefühl durchströmte sie, als würde sie ihre Freundinnen aus der Distanz betrachten und etwas sehen, das bereits geschehen war und an dem sie nicht mehr teilhaben konnte.

Der Text zu dem Foto lautete: Noch ist Zeit.

Joni schüttelte den Kopf und biss die Zähne zusammen. Du irrst dich. Sie schmeckte ihren schlechten Atem und spürte die verschmierten Schichten ihres Bühnen-Make-ups vom Vorabend. Doch vor allem fühlte sie sich vollkommen leer. Und das war es, was ihr am meisten zu schaffen machte.

Joni ließ das Handy fallen und ging mit unsicheren Schritten zu dem niedrigen Tisch, wo sie die Flaschen und Gläser beiseite schob und etwas von dem Koks auf die verspiegelte Oberfläche klopfte. Kleine schneebedeckte Berggipfel, die nur darauf warteten, sie einen kurzen Moment lang von sich selbst zu befreien und das entsetzliche Vakuum in ihrem Inneren mit goldenem Licht zu füllen.

Während sie einen Finger seitlich an die Nase presste und sich vorbeugte, erblickte sie sich im Spiegel. Sie sah furchtbar und wie eine vollkommen Fremde aus. Joni schüttete das gesamte verbliebene Kokain auf ihr Abbild. Sie musste sich auslöschen. Sie wollte sterben.

Sterben.

Der Gedanke ließ sie schockiert zurückzucken.

Joni schlug sich die Hände vor den Mund, als hätte sie Angst, das Wort laut auszusprechen und ihm damit noch mehr Gewicht zu verleihen.

Zitternd rannte sie quer durch die Suite ins große Schlafzimmer. Dabei trat sie mit dem Fuß gegen eine leere Flasche, die kreiselnd über den Boden sauste und gegen das Bettgestell knallte. Kai regte sich stöhnend. Eine seiner tätowierten Waden baumelte über die Bettkante.

Joni schlüpfte in einen Schlabberpulli und Jeansshorts und schnappte sich die Lederjacke sowie ihre Handtasche.

Schuhe! Wo sind meine Schuhe?

Sie sah sich erst im Schlafzimmer um und anschließend im Wohnraum. Dabei fiel ihr Blick auf die Line, die noch immer auf dem Tisch lag, und sie spürte ein Ziehen im Körper. Es war, als würde sie von der Strömung aufs Meer hinausgesaugt.

Verschwinde von hier, drängte eine Stimme tief in ihrem Inneren. Jetzt sofort.

Sie ging aus der Suite, fuhr mit dem Lift in die gebohnerte Lobby hinunter und trat gleich darauf barfuß in den Berliner Morgen hinaus.

Während sie mit einer Hand ein Taxi herbeiwinkte, behielt sie die andere in der Hosentasche und berührte mit den Fingerspitzen das glatte Display ihres Handys. Noch ist Zeit.

5Liz

Liz blickte aus dem Kabinenfenster. Unter ihr funkelten Flüsse, Seen und Fjorde. Berge ragten aus der Landschaft, die höchsten Gipfel waren verschneit. Es gab nur wenige Städte, Gebäude oder Straßen, dafür jede Menge Erde, Wasser und Himmel.

Liz bekam ein flaues Gefühl im Magen: Sie würden dort unten wandern.

»Willst du noch einen Schluck?«, fragte Helena, die am Gang saß, und hielt eine kleine Weinflasche hoch.

Liz schüttelte den Kopf. »Ich muss nachher wieder ans Steuer.« Nach ihrer Landung in Bergen lag eine längere Fahrt Richtung Norden vor ihnen. Die erste Nacht würden sie in einer Pension in den Ausläufern des Svelle-Gebirges verbringen und am folgenden Morgen zu ihrer Tour aufbrechen.

»Was glaubst du, wie viele Stunden pro Tag wir wandern werden?«, fragte Maggie, die mit einem umgedrehten Buch auf dem Schoß zwischen ihnen saß.

»Sieben, vielleicht acht«, erwiderte Liz. »Das schaffst du«, fügte sie hinzu, als sie Maggies Gesichtsausdruck sah. »Dafür hast du ja trainiert.«

Maggie nahm ihren Plastikbecher und trank einen Schluck Wein.

Liz schaute Helena an. »Wie kommst du damit klar, dass du von der Arbeit abgeschnitten sein wirst?«

Helena drehte ihr Handy um und betrachtete das Display. »Ich habe das Gefühl, mein Telefon und ich können eine Auszeit voneinander gut gebrauchen.«

Helena betrieb eine Eventagentur, die für Unternehmen wie BMW und Hilton perfekt organisierte Großveranstaltungen ausrichtete. Sie stellte ihren Kunden Spitzensätze in Rechnung, dafür erwarteten diese aber auch, dass Helena Tag und Nacht erreichbar war.

»Du hast so schwer gearbeitet«, sagte Liz. »Du hast dir einen Urlaub verdient.«

»Da wir jetzt im Flugzeug sitzen«, entgegnete Helena, »sehe ich keinen Grund mehr, so zu tun, als wäre dies ein Urlaub.«

Liz grinste. »Du bist freiwillig dabei!«

»Na klar. Schließlich ist es unser alljährlicher Trip. Ich wäre sogar mitgekommen, wenn du Hai-Tauchen in Südafrika vorgeschlagen hättest. Ich werde immer dabei sein.«

Liz spürte, wie ihr bei diesen Worten das Herz aufging.

Helena schenkte den Rest Wein in ihren Plastikbecher. »Es war schön, letzten Monat mal wieder Patrick zu sehen.«

»Von dem Steakhouse, in dem ihr wart, hat er anschließend noch tagelang geschwärmt.«

Helena lächelte. »Patrick ist mein Lieblingsvegetarier. Es schien ihm gut zu gehen. Toll, dass er vom Clifton-Shop Aufträge bekommt.«

»Ja, das freut ihn sehr.« Patrick reparierte und wartete Standuhren. Wenn er beruflich in Bristol zu tun hatte, traf er sich manchmal mit Helena zum Abendessen oder auf einen Drink.

»Ist bei euch beiden alles in Ordnung?«

Liz’ Alarmglocken schrillten. Hatte Patrick etwas gesagt? Das hätte er doch sicher nicht getan, oder?

Sich vor Dritten über ihre Ehe zu beklagen, hielt Liz für illoyal. Patrick war ebenfalls mit Helena, Maggie und Joni befreundet. An der Schule war er zwei Klassen über ihnen und einer der besten Kumpel von Liz’ großem Bruder gewesen. Sie hatten ihn also bereits als den Jungen gekannt, der mit dem Skateboard zur Schule fuhr, im Wald rauchte und zwei Jahre am Stück dasselbe Nirvana-T-Shirt trug. Liz hatte ihn schon als Dreizehnjährige angehimmelt. Zum ersten Mal geküsst hatte sie ihn auf ihrem Abschlussball, im Beisein von Helena, Maggie und Joni, die sie vom Rand der Tanzfläche aus anfeuerten.

Seither hatte Liz niemand anderen mehr geküsst. Früher war sie darauf stolz gewesen – doch mittlerweile beunruhigte es sie. Es wurmte sie auch, dass sie nach wie vor in ihrem Geburtsort wohnte und zeit ihres Lebens immer nur in medizinischen Berufen gearbeitet hatte. Die anderen hatten viel mehr ausprobiert. Maggie hatte sich als Kellnerin, Blumenbinderin und Fußreflexzonen-Masseurin versucht und stellte mittlerweile individuell gestaltete Namensaufdrucke aus gepressten Blumen her. Helena, die in einer Sozialwohnung aufgewachsen war, hatte einen steilen Aufstieg hinter sich und besaß inzwischen ihr eigenes Unternehmen und drei Häuser. Joni trat in allen großen Metropolen auf und spielte ihre Alben in den berühmtesten Aufnahmestudios der Welt ein.

Und was hatte Liz erreicht? Sie wohnte zwei Straßen von ihrem Elternhaus entfernt, hatte ihre Jugendliebe geheiratet und arbeitete in der Praxis, in der sie zuvor selbst Patientin gewesen war.

»Bist du okay?«, fragte Helena.

Liz blinzelte. Sie merkte, dass sie ihre Finger knetete, und legte die Hände flach auf die Oberschenkel.

Maggie und Helena sahen sie verdutzt an.

»Mir geht es gut«, erwiderte sie schließlich. »Uns beiden geht es gut. Patrick ist großartig.«

Gut möglich, dass sie in einer Midlife-Crisis steckte. Nur dass sie nicht wie andere Leute eine Affäre begann oder sich einen Sportwagen zulegte, sondern ihre Freundinnen dazu zwang, mit ihr in der Wildnis zu campen.

Liz blickte wieder aus dem Fenster. Gott, wie sehr sie es hasste, stundenlang in einem Flugzeug still sitzen zu müssen. Sie konnte es kaum erwarten, mit der Wanderung zu beginnen. Das war es, was sie jetzt brauchte: Den Rucksack schultern und losgehen.

6Maggie

»Wir sind fast da«, sagte Liz und schaltete auf der schmalen, talwärts führenden Straße einen Gang runter.

Da die im Westen aufragenden Gipfel in wabernden Nebel gehüllt waren, konnte Maggie nur die baumbestandenen Hänge des Vorgebirges ausmachen. Das Laub war bereits herbstlich braun. Sie fuhren durch eine Kurve und erblickten einen großen See, dessen dunkle, stille Oberfläche an den schimmernden Rückenpanzer eines Käfers erinnerte. Am anderen Ende stand ein großes Holzhaus.

Auf dem Kiesparkplatz der Pension hielt Liz neben einem mit Baumstämmen beladenen Pick-up-Truck und öffnete die Tür.

Eine steife, nach Felsen riechende Brise wehte ins Wageninnere. Maggie fröstelte.

Liz stieg aus, stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete die Berge. In ihren Stiefeln, der Funktionshose und der marineblauen Fleecejacke sah sie aus, als würde sie sich sofort auf den Weg machen wollen. »Das ist noch wilder, als ich es mir vorgestellt habe«, sagte sie, und Maggie glaubte, einen Anflug von Furcht in ihrer Stimme zu hören.

Helena drehte sich auf dem Beifahrersitz um. »Kommst du, Mags?«

Maggie schluckte und stieg steifbeinig aus dem Auto. Als ein Windstoß den Saum ihres Kleides anhob, schlang sie ihre Strickjacke fester um sich und spürte, wie sich ihr Rücken verspannte.

Sie hatte immer das Gefühl gehabt, ihr Haus am Stadtrand von Bath befände sich mitten in der Natur. Doch als sie nun an diesem windgepeitschten Ort stand und die aus Felsen und Eis gemeißelte, mit Seen und Bäumen durchsetzte Landschaft betrachtete, begriff sie, dass sie bisher noch nie eine echte Wildnis gesehen hatte. Während der letzten Stunden waren sie durch endlose dichte Wälder gefahren, vorbei an hohen Bergen, deren Gipfel in den Wolken verschwanden, und reißenden Flüssen, die die Landschaft zu zerschneiden schienen.

Die Pension war das einzige Gebäude weit und breit. Diese Umgebung war überbordend und schwindelerregend. Mit einem Mal fühlte sie Panik in sich aufsteigen und war sicher, einen schrecklichen Fehler gemacht zu haben. Das Panorama war auf zerklüftete Weise schön, etwas, das man am besten durch ein Fenster bewunderte. Aber wollte sie wirklich in dieser Landschaft wandern? Bergpfade erklimmen? Und dort draußen übernachten?

Liz hievte die Rucksäcke aus dem Auto und wuchtete sich ihren auf den Rücken. »Ich gehe einchecken.«

Maggie rührte sich nicht.

»Wir kommen gleich nach«, sagte Helena zu Liz.

Liz schloss den Wagen ab und ging zum Eingang der Pension. Der Rucksack verdeckte ihren Oberkörper.

Helena stieß Maggie mit der Schulter an. »Alles in Ordnung?«

Maggie schüttelte den Kopf. »Hier ist es mir zu … weitläufig. Die Landschaft ist zu groß. Es gibt von allem zu viel … Es ist zu weit weg von zu Hause … von Phoebe.« Sie zog ihr Handy aus der Tasche und sah aufs Display. »Ich habe nur einen Balken. Was, wenn ich Phoebe nicht anrufen kann? Ich muss mit ihr sprechen können. Was, wenn es ein Problem gibt? Wenn sie mich braucht?«

Maggie wusste, dass sie sich nicht bei Helena beklagen sollte. Schließlich hatte die für ihren Flug bezahlt. Doch sie war zu nervös, um sich zusammenzureißen.

»Erinnerst du dich noch an den Trainingsplan, den Liz uns geschickt hat? Ich habe behauptet, ich hätte ihn befolgt, aber das war gelogen. Ich habe ihn ausgedruckt und an den Kühlschrank gehängt. Ich wollte mich daran halten … aber …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass ich mich wie eine Mutter anhöre, die alles auf ihr Kind schiebt. Aber Phoebe ist mittlerweile zu schwer, um sie zu tragen, und ohne sie hatte ich keine Zeit für Trainingswanderungen. An den beiden Vormittagen, an denen sie in der Vorschule ist, muss ich mich um meine Etsy-Bestellungen kümmern.« Sie sah zu, wie Liz die Pension betrat. »Liz hat mir gesagt, ich solle stattdessen abends die Workouts von Joe Wicks machen … Davon habe ich drei hinbekommen. Na ja, eigentlich nur zwei. Und beim zweiten Mal bin ich nach drei Liegestützsprüngen mit einer Packung Kekse auf dem Sofa zusammengebrochen und habe Joe bei seinen Kniebeugen und Ausfallschritten zugesehen. Und jetzt bin ich total unfit und werde euch beiden den ganzen Spaß verderben … Am besten reise ich auf der Stelle wieder ab. Ja, das sollte ich wirklich tun. Ich weiß, dass du für meine Reise gezahlt hast, und das war wirklich verdammt großzügig und lieb von dir, und ich fühle mich schrecklich, weil ich jetzt sage, dass ich nach Hause will – aber so ist es nun mal. Ich will heim.« Sie nickte hektisch. »Ich bin eine furchtbare Freundin, aber ich muss abreisen. Ich kehre zurück und kümmere mich um ein paar Dinge, die ich schon längst hätte erledigen sollen. Ich streiche die Fensterrahmen, räume den Gartenschuppen aus, pflanze den Rasen neu an …« Sie verstummte, da ihr nichts mehr einfiel.

Helena sah sie mit festem Blick an und hob eine ihrer dunklen Augenbrauen. »Du möchtest nach Hause, um deinen Rasen neu anzupflanzen?«

Maggie zuckte die Achseln.

Helena presste die roten Lippen aufeinander. »Dir ist schon klar, dass du immer die gleiche Nummer abziehst, oder?«

»Was meinst du damit?«

»Dass du jedes Mal bei der Ankunft Angst bekommst und gleich wieder abreisen willst. Erinnerst du dich noch an unseren Urlaub in Barcelona, wo du schon am Flughafen wieder kehrtmachen wolltest?«

Maggie konnte sich entsinnen, dass ihr die Hochhäuser und die nach Teer riechenden Baustellen nicht gefallen hatten und dass sich alles unvertraut und auf unerklärliche Weise falsch angefühlt hatte. »Mache ich das wirklich immer?«

»Und weißt du noch, das lange Wochenende in Frank-reich?«

Maggie dachte nach. »Dort habe ich einen Hitzeausschlag bekommen und wollte nach Hause und mich von einem Arzt untersuchen lassen, weil ich Angst hatte, es könnte etwas Ansteckendes sein.«

»Ganz genau. Morgen ist alles wieder gut. Du wirst diese Berge mit Begeisterung erklimmen.«

»Meinst du wirklich?«

»Na ja, vielleicht nicht mit Begeisterung, aber es wird dir nichts ausmachen.«

Maggie seufzte. »Es stimmt aber tatsächlich, dass ich während Joe Wicks’ Workout Kekse gegessen habe.«

»Ich schaue ihn mir immer beim Baden an.«

Maggie grinste.

»Liz sollten wir von unserem Trainingsrückstand aber besser nichts erzählen«, sagte Helena. »Ihrem ständigen strahlenden Lächeln nach zu urteilen, macht sie sich selbst vor Angst fast in die Hose.«

»Glaubst du, dass ich diese Wanderung schaffen kann?«

Helena sah sie einen Moment lang an. »Weißt du, warum ich deinen Flug übernommen habe?«

»Weil du nicht auf meine charmanten Vorträge und meine überragende emotionale Intelligenz verzichten wolltest?«

»Weil ich bei dieser Wanderung jemanden an meiner Seite haben möchte, der sogar noch weniger Lust darauf hat als ich.« Sie tippte mit der Fußspitze erst gegen Maggies Rucksack und dann gegen ihren eigenen. »Komm jetzt. Ich bin gespannt, ob wir diese Mistdinger hochheben können.«

7Liz

Die Daumen unter die Schulterriemen ihres Rucksacks gehakt, sah Liz sich in der Pension um. Als Erstes fiel ihr der frische Kiefernholzduft auf. Traditionelle, aus Baumstämmen errichtete Wände rahmten eine riesige Glasfassade ein, die sich über die gesamte Südseite erstreckte. Sie bot einen atemberaubenden Ausblick auf den See und die umgebenden Berge. In einer Ecke der Pension stand ein großer Holzofen, der von einer niedrigen, mit Fellen bedeckten Sitzgruppe umgeben war.

Auf einer Holzbank in der Nähe des Eingangs saß ein hochgewachsener Mann Ende fünfzig. Er trug ein verblichenes, bis zum Hals zugeknöpftes Hemd und eine dunkle Schirmmütze, die seine Augen beschattete. Zu seinen Füßen lag eine Hündin mit drahtigem Fell und leckte sich die Pfoten.

»Hallo«, sagte Liz leutselig.

Der Mann bedachte sie mit einem Nicken und sah zu, wie sie zur Rezeption ging.

Die Empfangstheke war aus einem einzigen, glatt geschmirgelten Baumstamm gefertigt. Sie sah einen flachen Laptop und eine rote Kladde, aber niemanden, bei dem sie sich hätte anmelden können.

Eine offene Tür führte zu einem kleinen Büro, in dem Liz einen breitschultrigen Mann mit Shorts und Wanderstiefeln ausmachte. Er hatte einen ordentlich gestutzten Bart und dichte, zu einem Dutt hochgebundene hellbraune Haare. Ohne eine Miene zu verziehen, stand er mit einer Hand in der Hosentasche da und hörte einem für Liz nicht zu erkennenden Mann zu, der ohne Punkt und Komma auf Norwegisch auf ihn einredete.

Liz wollte die beiden nicht stören. Also streifte sie ihren Rucksack ab, lehnte ihn an die Theke und ging zu einer Pinnwand, an der eine Wanderkarte befestigt war. Liz liebte Karten, da sie zugleich ihren Ordnungssinn und ihre Abenteuerlust ansprachen.

Mit dem Zeigefinger fuhr sie die verschiedenen Tagestouren in der Umgebung der Pension nach, die entweder am See entlang oder in die Wälder führten. Schließlich blieb ihr Blick an der langen roten Linie hängen, mit der die viertägige Svelle-Tour eingezeichnet war.

Sie spürte die Knicke in der Karte, während sie dem Pfad westwärts folgte. Erst durch ein Tal, dann weiter bis zu einem Fluss, an dem sie das erste Nachtlager mit ihrer Gruppe aufschlagen wollte. Am zweiten Tag würden sie die Ausläufer eines Berges überqueren und zu einem entlegenen Küstenstreifen gelangen, wo sie am Strand kampieren wollten. Liz ließ den Blick über das Nordmeer schweifen, das sich scheinbar endlos bis zur Arktis erstreckte.

Sie schluckte und ließ den Finger über den letzten und härtesten Abschnitt ihrer Wanderung gleiten: Erst würden sie die steile Nordseite des Blafjell erklimmen und dann einen Kamm überqueren müssen, der zu einem zweiten Gipfel führte – und das an einem einzigen Tag, um die Nacht wieder in den sicheren, tiefer gelegenen Hanglagen verbringen zu können. Danach würde es ohne größere Herausforderungen zurück zur Pension gehen.

Die Stimme im Büro wurde lauter. Liz drehte sich um und sah, wie der breitschultrige Mann mit dem Dutt beschwichtigend beide Hände hob. Einen Moment lang herrschte Stille. Schließlich senkte der Mann den Blick und nickte.

Einen Moment später sah Liz einen zweiten, braungebrannten Mann mit kurzgeschorenen weißblonden Haaren und eisblauen Augen aus dem Büro treten. Er lächelte Liz an, durchquerte den Empfangsraum – wobei er kurz die drahthaarige Hündin tätschelte, die bei seinem Anblick erwartungsvoll aufgesprungen war – und betrat auf der anderen Seite den Speisesaal. Liz erhaschte einen Blick auf Leute, die an langen Tischen saßen. Ihr Stimmengewirr wurde von klapperndem Geschirr und klirrendem Besteck untermalt. Ein Duft von Kartoffeln, Fleisch und etwas Salzigem wehte zu Liz herüber. Dann schloss sich die Tür wieder.

»Entschuldigung, dass Sie warten mussten«, sagte der Mann mit dem Dutt, der nun ebenfalls aus dem Büro kam. Er schien wie Liz Anfang dreißig zu sein und hatte die wettergegerbte Haut eines Menschen, der die meiste Zeit im Freien verbrachte. »Ich heiße Leif«, sagte er und rieb sich zerstreut das Kinn. »Willkommen in der Svelle-Pension. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

Sie betrachtete seine hochaufgeschossene und muskulöse Gestalt. Er hatte ein markantes, freundliches Gesicht mit breiter Stirn und gerader Nase.

Liz ertappte sich dabei, wie sie sich ein wenig aufrichtete. »Ich habe auf den Namen Liz Wallace eine Unterkunft gebucht. Wir sind zu dritt.« Die Eingangstür schwang auf. Liz drehte sich um und sah Helena hereinkommen, mit frisch geschminkten Lippen und ihrem Rucksack auf den Schultern. Ihre blitzblanken Stiefel klackten auf dem Holzboden.

Maggie stapfte, vom Gewicht ihres Rucksacks gebeugt, hinterher. Ihr gelbes Kleid warf unter den Schulterriemen Falten. An der Rezeption angekommen, stellte sie den Rucksack ab und schälte sich aus ihrer Strickjacke.

Liz bemerkte, dass Leif sie mit großen Augen anstarrte.

Maggie, die davon nichts mitbekam, zog eine Wasserflasche aus einer Seitentasche ihres Rucksacks und trank einen Schluck. Ihr Hals war vor Anstrengung gerötet.

»Haben Sie meine Reservierung schon gefunden?«, fragte Liz.

Leif schüttelte blinzelnd den Kopf und räusperte sich. »Ja, Ihre Zimmer sind bereits für Sie hergerichtet.«

»Ist das unsere Route?«, fragte Maggie und ging zur Wanderkarte. »Der Svelle-Pfad?«

Liz nickte.

Maggie biss sich auf die Unterlippe. »Sieht lang aus.«

»Es ist eine wunderschöne Tour, aber zum Teil ganz schön herausfordernd«, erwiderte Leif.

Maggie sah zu ihm auf und nestelte an den Taschen ihres Kleids. »Glauben Sie, dass wir die schaffen können? Das scheint eine ziemlich weite Strecke zu sein …«

Es ärgerte Liz, dass Maggie sich immer sofort jedem fügte, der auch nur einen Hauch von Autorität ausstrahlte.

Leif dachte einen Moment nach, bevor er antwortete. »Die Distanz ist nicht das Problem, sondern die Höhenunterschiede und das anspruchsvolle Terrain. Das launische Wetter. Die Flussüberquerungen. Wie schwierig es ist, hängt davon ab, wie fit man ist. Sie brechen morgen auf, stimmt’s?«

Die drei Frauen nickten.

»Achten Sie auf das Wetter. Das kann in den Bergen schnell umschlagen. Und tragen Sie sich unbedingt ins Hüttenbuch ein.« Er legte eine Hand auf die rote Kladde. »Wir wissen gern, wann alle Wanderer zurück sein müssten. Die Route sollte eigentlich gut gekennzeichnet sein, aber manchmal gehen zum Saisonende hin ein paar Markierungen verloren. Und sie wird so selten benutzt, dass ich leider keine aktuellen Meldungen über den Zustand der einzelnen Abschnitte habe. Sie haben eine Karte und einen Kompass, oder?«

»Ja«, erwiderte Liz.

»Wie ist der Handyempfang da draußen?«, fragte Maggie.

Leif schüttelte den Kopf. »In den Bergen nicht gut. Die meiste Zeit werden Sie kein Netz haben.« Als er Maggies langes Gesicht sah, fügte er rasch hinzu: »Mit ein wenig Glück kriegen Sie möglicherweise auf einem der Berggipfel ein Signal – aber nur, wenn das Wetter mitspielt.«

»Alles wird gut«, sagte Liz mit einem beruhigenden Lächeln. »Es sind ja nur ein paar Tage.«

Draußen vor der Pension ging eine Gruppe durchtrainiert aussehender junger Männer vorbei, die Arme voller Brennholz und Bierkästen. Einer von ihnen, der ein ärmelloses schwarzes T-Shirt und ein dickes Lederarmband trug, löste sich von den andern und stieß mit der Schulter die Eingangstür auf. Liz sah, dass er einen Gitarrenverstärker schleppte. Im Vorbeigehen klatschte er fröhlich mit Leif ab und stieß, erneut mit der Schulter, die Tür zum Speisesaal auf, aus dem ihm laute Willkommensrufe entgegenschallten.

»Heute Abend feiern wir unsere Saisonabschlussparty«, erklärte Leif. »Es wird ganz schön was los sein. Zusätzlich zu den Kletterern, Wanderern und Saisonarbeitern werden auch Leute aus dem Dorf raufkommen. Später gibt es Musik. Falls Sie noch etwas essen möchten: Die Küche schließt in einer halben Stunde.«

Als Leif ihnen die Zimmerschlüssel aushändigte, betrat ein älteres Paar Arm in Arm die Pension. Die Frau hatte dunkle Ringe unter den Augen und ging in gebückter Haltung.

Der Mann mit der Schirmmütze, der noch immer mit seiner Hündin neben sich auf der Bank saß, nickte den beiden zu, als sie ihn passierten, und sagte: »Bjørn. Brit.«

Leif trat hinter der Theke hervor, um die beiden ebenfalls zu begrüßen. Die Frau lächelte freundlich und legte ihm eine Hand auf den Unterarm. Obwohl sie Norwegisch miteinander sprachen, merkte Liz, dass ihre Begrüßung sehr innig war. Leif ergriff die Hand des Mannes und schüttelte sie. Nach ein paar weiteren Worten deutete er zum Speisesaal und führte die beiden dorthin.

Auf dem Weg zur Tür sah die Frau zu Liz und ihren Freundinnen herüber. Als sie Maggie bemerkte, riss sie erstaunt die Augen auf und wurde mit einem Mal sehr blass.

Maggie erwiderte unsicher ihren Blick.

Leif sprach leise auf die Frau ein und bugsierte sie sanft zum Speisesaal. Ehe sie die Tür durchquerte, schaute sie noch einmal traurig über die Schulter zu Maggie zurück.

»Was war das denn?«, flüsterte Maggie, als die Speisesaaltür hinter ihnen zufiel. »Habt ihr gesehen, wie sie mich angestarrt hat?«

»Leif hat dich genauso angesehen, als du eingetreten bist«, sagte Liz.

»Sie sehen wie ihre Tochter aus«, ertönte eine Stimme hinter ihnen.

Sie drehten sich um und beobachteten, wie sich der Mann mit der Schirmmütze von der Bank erhob und, gefolgt von seiner Hündin, zu ihnen herüberkam. »Ich heiße Vilhelm.« Er sah Maggie nachdenklich an. »Es sind Ihre Haare«, sagte er schließlich. »Und ich glaube, auch Ihre Augen.«

Maggie erwiderte verdutzt seinen Blick. »Oh. Ich verstehe …«

»Aber es war, als hätten sie einen Geist gesehen«, warf Liz ein.

Vilhelm nickte betrübt. »Karin ist letztes Jahr verschwunden.«

»Verschwunden?«, wiederholte Liz mit gedämpfter Stimme.

»Sie war in den Bergen wandern«, sagte er und blickte geistesabwesend zu der dunklen Gebirgskette. »Und ist nie zurückgekehrt.«

Liz schauderte, als wäre ein kalter Wind über ihre Haut gestrichen.

8Helena