1974. Einer dieser Sommer. - A.D. WiLK - E-Book

1974. Einer dieser Sommer. E-Book

A.D. WiLK

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Beschreibung

Es ist falsch. Doch sie kann nicht aufhören, an sie zu denken. Will nicht länger an sie denken. Soll sie sich ihren Gefühlen ein weiteres Mal hingeben, obwohl sie weiß, dass sie dabei alles verlieren kann? Sommer 1974. Nici und Kate sind 17. Abgeschieden von der Hektik der Großstadt und dem bunten Treiben der Siebziger Jahre verbringen sie sechs Wochen bei ihren Großeltern in einem kleinen Dorf in den Bergen. Kate reist aus West-Berlin an, Nici aus Bremen. Wie in so vielen Jahren zuvor. Es könnte der letzte gemeinsame Sommer sein und trotzdem: Nici wäre lieber bei ihrem Freund Tommy geblieben. Lieber hätte sie Kate in diesem Sommer nicht gesehen. Zwischen Platzregen, Kirschkuchen und einer alten Kamera erkennt sie dann aber in Kate die vertraute Seele, die sie seit ihrer Kindheit liebt. Und fast könnte sie vergessen, was im letzten Sommer geschehen ist … Die Serie „Einer dieser Sommer" erzählt sechs Geschichten, die sich über einen Zeitraum von fünfzig Jahren erstrecken und immer wieder zusammenfließen. Du kannst jedes Buch eigenständig lesen, doch zusammen ergeben sie ein großes Ganzes.

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INHALT

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Epilog

Möchtest du noch mehr?

Über mich.

Mein Podcast

Wenn du wieder gehst

Nur für diesen Moment.

Laufe Lebe Liebe.

Siebzehn Jahre. Ohne mich. Mit dir.

Vielleicht war es Liebe.

Vielleicht nur diese Nacht

Vielleicht du und ich

Ich schreibe auch Sachbücher

Schreib dein Buch jetzt.

LARA. Thriller Trilogie.

JOEY. du bist mein.

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Für die mutigen Frauen,

die unseren Weg geebnet haben.

PROLOG

Nici!“ Ich drehte mich lachend im Kreis und hielt ihre Hände mit den meinen.

„Kate!“ Sie warf den Kopf nach hinten.

Ich tat es ihr gleich, sah die Kronen der Bäume, die Wolken und den blauen Himmel schneller und schneller in einem Strudel verschwimmen.

Irgendwann rutschten ihre Hände aus meinen, bis nur noch unsere Finger sich berührten. Sie entglitt mir. Mein Lachen erstarb und ich schrie auf, als ich mit dem Po auf der Wiese landete.

Nici lachte noch immer. Auch sie saß auf dem Rasen, ein paar Meter von mir entfernt, sah mich an, ließ sich nach hinten fallen und breitete die Arme zu den Seiten aus. Auch ihr Lachen verstummte.

Ich krabbelte zu ihr. Die Welt drehte sich weiter und bestimmt wäre ich wieder umgefallen, wenn ich aufgestanden wäre. Als ich sie erreichte, legte ich mich auf den Rücken und sah in den Himmel.

Ich schloss die Augen, hörte das Zwitschern der Vögel und das Rauschen des kleinen Baches, der hinter dem Haus meiner Großmutter entlangfloss. Nach ein paar Sekunden spürte ich Nicis Finger an meinen. Sie griff nach meiner Hand und ich umschloss die ihre fest.

Das Glück der letzten Minuten schwand. In wenigen Stunden würde dieser Sommer enden. Ein weiteres Mal würden Nici und ich mit unseren Eltern in Züge steigen, die uns in verschiedene Städte brachten. Sie würde nach Bremen fahren und ich zurück nach West-Berlin. Dann wären wir wieder bis zum nächsten Sommer getrennt.

Ich drehte den Kopf in ihre Richtung und öffnete die Augen.

Auch Nici sah mich an. Das Lachen war aus ihrem Gesicht verschwunden. Ihr Mund verzog sich. Ich kannte diesen Ausdruck. Ich kannte ihn so gut, weil sie auf diese Weise immer guckte, wenn ihre Großmutter uns abends ins Bett schickte oder ihr verbot, noch mehr Kirschen zu essen, ohne die Kerne auszuspucken.

Sie wollte nicht, dass der Sommer endete, sondern dass wir für immer zusammenbleiben konnten. Hier am Bach auf der Wiese, mit der Sonne, die unsere Körper wärmte und dafür sorgte, dass unsere Haare heller und unsere Haut dunkler wurden.

„Wenn ich ein Baby bekomme, nenne ich es Lia.“

„Und ich nenne meins Ina. Oder Rina.“

„Ich will nicht, dass du fährst.“

„Und ich will nicht, dass du fährst.“

Sie streckte auch die andere Hand nach mir aus. Ich ergriff sie und zog sie an mich.

„Wenn wir uns festhalten, dann können sie uns nicht trennen.“ Sie schlang ihre Arme um mich.

Ich kicherte. „Das hat letztes Jahr schon nicht funktioniert.“

„Ja, du hast recht.“ Sie seufzte und lockerte die Umarmung so weit, dass unsere Köpfe einander gegenüber im Gras lagen. Sie drückte ihre Stirn gegen meine.

„Ich werde dich so sehr vermissen.“

„Ich dich auch.“ Sie drehte sich wieder auf den Rücken, löste ihre Finger von meinen und schlug auf den Boden. Dann richtete sie sich auf, stemmte die Hände in die Hüften und sah mich herausfordernd an. „Komm, Katarina, wir werden unseren letzten Tag nicht heulend verbringen.“ Sie klang wie ihre Großmutter Lotti.

Ich grinste, sprang auf, stellte mich neben sie und verstellte meine Stimme so, dass ich wie meine eigene Oma, Anita, klang. „Du hast absolut recht, Nina Cicilia. Was machen wir?“

Sie senkte ihre Stimme und näherte ihren Kopf meinem, damit nur ich sie verstehen konnte. „Wir gehen zum alten Willy.“

Wieder grinste ich, dieses Mal verschworen und in dem Wissen, dass uns ein letztes Abenteuer in diesem Sommer bevorstand.

EINS

NICI

Juli 1974 - Zehn Jahre später

Die Felder und Wiesen zogen genau so am Fenster vorbei, wie sie es immer getan hatten. Wolken verhängten den Himmel und trotzdem war es drückend heiß. Ich wischte mir mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn und warf dem Mann, der mir gegenübersaß und mich beobachtete, einen Blick zu, der ihn hoffentlich dazu veranlasste, wegzuschauen. Schlimm genug, dass er mich seit der Abfahrt in Bremen ununterbrochen vollqualmte. Wie immer waren die Nichtraucherabteile besetzt gewesen.

Der Mann lächelte auf eine widerliche Art und statt ihm war ich diejenige, die den Kopf drehte und wieder aus dem Fenster sah.

Seit einer Stunde war ich unterwegs. Eine weitere würde die Fahrt noch dauern. Normalerweise kribbelte mein gesamter Körper auf dieser Reise. Schon als meine Mutter mich noch begleitet hatte, hatte ich kaum still sitzen und es nicht abwarten können, dass wir endlich ankamen.

Zum ersten Mal war dies anders.

Während ich mich früher immer auf die Sommerferien bei Oma Lotti im Harz gefreut und nie vermisst hatte, was ich zu Hause in Bremen zurückließ, fragte ich mich dieses Mal, ob nicht auch zwei Wochen ausreichen würden.

Sechs Wochen. Wie sollte das funktionieren?

Sicher würde Tommy sich in der Zeit ein anderes Mädchen suchen. Warum sollte er auf mich warten? Nur, weil wir uns beide für Fotografie interessierten und er mir unter das T-Shirt fassen durfte?

Sechs Wochen waren einfach zu lang, um sie in diesem Dorf zu verbringen. Es gab dort nichts zu tun, wenn man siebzehn Jahre alt war. Ich konnte nicht einkaufen gehen, mich nicht mit Freunden treffen, es gab keine Rollschuhbahn und erst recht keine Kinos.

Früher hatte mir all das nicht gefehlt. Aber jetzt … jetzt überkam mich das Gefühl der Langeweile schon, bevor ich überhaupt einen Fuß auf den einsamen Bahnsteig gesetzt hatte.

Es war ein kleines Dorf. In seinem Kern standen die Häuser dicht beieinander, doch je weiter man sich vom Dorfmittelpunkt entfernte, umso größer wurden die Abstände zwischen den Grundstücken. Es gab einen Bäcker, einen Metzger, einen Tante-Emma-Laden und eine Gaststätte. Mehr nicht.

Ich öffnete meinen Rucksack und zog die Papiertüte mit den belegten Broten heraus, dir ich mir heute Morgen vor der Abfahrt geschmiert hatte.

Mein Blick glitt wieder zu dem Mann, der mich nun nicht mehr lächelnd, sondern vorwurfsvoll ansah. Ich entlud meine schlechte Laune in einem herausfordernden Blick, zog geräuschvoll eines der Brote aus der Tüte und biss hinein. Dabei raschelte ich noch mehr mit dem Papier und ließ absichtlich einige Krümel auf den Boden fallen.

Er rümpfte die Nase und ich wandte den Blick wieder ab, damit ich nicht laut loslachte.

Von diesem Typen würde ich Kate erzählen.

Kate. Sie war der einzige Lichtblick. Oder wäre es gewesen, wenn nicht …

Wir hatten mit zwei Jahren unseren ersten Sommer zusammen im Dorf unserer Großmütter verbracht. Kate bei Anita und ich bei Oma Lotti. Damals hatte Kates Großvater noch gelebt und unsere Eltern hatten uns begleitet. Auch Kates älterer Bruder Peter war in den folgenden sechs Jahren jedes Jahr mit ihr aus West-Berlin in das kleine Dorf im Harz gereist und hatte den Sommer mit uns verbracht. Irgendwann war er lieber ins Ferienlager gefahren und es waren nur noch Kate und ich und Anita und Oma Lotti gewesen.

Wie würde es in diesem Jahr sein?

Der Zug ratterte über eine Weiche und hielt kurze Zeit danach an einem verlassenen Bahnhof. Ob es hier auch zwei Großmütter gab, die ihre Enkelinnen in den Ferien beherbergten? Mit ihnen Kirschkuchen backten und sie von ihrem Eierlikör trinken ließen?

Ein Lächeln zog über meinen Mund und ich unterbrach das Kauen. Darauf freute ich mich tatsächlich. Oma Lotti verwöhnte mich so sehr, dass meine Mutter sich jedes Mal darüber beschwerte, wenn ich wieder zu Hause war.

Kate und ich waren überzeugt davon, dass unsere Mütter eifersüchtig waren, weil sie eine ganz andere Erziehung erlebt hatten.

Kate.

Würde es so sein wie früher? Nun durchfuhr mich doch ein Kribbeln. Aber es war anders. Es war kein Kribbeln freudiger Erwartung. Ich war unsicher. So, als würde ich vor eine Aufgabe gestellt werden, der ich nicht gewachsen war. Für die ich nicht hatte üben können. Es fühlte sich nicht gut an.

ZWEI

KATE

Was machst du noch hier? Wann kommt sie an? Ist sie nicht schon längst da? Warum holst du Nici und Lotti nicht von Lotti ab?“ Omi schnitt den Kuchen in verschieden große Stücke. Das tat sie immer. Sie sagte, sie könnte schließlich nie wissen, wer großen und wer kleinen Hunger hätte. Tatsächlich ermöglichte sie sich dadurch selbst, zunächst ein großes Stück zu essen und sich hinterher noch ein „kleines“ zu genehmigen.

„Um drei.“

Sie sah auf die Uhr und runzelte die Stirn. Sie lag in tiefen Falten, die auch nicht verschwanden, wenn sie ihr Gesicht wieder entspannte. Dabei war sie eigentlich noch zu jung für so eine Alterserscheinung. „Wolltest du sie nicht vom Bahnhof abholen?“

Ich presste die Lippen aufeinander. Ich hatte schon gewollt. Aber ich wusste nicht, ob Nici das auch wollte.

„Katarina?“ Das Runzeln war einem strengen Blick gewichen. „Was ist los?“

„Omi, hör auf, mich so zu nennen. Alle sagen Kate zu mir. Das weißt du doch.“

„Und du weißt, dass ich nicht alle bin. Also, was ist los?“

Ich verdrehte die Augen. „Nichts ist los.“

Sie musterte mich und ich konnte ihre ungesagten Worte fast hören. Aber sie schwieg. So wie sie es immer tat, wenn sie wusste, dass ich ihr nicht die Wahrheit sagen würde. Das war schon damals so gewesen, als Nici und ich einen Teller mit ihrem Kirschkuchen stibitzt hatten, den sie extra für einen Basar im Gemeindehaus zur Seite gestellt hatte.

Wir hatten so viel von dem Kuchen verschlungen, dass wir danach stundenlang mit furchtbaren Bauchschmerzen auf der Wiese im Garten gelegen hatten. Nici hatte sich sogar übergeben. Aber wir hatten den Diebstahl abgestritten und meine Großmutter hatte schließlich aufgegeben und uns einen Tee gekocht.

„Dann koch wenigstens schon mal den Kaffee.“

Ich stand schwerfällig auf. Es war zu heiß für jede Bewegung. Und zu schwül. Der Himmel war grau und drückte die Luft zur Erde. „Können wir nicht Eiskaffee machen?“

Meine Großmutter sah auf den Kuchen und schüttelte den Kopf. „Nun mach schon.“

Ich ging zur Küchenzeile, wollte Wasser auf dem Herd aufsetzen und stockte. „Omi, du hast ja eine Kaffeemaschine.“

„Kannst du damit umgehen?“

Ich nickte. „Natürlich kann ich das.“ Ich nahm einen Filter aus dem Paket, das neben der Maschine stand, und setzte ihn ein. „Aber warum?“

„Lotti hat sich eine besorgt.“ Lotti war die Großmutter von Nici. Sie und Omi lebten schon immer in diesem Dorf. Ihre Töchter, unsere Mütter, waren hier geboren und zusammen aufgewachsen. „Es geht doch um einiges leichter.“

Ich füllte Pulver in den Filter und Wasser in den Tank. „Ja, das stimmt.“

In diesem Moment klopfte es an der Tür, die von der Küche direkt in den Garten führte. Sie stand offen und als ich hinsah, erkannte ich Lottis strahlendes Gesicht. Hinter ihr stand Nici. Sie strahlte nicht.

„Kate, du wirst von Jahr zu Jahr hübscher.“ Lotti kam auf mich zu und schloss mich in die Arme. Sie und meine Großmutter waren im gleichen Alter. Nur wenige Monate lagen zwischen ihren Geburtstagen. Dennoch wirkte Lotti in ihrem gesamten Auftreten jung. Ihr Gesicht trug kaum sichtbare Falten. Sie kleidete sich modern und ihre Wimpern waren getuscht.

„Hallo, Lotti, ich freue mich, dich zu sehen.“ Ich erwiderte die Umarmung, denn ich freute mich wirklich.

Sie löste sich von mir.

„Wie war die Fahrt durch den Osten? Bist du wieder kontrolliert worden wie im letzten Jahr?“

Omi antwortete an meiner Stelle. „Nein, aber ihre vermaledeiten Eltern haben es auch dieses Mal nicht fertig bekommen, sie zum Bahnhof zu bringen. In ein Taxi haben sie sie gesteckt.“

„Das ist wirklich nicht schlimm, Omi. Es sind nur zehn Minuten bis zum Bahnhof Zoo. Ich hätte auch den Bus nehmen können.“

Die beiden Frauen sahen sich erschrocken an. Für sie war West-Berlin Kriegsgebiet und dass ich mich dort ohne erwachsene Aufsicht bewegte, eine Schande. Als wir im Mai zur Jugendweihe meiner Cousine Krissi in den Osten gefahren waren, hatte meine Mutter Omi versichern müssen, dass sie mich nicht allein herumlaufen lassen würde.

Lotti schüttelte den Kopf. „Trotzdem. Mit Nici hat auch wieder niemand gewartet. Es ist immer dasselbe. Aber Schluss jetzt, ich will eurer Wiedersehensfreude nicht im Weg stehen.“ Sie sah zu Nici. „Nici hatte eine etwas anstrengende Fahrt. Ein Mann hat sie beim Schaffner verpetzt, weil sie auf den Boden gekrümelt hat.“

Ich sah zu Nici, die zögerlich in die Küche trat, meine Großmutter mit einer Umarmung begrüßte und dann zu mir kam.

Die beiden Frauen gingen zurück zu dem Tisch, an dem meine Großmutter bis vor wenigen Minuten den Kuchen geschnitten hatte, und wandten uns den Rücken zu. Ihre Unterhaltung hörte ich kaum.

Nici sah mich an. Sie musste den Kopf etwas heben, weil ich größer war als sie. Ein zaghaftes Lächeln schob sich in ihre Mundwinkel. Ich erwiderte es und hätte in Tränen ausbrechen können. Es war genauso, wie ich es erwartet hatte. Nichts war mehr, wie es war. Alles war verändert.

„Mädchen, geht doch in den Garten und pflückt noch ein paar Beeren, ja?“ Meine Großmutter hielt uns zwei Schalen entgegen.

Jede von uns nahm eine und gemeinsam trotteten wir in den Garten.

„Du Himbeeren, ich Johannisbeeren?“

Nici pflückte lieber Himbeeren, weil sie diese mehr mochte und sich jede zweite in den Mund steckte.

Noch vor einem Jahr hätte sie mich deshalb schief angegrinst. Jetzt aber nickte sie nur, ging zu den Himbeersträuchern und zog gelangweilt eine Frucht nach der anderen vom Stiel. Aus dem Haus drang das Lachen von Lotti, aus der anderen Richtung hörte ich das Plätschern des Baches. Ich seufzte leise, wandte den Blick von Nici ab und ging zu den Sträuchern auf der anderen Seite des Gartens.

Irgendwann trat Nici wieder neben mich. „Fertig?“

Ich sah zu ihr und für einen winzigen Moment war es wie früher. Ihr Blick war mir vertraut. Die Art, wie sie roch, erinnerte mich an früher. Ich wollte etwas sagen, sie in die Arme schließen, aber bevor ich mich dazu durchringen konnte, drehte sie sich in Richtung Haus und verschwand darin.

Ich hatte es versaut.

DREI

NICI

Ich stocherte auf meinem Teller herum, hatte mir das kleinste Stück Kuchen genommen und es bisher kaum angerührt. Am liebsten wäre ich in das Haus von Oma Lotti gegangen, hätte mich auf mein Bett gelegt und einen Brief an Tommy geschrieben.

Kate warf mir immer wieder verstohlene Blicke zu.

Unsere Großmütter schienen nichts zu bemerken. Sie diskutierten darüber, ob dieser Mann im Zug das Recht gehabt hatte, mich beim Schaffner zu verpfeifen.

Ich griff nach meiner Kaffeetasse und sah zu Kate.

Sie erwiderte meinen Blick. Es lagen Fragen darin. Und die Sehnsucht danach, dass wir endlich wieder wir sein konnten. Ich spürte diese Sehnsucht selbst. Seit dem Moment, in dem ich sie vor einer Stunde das erste Mal wiedergesehen hatte, wollte ich, dass alles so war wie früher.

„Was haltet ihr davon, Kinder?“

Erschrocken sah ich zu Anita. „Was?“

Sie schüttelte den Kopf, kommentierte meine Reaktion aber nicht. „Es ist noch so viel Kuchen übrig. Würdet ihr ihn zu Frau Mayer bringen?“

Ich sah wieder zu Kate, genau in dem Moment, in dem sich der Ausdruck in ihrem Gesicht änderte. Sie wirkte entschlossen. „Das machen wir gern, Omi.“ Sie sprang auf, ging zum Schrank, um einen frischen Teller herauszunehmen, und kam zurück zum Tisch.

Ich hätte sagen können, dass ich nicht mitgehen wollte. Aber dann hätte ich mich den Blicken und Fragen unserer Großmütter aussetzen müssen. Von hier würde ich nicht so leicht wieder wegkommen. Von Kate schon. Das war meine Chance.

Ich half Kate, Kuchen auf den Teller zu schieben, legte ein paar Beeren dazu und deckte alles mit einem Baumwolltuch zu.

Minuten später verließen wir das Haus und gingen den vertrauten Weg zum Hof von Frau Mayer. Schweigend. Zehn Minuten lang liefen wir ohne ein Wort am Bach entlang, weil dies der kürzeste Weg war. Sie war schon eine Greisin gewesen, als wir noch Kinder waren, und wir hatten uns immer ein bisschen vor ihr gefürchtet.

Ich ließ die Umgebung auf mich wirken, erkannte den Baum, von dem ich vor sechs Jahren gefallen war, ohne mir etwas zu brechen, den Steinhaufen, den wir im letzten Sommer angehäuft hatten, damit er uns vor bösen Monstern beschützte, und den alten Schuppen, den seit Jahren niemand mehr nutzte und der längst hätte zusammenbrechen müssen, es aber nicht tat.

„Du hast kaum etwas gegessen.“ Kate wollte ein Gespräch anfangen.

Und ich wollte ebenfalls nicht länger schweigen. Sechs Wochen. „Ich hatte keinen Hunger.“

„Richtig, die Brote.“

Mein Kopf schnellte zu ihr. Ich hatte richtig gehört. Sie grinste.

„Das war echt nicht witzig.“ Wut stieg in mir auf, aber sie fand keinen Raum, in dem sie sich ausbreiten und manifestieren konnte.

„War es nicht?“ Kates Grinsen wurde breiter.

Ich schüttelte den Kopf, hielt aber inne, als ich spürte, wie sich auch meine Mundwinkel hoben. Die Wut verschwand und an ihre Stelle trat Leichtigkeit. „Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als ich die Papiertüte eine Minute lang zusammengeknüllt und dann einfach auf den Boden geworfen habe.“ Für einen Moment war es wie früher.

Bis Kates Grinsen verschwand. Es wich einem traurigen Ausdruck, in dem Hoffnung schwamm.

In diesem Moment fiel ein Tropfen auf ihre Wange. Es war keine Träne, auch wenn die ziemlich gut gepasst hätte.

Sie sah nach oben. „Es fängt an zu regnen.“ Sie blickte wieder zu mir und dann zu dem Kuchen, den ich in der Hand trug. „Wir werden es nicht bis zu Frau Mayer und wieder zurück schaffen.“

Nein, das würden wir nicht. Weitere Tropfen trafen uns, in der Ferne grollte Donner und innerhalb von Sekunden zog ein Wind auf, der das Tuch vom Kuchenteller wehte. Kate rannte hinterher, schnappte es und stand danach japsend wieder vor mir. „Wir müssen uns unterstellen.“ Sie drehte auf dem Absatz um. „Komm, zum Schuppen.“

Ich zögerte, blickte zum Himmel und blinzelte, weil sofort Regentropfen in meine Augen fielen.

Kate nahm mir den Kuchen ab. „Nun, komm schon.“ Sie griff nach meiner Hand.

Ich wartete, bis mich die Berührung erreichte, sah zu ihr und nickte. „Okay.“

Gemeinsam rannten wir ein Drittel des Weges, den wir bisher gegangen waren, zurück. Mit jedem Schritt schien der Regen stärker, das Donnergrollen lauter zu werden. Über den Wiesen zuckten Blitze und erhellten die von den Wolken erschaffene Dunkelheit für Sekundenbruchteile mit weißen und rosafarbenen Explosionen.

Nirgendwo war ein Gewitter so beeindruckend wie hier. Jeden Sommer erlebten wir mindestens eines dieser Art und jedes Mal beobachteten wir es andächtig, unterbrachen, womit wir zuvor beschäftigt gewesen waren, um die Magie zu spüren.

Kate hielt noch immer meine Hand. Unsere Haut war nass und meine Finger hätten leicht von ihren rutschen können, aber sie hielt mich so fest, wie sie es früher auch getan hatte.

Nach wenigen Minuten erreichten wir das alte Backsteinhaus. Die Tür hing schon seit Jahren kaum noch in der einzig verbliebenen Angel. Ich nutzte meine freie Hand, um sie aufzuziehen, und wie jedes Mal wagte ich es zunächst nicht, hineinzugehen.

Der Schuppen hatte keine Fenster, der Boden war übersät mit alten Blättern und Sand. Meine Großmutter hatte erzählt, dass hier früher Gerätschaften für das Bestellen der angrenzenden Felder gelagert worden waren, aber diese Felder wurden schon seit vielen Jahren nicht mehr bewirtschaftet. Die Geräte waren verschwunden, die Besitzer hatten die Hütte sich selbst überlassen.

Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und der Regen noch etwas stärker zu werden schien, trat ich hinein. Kate folgte mir. Sie wollte die Tür hinter sich zuziehen, aber ich hielt sie davon ab. „Es ist zu dunkel.“ Ich ging weiter bis an die gegenüberliegende Wand. Dort tastete ich auf dem Boden nach dem kleinen Berg aus Blättern und Steinen, den wir im letzten Sommer angehäuft hatten.

Er war noch da. Nichts hatte sich verändert.

Ich schob alles beiseite, bis die Keksdose zum Vorschein kam.

Kate stand in der Tür und wartete.

Ich nahm die Kerzen und die Streichhölzer aus der kleinen Metallbox, legte die Box in die Mitte des Raumes, stellte die Kerzen darin auf und zündete sie an. Sofort erhellte warmes Licht die alten Wände, auch Kates Gesicht leuchtete auf. Schatten flogen durch den Schuppen, als der Wind die kleinen Feuer zum Tanzen brachte.

Kate zog die Tür zu und verschloss sie mit dem Haken, den wir vor ein paar Jahren befestigt hatten. Dann kam sie zu mir. Ihre Haare waren so nass, dass das Wasser in Strömen über ihr Gesicht floss. Lange blonde Strähnen, die nun viel dunkler waren, hingen von ihrem Kopf. Die Schminke, die sie auf Wimpern und Lidern aufgetragen hatte, war verwischt und das grüne Sommerkleid klebte an ihrem Körper.

Zu lange hatte ich den Blick darauf fixiert. Als ich wieder aufsah, lag in ihrem Blick eine stumme Frage. Aber dann schüttelte sie den Kopf und grinste. „Das war doch mal ein gelungener Ferienstart, oder?“

Ich nickte zögerlich. Sechs Wochen.

Sie nahm das durchnässte Tuch vom Kuchen. „Er ist vielleicht nicht mehr so gut wie vor einer Stunde, aber ich denke, wir sollten ihn trotzdem essen.“ Kate tippte mit dem Finger auf den Kuchen. „Sieht so aus, als hätten wir Glück.“ Sie sah auf und grinste mich an. „Wir müssen ihn nicht erst auswringen.“

Ich schüttelte den Kopf über ihren blöden Witz, nahm aber eines der Kuchenstücke. Es würde meinen Mund füllen und das Schweigen erträglicher machen.

Doch Kate schwieg nicht. „Deine Großmutter hat meine Großmutter dazu gebracht, eine Kaffeemaschine zu kaufen. Kannst du dir das vorstellen? Meine Mutter versucht seit Jahren, sie davon zu überzeugen, und dann von jetzt auf gleich steht plötzlich eine in der Küche. Wart’s ab, am Ende des Sommers kauft sie sich einen Farbfernseher und wir können samstags die Hitparade gucken.“

Ich erwiderte nichts. Es wäre leicht gewesen, in das Geplänkel einzusteigen, aber ich wollte es nicht.

„Wenigstens müssen wir kein Fußball gucken. Mein Bruder kann an nichts anderes mehr denken.“

Endlich fand ich einen Weg in das Gespräch. „Also, ich schaue mir gern hin und wieder ein Spiel an.“

„Peter würde dich nicht mitgucken lassen.“ Peter war Kates älterer Bruder und sie äffte seine Stimme nach: „Mädchen und Fußball, das ist so wie Erdbeereis mit Blutwurst.“

Angewidert verzog ich das Gesicht und wechselte das Thema. „Wie geht es ihm denn?“

Sie biss in ihren Kuchen und kaute.

„Nichts Neues?“

Sie schluckte den Bissen hinunter. „Er studiert jetzt an der FU in Zehlendorf.“

Das wusste ich bereits.

„Trotzdem wohnt er noch zu Hause und ich habe keine Lust mehr auf seine stumpfsinnige Freundin.“

Ich nickte nur, biss in mein eigenes Stück Kuchen und schwieg.

Eine Weile lauschten wir dem Regen. Zumindest war es das, was ich tat. Kate starrte in die Kerzen und aß den Kuchen.

Irgendwann, kurz nachdem ein weiterer Donner über uns gerollt war, sagte sie: „Es tut mir leid, Nici.“ Sie hob den Blick und sah mir in die Augen. „Das, was letzten Sommer passiert ist. Ich wusste nicht, dass … Es war nicht so gemeint. Das musst du mir glauben.“

Ich starrte sie an.

„Können wir das nicht einfach vergessen?“

Sechs Wochen. Sechs Wochen würden wir miteinander verbringen.

„Bitte.“

Ich atmete tief durch, wobei ein Krümel zu dicht an meine Luftröhre kam. Ich hustete, würgte und hustete wieder.

Kate schnellte zu mir, klopfte mir auf den Rücken und irgendwann schaffte ich es, das winzige Stück trockenen Teigs aus meinem Hals zu bekommen.

Tränen liefen mir über die Wangen und ich rang um Atem. „Danke.“ Die Kleidung auf meiner Haut fühlte sich noch klammer an. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper.

Sie legte den Kopf schief und grinste mich unsicher an. „Hast du das jetzt extra gemacht, damit wir nicht darüber reden müssen?“

Ich sah sie ungläubig an. Aber dann nickte ich und grinste selbst. „Selbstverständlich.“ Meine Stimme krächzte und ich räusperte mich ein weiteres Mal. „Das ist gerade angesagt. Wenn du über ein Thema nicht reden möchtest, dann täuschst du einen Erstickungsanfall vor.“

„Du willst nicht darüber reden?“ Ihr Grinsen verschwand.

Ich schüttelte den Kopf und sah sie ernst an. „Nein, Kate, ich möchte nicht darüber reden.“

„Dann können wir die Sache vergessen?“

Ich zögerte, aber dann sagte ich: „Ja. Ja, das können wir.“ Ich sprach leise, vielleicht weil ich mir selbst nicht sicher war. Vielleicht, weil ich Angst hatte, jemand könnte uns hören.

Sie lächelte warm. „Schön.“ Sie hielt ihr Kuchenstück in die Höhe. „Dann auf einen fantastischen Sommer.“

Ich stieß mit meinem dagegen. „Auf einen fantastischen Sommer.“ Noch immer fühlte es sich anders an, hier mit ihr zu sitzen. Aber endlich konnte ich daran glauben, dass sich dieses Gefühl in den folgenden Tagen in jenes zurückverwandeln würde, nach dem ich mich von Sommer zu Sommer sehnte.

VIER

KATE

Die Kerzen waren zur Hälfte heruntergebrannt, als das Prasseln des Regens nachließ. Nici und ich hatten den Kuchen und die Beeren gegessen und geredet. Darüber, was wir in den kommenden Wochen tun würden, über Peters Freundin und darüber, ob Seasons in the Sun von Terry Jacks ABBAs Waterloo noch einmal von Platz eins der Charts verdrängen könnte.

Ein Gespräch, wie wir es auch vor einem Jahr geführt hätten. Und ich wollte daran glauben, dass wir wieder dorthin zurückkehren konnten. Gemeinsam. Hier gab es so vieles, das uns verband. Und wir waren übereingekommen, die eine Sache, die das nicht tat, zu vergessen.

Nun ja, ich würde es nicht vergessen können, aber ich war auch nicht das Problem. Also, ja, vielleicht war ich das Problem, aber …

„Wir sollten gehen.“ Nici faltete das Tuch zusammen und legte es auf den Teller.

---ENDE DER LESEPROBE---